Sitzung 3: Indien FOLIE 1: DER INDISCHE SUBKONTINENT FOLIE 2: DER INDISCHE SUBKONTINENT Thema der heutigen Vorlesung ist der Prozess der Dekolonisierung auf dem indischen Subkontinent. Wir werden uns schwerpunktmäßig mit Indien selbst beschäftigen. Pakistan, Sri Lanka (bis 1971 Ceylon), Bangladesh (bis 1971 OstPakistan) und Burma gehörten zwar ebenfalls zum britisch-indischen Reich und wurden bis von Delhi aus verwaltet. Indien allein ist aber so groß und komplex, dass ich mich im Folgenden primär darauf konzentrieren will. Burma werden wir dann im Kontext der Dekolonisierung Südostasiens streifen. FOLIE 3: ZEITLEISTE (FÜR NACHBEREITUNG) FOLIE 4: DEUTUNGEN DER FORSCHUNG Forschungskontroversen Beginnen möchte ich mit Deutungen der Forschung. Bis in die siebziger und achtziger Jahre dominierte die These von der geordneten Dekolonisierung Indiens die Forschung. Beispielhaft kam dies im Titel der während dieser Zeit publizierten offiziellen britischen Aktenveröffentlichung zum Ausdruck. Die von Nicholas Mansergh herausgegebenen 12 Bände, die den Zeitraum von 1942 bis 1947 umfassen, tragen den Titel: The Transfer of Power in India. Übertragung der Macht und Machttransfer suggerieren zunächst die metropolitane Perspektive, und sie suggerieren einen geordneten Prozess. Inder sahen das ganz anders, und die von Gupta besorgte Edition indischer Quellen trägt denn auch den Titel „Towards Freedom in India“ – Der Weg zur Freiheit. Die Perspektive hier ist eine ganz andere, nämlich die periphere Perspektive. Seit den achtziger Jahren hat die Forschung zur Kolonialgeschichte Indiens und zur Dekolonisierung erhebliche Fortschritte gemacht. Heute ist unbestritten, dass der Dekolonisierungsprozess eher chaotisch und ungeplant verlief, dass er nicht die Erwartungen und Visionen der Kolonialmacht reflektierte, sondern von den Entwicklungen in Indien bestimmt war und dass er keineswegs friedlich war. Denn die Teilung Indiens in Indien und Pakistan ist integraler Bestandteil der Dekolonisierung, ebenso wie der damit verbundene Bürgerkrieg, der Hunderttausenden von Hindus und Moslems 1947/48 das Leben kostete und zur Vertreibung von Millionen Menschen führte. Die neuere Forschung zur Epoche der Dekolonisierung hebt auch hervor, dass ein Dekolonisierungsprozess nicht einfach mit dem formalen Transfer staatlicher Souveränität abgeschlossen ist. Soziale, kulturelle und wirtschaftliche 1 Phänomene, die sich nicht einfach den Zäsuren politischer Geschichte unterordnen lassen, müssen ebenso berücksichtigt werden. Dekolonisierung ist daher, das haben wir eingangs besprochen, als Transformationsprozess aufzufassen. FOLIE 5: THEMEN Wir werden heute nicht nur die Zeit des „transfer of power“ diskutieren, also die Jahre zwischen 1942 und 1947. Wir werden einen Blick zurückwerfen in die Geschichte Indiens seit etwa 1850, und wir werden uns mit den Anfangsjahren des unabhängigen Indien beschäftigen. Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen folgende Aspekte: o o o o o o o o Koloniale Herrschaft Das Indien der Fürstenstaaten Wirtschaft und Gesellschaft Die nationalistische Bewegung Das Ende der Kolonialherrschaft Die frühen Jahre der Unabhängigkeit Pakistan und Sri Lanka Zusammenfassung Koloniale Herrschaft Indien war Ende des 18. Jahrhunderts von der East India Company erobert worden. Damals gab es rund 5 Millionen Engländer, aber 150 Millionen Inder. FOLIE 6: SEPOY-REBELLION 1857 kam es zu einer Meuterei britisch-indischer Truppen, die als „Indian Mutiny“ oder „Sepoy-Aufstand“ in die Geschichte einging. Dem Aufstand schlossen sich Bauern und Grundherren an. Die Kolonialherrschaft stand auf der Kippe. Den Briten kamen jedoch zwei Umstände zugute: die Aufständischen waren führerlos, die Rebellionen spontan und unkoordiniert. Zweitens konnten sich die Briten der Kooperation der Sikhs versichern. Diese waren eine Generation zuvor von britisch-indischen Truppen besiegt worden und wollten sich nun an dieser Armee, also den Indern, rächen. FOLIE 7: FOLGEN DER SEPOY-REBELLION Nach dem Sepoy-Aufstand veränderte sich die britische Kolonialherrschaft entscheidend: die Briten misstrauten von nun an den Indern sehr viel mehr als früher, und die politische Kontrolle nahm zu. Dies äußerte sich beispielsweise in den 1870er Jahren, als die Kolonialmacht indischen Journalisten verbot, in einer 2 indischen Sprache zu schreiben. Die Motive für diese Entscheidung waren deutlich: Großbritannien wollte ein Höchstmaß an Transparenz und die Möglichkeit, Kommunikation und Information in Indien zu steuern und zu kontrollieren. Die Kolonialmacht versuchte, gegenüber Indern das Bild einer überlegenen ethnischen Gruppe mit einer überlegenen Kultur zu prägen. In indische soziale Belange dagegen mischte sich die Kolonialmacht nach dem Sepoy-Aufstand kaum noch ein. Auch dafür gab es Gründe, die im Wesen der Kolonialherrschaft lagen: man wollte alles vermeiden, was soziale Dynamik und Energie auslösen konnte. Die indische Gesellschaft sollte gewissermaßen konserviert bleiben. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: 1829 wurde die Witwenverbrennung verboten. Dieses Verbot stieß auf Widerstand männlicher Hindus, und es wurde in vielen Fällen auch einfach ignoriert. Die Kolonialmacht, in der Frühphase darum bemüht, ihre Botschaft von Zivilisierung und Fortschritt auch in der indischen Gesellschaft zu verankern, hatte nach 1857 zuviel Angst, sozialen Sprengstoff zu produzieren. FOLIE 8: KOLONIALE HERRSCHAFT: ZWECK Wozu diente dieses Kolonialreich? Vor dem Ersten Weltkrieg erfüllte Indien folgende Zwecke: Wirtschaft Zentrum imperialer Kommunikation in Asien Basis für die relativ preiswerte indische Armee Reservoir von unterbezahlten Arbeitern (indentured labor) Steueraufkommen Wie wurde diese riesige Reich, dass so groß war wie Europa ohne Russland und dass sich von der Ostgrenze Afghanistans bis zur Westgrenze Thailands erstreckte, regiert? FOLIE 9: GOVERNMENT OF INDIA Britische Bevölkerung in Indien: 1921: 157.000 Europäer, davon 45.000 Frauen, 60.000 Soldaten und 22.000 Beamte. Entscheidend für die Funktionsfähigkeit des kolonialen Staates war die Armee – 150.000 indische Soldaten -, die Polizei, die von Indern besetzten Gerichte und die niedrigeren Ränge der Verwaltung. Ob Indien von Kalkutta bzw. ab 1911 von Delhi oder von London aus regiert wurde, ist schwer zu beantworten. Durch Kabelverbindung 1865-1868 war eine sehr viel schnellere Kommunikation möglich. In der Praxis hing es von der Persönlichkeit des Vizekönigs ab, wie autonom er regieren konnte. 