3 Indien shorter version

Werbung
Sitzung 3: Indien
FOLIE 1: DER INDISCHE SUBKONTINENT
FOLIE 2: DER INDISCHE SUBKONTINENT
Thema der heutigen Vorlesung ist der Prozess der Dekolonisierung auf dem
indischen Subkontinent. Wir werden uns schwerpunktmäßig mit Indien selbst
beschäftigen. Pakistan, Sri Lanka (bis 1971 Ceylon), Bangladesh (bis 1971 OstPakistan) und Burma gehörten zwar ebenfalls zum britisch-indischen Reich und
wurden bis von Delhi aus verwaltet. Indien allein ist aber so groß und komplex,
dass ich mich im Folgenden primär darauf konzentrieren will. Burma werden
wir dann im Kontext der Dekolonisierung Südostasiens streifen.
FOLIE 3: ZEITLEISTE (FÜR NACHBEREITUNG)
FOLIE 4: DEUTUNGEN DER FORSCHUNG
Forschungskontroversen
Beginnen möchte ich mit Deutungen der Forschung. Bis in die siebziger und
achtziger Jahre dominierte die These von der geordneten Dekolonisierung
Indiens die Forschung. Beispielhaft kam dies im Titel der während dieser Zeit
publizierten offiziellen britischen Aktenveröffentlichung zum Ausdruck. Die
von Nicholas Mansergh herausgegebenen 12 Bände, die den Zeitraum von 1942
bis 1947 umfassen, tragen den Titel: The Transfer of Power in India.
Übertragung der Macht und Machttransfer suggerieren zunächst die
metropolitane Perspektive, und sie suggerieren einen geordneten Prozess. Inder
sahen das ganz anders, und die von Gupta besorgte Edition indischer Quellen
trägt denn auch den Titel „Towards Freedom in India“ – Der Weg zur Freiheit.
Die Perspektive hier ist eine ganz andere, nämlich die periphere Perspektive.
Seit den achtziger Jahren hat die Forschung zur Kolonialgeschichte Indiens und
zur Dekolonisierung erhebliche Fortschritte gemacht. Heute ist unbestritten, dass
der Dekolonisierungsprozess eher chaotisch und ungeplant verlief, dass er nicht
die Erwartungen und Visionen der Kolonialmacht reflektierte, sondern von den
Entwicklungen in Indien bestimmt war und dass er keineswegs friedlich war.
Denn die Teilung Indiens in Indien und Pakistan ist integraler Bestandteil der
Dekolonisierung, ebenso wie der damit verbundene Bürgerkrieg, der
Hunderttausenden von Hindus und Moslems 1947/48 das Leben kostete und zur
Vertreibung von Millionen Menschen führte.
Die neuere Forschung zur Epoche der Dekolonisierung hebt auch hervor, dass
ein Dekolonisierungsprozess nicht einfach mit dem formalen Transfer staatlicher
Souveränität abgeschlossen ist. Soziale, kulturelle und wirtschaftliche
1
Phänomene, die sich nicht einfach den Zäsuren politischer Geschichte
unterordnen lassen, müssen ebenso berücksichtigt werden. Dekolonisierung ist
daher, das haben wir eingangs besprochen, als Transformationsprozess
aufzufassen.
FOLIE 5: THEMEN
Wir werden heute nicht nur die Zeit des „transfer of power“ diskutieren, also die
Jahre zwischen 1942 und 1947. Wir werden einen Blick zurückwerfen in die
Geschichte Indiens seit etwa 1850, und wir werden uns mit den Anfangsjahren
des unabhängigen Indien beschäftigen. Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen
folgende Aspekte:
o
o
o
o
o
o
o
o
Koloniale Herrschaft
Das Indien der Fürstenstaaten
Wirtschaft und Gesellschaft
Die nationalistische Bewegung
Das Ende der Kolonialherrschaft
Die frühen Jahre der Unabhängigkeit
Pakistan und Sri Lanka
Zusammenfassung
Koloniale Herrschaft
Indien war Ende des 18. Jahrhunderts von der East India Company erobert
worden. Damals gab es rund 5 Millionen Engländer, aber 150 Millionen Inder.
FOLIE 6: SEPOY-REBELLION
1857 kam es zu einer Meuterei britisch-indischer Truppen, die als „Indian
Mutiny“ oder „Sepoy-Aufstand“ in die Geschichte einging. Dem Aufstand
schlossen sich Bauern und Grundherren an. Die Kolonialherrschaft stand auf der
Kippe. Den Briten kamen jedoch zwei Umstände zugute: die Aufständischen
waren führerlos, die Rebellionen spontan und unkoordiniert. Zweitens konnten
sich die Briten der Kooperation der Sikhs versichern. Diese waren eine
Generation zuvor von britisch-indischen Truppen besiegt worden und wollten
sich nun an dieser Armee, also den Indern, rächen.
FOLIE 7: FOLGEN DER SEPOY-REBELLION
Nach dem Sepoy-Aufstand veränderte sich die britische Kolonialherrschaft
entscheidend: die Briten misstrauten von nun an den Indern sehr viel mehr als
früher, und die politische Kontrolle nahm zu. Dies äußerte sich beispielsweise in
den 1870er Jahren, als die Kolonialmacht indischen Journalisten verbot, in einer
2
indischen Sprache zu schreiben. Die Motive für diese Entscheidung waren
deutlich: Großbritannien wollte ein Höchstmaß an Transparenz und die
Möglichkeit, Kommunikation und Information in Indien zu steuern und zu
kontrollieren.
Die Kolonialmacht versuchte, gegenüber Indern das Bild einer überlegenen
ethnischen Gruppe mit einer überlegenen Kultur zu prägen. In indische soziale
Belange dagegen mischte sich die Kolonialmacht nach dem Sepoy-Aufstand
kaum noch ein. Auch dafür gab es Gründe, die im Wesen der Kolonialherrschaft
lagen: man wollte alles vermeiden, was soziale Dynamik und Energie auslösen
konnte. Die indische Gesellschaft sollte gewissermaßen konserviert bleiben. Um
Ihnen ein Beispiel zu nennen: 1829 wurde die Witwenverbrennung verboten.
Dieses Verbot stieß auf Widerstand männlicher Hindus, und es wurde in vielen
Fällen auch einfach ignoriert. Die Kolonialmacht, in der Frühphase darum
bemüht, ihre Botschaft von Zivilisierung und Fortschritt auch in der indischen
Gesellschaft zu verankern, hatte nach 1857 zuviel Angst, sozialen Sprengstoff
zu produzieren.
FOLIE 8: KOLONIALE HERRSCHAFT: ZWECK
Wozu diente dieses Kolonialreich?
Vor dem Ersten Weltkrieg erfüllte Indien folgende Zwecke:
 Wirtschaft
 Zentrum imperialer Kommunikation in Asien
 Basis für die relativ preiswerte indische Armee
 Reservoir von unterbezahlten Arbeitern (indentured labor)
 Steueraufkommen
Wie wurde diese riesige Reich, dass so groß war wie Europa ohne Russland und
dass sich von der Ostgrenze Afghanistans bis zur Westgrenze Thailands
erstreckte, regiert?
