Willensbildung und Interessenvermittlung in der

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Willensbildung und Interessenvermittlung
in der Europäischen Union
Think Paper zur Präsentation beim Dialogue Workshop ”European Citizenship: Beyond
Borders, Across Identities” in Brüssel, 23.-24. April, 2001
Hermann Schmitt, Universität Mannheim
Ich werde eingangs die Frage eines demokratischen Defizit der Europäischen Union
diskutieren, mich darauf der Interessenvermittlung und danach der Willensbildung zuwenden,
um schließlich mit einen aktuellen Vorschlag zur Lösung der Probleme der politischen
Willensbildung in der Europäischen Union zu enden.
I.
Die Frage nach der Demokratie der Europäischen Union genießt in der europäischen Politikwissenschaft hohe professionelle Aufmerksamkeit. Die einschlägige Forschung identifiziert
zumeist ein “demokratisches Defizit”. Diese Diagnose hängt natürlich wesentlich vom Demokratieverständnis des Betrachters ab. Es wird deshalb nützlich sein, gleich eingangs zwei
zentrale Prüfkriterien für das Funktionieren einer repräsentativen Demokratie zu benennen.
Robert Dahl (1989) bezeichnet ein politisches System als demokratisch, wenn es (1) allen
Bürgern die gleichen politischen Rechte gewährt, und wenn (2) der politische Prozeß als
Wettbewerbssystem strukturiert ist, welches die Möglichkeit des Regierungswechsels durch
allgemeine Wahlen vorsieht und zuläßt.
Die Europäische Union hat wenig Probleme mit dem ersten Kriterium. Die Bürger der Union
nehmen mit gleichen Rechten, wenn auch nicht immer mit gleichem Stimmgewicht, am politischen Prozeß teil. Hier kann ein demokratisches Defizit jedenfalls nicht begründet werden.
Schwieriger wird es mit dem zweiten Kriterium der Möglichkeit eines Regierungswechsels
durch allgemeine Wahlen. Es ist für jeden offensichtlich, daß durch die Wahl des Europä1
ischen Parlaments keine Regierung gewählt oder abgewählt wird. Daß dies dennnoch nicht
die ganze Antwort auf die europäische Demokratiefrage ist, liegt im Mehrebenencharakter des
Regierungssystems der Europäischen Union begründet. Europäisches Regieren geschieht
nämlich auf unterschiedliche Weise, wobei wir insbesondere zwischen einem intergouvernementalen und einem supranationalen Regierungsmodus unterscheiden (z.B. Weiler et al.
1995). In der intergouvernementalen Perspektive ist die nationale Politik “das demokratische
Wettbewerbssystem, welches die Möglichkeit des Regierungswechsels durch allgemeine
Wahlen vorsieht und zuläßt”. Solange nationale Regierungen ihre europäische Politik gegenüber dem nationalen Parlament und damit indirekt gegenüber den Wählern verantworten, ist
die demokratische Beauftragungs- und Kontrollkette ungebrochen.
In Politikbereichen jedoch, in denen der Ministerrat nicht nach der Einstimmigkeits-Regel
entscheidet, kann europäische Politik national nicht kontrolliert und verantwortet werden.
Dadurch, daß nationale Regierungen überstimmt werden können, kann die Politik des Rates
sich nicht zuverlässig auf die Zustimmung einer Mehrheit der Abgeordneten in allen Parlamenten der Mitgliedsländer berufen. Dies geschieht in Sachfragen, in denen die Politik der
Union von der intergouvernementalen zur supranationalen Regierungsweise übergeht. In
diesen Bereichen hat sich das Europäische Parlament verstärkte Beratungs- und Mitentscheidungsrechte erkämpft, so daß die elektorale Beauftragung und parlamentarische Kontrolle
europäischen Regierungshandelns durch die Völker Europas durch die parlamentarische Kontrolle durch das “europäische Volk” – wenn es denn ein solches gibt – mindestens teilweise
ersetzt werden kann.