3 Die Verwaltung trug autokratische und despotische Züge und war zentralistisch. Mit der Etablierung von Provinzregierungen mit teilweiser Verantwortlichkeit gegenüber gewählten Parlamenten (1919/1920) änderte sich dies allmählich, aber die Provinzgouverneure besaßen dennoch einen erheblichen Handlungsspielraum. Darunter waren die Distrikte (districts), die jeweils von einer sehr kleinen Zahl von Distriktbeamten und subdivisional officers verwaltet wurden. Das administrative Netz war weitmaschig und grob, wenn auch dichter als das der Moguls. Wie diese auch beschränkten sich die Briten im wesentlichen auf das Eintreiben der Steuern. Das gesamte britische Beamtenkorps umfasste etwa 1000 Angehörige des Indian Civil Service (ICS). Im 20. Jahrhundert setzten Bemühungen um eine Indianisierung ein: 1915-1924 wurden 180 Engländer und 143 Inder rekrutiert. 1922 kam eine neue Direktive, die für die Provinzebene vor allem die Rekrutierung von Indern vorsah. Für 1939 wurde ein Verhältnis von 50:50 avisiert. Dies wurde auch erreicht: 1939 waren im ICS 599 Engländer und 587 Inder tätig. FOLIE 10: PALAST DES VIZEKÖNIGS Das Indien der Fürstenstaaten FOLIE 11: INDISCHE FÜRSTENSTAATEN Die Fürstenstaaten waren Territorien mit festgelegten Grenzen, die innerhalb des Indischen Reiches lagen und von Herrschern regiert wurden, deren mehr oder weniger ausgedehnte Privilegien interner Souveränität von der souveränen Kolonialmacht anerkannt wurden. Die Herrscher konnten Vertreter einer alten königlichen Hindu-Dynastie sein, oder aus einer etwas jüngeren muslemischen Herrscherfamilie. Es konnten aber auch einfach Fürsten sein oder lokale Militärmachthaber, die nach der Eroberung Indiens durch die Briten als legitime Herrscher anerkannt worden waren. Die Zahl der Fürstenstaaten betrug, je nach Quelle, 562 bzw. 600 und mehr. Wegen der Knappheit natürlicher Ressourcen und der geographischen Lage waren die meisten Fürstenstaaten wirtschaftlich benachteiligte Zonen. FOLIE 12: INDIRECT RULE UND PATRIMONIALE HERRSCHAFT Politische Struktur Der Herrscher war theoretisch und praktisch die Quelle jeder Autorität. Legislative Gremien gründeten sich auf verschiedene Rechtstraditionen: althergebrachte Regeln, Gesetze, die von den Briten übernommen oder zumindest angelehnt waren. Gesetze wurden auch von den Fürsten gemacht, die 4 je nach Lage mal mehr oder weniger zu sagen hatten. Es gab keine unabhängige Justiz, und die höchste Berufungsinstanz war der Fürst selbst. Es gab faktisch keine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre des Souverän. Damit handelte es sich um ein patrimoniales System (Max Weber): a) (im römischen Recht) Privatvermögen des Herrschers im Gegensatz zum Staatsvermögen; b) väterliches Erbgut Anthropologen haben die Hindu-Königreiche als streng hierarchische Systeme charakterisiert, die durch rituelle Dienste und Gegenleistungen um einen Souverän herum organisiert waren, der die weltliche Macht über Menschen besaß, und um eine Kaste von Brahmanen herum, die die Hüter von Tradition und Riten waren und die die religiöse Autorität bildeten. Die englische Krone konnte Nachfolgeregelungen und Anerkennung rechtlich bindend regeln. Verträge und Konzessionen sicherten gewöhnlich die Integrität der Staaten und, in unterschiedlichem Maße, die interne Souveränität. Dafür sicherten sich die Briten vertraglich Freundschaft und eine Allianz. Die Staaten besaßen nicht mehr das Recht, unabhängige Beziehungen untereinander zu pflegen oder sich zu bekriegen. In wenigen Fällen gab es Tributverhältnisse. Daneben konnte es verschiedenste Sonderbestimmungen geben: Hafen-, Postoder Telegraphenkonventionen, Fragen des Geldes und der Geldzirkulation, Produktion und Vertrieb von Salz oder Opium, der Bau von Kanälen oder Eisenbahnen, Transitzölle, Truppenstationierungen, etc. Diese Regelungen entbanden GB von der Verwaltung von 2/5 des indischen Territoriums mit mehr als 70 Mio Menschen. Andererseits boten die britischen Garantien Sicherheit, Frieden und Schutz vor internen Rebellionen. Nur die vier größten Staaten hatten einen ordentlichen britischen Residenten (Hyderabad, Mysore, Baroda, Kashmir). Die anderen wurden „beraten“. Dabei gab es zwei Kategorien: 176 Staaten – die Wichtigeren – standen unter der Oberhoheit des Generalgouverneurs. Die anderen wurden von den Regierungen der Provinzen beraten, in denen das Territorium lag. Politische Beamte waren dafür zuständig, die Steuererhebung, Tribute oder anderen Leistungen zu supervisieren, und er war dafür verantwortlich, dass die Beschlüsse der Kolonialverwaltung auch von den Herrschern umgesetzt wurden. In der Praxis allerdings besaßen die Herrscher weit reichende Handlungsspielräume, und sie selbst konnten bestimmen, ob sie „gut“ oder „nicht gut“ regieren wollten. Die Folgen waren schlechtes Regieren (poor governance), willkürliche Steuern, Vernachlässigung der Bildung, Gesundheit und der öffentlichen Arbeiten; Palastintrigen, Korruption von Justiz und Polizei, kein geregeltes Rechtssystem, private Nutzung öffentlicher Mittel durch die Fürsten, Misshandlungen aller Art, Fehlen von Freiheiten, allgemeine Armut etc. FOLIE 13: WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT: LAND 5 Die Entwicklung der ländlichen Regionen von 1850 bis 1950 lässt sich in zwei Phasen einteilen: bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gab es wirtschaftliches Wachstum, die Ausweitung bewirtschafteter