FOLIE 9: GOVERNMENT OF INDIA
Britische Bevölkerung in Indien: 1921: 157.000 Europäer, davon 45.000 Frauen,
60.000 Soldaten und 22.000 Beamte. Entscheidend für die Funktionsfähigkeit
des kolonialen Staates war die Armee – 150.000 indische Soldaten -, die Polizei,
die von Indern besetzten Gerichte und die niedrigeren Ränge der Verwaltung.
Ob Indien von Kalkutta bzw. ab 1911 von Delhi oder von London aus regiert
wurde, ist schwer zu beantworten. Durch Kabelverbindung 1865-1868 war eine
sehr viel schnellere Kommunikation möglich. In der Praxis hing es von der
Persönlichkeit des Vizekönigs ab, wie autonom er regieren konnte.
3
Die Verwaltung trug autokratische und despotische Züge und war zentralistisch.
Mit der Etablierung von Provinzregierungen mit teilweiser Verantwortlichkeit
gegenüber gewählten Parlamenten (1919/1920) änderte sich dies allmählich,
aber die Provinzgouverneure besaßen dennoch einen erheblichen
Handlungsspielraum.
Darunter waren die Distrikte (districts), die jeweils von einer sehr kleinen Zahl
von Distriktbeamten und subdivisional officers verwaltet wurden. Das
administrative Netz war weitmaschig und grob, wenn auch dichter als das der
Moguls. Wie diese auch beschränkten sich die Briten im wesentlichen auf das
Eintreiben der Steuern. Das gesamte britische Beamtenkorps umfasste etwa
1000 Angehörige des Indian Civil Service (ICS). Im 20. Jahrhundert setzten
Bemühungen um eine Indianisierung ein: 1915-1924 wurden 180 Engländer und
143 Inder rekrutiert. 1922 kam eine neue Direktive, die für die Provinzebene vor
allem die Rekrutierung von Indern vorsah. Für 1939 wurde ein Verhältnis von
50:50 avisiert. Dies wurde auch erreicht: 1939 waren im ICS 599 Engländer und
587 Inder tätig.
FOLIE 10: PALAST DES VIZEKÖNIGS
Das Indien der Fürstenstaaten
FOLIE 11: INDISCHE FÜRSTENSTAATEN
Die Fürstenstaaten waren Territorien mit festgelegten Grenzen, die innerhalb des
Indischen Reiches lagen und von Herrschern regiert wurden, deren mehr oder
weniger ausgedehnte Privilegien interner Souveränität von der souveränen
Kolonialmacht anerkannt wurden. Die Herrscher konnten Vertreter einer alten
königlichen Hindu-Dynastie sein, oder aus einer etwas jüngeren muslemischen
Herrscherfamilie. Es konnten aber auch einfach Fürsten sein oder lokale
Militärmachthaber, die nach der Eroberung Indiens durch die Briten als legitime
Herrscher anerkannt worden waren. Die Zahl der Fürstenstaaten betrug, je nach
Quelle, 562 bzw. 600 und mehr. Wegen der Knappheit natürlicher Ressourcen
und der geographischen Lage waren die meisten Fürstenstaaten wirtschaftlich
benachteiligte Zonen.
FOLIE 12: INDIRECT RULE UND PATRIMONIALE HERRSCHAFT
Politische Struktur
Der Herrscher war theoretisch und praktisch die Quelle jeder Autorität.
Legislative Gremien gründeten sich auf verschiedene Rechtstraditionen:
althergebrachte Regeln, Gesetze, die von den Briten übernommen oder
zumindest angelehnt waren. Gesetze wurden auch von den Fürsten gemacht, die
4
je nach Lage mal mehr oder weniger zu sagen hatten. Es gab keine unabhängige
Justiz, und die höchste Berufungsinstanz war der Fürst selbst. Es gab faktisch
keine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre des Souverän. Damit
handelte es sich um ein patrimoniales System (Max Weber): a) (im römischen
Recht) Privatvermögen des Herrschers im Gegensatz zum Staatsvermögen; b)
väterliches Erbgut
Anthropologen haben die Hindu-Königreiche als streng hierarchische Systeme
charakterisiert, die durch rituelle Dienste und Gegenleistungen um einen
Souverän herum organisiert waren, der die weltliche Macht über Menschen
besaß, und um eine Kaste von Brahmanen herum, die die Hüter von Tradition
und Riten waren und die die religiöse Autorität bildeten.
Die englische Krone konnte Nachfolgeregelungen und Anerkennung rechtlich
bindend regeln. Verträge und Konzessionen sicherten gewöhnlich die Integrität
der Staaten und, in unterschiedlichem Maße, die interne Souveränität. Dafür
sicherten sich die Briten vertraglich Freundschaft und eine Allianz. Die Staaten
besaßen nicht mehr das Recht, unabhängige Beziehungen untereinander zu
pflegen oder sich zu bekriegen. In wenigen Fällen gab es Tributverhältnisse.
Daneben konnte es verschiedenste Sonderbestimmungen geben: Hafen-, Postoder Telegraphenkonventionen, Fragen des Geldes und der Geldzirkulation,
Produktion und Vertrieb von Salz oder Opium, der Bau von Kanälen oder
Eisenbahnen, Transitzölle, Truppenstationierungen, etc. Diese Regelungen
entbanden GB von der Verwaltung von 2/5 des indischen Territoriums mit mehr
als 70 Mio Menschen. Andererseits boten die britischen Garantien Sicherheit,
Frieden und Schutz vor internen Rebellionen.
Nur die vier größten Staaten hatten einen ordentlichen britischen Residenten
(Hyderabad, Mysore, Baroda, Kashmir). Die anderen wurden „beraten“. Dabei
gab es zwei Kategorien: 176 Staaten – die Wichtigeren – standen unter der
Oberhoheit des Generalgouverneurs. Die anderen wurden von den Regierungen
der Provinzen beraten, in denen das Territorium lag. Politische Beamte waren
dafür zuständig, die Steuererhebung, Tribute oder anderen Leistungen zu
supervisieren, und er war dafür verantwortlich, dass die Beschlüsse der
Kolonialverwaltung auch von den Herrschern umgesetzt wurden. In der Praxis
allerdings besaßen die Herrscher weit reichende Handlungsspielräume, und sie
selbst konnten bestimmen, ob sie „gut“ oder „nicht gut“ regieren wollten. Die
Folgen waren schlechtes Regieren (poor governance), willkürliche Steuern,
Vernachlässigung der Bildung, Gesundheit und der öffentlichen Arbeiten;
Palastintrigen, Korruption von Justiz und Polizei, kein geregeltes Rechtssystem,
private Nutzung öffentlicher Mittel durch die Fürsten, Misshandlungen aller Art,
Fehlen von Freiheiten, allgemeine Armut etc.
