Indien favorisiert Stabilität und Demokratie in Pakistan Klaus Julian Voll Die Ereignisse in Pakistan und der von Präsident Pervez Musharraf verhängte Ausnahmezustand lösen in Indien Besorgnis aus. Die Massenmedien berichten ausführlich. Die indische Regierung reagierte sehr zurückhaltend. Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen fordern eine Aufhebung des Ausnahmezustands und demokratische Wahlen. Wieweit beeinflussen die Ereignisse in Pakistan den großen Nachbarn Indien? Seine Armeeführung schließt einen Anstieg terroristischer Aktivitäten in Jammu und Kashmir nicht aus. Die privaten indischen Fernsehsender brachten kurz vor und nach Ausrufung des Ausnahmezustands ausführliche Sondersendungen mit Interviews prominenter pakistanischer Menschrechtsaktivisten, so Asma Jehangir, außen- und sicherheitspolitischen Analytikern sowie Korrespondenten in Pakistan. Ausschnitte aus Dawn TV, in Pakistan abgeschaltet, wurden in die laufende Berichterstattung eingeblendet. Die nationale Presse berichtete ausführlich, und die auflagenstärkste englischsprachige Tageszeitung der Welt, The Times of India, veröffentlichte am 8. November 2007 Benazir Bhuttos Beitrag „Stand up to Musharraf“. Krisenszenarien Indien, das im Zentrum des südasiatischen Krisenbogens liegt, der von Afghanistan über Nepal, Sri Lanka und Bangladesh bis nach Burma reicht, ist an einem stabilen Pakistan interessiert. Angesichts des trotz der Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan stattfindenden Rüstungswettlaufs kann Neu Delhi nicht daran gelegen sein, dass möglicherweise eines Tages islamistisch-fundamentalistische Kräfte im Bündnis mit Teilen des Militärs die Kontrolle über die Nuklearwaffen des Erzrivalen erlangen. Die indische Regierung hatte sich mit Präsident Pervez Musharraf sichtlich arrangiert – und das obwohl Musharraf 1999 die militärische Auseinandersetzung in Kargil provoziert hatte, die unter anderem die Abtrennung des indischen Ladakh zum Ziel hatte. Anders sieht wohl die Haltung zu Benazir Bhutto aus, die in einem sehr kritischen Kommentar wegen der Entwicklungen während ihrer Regierungszeit als „Mutter der Taliban und nuklearen Proliferation“ bezeichnet wurde (Indrani Bagchi: Cut in Pak troops along border may help jihadis. The Times of India, 8. 11. 2007). Beobachter meinen, dass die indisch-pakistanischen Beziehungen nie besser waren als während der Diktatur Musharrafs, woran auch Zwischenfälle wie der terroristische Anschlag auf das indische Parlament 2001/02, der zur Generalmobilmachung der Streitkräfte beider Staaten führte, nichts änderten. Die regen zivilgesellschaftlichen Kontakte, ein intensiverer Handel, sowie verbesserte Verkehrsverbindungen und ein allgemeiner Rückgang der Spannungen haben zu dieser Situation beigetragen. Die Gespräche und Verhandlungen zwischen beiden Regierungen im Rahmen des gemischten Dialogs („composite dialogue“, 1997 während der Regierung von Inder Kumar Gujral vereinbart) fanden regelmäßig statt, und Geheimgespräche in der Kashmir-Frage schienen weit gediehen, so Radha Kumar vom Think Tank Delhi Policy Group und Professorin an der Jamia Millia Islamia Universität in Delhi. (Radha Kumar: Democracy on pause. Hindustan Times, 8. 11. 