Es wird aus dieser knappen Skizze dreierlei ersichtlich. Erstens sind gleiche politische Rechte,
Wettbewerb und Regierungswechsel durch allgemeine Wahlen dem europäischen Mehrebenensystem nicht fremd.
Zweitens kann ein Urteil über den Zustand der Demokratie in der Europäischen Union nicht
auf die Modalitäten des intergouvernementalen oder des supranationalen Regierens allein gestützt werden.
Drittens währe es gleichwohl sicherlich verfehlt, die Europäische Union heute als eine
problemlos funktionierende Demokratie zu bezeichnen.
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In einem noch unfertigen, sich entwickelnden politischen System wie dem der Europäischen
Union sagt man sicher nichts Falsches, wenn man dies auf verfassungssystematische
Ursachen zurückführt. Solche verfassungssystematischen oder strukturellen Defekte lassen
sich freilich am ehesten (und vielleicht auch am zuverlässigsten) durch die Analyse des
politischen Prozesses entdecken. Dies führt mich zum eigentlichen Thema. Ich will das
demokratische Defizit der Europäischen Union anhand der gegenläufigen und komplementären Prozesse der Willensbildung und der Interessenvermittlung im europäischen
Mehrebenensystem beleuchten.
Dies ist durchaus keine randständige Frage. Wenn demokratischer Wettbewerb sich nämlich
nicht formal mit dem Ersatz der einen Führungspersönlichkeiten durch die anderen begnügen
soll, sondern auch den Wettbewerb um politische Inhalte und Ziele mit einbeziehen soll, dann
kann er ohne diese Vermittlungsprozesse zwischen Politik und Gesellschaft nicht auskommen.
Ich werde zu zeigen versuchen, daß die Probleme des demokratischen Prozesses in der Europäischen Union sich nicht im Bereich der Interessenvermittlung, sondern ursächlich in dem
der Willensbildung konzentrieren. Die weitere Demokratisierung der Politik der Europäischen
Union erfordert eine effektivere politische Willensbildung, die auch die großen Fragen ihrer
gegenwärtigen Struktur und künftigen Entwicklung zu thematisieren in der Lage ist. Zur Erläuterung und Absicherung dieser These werde ich mich teilweise auf die Ergebnisse abgeschlossener Forschungsarbeiten stützen, teilweise aber auch Fragen formulieren, die in aktuelle Forschungsanstrengungen hineinreichen.
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II.
Interessenvermittlung bezeichnet nach meinem Verständnis den immer nur mehr oder
weniger erfolgreichen Prozeß, in dem politikbezogene Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen der Bürger – ihre Politikpräferenzen – in Politik übertragen werden. Der relative
Erfolg der Interessenvermittlung läßt sich an zwei Merkmalen festmachen: an ihrer
Reichweite und an ihrer Wirksamkeit. Zentrale Akteure dieses Prozesses sind politische
Parteien, aber auch Interessenverbände und soziale Bewegungen. Diesen Akteuren
entsprechen die Vermittlungsmechanismen der allgemeinen Wahl bzw. der Abstimmung, des
“lobbying” von Verbandsrepräsentanten und des öffentlichen Protestes, der sich u.a. in
Demonstrationen und Verkehrsblockaden äußern kann. Durch politische Parteien organisierte
allgemeine Wahlen und Abstimmungen sind ohne Frage die umfassendsten dieser Mechanismen und ihnen gebührt deshalb hier auch besondere Aufmerksamkeit.
—Schaubild 1 etwa hier—
Die Interessenvermittlung beschreitet im europäischen Mehrebenensystem verschiedene Wege. Auf dem konföderalen Weg machen die Bürger ihre europapolitischen Präferenzen über
die nationale Politik geltend.
Dies verspricht deshalb Erfolg, weil nationale Regierungen im Europäischen Rat die Politik
der Europäischen Union wenn nicht bestimmen, dann doch wesentlich mitbestimmen.