FOLIE 13: WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT: LAND
5
Die Entwicklung der ländlichen Regionen von 1850 bis 1950 lässt sich in zwei
Phasen einteilen: bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gab es wirtschaftliches
Wachstum, die Ausweitung bewirtschafteter Flächen, ein kleiner, aber
kontinuierlicher Anstieg der Preise für Agrarprodukte und der Aufbau einer
Infrastruktur (Eisenbahnnetz und Bewässerungssystem). Es kam jedoch immer
wieder zu großen Hungersnöten, die auf die prekäre Lage ländlicher Regionen
verwiesen und deutlich machten, dass Reichtum und Wohlstand höchst ungleich
verteilt waren.
FOLIE 14: WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT: LAND
Nach dem 1. Weltkrieg wuchs die Bevölkerung schneller als zuvor, die
Einkommen pro Kopf fielen, die sozialen Ungleichheiten nahmen zu, und
Wirtschaftskrisen erschütterten Indien. Hungersnöte konnten nach 1900 jedoch
dank eines besseren Verteilungssystems vermieden werden, mit Ausnahme der
großen Hungersnot in Bengalen 1943.
Während dieses Jahrhunderts vollzog sich ein allmählicher Prozess der
Modernisierung. Die Landwirtschaft wurde Teil des Marktes, Vorstellungen
verrechtlichter Beziehungen hielten auf dem Land Einzug, bäuerliche
Lebenswelten öffneten sich für die nationalistische Bewegung und neue
politische Ideen. Auch wenn es Bauern in privilegierten Regionen zu mehr
Wohlstand brachten, so prägte sich als Ganzes doch das Phänomen der
Unterentwicklung. Diese Unterentwicklung ist gekennzeichnet durch Engpässe
und Wachstumsdisparitäten.
FOLIE 15: ENTWICKLUNG ZUR UNTERENTWICKLUNG
Zwischen 1871, als der erste Zensus durchgeführt wurde, und 1941 wuchs die
indische Bevölkerung von 255 auf 389 Millionen an. Das entsprach einem
Anstieg von 52% in siebzig Jahren oder 0.61% pro Jahr. Die Weltbevölkerung
wuchs in diesem Zeitraum ähnlich, die von Westeuropa, Japan und den USA
sehr viel schneller. Der Bevölkerungsdruck nahm nach 1900 deutlich zu.
Die indische Bevölkerung blieb überwiegend ländlich. 1881 wohnten nur 9%
der Inder in Siedlungen über 5000 Einwohner, 1951 waren es 16%.
Landwirtschaftlich nutzbare Flächen, die noch brach lagen, gab es am Ende des
Zeitraums kaum noch, und die Produktionssteigerung pro Hektar blieb im
Zeitraum gleich null. Im Jahrhundert vor der Unabhängigkeit wurden praktisch
keine neuen landwirtschaftlichen Technologien eingeführt.
Meistens herrschte Subsistenzwirtschaft vor und Warentausch statt
Einkauf/Verkauf auf Geldbasis. Andererseits gab es in den Städten ein dichtes
6
Händlernetz, das einen nationalen Markt bildete und international tätig war. In
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein Arbeitsmarkt.
Häusliche Sklaverei wurde nach und nach zurückgedrängt, es gab sie aber noch.
Landarbeiter waren faktisch unfrei. Zumeist handelte es sich um Angehörige
niederer Kasten, die seit Generationen von Anderen abhängig waren. Im
Gegenzug für Arbeit stellte der Patron die Lebensgrundlagen sicher, gewährte
Schutz, Kredite und anderen Formen von Hilfe. Zwangsarbeit war bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts üblich. Diese unfreien Landarbeiter waren
notwendigerweise wenig mobil. Mobilität gab es dennoch, vor allem bei
saisonalen Wanderarbeitern. Es gab große Abhängigkeiten zwischen
Geldverleihern und ländlicher Bevölkerung. Offenbar hat auch die Schicht der
landlosen Bauern und Tagelöhner im letzten Jahrhundert vor der
Unabhängigkeit erheblich zugenommen. Relativ gesehen, darauf haben neue
Forschungen verwiesen, blieb der Prozentsatz jedoch gleich: zwischen 1901 und
1951 waren etwa 30% Landarbeiter.
Am Ende der kolonialen Epoche war das ländliche Indien ein Paradebeispiel für
ländliche Unterentwicklung. Dieses zeichnete sich durch einen starken
demographischen Druck und durch ein Überangebot an Arbeit aus. Was die
Bauern nicht mehr konnten, war, ihre Anbauflächen zu vergrößern oder ihren
Ertrag mit den gegebenen technischen Geräten zu steigern. Bauern konnten kein
Kapital bilden und daher keine Investitionen vornehmen. Kredit von
Kooperativen gab es kaum, und Geldverleiher verlangten exorbitante Zinsen.
Unter diesen Umständen konnte ein verstärktes Angebot von Arbeit nur zu
Arbeitslosigkeit führen.
Unter diesen Umständen erfolgte die Kapitalakkumulation bei der mächtigen
Schicht der Landbesitzer, den reichen Bauern und den ländlichen HändlerGeldverleihern. Diese Akkumulation war vom Wesen her parasitär. Das Geld
wurde ausgepresst von Bauern, die unter schwierigsten Bedingungen lebten und
arbeiteten. Das Kolonialregime unterstützte diese Entwicklung, basierte es doch
wesentlich auf der Kooption der reichen Eliten und Händler, und es hatte diese
Entwicklung sektoral auch erst ermöglicht. Ein wesentlicher Teil des Kapitals
war im nicht investiven Bereich gebunden und wurde verzehrt.
Häufig wurden kulturelle Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich
gemacht. Kulturelle Faktoren spielten durchaus in bestimmten Regionen oder
Milieus eine Rolle: zum Beispiel der Konservatismus bestimmter Eliten, der
feudale, und nicht kapitalistische Charakter von Landbesitz. Ausschlaggebend
für den wirtschaftlichen Zustand des ländlichen Indien war aber das fehlende
Investitionskapital und die Bedingungen für Investitionen: zuwenig
Infrastruktur, Bewässerung, zuwenig Integration von Land und Stadt, keine
Regierung, die Vertrauen schaffte.
7
FOLIE 16: WIRTSCHAFT
Indien profitierte nur mäßig von Eisenbahnbau und infrastruktureller
Revolution. Ungeachtet dessen war die Eisenbahn der bestimmende Faktor in
der wirtschaftlichen Transformation, die durch die Kolonisierung ausgelöst
wurde. Sie war verantwortlich für die Expansion des Außenhandels. Indiens
Rolle im imperialen Wirtschaftssystem war die eines Nettozahlers in der
imperialen Handelsbilanz, und zwar infolge der indischen Exporte in
Drittländer.
Der Erste Weltkrieg markierte einen Einschnitt in der kolonialen
Wirtschaftsgeschichte, und zwar in mehrerer Hinsicht: die Rolle Indiens als
Nettozahler im imperialen System wurde geringer; Zölle begünstigten den
Aufbau einer eigenen Industrie; indisches Kapital wurde nun wichtiger als
britisches.