2007) Der Ausnahmezustand und die Lage in Kashmir Sofort nach dem Inkrafttreten des Ausnahmezustands traf die indische Regierung Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze zu Pakistan, da man befürchtete, islamistische Kämpfer könnten in größerer Zahl versuchen, nach Indien und vor allem in den Krisenstaat Jammu und Kashmir einzusickern – auch um einer eventuellen Verfolgung durch die pakistanische Armee zu entgehen. Der Chef der indischen Armee, General Deepak Kapoor, und sein Planungsstab berieten über die Auswirkungen des Ausnahmezustands auf die Sicherheitslage in Jammu und Kashmir. Man geht davon aus, dass Musharraf etwa zehn bis zwölf Tage braucht, um seine Kontrolle über Pakistan und innerhalb des Militärs zu konsolidieren. Erst danach würde die Richtung seiner Politik erkennbar werden. Es wird befürchtet, dass der bei großen Teilen der Bevölkerung sehr unpopuläre und bei islamistischen Extremisten verhasste Mushrarraf versucht sein könnte, terroristischen Gruppen zu erlauben, ihre Aktionen in Indien wieder verstärkt aufzunehmen. Die terroristische Infrastruktur in Pakistan und im unter seiner Kontrolle stehenden Teil von Kashmir (Azad Kashmir beziehungsweise, in Indien, Pakistan occupied Kashmir) ist, so die Einschätzung der indischen Armeeführung, mehr oder minder intakt. Mindestens ein Drittel der 50 bis 55 Ausbildungslager mit geschätzten 2000 Militanten könnte jederzeit voll aktiviert werden. Trotz des Rückgangs der Gewalt in Jammu und Kashmir um etwa 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr habe der Grad der Infiltration in den letzten Monaten mit etwa 900 eingesickerten Militanten zugenommen. Nach Angaben der indischen Sicherheitskräfte wurden in diesem Jahr bereits 410 Eindringlinge getötet und 250 verhaftet, während 100 ihre Waffen freiwillig niederlegten. Eine Reduzierung der indischen Truppen ist nach Ansicht von Kapoor deshalb gegenwärtig nicht möglich, zumal die pakistanische Armee Kräfte von der Grenze mit Indien abgezogen habe, was die Infiltration erleichtere. G. Parthasaraty, früherer indischer Botschafter in Pakistan, meint, dass der Einsatz großer Teile der pakistanischen Armee in den sogenannten „Tribal Areas“ und im Swat-Distrikt gegen die dortigen Militanten von Maulana Fazlullah für Indien militärisch vorteilhaft sei. Zudem wird unter Fachleuten die Moral der pakistanischen Armee gegenwärtig als sehr gering eingestuft. Reaktionen von Regierung, politischen Parteien und Zivilgesellschaft Neu ist, dass in Pakistan niemand Indien beschuldigte, hinter der innenpolitischen Krise des Landes zu stecken. Der indische Außenminister Pranab Mukherjee erklärte, Indien wünsche „Frieden, Wohlstand und Stabilität“ in Pakistan. „Wir beobachten die Lage. Wir hoffen, dass der Prozess der Demokratisierung in Pakistan beginnen kann und das pakistanische Volk eine Gelegenheit erhält, eine Regierung gemäß der Verfassung zu haben.“ Generell fiel die offizielle indische Reaktion sehr zurückhaltend und gedämpft aus. Indien werde seine Energien darauf konzentrieren, so eine Ansicht, Musharraf zu überreden, speziell auch die in Indien operierenden Jihadis der Lashkar-e-Taiba sowie Jaish-e-Mohammed zu verfolgen. Andere Beobachter befürchten in naher Zukunft eine verstärkte anti-indische Agitation der Islamisten in Pakistan. Quer durch das politische Spektrum kritisierten die wichtigsten indischen Parteien die Erklärung des Ausnahmezustands und forderten demokratische Wahlen. Oppositionsführer L. K. Advani, früherer stellvertretender Premierminister und Innenminister, von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei / BJP) meinte, der Kampf für Demokratie sei untrennbar mit dem Vorgehen gegen den von religiösem Extremismus gespeisten Terrorismus verbunden. BJP-Generalsekretär Arun