Dadurch werden nationale Regierungen zum zentralen Adressaten konföderaler Interessenvermittlung. Nationale Regierungen kommen über allgemeine Wahlen ins Amt. In dem Maße,
indem Fragen der Politik der Europäischen Union Gegenstand nationaler Wahlkämpfe sind,
wird ihnen durch die Wahl ein europapolitisches Mandat erteilt, an dem sie sich bei der
nächsten Wahl messen lassen müssen. Stehen europapolitische Entscheidungen an, die nach
der geltenden Verfassung die Kompetenz der Regierung bzw. des sie tragenden Parlaments
überschreiten, wird eine Volksabstimmung oder Referendun durchgeführt.
Im Vergleich zu Wahlen und Abstimmungen spielt die europapolitische Interessenvermittlung
über das lobbying und den politischen Protest konföderal eine untergeordnete Rolle.
Lobbyisten wenden sich zumeist direkt an die politischen Planer und Entscheider in Brüssel,
nicht so sehr an einzelne nationale Regierungen. Der politische Protest, der freilich so
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vehement nicht ist und eher verbandlichen als Bewegungshintergrund hat, wendet sich
dagegen eher an die nationale als an die supranationale Politik – wohl weil das politische
System der Europäischen Union keine geeigneten Adressaten bereithält. [Fernfahrerproteste
in Frankreich nach der europäischen Liberalisierung des Transportsektors z.B.]
Nationale Hauptwahlen sind der Königsweg der konföderalen europapolitischen Interessenvermittlung. Dieser Weg hat den Vorteil, daß ihn relativ viele gehen – die nationale
Wahlbeteiligung, obwohl rückläufig, ist nach wie vor hoch. Dies bestimmt die Reichweite der
Interessenvermittlung. Dieser Weg hat den Nachteil, daß ordnungs- und verfassungspolitische
Fragen der Europäischen Union in nationalen Wahlauseinandersetzungen oft keine Rolle
spielen. Da aber nur solche Sachfragen eine Chance haben, auf die Wahlentscheidung der
Bürger einzuwirken, die im Wahlkampf eine gewisse Bedeutung erlangen, überrascht es
kaum, daß die Übereinstimmung zwischen Wählern und Abgeordneten nationaler Parlamente
hier defizitär ist.
Die Politik der Union besteht jedoch nur zum kleineren Teil aus solchen Verfassungsangelegenheiten (auch wenn dies mitten im sogenannten Post-Nizza-Prozeß vielleicht nicht so
scheinen mag). “Allgemeinpolitische” Fragen – als Beispiel seien soziale Sicherungssysteme
genannt – stehen im Vordergrund. Da über solche Fragen auch in der nationalen Politik beraten und entschieden wird, spricht man hier vielleicht am besten von ebenenunspezifischer
Interessenvermittlung. Die Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten in diesen
Fragen ist jedenfalls größer, der Prozeß der Interessenvermittlung über die nationale Hauptwahl wirksamer.
Bei Volksabstimmungen (Referenden) stehen im Gegensatz zu nationalen Hauptwahlen Verfassungsfragen der Europäischen Union explizit im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Dies
gewährleistet neben der großen Reichweite auch die Wirksamkeit der Interessenvermittlung
in diesen Fragen. Allerdings wissen wir aus empirischen Untersuchungen, daß das Abstimmungsverhalten der Bürger – z.B. für oder gegen den Beitritt, für oder gegen die gemeinsame
Währung – neben ihrer europäischen Politikpräferenz auch das generelle Vertrauen in die
Regierung reflektiert, die die Abstimmungsfrage stellt (Franklin, Marsh und McLaren 1994;
Franklin, van der Eijk und Marsh 1995).