1919 erlangte die indische Kolonialregierung erstmals das Recht, Zölle zu
erheben. 1924 wurden erste Zölle auf Stahlimporte erhoben. Die Folge war eine
Expansion der indischen Stahlerzeugung. Gleiches gilt für die Entwicklung einer
heimischen Baumwollindustrie.
Aufgrund des geringen Grades der Industrialisierung konnte eine größere
produktive Schicht von Unternehmern nicht entstehen. Die Händler waren mit
Vertrieb, Verkauf und Finanzierung von Waren beschäftigt, aber nicht mit der
Produktion. Dies erklärt zum Teil, warum nach 1950 der Staat eine so wichtige
Funktion bei der Industrialisierung des Landes übernahm.
FOLIE 17: NATIONALISTISCHE BEWEGUNG
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges schien Indien als eine der stabilsten
Säulen des Britischen Weltreiches. Wenige Dekaden später, 1942, wurden die
Engländer mit einem Aufstand der Massen konfrontiert. Innerhalb von drei
Jahrzehnten wuchs die nationalistische Bewegung, die anfangs auf ein schmales
Segment der westernisierten Elite rekurrierte, zu einer Massenbewegung. Bereits
in den frühen dreißiger Jahren führte diese Entwicklung zu einer weit
verbreiteten Konfrontation mit der Kolonialmacht und zur Notwendigkeit von
Reformen der kolonialen Herrschaft. Beide Akteure – Kolonialmacht und
nationalistische Bewegung – bevorzugten zunächst einen sehr graduellen
Prozess der Übertragung der Macht. Dieser beschleunigte sich unter dem
Eindruck des 2. Weltkrieges.
Bis 1917 war der Indian National Congress (gegründet 1885) eine kleine
Bewegung, weniger eine politische Kraft. Der Katalysator, der aus einer elitären
Bewegung eine Massenbewegung mit weit reichenden politischen Forderungen
8
machte, war Mahatma Gandhi. Gandhi war Rechtsanwalt und hatte in Südafrika
am Streit um die Gewährung fundamentaler Rechte für Inder mitgewirkt. Die
dabei erworbenen Erfahrungen nutzte er im indischen Kontext. 1907/08,
1908/11 und 1913/14 organisierte er drei Kampagnen gewaltfreien Widerstands
(genannt satyagraha, die Kraft der Wahrheit), die in der Folge die
Kolonialmacht zu Reformen zwang.
FOLIE 18: MAHATMA GANDHI
Gandhis Strategie bestand aus einer Mischung folgender Komponenten: Aufbau
einer kleinen Gruppe disziplinierter Kader, die die Bewegung führen konnten;
gewaltfreie Mittel der Auseinandersetzung und Agitation; die bewusste, aber
gewaltfreie Übertretung von Regeln, die als ungerecht empfunden wurden;
freiwillige Verhaftung in großem Stil; Aufsehen erregende Aufmärsche; und der
Wechsel von Druck und Verhandlungsbereitschaft.
Dieses Instrumentarium machte ihn zu einem populären Führer. Gandhi verstand
es, an unterschiedliche Klienteln zu appellieren: in den Augen der Bauern stand
er für ein Ende der Abhängigkeit und Ausbeutung von den lokalen
Dorfvorstehern und Notabeln. In seinen Reden betonte Gandhi seine Ablehnung
von Klassenkampf und sein Eintreten für einen Kompromiss in Konflikten
zwischen Bauern und Landbesitzern. Damit geriet er in die Rolle eines national
akzeptierten Vermittlers zwischen unterschiedlichen Schichten.
FOLIE 19: GANDHI UND SOZIALE MOBILISIERUNG
Gandhi hatte eine elektrisierende Wirkung auf bäuerliche Massen. Wenn der
Mahatma sich zeigte, schien es, als ob alle Strukturen von Macht und Hierarchie
auf einmal zusammenbrachen, dass sich alle Verbote auflösten und die Welt sich
auf den Kopf stellte. Er schien als von Gott gesandter Asket mit unermesslicher
Kraft.
Doch die Unabhängigkeit wurde nicht durch eine soziale Revolution
herbeigeführt. Die Armen wurden von den Mittelschichten mobilisiert und für
eine Auseinandersetzung politisiert, die von den Eliten geplant und durchgeführt
wurde. Die nationalistische Bewegung rekrutierte sich fast ausnahmslos aus der
gebildeten Mittelschicht, die in Städten oder Marktplätzen lebte. Dies war zu
einem Großteil eine Schicht von Menschen, die selbst nicht unbedingt
erwerbstätig waren und von Kapitalvermögen bzw. Einkünften aus dem
verpachteten Land lebten. Diese Mittelschicht wollte nicht die Welt verändern,
sondern ein anderes politisches System etablieren. Von daher gab es eine
weitgehende Übereinstimmung zwischen urbaner Mittelschicht und ländlichen
Eliten. Zwar gab es Bewegungen der Ärmsten. Diese wurden aber von den
Nationalisten als eine Störung für die öffentliche Ordnung betrachtet, und da
9
solche Bewegungen nicht organisiert waren, konnte man sie auch relativ leicht
unterdrücken.
FOLIE 20: SOZIALE MOBILISIERUNG: ERFOLGE
Government of India Act von 1935: verabschiedet vom Londoner Parlament.
Gegenüber der Verfassungsreform von 1919 gab es nur geringfügige
Unterschiede, und die Regelungen entsprachen in keiner Weise den
Erwartungen der indischen Öffentlichkeit. Das Gesetz sah die Bildung einer
Föderation bestehend aus dem Fürstenstaaten und den britischen Kolonien in
Indien vor. In dieser künftigen und noch hypothetischen Föderation sollten Teile
der Macht an indische Minister gehen, Finanzen und Verteidigung sollten aber
bei der englischen Kolonialmacht verbleiben. Weitreichende Änderungen gab es
bei den Provinzialregierungen: Minister sollten den Provinzialparlamenten
gegenüber verantwortlich sein. Das Elektorat wurde erheblich ausgeweitet (auf
15% der indischen Bevölkerung), allerdings weiterhin an Einkommen geknüpft.
Außerdem behielten die (englischen) Gouverneure weit reichende
Machtbefugnisse. Für die Briten stellte die Ausweitung der Befugnisse der
Provinzparlamente einen weiteren Versuch dar, die Anzahl der Kooptierten zu
steigern. Denn Wahlämter bedeuteten auch immer für die Gewählten
Möglichkeiten der Patronage und der Steigerung persönlichen Einflusses.