Flächen, ein kleiner, aber kontinuierlicher Anstieg der Preise für Agrarprodukte und der Aufbau einer Infrastruktur (Eisenbahnnetz und Bewässerungssystem). Es kam jedoch immer wieder zu großen Hungersnöten, die auf die prekäre Lage ländlicher Regionen verwiesen und deutlich machten, dass Reichtum und Wohlstand höchst ungleich verteilt waren. FOLIE 14: WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT: LAND Nach dem 1. Weltkrieg wuchs die Bevölkerung schneller als zuvor, die Einkommen pro Kopf fielen, die sozialen Ungleichheiten nahmen zu, und Wirtschaftskrisen erschütterten Indien. Hungersnöte konnten nach 1900 jedoch dank eines besseren Verteilungssystems vermieden werden, mit Ausnahme der großen Hungersnot in Bengalen 1943. Während dieses Jahrhunderts vollzog sich ein allmählicher Prozess der Modernisierung. Die Landwirtschaft wurde Teil des Marktes, Vorstellungen verrechtlichter Beziehungen hielten auf dem Land Einzug, bäuerliche Lebenswelten öffneten sich für die nationalistische Bewegung und neue politische Ideen. Auch wenn es Bauern in privilegierten Regionen zu mehr Wohlstand brachten, so prägte sich als Ganzes doch das Phänomen der Unterentwicklung. Diese Unterentwicklung ist gekennzeichnet durch Engpässe und Wachstumsdisparitäten. FOLIE 15: ENTWICKLUNG ZUR UNTERENTWICKLUNG Zwischen 1871, als der erste Zensus durchgeführt wurde, und 1941 wuchs die indische Bevölkerung von 255 auf 389 Millionen an. Das entsprach einem Anstieg von 52% in siebzig Jahren oder 0.61% pro Jahr. Die Weltbevölkerung wuchs in diesem Zeitraum ähnlich, die von Westeuropa, Japan und den USA sehr viel schneller. Der Bevölkerungsdruck nahm nach 1900 deutlich zu. Die indische Bevölkerung blieb überwiegend ländlich. 1881 wohnten nur 9% der Inder in Siedlungen über 5000 Einwohner, 1951 waren es 16%. Landwirtschaftlich nutzbare Flächen, die noch brach lagen, gab es am Ende des Zeitraums kaum noch, und die Produktionssteigerung pro Hektar blieb im Zeitraum gleich null. Im Jahrhundert vor der Unabhängigkeit wurden praktisch keine neuen landwirtschaftlichen Technologien eingeführt. Meistens herrschte Subsistenzwirtschaft vor und Warentausch statt Einkauf/Verkauf auf Geldbasis. Andererseits gab es in den Städten ein dichtes 6 Händlernetz, das einen nationalen Markt bildete und international tätig war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein Arbeitsmarkt. Häusliche Sklaverei wurde nach und nach zurückgedrängt, es gab sie aber noch. Landarbeiter waren faktisch unfrei. Zumeist handelte es sich um Angehörige niederer Kasten, die seit Generationen von Anderen abhängig waren. Im Gegenzug für Arbeit stellte der Patron die Lebensgrundlagen sicher, gewährte Schutz, Kredite und anderen Formen von Hilfe. Zwangsarbeit war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts üblich. Diese unfreien Landarbeiter waren notwendigerweise wenig mobil. Mobilität gab es dennoch, vor allem bei saisonalen Wanderarbeitern. Es gab große Abhängigkeiten zwischen Geldverleihern und ländlicher Bevölkerung. Offenbar hat auch die Schicht der landlosen Bauern und Tagelöhner im letzten Jahrhundert vor der Unabhängigkeit erheblich zugenommen. Relativ gesehen, darauf haben neue Forschungen verwiesen, blieb der Prozentsatz jedoch gleich: zwischen 1901 und 1951 waren etwa 30% Landarbeiter. Am Ende der kolonialen Epoche war das ländliche Indien ein Paradebeispiel für ländliche Unterentwicklung. Dieses zeichnete sich durch einen starken demographischen Druck und durch ein Überangebot an Arbeit aus. Was die Bauern nicht mehr konnten, war, ihre Anbauflächen zu vergrößern oder ihren Ertrag mit den gegebenen technischen Geräten zu steigern. Bauern konnten kein Kapital bilden und daher keine Investitionen vornehmen. Kredit von Kooperativen gab es kaum, und Geldverleiher verlangten exorbitante Zinsen. Unter diesen Umständen konnte ein verstärktes Angebot von Arbeit nur zu Arbeitslosigkeit führen. Unter diesen Umständen erfolgte die Kapitalakkumulation bei der mächtigen Schicht der Landbesitzer, den reichen Bauern und den ländlichen HändlerGeldverleihern. Diese Akkumulation war vom Wesen her parasitär. Das Geld wurde ausgepresst von Bauern, die unter schwierigsten Bedingungen lebten und arbeiteten. Das Kolonialregime unterstützte diese Entwicklung, basierte es doch wesentlich auf der Kooption der reichen Eliten und Händler, und es hatte diese Entwicklung sektoral auch erst ermöglicht. Ein wesentlicher Teil des Kapitals war im nicht investiven Bereich gebunden und wurde verzehrt. Häufig wurden kulturelle Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich gemacht. Kulturelle Faktoren spielten durchaus in bestimmten Regionen oder Milieus eine Rolle: zum Beispiel der Konservatismus bestimmter Eliten, der feudale, und nicht kapitalistische Charakter von Landbesitz. Ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Zustand des ländlichen Indien war aber das fehlende Investitionskapital und die Bedingungen für Investitionen: zuwenig Infrastruktur, Bewässerung, zuwenig Integration von Land und Stadt, keine Regierung, die Vertrauen schaffte. 7 FOLIE 16: WIRTSCHAFT Indien profitierte nur mäßig von Eisenbahnbau und infrastruktureller Revolution. Ungeachtet dessen war die Eisenbahn der bestimmende Faktor in der wirtschaftlichen Transformation, die durch die Kolonisierung ausgelöst wurde. Sie war verantwortlich für die Expansion des Außenhandels. Indiens Rolle im imperialen Wirtschaftssystem war die eines Nettozahlers in der imperialen Handelsbilanz, und zwar infolge der indischen Exporte in Drittländer. Der Erste Weltkrieg markierte einen Einschnitt in der kolonialen Wirtschaftsgeschichte, und zwar in mehrerer Hinsicht: die Rolle Indiens als Nettozahler im imperialen System wurde geringer; Zölle begünstigten den Aufbau einer eigenen Industrie; indisches Kapital wurde nun wichtiger als britisches. 1919 erlangte die indische Kolonialregierung erstmals das Recht, Zölle zu erheben. 