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Wir wechseln die Perspektive und wenden uns dem föderalen Weg der europäischen
Interessenvermittlung zu. Hier adressieren die Bürger ihre Politikpräferenzen direkt an das
politische System der Europäischen Union. Die Mechanismen der allgemeinen Wahl – die
Direktwahl des Europäischen Parlaments – und des lobbying sind hier wichtig. Insbesondere
das lobbying von Verbandsvertretern hat im Prozeß der Politikentwicklung der Europäischen
Kommission eine im Vergleich zur nationalen Politik neue Qualität erhalten. Neben nationalen Verwaltungsfachleuten (z.B. Angehörige nationaler Ministerien) werden Repräsentanten
nationaler und europäischer Verbände als Experten explizit in das Ausschußwesen der Kommission einbezogen und bringen dort neben ihrem Sachwissen ganz natürlich auch ihre Verbandsinteressen ein. Empirische Analysen in diesem Bereich sind selten und gesichertes Wissen ist rar (z.B. Schnorpfeil 1996). Es ist allerdings davon auszugehen, daß die Reichweite der
Interessenvermittlung über diesen Kanal vergleichsweise beschränkt bleibt, während seine
Wirksamkeit durchaus hoch eingeschätzt werden muß (z.B. Bach 1999).
Zur Direktwahl des Europäischen Parlamentes gibt es viel zu sagen. Vielleicht das Augenfälligste zuerst. Die Beteiligungsraten der Bürger sinken von der ersten zur fünften
Direktwahl – und dies zum Teil dramatisch. An der letzten Wahl im Sommer 1999 hat sich
nur jeder dritte Niederländer und nur jeder vierte Bürger des Vereinigten Königreiches
beteiligt. Man tut aber gut daran, den europaweiten Rückgang der Wahlbeteiligung – von 62
Prozent in 1979 auf 50 Prozent in 1999 – nicht gleich als Symptom einer Krise des föderalen
Weges der Interessenvermittlung in der EU zu deuten. Es läßt sich nämlich zeigen, daß dieser
Rückgang weitgehend auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Wählerschaft zurückzuführen ist. Im Zuge der Erweiterung der Union seit 1979 – von neun auf zwölf und dann auf
heute 15 Mitgliedsländer – hat nämlich der Anteil der Wahlberechtigten aus Wahlpflichtländern (B, GR, L, I) kontinuierlich abgenommen, was unter Nebenwahl-Bedingungen das
Niveau der Wahlbeteiligung quasi automatisch reduziert (Weßels und Schmitt 2000).
Während die Reichweite der Interessenvermittlung über allgemeine Wahlen durch die Beteiligungsrate beschrieben werden kann, hängt die Wirksamkeit auch von den Kompetenzen
der zu wählenden Versammlung ab. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß das direkt
gewählte Europäische Parlament in den letzten 20 Jahren seine Kontroll-, Beratungs- und
Mitentscheidungsrechte deutlich ausgeweitet hat. Allerdings ist es nach wie vor weit davon
entfernt, in der Manier des nationalstaatlichen Parlamentarismus westeuropäischer Prägung
nach der Wahl mehrheitlich eine europäische Regierung zu bilden und zu tragen. Ja man
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gewinnt den Eindruck, daß eine “volle Parlamentarisierung” der supranationalen Regierungsweise der EU heute weiter entfernt ist denn je.
Zur Wirksamkeit der föderalen Interessenvermittlung mittels allgemeiner Wahlen ist zu berichten, daß auch die Europawahl eine einigermaßen überzeugende Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten nur in allgemeinpolitischen Fragen hervorbringt. Bei ordnungspolitischen und Verfassungsfragen der Union treten – wie schon bei nationalen Hauptwahlen – die Präferenzen der Regierten und die Politik der Regierenden zum Teil weit auseinander.
Wenn ich nach dieser kurzen Skizze der Interessenvermittlung in der Europäischen Union
einen Summenstrich ziehe, dann bleiben zwei zentrale Ergebnisse stehen. Nach der Reichweite ist der Wahl- und Abstimmungsmechanismus allen anderen weit überlegen. Nach der
Wirksamkeit gibt es insbesondere bei Fragen, die die gegenwärtige und zukünftige politische
Ordnung der Union betreffen, gravierende Differenzen zwischen den Präferenzen der Wähler
und dem Handeln der Gewählten.
III.
Die Ursache hierfür liegt an offensichtlichen Defekten der europapolitischen Willensbildung.