Nach der Verabschiedung des Government of India Act markierten die Jahre
1936/37 einen Wendepunkt in der Geschichte des Kongresses. Der Kongress
entwickelte sich nun zu einer vollgültigen politischen Partei. Er rekrutierte
Hunderttausende neuer Mitglieder, insbesondere auf dem Land, wo viele Kleinund Mittelbauern dem Kongress beitraten. Beruhigt durch das moderate
Programm im Hinblick auf Landreformen, wandten sich zahllose lokale
Notabeln von den Briten ab und traten dem Kongress bei. Dies spielte eine
entscheidende Rolle bei den Wahlen von 1937, bei der nun schon 30 Millionen
Inder wählen durften (vorher: 6,5 Millionen; allerdings waren die Ärmsten und
Frauen ausgeschlossen). Wahlberechtigte Hindus stimmten mit überwältigender
Mehrheit für den Kongress. Damit traten Vertreter des Kongresses in sechs
Provinzen an die Macht, in der die Hälfte der indischen Bevölkerung lebte.
Im Herbst 1939 verabschiedet die Muslim League eine Resolution zu Pakistan.
Damit stand das Gespenst einer Teilung Indiens von nun an auf der
Tagesordnung.
FOLIE 21: DER ZWEITE WELTKRIEG
Indische Truppen dienten an mehreren Fronten: in Malaysia, Burma, Ägypten,
in Ostafrika, Irak und im Iran. Im Januar 1942 waren bereits 856.000 indische
Soldaten im Einsatz. Der Fall von Singapore im Februar 1942 wurde von den
10
Hindus als ein kosmisches Desaster betrachtet, dass das Ende der britischen
Herrschaft einläutete. Die Hälfte des indischen Verteidigungshaushaltes wurde
von GB getragen, aber die andere Hälfte musste die indische Verwaltung selbst
aufbringen. Dies war eine enorme Belastung für das Land. Massive
Steuererhöhungen waren die Folge, die den Unmut der Bevölkerung weiter
schürten.
FOLIE 22: NEHRU UND GANDHI
Auf der politischen Ebene kamen Gandhi und Nehru am 14. Juli 1942 zu einem
Kompromiss: Dieser ging in die Geschichte als die „Quit India Resolution“ (8.
August Ratifizierung) ein: die Briten wurden aufgefordert, umgehend die
Regierungsgeschäfte an Inder zu übergeben. Wegen der japanischen Aggression
und zum Schutz Chinas wurde die Anwesenheit alliierter Truppen für die Dauer
des Krieges jedoch akzeptiert.
FOLIE 23: QUIT INDIA BEWEGUNG
Die „Quit India“-Bewegung, vom Kongress 1942 gegen die britische
Kolonialherrschaft begonnen, leitete eine entscheidende Phase in der Geschichte
des Subkontinents ein. Innerhalb weniger Jahre brach die britische
Kolonialherrschaft zusammen und es entstanden zwei Staaten, Indien und
Pakistan. Die britische Regierung betrachtete die Quit India Bewegung als eine
Kriegserklärung. Am 9. August 1942 wurden fast alle höheren Kader des
Congress verhaftet. In den großen Städten kam es zu Massendemonstrationen,
und auch auf dem Land protestierten spontan zahllose Menschen. Aber es
gelang der Kolonialregierung, den Protest zu unterdrücken. Zunächst endete
damit die Quit India Bewegung erst einmal in einer Niederlage für die
Nationalisten. Den Engländern gelang es zugleich, Indien als eine Basis für den
Krieg in Asien zu nutzen. Allerdings war nun die Ablehnung der
Kolonialherrschaft so verbreitet, dass im Rückblick das Jahr 1942 als
entscheidendes Datum der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit gelten
muss. Auch für die Briten galt nun, dass sie nicht länger die Stimmung im Land
ignorieren konnten.
Während des Krieges kam es 1943 in Bengalen zu einer Hungerkatastrophe, als
die Kolonialverwaltung aus Furcht vor einem Angriff Japans alle Schiffe aus der
Region schleppte und Nahrungsmittel nicht mehr herangeführt werden konnten.
In der Öffentlichkeit wurde dies als ein absolutes Versagen interpretiert und als
Zeichen eines nahen Endes der Fremdherrschaft.
FOLIE 25: METROPOLITANE PERSPEKTIVEN
11
Das Ende des Krieges läutete eine Periode des Tumults und der Streiks ein. Die
Proteste gegen die Kolonialverwaltung wurden schärfer. In London kündigte der
neu gewählte Labour-Premier Clement Attlee allgemeine Wahlen in Indien an
mit dem Ziel der Bildung einer autonomen Regierung. Doch dies genügte der
nationalistischen Bewegung nicht. Der Krieg trieb also die größte indische
Partei in offenen Widerstand, stärkte die Kräfte, die auf Teilung der Macht oder
gar auf Teilung des Territoriums aus waren, und schwächte die Grundlagen der
Regierung.
Englische Vision nach Kriegsende: Wahlen zu einer verfassungsgebenden
Versammlung; Bildung eines föderalen Indien, in dem einzelne Staaten und
Provinzen früher oder später über ihre Unabhängigkeit im Rahmen eines
geeinten Indien entscheiden könnten; ein anglo-indischer Verteidigungspakt.
Der Kongress dagegen befürchtete, England wolle Indien spalten. Dies war in
der Tat nicht der Fall, aus langfristigen strategischen und politischen Gründen.
Aber: GB fühlte sich Muslims und Fürsten gegenüber verpflichtet. Dies galt
insbesondere für die Muslims, deren Einigkeit in den vergangenen 40 Jahren
zugenommen hatte und die völlig überproportional auch in der Armee vertreten
waren.
FOLIE 28: ENTWICKLUNGEN IN INDIEN
Während Indien in einen Sog von Anarchie und Gewalt gerissen zu werden
drohte, zögerten Minister in London, einen klaren Plan für den Abzug
vorzulegen, da sie einen Aufschrei der britischen öffentlichen Meinung
befürchteten. Daher kam ein erstes öffentliches Statement am 20. Februar 1947:
Abzug im Juni 1948. Angesichts der explosiven Lage in Indien – die
Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Hindus nahmen zu – riss der
letzte Vizekönig, Lord Mountbatten, das Heft des Handelns an sich. Er erklärte
im Juni 1947, die Unabhängigkeit von zwei unabhängigen Dominions werde
schon im August kommen.
Mountbatten arbeitete nun einen Teilungsplan aus, der nicht auf Basis der
Provinzen, sondern der Distrikte eine Teilung vorsah. Die Folge war, dass in
Bengalen die Muslimbezirke im Osten, im Panjab aber im Westen lagen, ein
einheitliches Pakistan also nicht entstehen würde. Das Ergebnis des
Teilungsplans wurde aber bis nach der Unabhängigkeit geheim gehalten.
Die Rechtsform der beiden neuen Staaten war die von Dominien – wie AUS und
CA -, denn eine andere kannte das Commonwealth nicht. Das bedeutete die
Unabhängigkeit von Staaten, allerdings unter Anerkennung der Souveränität der
Krone. Diese Bestimmung wurde aber alsbald verändert, weil Indien eine
Republik wurde (1950). 1947 war man aber noch nicht soweit, und so wurde
Mountbatten nach der formalen Unabhängigkeit erst einmal englischer
12
Generalgouverneur beider Staaten für eine Übergangszeit. Mit der Funktion
verbunden war die Aufgabe, die Teilung zu vollziehen.