Jaitley, Rechtsanwalt am 2 Obersten Gerichtshof Indiens, brachte die „Solidarität seiner Partei gegenüber dem pakistanischen Volk in seinem Kampf für Demokratie und die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit“ zum Ausdruck. Auch die indischen Kommunisten sprachen sich gegen den Ausnahmezustand und für demokratische Wahlen aus, wie auch die regierende Kongresspartei. Die South Asian Free Media Association (SAFMA), die in der Vergangenheit viel zur indischpakistanischen Normalisierung beitrug, verurteilte die Unterdrückung der Massenmedien in Pakistan und rief die dortigen Journalisten dazu auf, für das Recht auf Meinungsfreiheit zu kämpfen. Scharf verurteilte man die illegale Festnahme des Gründungsgeneralsekretärs von SAFMA, Imtiaz Alam. Perspektiven Shashi Tharoor, der unterlegene indische Kandidat für das Amt des UN-Generalsekretärs, gab zu bedenken, die zunehmend global agierende asiatische Großmacht Indien könne sich, unter anderem wegen des großen Bedarfs an Öl und Gas für seine jährlich um fast neun Prozent wachsende Wirtschaft, keine „ethische Außenpolitik“ leisten – weder was Pakistan, noch was Burma betreffe. Indien verfügt nur über einen sehr begrenzten Einfluss in Pakistan. Aus indischer Sicht sind nur die USA und die Volksrepublik China in der Lage, wirklich Druck auf das MusharrafRegime auszuüben. Von den zivilgesellschaftlichen Kontakten der letzten Jahre habe Indien jedenfalls profitiert, so die allgemeine Wahrnehmung. Die tiefe Besorgnis über die jüngsten Entwicklungen in Pakistan brachte der indische Premierminister Dr. Manmohan Singh in seiner Eröffnungsrede während der zweiten asiatischen Ministerkonferenz über die Risikoverringerung von Katastrophen indirekt zum Ausdruck. Er sagte, ohne Pakistan beim Namen zu nennen, dass die Gefahr des Terrorismus „in großem Ausmaß über der Region bedrohlich auftauche und Katastrophen über die Grenzen hinweg auslösen könne. Moderne Gesellschaften müssen sich darauf vorbereiten müssen zusammen kommen und sich mit von Menschen geschaffenen Katastrophen auseinandersetzen – gleich ob sie industriell oder durch terroristische Angriffe verursacht sind.“ Indiens herausragende Rolle in Südasien wird durch ein von inneren Unruhen zerrissenes Pakistan sicherlich vorübergehend gestärkt. Indische Kommentatoren rechnen immer noch mit einer Verständigung zwischen Bhutto und Musharraf, auch um einen möglichen Staatsstreich von Teilen des Militärs im Bündnis mit den Islamisten zu verhindern. Mittel- und langfristig ist Indien deshalb an einem innenpolitisch stabilen und demokratischen Pakistan sowie an guter Nachbarschaft interessiert. Dazu müsse jedoch Pakistan seine Strategie, die Indische Union über den Hebel Kashmir aufzulösen, endgültig aufgeben, so Sicherheitsanalytiker. Normalität herrscht indessen beim Cricket, Nationalsport Nr. 1 in beiden Ländern. Pakistan konnte gestern in der laufenden Serie auf indischem Boden 1:1 ausgleichen. Der Autor, ehemaliger Sozialattaché an der deutschen Botschaft in New Delhi und Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Indien, ist Verfasser von Globale asiatische Großmacht. Indische Außen- und Sicherheitspolitik zwischen 2000 und 2005. Berlin, 2005 sowie Herausgeber, zusammen mit Doreen Beierlein, des Standardwerks Rising India-Europe’s Partner? Foreign and Security Policy, Politics, Economics, Human Rights and Social Issues, Media, Civil Society and Intercultural Dimensions. Berlin, 2006, in dem 111 zumeist namhafte Inder und Europäer mitgewirkt haben. 3