1924 wurden erste Zölle auf Stahlimporte erhoben. Die Folge war eine Expansion der indischen Stahlerzeugung. Gleiches gilt für die Entwicklung einer heimischen Baumwollindustrie. Aufgrund des geringen Grades der Industrialisierung konnte eine größere produktive Schicht von Unternehmern nicht entstehen. Die Händler waren mit Vertrieb, Verkauf und Finanzierung von Waren beschäftigt, aber nicht mit der Produktion. Dies erklärt zum Teil, warum nach 1950 der Staat eine so wichtige Funktion bei der Industrialisierung des Landes übernahm. FOLIE 17: NATIONALISTISCHE BEWEGUNG Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges schien Indien als eine der stabilsten Säulen des Britischen Weltreiches. Wenige Dekaden später, 1942, wurden die Engländer mit einem Aufstand der Massen konfrontiert. Innerhalb von drei Jahrzehnten wuchs die nationalistische Bewegung, die anfangs auf ein schmales Segment der westernisierten Elite rekurrierte, zu einer Massenbewegung. Bereits in den frühen dreißiger Jahren führte diese Entwicklung zu einer weit verbreiteten Konfrontation mit der Kolonialmacht und zur Notwendigkeit von Reformen der kolonialen Herrschaft. Beide Akteure – Kolonialmacht und nationalistische Bewegung – bevorzugten zunächst einen sehr graduellen Prozess der Übertragung der Macht. Dieser beschleunigte sich unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges. Bis 1917 war der Indian National Congress (gegründet 1885) eine kleine Bewegung, weniger eine politische Kraft. Der Katalysator, der aus einer elitären Bewegung eine Massenbewegung mit weit reichenden politischen Forderungen 8 machte, war Mahatma Gandhi. Gandhi war Rechtsanwalt und hatte in Südafrika am Streit um die Gewährung fundamentaler Rechte für Inder mitgewirkt. Die dabei erworbenen Erfahrungen nutzte er im indischen Kontext. 1907/08, 1908/11 und 1913/14 organisierte er drei Kampagnen gewaltfreien Widerstands (genannt satyagraha, die Kraft der Wahrheit), die in der Folge die Kolonialmacht zu Reformen zwang. FOLIE 18: MAHATMA GANDHI Gandhis Strategie bestand aus einer Mischung folgender Komponenten: Aufbau einer kleinen Gruppe disziplinierter Kader, die die Bewegung führen konnten; gewaltfreie Mittel der Auseinandersetzung und Agitation; die bewusste, aber gewaltfreie Übertretung von Regeln, die als ungerecht empfunden wurden; freiwillige Verhaftung in großem Stil; Aufsehen erregende Aufmärsche; und der Wechsel von Druck und Verhandlungsbereitschaft. Dieses Instrumentarium machte ihn zu einem populären Führer. Gandhi verstand es, an unterschiedliche Klienteln zu appellieren: in den Augen der Bauern stand er für ein Ende der Abhängigkeit und Ausbeutung von den lokalen Dorfvorstehern und Notabeln. In seinen Reden betonte Gandhi seine Ablehnung von Klassenkampf und sein Eintreten für einen Kompromiss in Konflikten zwischen Bauern und Landbesitzern. Damit geriet er in die Rolle eines national akzeptierten Vermittlers zwischen unterschiedlichen Schichten. FOLIE 19: GANDHI UND SOZIALE MOBILISIERUNG Gandhi hatte eine elektrisierende Wirkung auf bäuerliche Massen. Wenn der Mahatma sich zeigte, schien es, als ob alle Strukturen von Macht und Hierarchie auf einmal zusammenbrachen, dass sich alle Verbote auflösten und die Welt sich auf den Kopf stellte. Er schien als von Gott gesandter Asket mit unermesslicher Kraft. Doch die Unabhängigkeit wurde nicht durch eine soziale Revolution herbeigeführt. Die Armen wurden von den Mittelschichten mobilisiert und für eine Auseinandersetzung politisiert, die von den Eliten geplant und durchgeführt wurde. Die nationalistische Bewegung rekrutierte sich fast ausnahmslos aus der gebildeten Mittelschicht, die in Städten oder Marktplätzen lebte. Dies war zu einem Großteil eine Schicht von Menschen, die selbst nicht unbedingt erwerbstätig waren und von Kapitalvermögen bzw. Einkünften aus dem verpachteten Land lebten. Diese Mittelschicht wollte nicht die Welt verändern, sondern ein anderes politisches System etablieren. Von daher gab es eine weitgehende Übereinstimmung zwischen urbaner Mittelschicht und ländlichen Eliten. Zwar gab es Bewegungen der Ärmsten. Diese wurden aber von den Nationalisten als eine Störung für die öffentliche Ordnung betrachtet, und da 9 solche Bewegungen nicht organisiert waren, konnte man sie auch relativ leicht unterdrücken. FOLIE 20: SOZIALE MOBILISIERUNG: ERFOLGE Government of India Act von 1935: verabschiedet vom Londoner Parlament. Gegenüber der Verfassungsreform von 1919 gab es nur geringfügige Unterschiede, und die Regelungen entsprachen in keiner Weise den Erwartungen der indischen Öffentlichkeit. Das Gesetz sah die Bildung einer Föderation bestehend aus dem Fürstenstaaten und den britischen Kolonien in Indien vor. In dieser künftigen und noch hypothetischen Föderation sollten Teile der Macht an indische Minister gehen, Finanzen und Verteidigung sollten aber bei der englischen Kolonialmacht verbleiben. Weitreichende Änderungen gab es bei den Provinzialregierungen: Minister sollten den Provinzialparlamenten gegenüber verantwortlich sein. Das Elektorat wurde erheblich ausgeweitet (auf 15% der indischen Bevölkerung), allerdings weiterhin an Einkommen geknüpft. Außerdem behielten die (englischen) Gouverneure weit reichende Machtbefugnisse. Für die Briten stellte die Ausweitung der Befugnisse der Provinzparlamente einen weiteren Versuch dar, die Anzahl der Kooptierten zu steigern. Denn Wahlämter bedeuteten auch immer für die Gewählten Möglichkeiten der Patronage und der Steigerung persönlichen Einflusses. Nach der Verabschiedung des Government of India Act markierten die Jahre 1936/37 einen Wendepunkt in der Geschichte des Kongresses. Der Kongress entwickelte sich nun zu einer vollgültigen politischen Partei. Er rekrutierte Hunderttausende neuer Mitglieder, insbesondere auf dem Land, wo viele Kleinund Mittelbauern dem Kongress beitraten. Beruhigt durch das moderate Programm im Hinblick auf Landreformen, wandten sich zahllose lokale Notabeln von den Briten ab und traten dem Kongress bei. Dies