FOLIE 29: MOUNTBATTEN
Es war die Leistung Mountbattens, aber auch die Realisierung des Kongresses,
dass die Teilung Schlimmeres verhüten würde. Die Zentrale in London war
dagegen abgetaucht. Insgesamt lässt sich als Ergebnis festhalten: Die
Unabhängigkeit in dieser Form, in der Form von zwei republikanischen Staaten
war in dieser Form vor 1939 kaum vorstellbar. Angesichts sowohl britischer als
auch nationalistischer Erwartungen war die Unabhängigkeit in dieser Form eine
große Enttäuschung.
FOLIE Bürgerkrieg
Innerhalb weniger Monate in 1947 und 1948 kamen etwa eine halbe Million
Menschen ums Leben. Darüber hinaus wurde Privatbesitz vernichtet, mehrere
Millionen Menschen vertrieben. Die Kongress-Regierung versuchte die
Ausschreitungen zu verhindern. Letztlich ist ihr dies nur in begrenztem Maße
gelungen. Immerhin aber blieben ca. 45 Millionen Moslems in Indien. Der
größte Schock ereignete sich am 30. Januar 1948, als ein Hindufanatiker
Gandhi, den Vater der Nation, ermordete. Dieser befand sich auf einer Reise
durch Bengalen und Bihar, um die Gemüter zu kühlen.
Große Probleme gab es zunächst auch bei der Integration von ca. 6 Millionen
Flüchtlingen aus Westpakistan. Diese Aufgabe war einigermaßen 1951 gelöst.
Die Integration von Hindus, die aus Ost-Pakistan kamen, dauerte länger und
verlief größtenteils nicht reibungslos. Die Migration erstreckte sich über die
ganzen fünfziger und sechziger Jahre hinweg.
FOLIE: PHOTOS
FOLIE 28: Indien: Unmittelbare Probleme
Die indische Unabhängigkeit vollzog sich im Kontext religiös-politisch
motivierter Gewalt und der Teilung des Subkontinents. Die Probleme und
Herausforderungen waren gewaltig: auf der Tagesordnung standen erstens
unmittelbare Probleme: die Integration und Verwaltung der Fürstenstaaten, die
staatliche Einheit Indiens, die Versorgung von sechs Millionen Flüchtlingen, die
aus Pakistan kamen, der Schutz der im Land gebliebenen Moslems, die
Verhinderung kriegerischer Auseinandersetzungen mit Pakistan, und eine
kommunistische Bedrohung von innen.
FOLIE: MITTEL- UND LANGFRISTIGE HERAUSFORDERUNGEN
13
Zweitens gab es mittelfristige Probleme zu lösen: die Verabschiedung einer
Verfassung, der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens, die Verankerung
einer auf liberalen Prinzipien beruhenden politischen Ordnung; die
Durchführung von Wahlen und der Aufbau eines repräsentativen politischen
Systems im Zentrum und in den Einzelstaaten; die Zerschlagung der semifeudalen Strukturen auf dem Land durch eine Landreform. Drittens mussten
langfristige Projekte in Angriff genommen werden, wie eine rasche
wirtschaftliche Entwicklung, die Bekämpfung der Armut und die Einleitung
eines staatlichen Planungsprozesses für Entwicklung, Wirtschaft, Soziales.
Nach dem indisch-chinesischen Krieg von 1962 verflüchtigte sich die Euphorie
der Anfangsjahre erheblich. In den Anfangsjahren war aber wichtig, dass die
Führung des Kongresses eine gemeinsame Vision des neuen Indien einte.
FOLIE Die Integration der Fürstenstaaten
Viele Fürstenstaaten hatten von der britischen Kolonialherrschaft profitiert,
indem sie stabile Regime ermöglicht hatte. Unklar aber war, welche Rolle die
Fürstenstaaten im neuen Indien spielen würden. Am 20. Februar 1947 erklärte
Premierminister Clement Attlee, dass sich Großbritannien in dieser Frage
heraushalten würde. Daraufhin bekundeten einige Fürsten ihre Absicht, ihren
Staat für unabhängig zu erklären. Der Nationalkongress übte nun massiven
Druck auf die Einzelstaaten aus und erreichte, dass bis zum 15. August alle bis
auf drei der indischen Union beitraten. Mit Hilfe von weiterem Druck und auch
unter Einsatz der Armee konnten dann bis Ende 1948 alle Staaten integriert
werden. Als letzter Staat wurde Hyderabat im September 1948 förmlich besetzt.
Als Entschädigung wurden die Fürsten mit einer Apanage ausgestattet und
behielten bestimmte Privilegien, wie z.B. das Hissen eigener Flaggen, Titel etc.
Zwei weitere Territorien wurden in den fünfziger bzw. frühen sechziger Jahren
integriert: Pondicherry und Goa. Pondicherry wurde friedlich und nach
Verhandlungen mit den Franzosen 1954 Indien zurückgegeben. Das
portugiesische Regime ließ jedoch nicht mit sich verhandeln. Goa wurde im
Dezember 1961 von der indischen Armee okkupiert.
FOLIE Konsolidierung Indiens als Nation
Die nationale Bewegung trug entscheidend dazu bei, Indien politisch und auch
emotional zu einen und als Nation zu konstituieren. Diese Einheit zu bewahren,
aber auch auszugestalten, blieb die wichtigste Aufgabe indischer Regierungen.
Dabei war klar, dass dies nur unter säkularen und demokratischen Vorzeichen
geschehen könne. Nehru lebte dies vor, und er bestand auch darauf, dass es
Raum geben müsse für die Artikulation der unterschiedlichen
sozioökonomischen, kulturellen und politischen Stimmen Indiens.
14
Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass nach der Teilung Indiens
nicht länger die kommunalen Unterschiede, oder die Unterschiede zwischen
Parteien oder Territorien im Vordergrund standen, sondern Unterschiede von
Kaste, Klasse, Religion und Sprache. Dem Nationalkongress kam dabei
entscheidend zugute, dass er konsensorientiert war und eine lange Tradition in
der Aushandlung unterschiedlicher Positionen besaß. Dies war auch ein
wesentliches Moment der Einigung Indiens. Ein weiteres war die indische
Armee und die Bürokratie. Der gehobene Verwaltungsdienst rekrutierte sich
nach 1947 unabhängig von Klasse, Rasse oder Geschlecht, und unterschied nicht
nach regionaler Zugehörigkeit oder Religion.
Nach 1947 schritt die wirtschaftliche Integration Indiens voran, die
Kommunikations- und Transportnetze wurden ausgebaut. Der Schwerpunkt
wirtschaftlicher Entwicklung lag auf einer vom Staat geplanten
Industrialisierung. Im Bereich der Sozialreformen wurde auch das eine oder
andere angepackt: die Macht von Großgrundbesitzern wurde beschnitten, es gab
Sozialreformen, und Ansätze einer Landreform. Die Unberührbaren als Kaste
wurden abgeschafft. Allerdings gab es keine systematischen Bemühungen, das
Kastenwesen als Ganzes abzuschaffen. Im Gegenteil: das Kastenwesen wurde
für politische Zwecke instrumentalisiert und stabilisierte sich sogar. Mitte der
Fünfziger Jahre war der sozialreformerische Impetus verschwunden. Die
Überwindung sozialer Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung
aufgrund von Kaste, Religion, Sprache und ethnischer Zugehörigkeit spielten
nur eine geringe Rolle in der politischen Agenda.