Willensbildung bezeichnet den Prozeß, durch den die Politikpräferenzen der Bürger, aber
auch ihre Wertschätzung des politischen Systems und sogar ihre Wahrnehmung der politischen Gemeinschaft, der sie angehören, “gebildet” oder “geformt” wird. Die Akteure dieses
Prozesses sind politische Eliten in einem umfassenden Sinne, Parteieliten vorneweg, und immer mehr auch die Medien. Die Mechanismen der Willlensbildung sind die der politischen
Kommunikation, wobei zwischen der personalen Kommunikation in oder im Vorfeld von politischen Organisationen und der medialen Kommunikation zu unterscheiden ist. Da die Bedeutung der Massenkommunikation für die Politik über die Zeit zunimmt, werden die Medien
– und hier insbesondere das Fernsehen – als eigenständige Größe im Prozeß der politischen
Willensbildung potentiell wichtiger.
Politische Willensbildung erfordert Öffentlichkeit. Öffentlichkeit können wir mit Neidhardt
verstehen als “ ... ein im Prinzip frei zugängliches Kommunikationsforum für alle, die etwas
mitteilen, oder das, was andere mitteilen, wahrnehmen wollen” (Neidhardt 1998). In der Eu7
ropäischen Union gibt es solche “im Prinzip frei zugänglichen Kommunikationsforen für alle”
nur in den Mitgliedsländern. Eine “europaweite Öffentlichkeit” gibt es nicht, und wird es auf
der Ebene der Bürger nicht zuletzt aufgrund der Sprachgrenzen wahrscheinlich auch nie geben. In unserem Kontext stellt sich die Frage, ob diese Tatsache einer umfassenden und wirkungsvollen europapolitischen Willensbildung im Wege steht.
Ich gehe davon aus, daß eine “europäische Öffentlichkeit” nicht notwendig eine “europaweite
Öffentlichkeit” sein muß. Wie Neidhart, Koopmans und Pfetsch kürzlich mit Verweis auf die
politischen Systeme der Niederlande und der Schweiz überzeugend dargelegt haben (Neidhart
et al. 2000), ist eine systemweite Öffentlichkeit für die effektive politischen Willensbildung
nicht unabdingbar. Unter der Voraussetzung, daß die systemweite Kommunikation durch politische Eliten übernommen wird, kann eine systemweite Öffentlichkeit durch Teilöffentlichkeiten – etwa in den schweizerischen Kantonen, oder eben den Mitgliedsländern der Union –
ersetzt werden.
[Neidhart, Koopmans und Pfetsch weisen darüberhinaus darauf hin, daß eine systemweite
Öffentlichkeit in stark segmentierten politischen Gemeinwesen, die neben der politischen
Konkurrenz auch starke Konkordanzmechanismen zur Konfliktregulierung auf Eliteebene
kennen, für eine effektive Interessenvermittlung geradezu von Nachteil sein kann. Die Europäische Union ist eines dieser stark segmentiertes politisches Gemeinwesen, und insbesondere
in der intergouvernementalen Regierungsweise werden politische Entscheidungen vorwiegend
nach dem Konkordanz-Prinzip getroffen. Eine “europaweite Öffentlichkeit” ist deshalb nicht
nur eine zwar wünschenswerte aber nicht notwendige Voraussetzung effektiver politischer
Willensbildung, sie könnte die Wirksamkeit der Interessenvermittlung in der Europäischen
Union in Frage stellen].
Wir können die politische Willensbildung in der Europäischen Union deshalb präzisier als
europapolitische Willensbildung in den Mitgliedsländern bezeichnen. Die Aufgaben und der
begrenzte Erfolg dieser Willensbildungsprozesse sollen anhand der Gegenstandskategorien
und Formen politischer Unterstützung diskutiert werden.