spielte eine entscheidende Rolle bei den Wahlen von 1937, bei der nun schon 30 Millionen Inder wählen durften (vorher: 6,5 Millionen; allerdings waren die Ärmsten und Frauen ausgeschlossen). Wahlberechtigte Hindus stimmten mit überwältigender Mehrheit für den Kongress. Damit traten Vertreter des Kongresses in sechs Provinzen an die Macht, in der die Hälfte der indischen Bevölkerung lebte. Im Herbst 1939 verabschiedet die Muslim League eine Resolution zu Pakistan. Damit stand das Gespenst einer Teilung Indiens von nun an auf der Tagesordnung. FOLIE 21: DER ZWEITE WELTKRIEG Indische Truppen dienten an mehreren Fronten: in Malaysia, Burma, Ägypten, in Ostafrika, Irak und im Iran. Im Januar 1942 waren bereits 856.000 indische Soldaten im Einsatz. Der Fall von Singapore im Februar 1942 wurde von den 10 Hindus als ein kosmisches Desaster betrachtet, dass das Ende der britischen Herrschaft einläutete. Die Hälfte des indischen Verteidigungshaushaltes wurde von GB getragen, aber die andere Hälfte musste die indische Verwaltung selbst aufbringen. Dies war eine enorme Belastung für das Land. Massive Steuererhöhungen waren die Folge, die den Unmut der Bevölkerung weiter schürten. FOLIE 22: NEHRU UND GANDHI Auf der politischen Ebene kamen Gandhi und Nehru am 14. Juli 1942 zu einem Kompromiss: Dieser ging in die Geschichte als die „Quit India Resolution“ (8. August Ratifizierung) ein: die Briten wurden aufgefordert, umgehend die Regierungsgeschäfte an Inder zu übergeben. Wegen der japanischen Aggression und zum Schutz Chinas wurde die Anwesenheit alliierter Truppen für die Dauer des Krieges jedoch akzeptiert. FOLIE 23: QUIT INDIA BEWEGUNG Die „Quit India“-Bewegung, vom Kongress 1942 gegen die britische Kolonialherrschaft begonnen, leitete eine entscheidende Phase in der Geschichte des Subkontinents ein. Innerhalb weniger Jahre brach die britische Kolonialherrschaft zusammen und es entstanden zwei Staaten, Indien und Pakistan. Die britische Regierung betrachtete die Quit India Bewegung als eine Kriegserklärung. Am 9. August 1942 wurden fast alle höheren Kader des Congress verhaftet. In den großen Städten kam es zu Massendemonstrationen, und auch auf dem Land protestierten spontan zahllose Menschen. Aber es gelang der Kolonialregierung, den Protest zu unterdrücken. Zunächst endete damit die Quit India Bewegung erst einmal in einer Niederlage für die Nationalisten. Den Engländern gelang es zugleich, Indien als eine Basis für den Krieg in Asien zu nutzen. Allerdings war nun die Ablehnung der Kolonialherrschaft so verbreitet, dass im Rückblick das Jahr 1942 als entscheidendes Datum der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit gelten muss. Auch für die Briten galt nun, dass sie nicht länger die Stimmung im Land ignorieren konnten. Während des Krieges kam es 1943 in Bengalen zu einer Hungerkatastrophe, als die Kolonialverwaltung aus Furcht vor einem Angriff Japans alle Schiffe aus der Region schleppte und Nahrungsmittel nicht mehr herangeführt werden konnten. In der Öffentlichkeit wurde dies als ein absolutes Versagen interpretiert und als Zeichen eines nahen Endes der Fremdherrschaft. FOLIE 25: METROPOLITANE PERSPEKTIVEN 11 Das Ende des Krieges läutete eine Periode des Tumults und der Streiks ein. Die Proteste gegen die Kolonialverwaltung wurden schärfer. In London kündigte der neu gewählte Labour-Premier Clement Attlee allgemeine Wahlen in Indien an mit dem Ziel der Bildung einer autonomen Regierung. Doch dies genügte der nationalistischen Bewegung nicht. Der Krieg trieb also die größte indische Partei in offenen Widerstand, stärkte die Kräfte, die auf Teilung der Macht oder gar auf Teilung des Territoriums aus waren, und schwächte die Grundlagen der Regierung. Englische Vision nach Kriegsende: Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung; Bildung eines föderalen Indien, in dem einzelne Staaten und Provinzen früher oder später über ihre Unabhängigkeit im Rahmen eines geeinten Indien entscheiden könnten; ein anglo-indischer Verteidigungspakt. Der Kongress dagegen befürchtete, England wolle Indien spalten. Dies war in der Tat nicht der Fall, aus langfristigen strategischen und politischen Gründen. Aber: GB fühlte sich Muslims und Fürsten gegenüber verpflichtet. Dies galt insbesondere für die Muslims, deren Einigkeit in den vergangenen 40 Jahren zugenommen hatte und die völlig überproportional auch in der Armee vertreten waren. FOLIE 28: ENTWICKLUNGEN IN INDIEN Während Indien in einen Sog von Anarchie und Gewalt gerissen zu werden drohte, zögerten Minister in London, einen klaren Plan für den Abzug vorzulegen, da sie einen Aufschrei der britischen öffentlichen Meinung befürchteten. Daher kam ein erstes öffentliches Statement am 20. Februar 1947: Abzug im Juni 1948. Angesichts der explosiven Lage in Indien – die Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Hindus nahmen zu – riss der letzte Vizekönig, Lord Mountbatten, das Heft des Handelns an sich. Er erklärte im Juni 1947, die Unabhängigkeit von zwei unabhängigen Dominions werde schon im August kommen. Mountbatten arbeitete nun einen Teilungsplan aus, der nicht auf Basis der Provinzen, sondern der Distrikte eine Teilung vorsah. Die Folge war, dass in Bengalen die Muslimbezirke im Osten, im Panjab aber im Westen lagen, ein einheitliches Pakistan also nicht entstehen würde. Das Ergebnis des Teilungsplans wurde aber bis nach der Unabhängigkeit geheim gehalten. Die Rechtsform der beiden neuen Staaten war die von Dominien – wie AUS und CA -, denn eine andere kannte das Commonwealth nicht. Das bedeutete die Unabhängigkeit von Staaten, allerdings unter Anerkennung der Souveränität der Krone. Diese Bestimmung wurde aber alsbald verändert, weil Indien eine Republik wurde (1950). 