FOLIE Das Sprachenproblem
Die indische Verfassung erkennt sechzehn Sprachen, darunter Englisch und
Sanskrit, als Hauptsprachen an.
Gandhi und Nehru hatten beide Hindi bevorzugt, wobei Schriftsprache Urdu war. Doch nachdem Pakistan Urdu als Sprache
eingeführt hatte und es für sich reklamierte, kam es darüber in Indien zu Auseinandersetzungen. Für Hindi sprach, dass es
von den relativ meisten gesprochen wurde und dass es zumindest im Norden in allen Städten mehr oder weniger verstanden
wurde. Die Verfassung sah deshalb vor, dass Hindi, geschrieben in Devnagri, Hauptsprache werden sollte, wobei Englisch
bis 1965 gleichermaßen anerkannt blieb. Dagegen wehrten sich dann mehrere Einzelstaaten. 1959 wurde schließlich
vereinbart, dass Englisch die Kommunikationsmedium zwischen der Zentrale in Delhi und den nicht Hindi sprechenden
Staaten bleiben solle. In diesen Staaten blieb dann die jeweilige Landessprache offizielle Sprache. Bis heute hat sich Hindi
weiter durchgesetzt, auch in den nicht Hindi sprechenden Staaten, vor allem aber Englisch als überwölbende Sprache, nicht
zuletzt wegen seiner weltweiten Bedeutung.
•
•
•
•
•
•
die Konsolidierung der Nation und die Lösung der linguistischen und
ethnischen Fragen
die Einleitung und Beschleunigung eines Entwicklungsprozesses unter
Führung des Staates
die Entwicklung einer unabhängigen und innovativen Außenpolitik
die Entwicklung demokratischer Strukturen
der Aufbau einer unabhängigen Verwaltung
die Förderung von Wissenschaft und Technologie
15
•
die Anfänge eines Sozialstaates
Partizipation
Am Beginn politischer Partizipation stand die Ausarbeitung einer Verfassung
seit 1947 und ihre Verabschiedung am 26. Januar 1950. Die ersten Wahlen
wurden über vier Monate Ende 1951, Anfang 1952 abgehalten. Sie waren das
bis dato größte demokratische Experiment der Weltgeschichte. Die Wahlen
erfolgten auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts für Erwachsene über
21 Jahre. Es gab über 173 Millionen Wahlberechtigte, die meisten von ihnen
arm, ländlich und nicht lese- und schreibkundig.
Nehru machte den Ausgleich zwischen den religiösen Gruppen zum zentralen Wahlkampfthema. Beachtlich war die
Wahlbeteiligung der Frauen: sie lag landesweit bei ca. 40% der wahlberechtigten Frauen. Auf der Grundlage des
Mehrheitswahlrechts errang der Kongress einen überwältigenden Sieg. Erstaunlich war auch der Erfolg der
Kommunistischen Partei (CPI), aber auch der Partei der Großgrundbesitzer und Fürsten. Sie kam auf landesweit ca. 22
Prozent. In der Nehru-Ära wurde noch einmal 1957 und 1962 auf Zentral- und Einzelstaatsebene gewählt. Die
Wahlbeteiligung lag 1951/52 bei 46 Prozent, 1962 bei 54%. 1957 errangen die Kommunisten im Staat Kerala die Mehrheit;
dies war die erste frei gewählte kommunistische Regierung der Welt. Sie wurde allerdings von der Zentrale 1959 zur
Aufgabe gezwungen.
Trotz der dominanten Rolle des Nationalkongresses wurde im Verlauf der fünfziger Jahre die Rolle von Oppositionsparteien
gestärkt. Sie konnten insbesondere auf Einzelstaatenebene Erfolge erzielen; dies war umso wichtiger, als die Einzelstaaten
über erhebliche Rechte verfügten. Allerdings litten darunter zahlreiche Reformvorhaben: Landreformen, Bildung, Gesundheit
und andere Sozialprogramme der Zentralregierung wurden von Einzelstaaten aufgeweicht oder umgangen.
Ebenfalls von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung Indiens war die
Tatsache, dass die Armee nicht zu einem Machtzentrum außerhalb der Kontrolle
der gewählten Regierungen wurde. Dies hatte mehrere Gründe: die Tradition der
Anerkennung ziviler Entscheidungsbefugnis; ihre relativ geringe Größe; und
ihre finanzielle Ausstattung. Die indische Regierung legte in den fünfziger
Jahren Wert darauf, Entwicklung zu betreiben. Dies ging zu Lasten des
Verteidigungshaushaltes und wirkte sich 1962 im chinesisch-indischen Krieg
negativ aus. Dafür spielte die Armee niemals die Rolle, die sie in vielen Staaten
der Dritten Welt einnahm.
Günstig für die friedliche Entwicklung Indiens in den 50er Jahren war die
Persistenz kolonialer Verwaltungspraxis unter den Bedingungen nationaler
Unabhängigkeit. Der Indian Civil Service und andere Organisationen wurden
beibehalten. Allerdings nahm ihre Effizienz im Verlauf der Zeit ab, die
Korruption nahm erheblich zu.
Der Ausbau des Bildungswesens war eine zentrale Forderung indischer
Regierungen. Hier wurde einiges erreicht, auch wenn das Bildungswesen in
einigen Bereichen nicht mit der demographischen Entwicklung Schritt halten
konnte. Weiterhin negativ wirkte sich die vor allem ländliche Armut und die
Persistenz semi-feudaler Strukturen in ländlichen Räumen aus.
Dennoch: auf dem undergraduate level nahm die Zahl der Studierenden in den Ingenieurswissenschaften und angewandten
Berufen von 13.000 in 1950 auf 78.000 in 1965 zu, die Zahl der Studierenden, die Agrarwissenschaften studierten, stieg von
16
2.600 in 1950 auf 14.900 in 1965. Allerdings nahmen auch Bürokratismus und institutioneller Konservatismus zu. Dies
führte ab Ende der fünfziger Jahre zu einem bis in die 1990er Jahre andauernden „brain drain“.
In 1951 waren nur 16% der indischen Bevölkerung lese- und schreibkundig. Auf dem Land waren es nur 6% der
Bevölkerung. Die Verfassung sah vor, dass 1961 für alle Schulkinder eine kostenlose Grundausbildung zur Verfügung stehen
müsse. Dieses Ziel wurde später auf 1966 und dann nochmals auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Mittel für
schulische Ausbildung wurden erheblich erhöht, und zwar im Zeitraum bis Mitte der sechziger Jahre um rund 500%.