—Schaubild 2 etwa hier—
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Ich gehe ganz allgemein davon aus, daß politische Willensbildung – im Verein mit wirksamer
Interessenmittlung – eine zentrale Voraussetzung politischer Unterstützung ist. Alle drei Objekte politischer Unterstützung – Politiken, das Regime, und die Gemeinschaft – sind nach
unserem Model nicht “objektiv vorgegeben”, sondern werden über Vermittlungsprozesse zwischen Politik und Gesellschaft definiert. Dies geschieht am augenfälligsten, und ist uns aus
der nationalen Politik am vertrautesten, angesichts konkreter Politiken. Während der Einfluß
der politische Willensbildung für die Wahrnehmung dieser spezifischen Größen relativ stark
und direkt angenommen wird, ist er bei den diffuseren Unterstützungsobjekten des politischen
Systems und der politischen Gemeinschaft wohl schwächer und eher vermittelt. Diese
diffuseren Gegenstände oder Quellen der politischen Unterstützung – die politische Gemeinschaft zumal – sind dafür dann für die Legitimitätsüberzeugungen der Bürger besonders
wichtig.
In konsolidierten demokratischen Systemen ist der Wahlkampf ein Kulminationspunkt der
politischen Willensbildung. Dabei stehen typischerweise die Auseinandersetzung über den
politischen Erfolg der vergangenen Regierung und die Politikentwürfe möglicher künftiger
Regierungen im Mittelpunkt. Institutionen und Verfahrensweisen des politischen Systems geraten dagegen seltener in die politische Auseinandersetzung. In der Regel beziehen sich die
Konkurrenten allenfalls zustimmend auf Aspekte der demokratischen Regierungsweise, um
einen Teil der breiten Unterstützung, die diese genießt, auf sich selber “umzuleiten”. Die
politische Gemeinschaft schließlich steht in konsolidierten politischen Systemen nicht in
Frage und wird ebenfalls nur thematisiert, um Unterstützung in eigene Kanäle abzuzweigen.
Die Europäische Union ist heute kein konsolidiertes demokratisches System. Aufgrund der
disparaten Verantwortungs- und Kontrollstruktur politischer Entscheidungen läßt sich die
Verteilung politischer Rollen nach dem Regierungs-Oppositions-Muster in Europawahlkämpfen kaum darstellen. Dies gelingt vielleicht noch am besten, wo es eine ausgeprägte
Systemopposition gibt, also etwa in den skandinavischen Mitgliedsländern und im Vereinigten Königreich. Diese Ausgangslage sollte dazu führen, daß die politischen Zielproklamationen der Parteien im Europawahlkampf wenig konkret ausfallen und daß im Gegenzug
Anleihen an der Legitimität der europäischen politischen Gemeinschaft und der vergangenen
Erfolge des Prozesses der Europäischen Einigung – Frieden, Wohlstand und Demokratie sind
hier die Stichworte – in den Mittelpunkt der Wahlkommunikation rücken.
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Daß solche Anleihen wohl nicht gänzlich erfolglos bleiben müßten, läßt sich an der rechten
Hälfte der Grafik verdeutlichen. Hier wissen wir aus der Analyse politischer Unterstützung
der Europäischen Union, daß die Bürger der Europäischen Union sich mehrheitlich und wohl
auch zunehmend einer “europäischen politischen Gemeinschaft” zugehörig fühlen; wir wissen
auch, daß politische Eliten hier den Bürgern voran eilen; und daß die Vorstellungen einer “europäischen politischen Gemeinschaft” – bisher – auch eine klare Grenzziehung nach
Osteuropa beinhaltet.
Was die politischen Institutionen und Verfahren der Union angeht wissen wir, daß die Hoffnungen und Erwartungen der Bürger in die Problemlösungskapazität des politischen Systems
der Union hoch sind und daß sie eher mehr als weniger politische Verantwortung nach Europa
geben wollen. Wir wissen zugleich aber auch, daß die demokratische Qualität der Politik der
Union im Vergleich zum Nationalstaat erkennbar schlechtere Noten erhält.
Konkrete Politiken der Union werden zumeist kaum wahrgenommen; wo sie die Wahrnehmungsschwelle überwinden, erscheinen sie den Bürgern oft als unnötige bürokratische Monster. Diese fehlenden bzw. falschen Wahrnehmungen sind das Ergebnis defizitärer europapolitischer Willensbildung.