1947 war man aber noch nicht soweit, und so wurde Mountbatten nach der formalen Unabhängigkeit erst einmal englischer 12 Generalgouverneur beider Staaten für eine Übergangszeit. Mit der Funktion verbunden war die Aufgabe, die Teilung zu vollziehen. FOLIE 29: MOUNTBATTEN Es war die Leistung Mountbattens, aber auch die Realisierung des Kongresses, dass die Teilung Schlimmeres verhüten würde. Die Zentrale in London war dagegen abgetaucht. Insgesamt lässt sich als Ergebnis festhalten: Die Unabhängigkeit in dieser Form, in der Form von zwei republikanischen Staaten war in dieser Form vor 1939 kaum vorstellbar. Angesichts sowohl britischer als auch nationalistischer Erwartungen war die Unabhängigkeit in dieser Form eine große Enttäuschung. FOLIE Bürgerkrieg Innerhalb weniger Monate in 1947 und 1948 kamen etwa eine halbe Million Menschen ums Leben. Darüber hinaus wurde Privatbesitz vernichtet, mehrere Millionen Menschen vertrieben. Die Kongress-Regierung versuchte die Ausschreitungen zu verhindern. Letztlich ist ihr dies nur in begrenztem Maße gelungen. Immerhin aber blieben ca. 45 Millionen Moslems in Indien. Der größte Schock ereignete sich am 30. Januar 1948, als ein Hindufanatiker Gandhi, den Vater der Nation, ermordete. Dieser befand sich auf einer Reise durch Bengalen und Bihar, um die Gemüter zu kühlen. Große Probleme gab es zunächst auch bei der Integration von ca. 6 Millionen Flüchtlingen aus Westpakistan. Diese Aufgabe war einigermaßen 1951 gelöst. Die Integration von Hindus, die aus Ost-Pakistan kamen, dauerte länger und verlief größtenteils nicht reibungslos. Die Migration erstreckte sich über die ganzen fünfziger und sechziger Jahre hinweg. FOLIE: PHOTOS FOLIE 28: Indien: Unmittelbare Probleme Die indische Unabhängigkeit vollzog sich im Kontext religiös-politisch motivierter Gewalt und der Teilung des Subkontinents. Die Probleme und Herausforderungen waren gewaltig: auf der Tagesordnung standen erstens unmittelbare Probleme: die Integration und Verwaltung der Fürstenstaaten, die staatliche Einheit Indiens, die Versorgung von sechs Millionen Flüchtlingen, die aus Pakistan kamen, der Schutz der im Land gebliebenen Moslems, die Verhinderung kriegerischer Auseinandersetzungen mit Pakistan, und eine kommunistische Bedrohung von innen. FOLIE: MITTEL- UND LANGFRISTIGE HERAUSFORDERUNGEN 13 Zweitens gab es mittelfristige Probleme zu lösen: die Verabschiedung einer Verfassung, der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens, die Verankerung einer auf liberalen Prinzipien beruhenden politischen Ordnung; die Durchführung von Wahlen und der Aufbau eines repräsentativen politischen Systems im Zentrum und in den Einzelstaaten; die Zerschlagung der semifeudalen Strukturen auf dem Land durch eine Landreform. Drittens mussten langfristige Projekte in Angriff genommen werden, wie eine rasche wirtschaftliche Entwicklung, die Bekämpfung der Armut und die Einleitung eines staatlichen Planungsprozesses für Entwicklung, Wirtschaft, Soziales. Nach dem indisch-chinesischen Krieg von 1962 verflüchtigte sich die Euphorie der Anfangsjahre erheblich. In den Anfangsjahren war aber wichtig, dass die Führung des Kongresses eine gemeinsame Vision des neuen Indien einte. FOLIE Die Integration der Fürstenstaaten Viele Fürstenstaaten hatten von der britischen Kolonialherrschaft profitiert, indem sie stabile Regime ermöglicht hatte. Unklar aber war, welche Rolle die Fürstenstaaten im neuen Indien spielen würden. Am 20. Februar 1947 erklärte Premierminister Clement Attlee, dass sich Großbritannien in dieser Frage heraushalten würde. Daraufhin bekundeten einige Fürsten ihre Absicht, ihren Staat für unabhängig zu erklären. Der Nationalkongress übte nun massiven Druck auf die Einzelstaaten aus und erreichte, dass bis zum 15. August alle bis auf drei der indischen Union beitraten. Mit Hilfe von weiterem Druck und auch unter Einsatz der Armee konnten dann bis Ende 1948 alle Staaten integriert werden. Als letzter Staat wurde Hyderabat im September 1948 förmlich besetzt. Als Entschädigung wurden die Fürsten mit einer Apanage ausgestattet und behielten bestimmte Privilegien, wie z.B. das Hissen eigener Flaggen, Titel etc. Zwei weitere Territorien wurden in den fünfziger bzw. frühen sechziger Jahren integriert: Pondicherry und Goa. Pondicherry wurde friedlich und nach Verhandlungen mit den Franzosen 1954 Indien zurückgegeben. Das portugiesische Regime ließ jedoch nicht mit sich verhandeln. Goa wurde im Dezember 1961 von der indischen Armee okkupiert. FOLIE Konsolidierung Indiens als Nation Die nationale Bewegung trug entscheidend dazu bei, Indien politisch und auch emotional zu einen und als Nation zu konstituieren. Diese Einheit zu bewahren, aber auch auszugestalten, blieb die wichtigste Aufgabe indischer Regierungen. Dabei war klar, dass dies nur unter säkularen und demokratischen Vorzeichen geschehen könne. Nehru lebte dies vor, und er bestand auch darauf, dass es Raum geben müsse für die Artikulation der unterschiedlichen sozioökonomischen, kulturellen und politischen Stimmen Indiens. 14 Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass nach der Teilung Indiens nicht länger die kommunalen Unterschiede, oder die Unterschiede zwischen Parteien oder Territorien im Vordergrund standen, sondern Unterschiede von Kaste, Klasse, Religion und Sprache. Dem Nationalkongress kam dabei entscheidend zugute, dass er konsensorientiert war und eine lange Tradition in der Aushandlung unterschiedlicher Positionen besaß. Dies war auch ein wesentliches Moment der Einigung Indiens. Ein weiteres war die indische Armee und die Bürokratie. Der gehobene Verwaltungsdienst rekrutierte sich nach 1947 unabhängig von Klasse, Rasse oder Geschlecht, und unterschied nicht nach regionaler Zugehörigkeit oder Religion. Nach 1947 schritt die wirtschaftliche Integration Indiens voran, die Kommunikations- und Transportnetze wurden ausgebaut. Der Schwerpunkt wirtschaftlicher Entwicklung lag auf einer vom Staat geplanten Industrialisierung. Im Bereich der Sozialreformen wurde auch das eine oder andere angepackt: die Macht von Großgrundbesitzern wurde beschnitten, es gab Sozialreformen, und Ansätze einer Landreform. Die Unberührbaren als Kaste wurden