Zwischen 1951 und 1961 verdoppelte sich die Zahl der männlichen Schüler und verdreifachte sich die Zahl der weiblichen.
In absoluten Zahlen: 1951 (Klassen 1-5): 13,77 auf 32.2 in 1965; Mädchen: 5,4 Millionen, 1965: 18,3 Millionen.
Weiterführende Schulen: 1950/51: Jungen: 1 Million; 1965/66: 4,1 Millionen; Mädchen: 0,2 Millionen auf 1,2 Millionen.
Anzahl der weiterführenden Schulen stieg von 7300 auf 24.500. 1965/66 waren insgesamt 61% der Kinder in einer
Grundschule, der Anteil der Mädchen betrug nur 43%. Analphabetismus war nach wie vor weit verbreitet und betrug 1991
noch immer 52%.
Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es 18 Universitäten mit insgesamt 300.000 Studierenden. Bis 1964 stieg die Zahl der
Universitäten auf 54, die Zahl der Colleges auf ca. 2.500 und die Anzahl der Studierenden auf 613.000. Die Anzahl der
weiblichen Studierenden wuchs um das sechsfache und betrug 1965/66 22%. Angesichts des Bevölkerungswachstums fielen
diese Zahlen jedoch relativ bescheiden aus. Insgesamt sanken die Standards, die Lehrmaterialien waren z.T. die gleichen wie
unter der kolonialen Herrschaft. Dies änderte sich erst grundlegend seit den 1980er Jahren.
Gleichstellung von Frauen: nach der Unabhängigkeit wurden Gesetze zur Einführung der Monogamie, der Scheidung
(Mann/Frau), zur Erhöhung des Heiratsalters, zur Versorgung von Frauen und zur Erbfähigkeit von Frauen verabschiedet. In
der Praxis allerdings dauerte es Jahrzehnte, bis diese Gesetze Breitenwirkung zeigten. Allerdings wurden diese Gesetze nicht
verbindlich für alle Religionen gemacht, was dazu führte, dass muslimische Traditionen vor Gesetz gingen.
Die Community Development Programs, die in den fünfziger Jahren mit großem Elan begonnen wurden, hatten nur wenig
Erfolg. Dies lag an der Persistenz traditioneller Machtverhältnisse auf dem Land, der Bürokratisierung der Programme.
Schwachpunkt war, dass die Programme die Klassen- und Kastenunterschiede nicht berücksichtigten, und nichts an der Lage
der Hälfte der ländlichen Bevölkerung änderten, die ohne Land waren.
FOLIE Pakistan
Pakistan war das einzige Territorium im Prozess der Dekolonisierung, das völlig
neu gebildet wurde. Seine Machtelite kam zum Teil aus der indischen Diaspora,
allen voran M.A. Jinnah. Der Führung der Muslimliga waren die komplexen und
sehr unterschiedlichen sozio-ökonomischen Strukturen im Panjab und in
Bengalen wenig bekannt. Im Panjab waren die Muslime Bauern und
Feudalherren mit zum Teil großen Besitzungen. In Bengalen arbeiteten Muslime
in der Regel als Pächter von Hindu-Großgrundbesitzern. So waren auch die
soziale Basis der regionalen Eliten unterschiedlich. Im Panjab handelte es sich
um Vertreter der Feudalherren, die dort oft noch die Funktion von
Klanoberhäuptern innehatten. In Bengalen gab es eine sehr aktive muslimische
Bauernpartei. Es gab also keine gemeinsame soziale Grundlage für einen Staat.
Jinnah ging als Generalgouverneur, nicht als pakistanischer Premier, in die neue
Hauptstadt Karachi, starb dort aber bald im September 1948. Was sollte aus
Pakistan werden: die Muslimliga war als einigende Kraft ungeeignet; eine
parlamentarische Tradition gab es nicht, und auch Jinnah hatte, indem er als
Generalgouverneur, und nicht als Premier nach Karachi gegangen war, diese
nicht eingeführt. In die Bürokratie des neuen Staaten rückten viele gut
ausgebildete muslimische Flüchtlinge auf, die erst in der nächsten und
übernächsten Generation von Einheimischen ersetzt wurden. Das staatstragende
Element wurde also die Armee – auch schon in der Kolonialzeit waren
schwerpunktmäßig Panjabis Soldaten gewesen.
17
In Ost-Pakistan waren die Verhältnisse ganz anders: es gab keine einheimische
Bürokratie, kaum Bengalen in der Armee. Ost-Pakistan wurde also bis zur
Sezession Bangladeshs wie eine Kolonie verwaltet. Diese Sezession stand am
Ende einer langen Autonomiebewegung, die von Karachi unterdrückt wurde.
Streitpunkte waren die Sprache (Bengalis forderte Bengali als gleichwertige
Sprache neben dem Urdu). Es kam immer wieder zu Aufständen, so 1965, als
der pakistanische Präsident Ayub Khan einen Krieg gegen Indien vom Zaum
brach. Aus den ersten allgemeinen Wahlen in Pakistan ging 1971 in Bengalen
(Ost-Pakistan) die Awami-Liga als Sieger hervor. Sie trat für Autonomie ein.
Nun wurde diese Partei auch in Karachi stärkste Fraktion, und damit hätte die
Awami-Liga den Premierminister stellen müssen. Damit wollte man sich im
Panjab nicht abfinden. Indien half der Awami-Liga, und die pakistanischen
Truppen, die in Ost-Pakistan die Herrschaft Karachis wieder herstellen sollten,
mussten kapitulieren. Darauf hin wurde im früheren Ost-Pakistan die Republik
Bangladesh ausgerufen.
Der pakistanischen Armee war von vornherein klar, dass sie zahlenmäßig den
indischen Truppen immer unterlegen bleiben müsse. Pakistan heizte daher den
Kalten Krieg in Südasien an: es wurde Mitglied von CENTO und SEATO,
erhielt massive Militärhilfe. Dadurch wurde die Armee im Staat immer
mächtiger; nachdem sie auch die Bürokratie kooptierte, nahm der Einfluss von
Parteien und Politikern weiter ab. 1958 schließlich putschte sich General Ayub
Khan an die Macht. Von Ausnahmen abgesehen, haben die
Oberkommandierenden der Streitkräfte sich stets dazu berechtigt gefühlt, in
Putschen die Macht an sich zu ziehen. Weiter beschleunigt wurde die Macht der
Armee durch den Kashmir-Konflikt. Kashmir war bei der Teilung Indien
zugesprochen worden, es wurde von einem Hindu-Maharaja regiert. Pakistan
erkannte dies nicht an und besetzte Teile des muslimischen Kashmir. 1949 kam
ein Waffenstillstand zustande, die Waffenstillstandslinie wurde de facto die
Grenze zwischen Indien und Pakistan. Auch 1965 gelang es Pakistan nicht, das
Kashmir unter seine Kontrolle zu bringen. Die indische Armee blieb siegreich,
Karachi musste eine Gewaltverzichterklärung unterzeichnen, an die man sich
dort nur sehr ungern erinnerte.
18
Herunterladen