Inhalte und Mechanismen der europapolitischen Willensbildung können am besten am
Beispiel der Europawahlkommunikation studiert werden. Hier können wir bisher kaum auf
gesichertes Wissen zurückgreifen. Es liegt bis heute keine systematische Analyse der Inhalte
der Europawahlprogramme der Parteien vor; wir wissen nicht, was die Parteien in ihren
Programmen thematisieren. Wir wissen auch nicht, welche Teile davon, und warum, von den
Massenmedien aufgegriffen und den Bürgern vermittelt wird. Und wir wissen schließlich
wenig darüber, ob und unter welchen Umständen solche Berichterstattung einen Einfluß auf
die politischen Einstellungen und das politische Verhalten der Bürger nimmt. An diesen
Fragen wird gearbeitet, und die Untersuchungen der Europawahlstudie 1999 werden uns hier
weiterbringen.
IV.
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Die genauen Ergebnisse dieser Studie kennen wir noch nicht. Dennoch sprechen die uns
bekannten Forschungsergebnisse zur Reichweite und Wirksamkeit sozio-politischer
Vermittlungsprozesse in der Europäischen Union eine deutliche Sprache.
Ein demokratische Defizit der Europäischen Union liegt demnach ursächlich in der
mangelhaften europapolitischen Willensbildung begründet, die zu Folgeproblemen bei der
Interessenvermittlung in der europäischen Ordnungs- und Verfassungspolitik führt.
Es stellt sich deshalb hier abschließend die Frage, wie dieser Mißstand behoben werden kann.
Ich gehe davon aus, daß eine schärfer akzentuierte Verantwortungs- und Kontrollstruktur der
Politik der Europäischen Union für die weitere Demokratisierung – und d.h. insbesondere für
die Verbesserung der europapolitischen Willensbildung – unabdingbar ist. Die Weiterverfolgung der inkrementalistischen Strategie der Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen
Parlaments gegenüber dem Rat kann dies nicht – jedenfalls nicht allein – leisten.
Hier verdient der Vorschlag des deutschen Außenministers Fischer Aufmerksamkeit, der die
Finalität der europäischen Einigung über eine Präsidialisierung der supranationalen Regierungsweise der Europäischen Union erreichen will. Der britische Politikwissenschaftler
Simon Hix hat hierzu einen Verfahrensvorschlag ausgearbeitet. Danach soll der Präsident der
Europäischen Kommission kurz nach der Direktwahl des Parlaments in indirekter Wahl
gewählt werden – und zwar von den Mitgliedern der nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten. Der Wahlkampf der Kandidaten für das Amt könnte die transnationalen Parteiföderationen der Union in den bisher fehlenden Regierungs-Oppositions-Mechanismus politischer
Kommunikation zwingen. Nicht der gleiche, aber ein vergleichbarer Wahlkampf würde sich
der national-segmentierten Öffentlichkeiten bedienen und sie zu “europäischen Öffentlichkeiten” machen. Die Verantwortungs- und Kontrollstruktur der Politik der Union könnte für
die Bürger und Wähler durchschaubarer und die Europa-politischen Vorhaben der Kandidaten
und der sie tragenden Parteifamilien wichtiger werden für ihr Wahlverhalten. Vielleicht ist
das ein gangbarer Weg, um das demokratische Defizit der Union abzubauen.
Einige Literaturnachweise
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12
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nationalstaatliche Demokratie.” In Zur Zukunft der Demokratie, eds. Hans-Dieter
Klingemann und Friedhelm Neidhart. Berlin: Edition Sigma.
13
Schaubild 1
Willensbildung und Interessenvermittlung
als gegenläufige und komplementäre Prozesse der Vermittlung zwischen Politik und Gesellschaft
Politik
Willensbildung
Interessenvermittlung
Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen der Bürger
14
Schaubild 2
Politische Willensbildung und politische Unterstützung
politische Willensbildung
konkrete Politiken
Institutionen und
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politische Gemeinschaft
politische Unterstützung
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