abgeschafft. Allerdings gab es keine systematischen Bemühungen, das Kastenwesen als Ganzes abzuschaffen. Im Gegenteil: das Kastenwesen wurde für politische Zwecke instrumentalisiert und stabilisierte sich sogar. Mitte der Fünfziger Jahre war der sozialreformerische Impetus verschwunden. Die Überwindung sozialer Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung aufgrund von Kaste, Religion, Sprache und ethnischer Zugehörigkeit spielten nur eine geringe Rolle in der politischen Agenda. FOLIE Das Sprachenproblem Die indische Verfassung erkennt sechzehn Sprachen, darunter Englisch und Sanskrit, als Hauptsprachen an. Gandhi und Nehru hatten beide Hindi bevorzugt, wobei Schriftsprache Urdu war. Doch nachdem Pakistan Urdu als Sprache eingeführt hatte und es für sich reklamierte, kam es darüber in Indien zu Auseinandersetzungen. Für Hindi sprach, dass es von den relativ meisten gesprochen wurde und dass es zumindest im Norden in allen Städten mehr oder weniger verstanden wurde. Die Verfassung sah deshalb vor, dass Hindi, geschrieben in Devnagri, Hauptsprache werden sollte, wobei Englisch bis 1965 gleichermaßen anerkannt blieb. Dagegen wehrten sich dann mehrere Einzelstaaten. 1959 wurde schließlich vereinbart, dass Englisch die Kommunikationsmedium zwischen der Zentrale in Delhi und den nicht Hindi sprechenden Staaten bleiben solle. In diesen Staaten blieb dann die jeweilige Landessprache offizielle Sprache. Bis heute hat sich Hindi weiter durchgesetzt, auch in den nicht Hindi sprechenden Staaten, vor allem aber Englisch als überwölbende Sprache, nicht zuletzt wegen seiner weltweiten Bedeutung. • • • • • • die Konsolidierung der Nation und die Lösung der linguistischen und ethnischen Fragen die Einleitung und Beschleunigung eines Entwicklungsprozesses unter Führung des Staates die Entwicklung einer unabhängigen und innovativen Außenpolitik die Entwicklung demokratischer Strukturen der Aufbau einer unabhängigen Verwaltung die Förderung von Wissenschaft und Technologie 15 • die Anfänge eines Sozialstaates Partizipation Am Beginn politischer Partizipation stand die Ausarbeitung einer Verfassung seit 1947 und ihre Verabschiedung am 26. Januar 1950. Die ersten Wahlen wurden über vier Monate Ende 1951, Anfang 1952 abgehalten. Sie waren das bis dato größte demokratische Experiment der Weltgeschichte. Die Wahlen erfolgten auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts für Erwachsene über 21 Jahre. Es gab über 173 Millionen Wahlberechtigte, die meisten von ihnen arm, ländlich und nicht lese- und schreibkundig. Nehru machte den Ausgleich zwischen den religiösen Gruppen zum zentralen Wahlkampfthema. Beachtlich war die Wahlbeteiligung der Frauen: sie lag landesweit bei ca. 40% der wahlberechtigten Frauen. Auf der Grundlage des Mehrheitswahlrechts errang der Kongress einen überwältigenden Sieg. Erstaunlich war auch der Erfolg der Kommunistischen Partei (CPI), aber auch der Partei der Großgrundbesitzer und Fürsten. Sie kam auf landesweit ca. 22 Prozent. In der Nehru-Ära wurde noch einmal 1957 und 1962 auf Zentral- und Einzelstaatsebene gewählt. Die Wahlbeteiligung lag 1951/52 bei 46 Prozent, 1962 bei 54%. 1957 errangen die Kommunisten im Staat Kerala die Mehrheit; dies war die erste frei gewählte kommunistische Regierung der Welt. Sie wurde allerdings von der Zentrale 1959 zur Aufgabe gezwungen. Trotz der dominanten Rolle des Nationalkongresses wurde im Verlauf der fünfziger Jahre die Rolle von Oppositionsparteien gestärkt. Sie konnten insbesondere auf Einzelstaatenebene Erfolge erzielen; dies war umso wichtiger, als die Einzelstaaten über erhebliche Rechte verfügten. Allerdings litten darunter zahlreiche Reformvorhaben: Landreformen, Bildung, Gesundheit und andere Sozialprogramme der Zentralregierung wurden von Einzelstaaten aufgeweicht oder umgangen. Ebenfalls von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung Indiens war die Tatsache, dass die Armee nicht zu einem Machtzentrum außerhalb der Kontrolle der gewählten Regierungen wurde. Dies hatte mehrere Gründe: die Tradition der Anerkennung ziviler Entscheidungsbefugnis; ihre relativ geringe Größe; und ihre finanzielle Ausstattung. Die indische Regierung legte in den fünfziger Jahren Wert darauf, Entwicklung zu betreiben. Dies ging zu Lasten des Verteidigungshaushaltes und wirkte sich 1962 im chinesisch-indischen Krieg negativ aus. Dafür spielte die Armee niemals die Rolle, die sie in vielen Staaten der Dritten Welt einnahm. Günstig für die friedliche Entwicklung Indiens in den 50er Jahren war die Persistenz kolonialer Verwaltungspraxis unter den Bedingungen nationaler Unabhängigkeit. Der Indian Civil Service und andere Organisationen wurden beibehalten. Allerdings nahm ihre Effizienz im Verlauf der Zeit ab, die Korruption nahm erheblich zu. Der Ausbau des Bildungswesens war eine zentrale Forderung indischer Regierungen. Hier wurde einiges erreicht, auch wenn das Bildungswesen in einigen Bereichen nicht mit der demographischen Entwicklung Schritt halten konnte. Weiterhin negativ wirkte sich die vor allem ländliche Armut und die Persistenz semi-feudaler Strukturen in ländlichen Räumen aus. Dennoch: auf dem undergraduate level nahm die Zahl der Studierenden in den Ingenieurswissenschaften und angewandten Berufen von 13.000 in 1950 auf 78.000 in 1965 zu, die Zahl der Studierenden, die Agrarwissenschaften studierten, stieg von 16 2.600 in 1950 auf 14.900 in 1965. Allerdings nahmen auch Bürokratismus und institutioneller Konservatismus zu. Dies führte ab Ende der fünfziger Jahre zu einem bis in die 1990er Jahre andauernden „brain drain“. In 1951 waren nur 16% der indischen Bevölkerung lese- und schreibkundig. Auf dem Land waren es nur 6% der Bevölkerung. Die Verfassung sah vor, dass 1961 für alle Schulkinder eine kostenlose Grundausbildung zur Verfügung stehen müsse. Dieses Ziel wurde später auf 1966 und dann nochmals auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Mittel für schulische Ausbildung wurden erheblich erhöht, und zwar im Zeitraum bis Mitte der sechziger Jahre um rund 500%. Zwischen 1951 und 1961 verdoppelte sich die Zahl der männlichen Schüler und verdreifachte sich die Zahl der weiblichen. In absoluten Zahlen: 1951 (Klassen 1-5): 13,77 auf 32.2 in 1965; Mädchen: 5,4 Millionen, 1965: 18,3 Millionen. Weiterführende Schulen: 1950/51: Jungen: 1 Million; 1965/66: 4,1 Millionen; Mädchen: 0,2 Millionen auf 1,2 Millionen. Anzahl der weiterführenden Schulen stieg von 7300 auf 24.500. 1965/66 waren insgesamt 61% der Kinder in einer Grundschule, der Anteil der Mädchen betrug nur 43%. Analphabetismus war nach wie vor weit verbreitet und betrug 1991 noch immer 52%. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es 18 Universitäten mit insgesamt 300.000 Studierenden. Bis 1964 stieg die Zahl der Universitäten auf 54, die Zahl der Colleges auf ca. 2.500 und die Anzahl der Studierenden auf 613.000. Die Anzahl der weiblichen Studierenden wuchs um das sechsfache und betrug 1965/66 22%. Angesichts des Bevölkerungswachstums fielen diese Zahlen jedoch relativ bescheiden aus. Insgesamt sanken die Standards, die Lehrmaterialien waren z.T. die gleichen wie unter der kolonialen Herrschaft. Dies änderte sich erst grundlegend seit den 1980er Jahren. Gleichstellung von Frauen: nach der Unabhängigkeit wurden Gesetze zur Einführung der Monogamie, der Scheidung (Mann/Frau), zur Erhöhung des Heiratsalters, zur Versorgung von Frauen und zur Erbfähigkeit von Frauen verabschiedet. In der Praxis allerdings dauerte es Jahrzehnte, bis diese Gesetze Breitenwirkung zeigten. Allerdings wurden diese Gesetze nicht verbindlich für alle Religionen gemacht, was dazu führte, dass muslimische Traditionen vor Gesetz gingen. Die Community Development Programs, die in den fünfziger Jahren mit großem Elan begonnen wurden, hatten nur wenig Erfolg. Dies lag an der Persistenz traditioneller Machtverhältnisse auf dem Land, der Bürokratisierung der Programme. Schwachpunkt war, dass die Programme die Klassen- und Kastenunterschiede nicht berücksichtigten, und nichts an der Lage der Hälfte der ländlichen Bevölkerung änderten, die ohne Land waren. FOLIE Pakistan Pakistan war das einzige Territorium im Prozess der Dekolonisierung, das völlig neu gebildet wurde. Seine Machtelite kam zum Teil aus der indischen Diaspora, allen voran M.A. Jinnah. Der Führung der Muslimliga waren die komplexen und sehr unterschiedlichen sozio-ökonomischen Strukturen im Panjab und in Bengalen wenig bekannt. Im Panjab waren die Muslime Bauern und Feudalherren mit zum Teil großen Besitzungen. In Bengalen arbeiteten Muslime in der Regel als Pächter von Hindu-Großgrundbesitzern. So waren auch die soziale Basis der regionalen Eliten unterschiedlich. Im Panjab handelte es sich um Vertreter der Feudalherren, die dort oft noch die Funktion von Klanoberhäuptern innehatten. In Bengalen gab es eine sehr aktive muslimische Bauernpartei. Es gab also keine gemeinsame soziale Grundlage für einen Staat. Jinnah ging als Generalgouverneur, nicht als pakistanischer Premier, in die neue Hauptstadt Karachi, starb dort aber bald im September 1948. Was sollte aus Pakistan werden: die Muslimliga war als einigende Kraft ungeeignet; eine parlamentarische Tradition gab es nicht, und auch Jinnah hatte, indem er als Generalgouverneur, und nicht als Premier nach Karachi gegangen war, diese nicht eingeführt. In die Bürokratie des neuen Staaten rückten viele gut ausgebildete muslimische Flüchtlinge auf, die erst in der nächsten und übernächsten Generation von Einheimischen ersetzt wurden. Das staatstragende Element wurde also die Armee – auch schon in der Kolonialzeit waren schwerpunktmäßig Panjabis Soldaten gewesen. 17 In Ost-Pakistan waren die Verhältnisse ganz anders: es gab keine einheimische Bürokratie, kaum Bengalen in der Armee. Ost-Pakistan wurde also bis zur Sezession Bangladeshs wie eine Kolonie verwaltet. Diese Sezession stand am Ende einer langen Autonomiebewegung, die von Karachi unterdrückt wurde. Streitpunkte waren die Sprache (Bengalis forderte Bengali als gleichwertige Sprache neben dem Urdu). Es kam immer wieder zu Aufständen, so 1965, als der pakistanische Präsident Ayub Khan einen Krieg gegen Indien vom Zaum brach. Aus den ersten allgemeinen Wahlen in Pakistan ging 1971 in Bengalen (Ost-Pakistan) die Awami-Liga als Sieger hervor. Sie trat für Autonomie ein. Nun wurde diese Partei auch in Karachi stärkste Fraktion, und damit hätte die Awami-Liga den Premierminister stellen müssen. Damit wollte man sich im Panjab nicht abfinden. Indien half der Awami-Liga, und die pakistanischen Truppen, die in Ost-Pakistan die Herrschaft Karachis wieder herstellen sollten, mussten kapitulieren. Darauf hin wurde im früheren Ost-Pakistan die Republik Bangladesh ausgerufen. Der pakistanischen Armee war von vornherein klar, dass sie zahlenmäßig den indischen Truppen immer unterlegen bleiben müsse. Pakistan heizte daher den Kalten Krieg in Südasien an: es wurde Mitglied von CENTO und SEATO, erhielt massive Militärhilfe. Dadurch wurde die Armee im Staat immer mächtiger; nachdem sie auch die Bürokratie kooptierte, nahm der Einfluss von Parteien und Politikern weiter ab. 1958 schließlich putschte sich General Ayub Khan an die Macht. Von Ausnahmen abgesehen, haben die Oberkommandierenden der Streitkräfte sich stets dazu berechtigt gefühlt, in Putschen die Macht an sich zu ziehen. Weiter beschleunigt wurde die Macht der Armee durch den Kashmir-Konflikt. Kashmir war bei der Teilung Indien zugesprochen worden, es wurde von einem Hindu-Maharaja regiert. Pakistan erkannte dies nicht an und besetzte Teile des muslimischen Kashmir. 1949 kam ein Waffenstillstand zustande, die Waffenstillstandslinie wurde de facto die Grenze zwischen Indien und Pakistan. Auch 1965 gelang es Pakistan nicht, das Kashmir unter seine Kontrolle zu bringen. Die indische Armee blieb siegreich, Karachi musste eine Gewaltverzichterklärung unterzeichnen, an die man sich dort nur sehr ungern erinnerte. 18