REUTERS Manöver auf einer kanadischen Polarinsel, Russland-Fahne am Grund des Nordpols, dänische Soldaten mit Flagge auf der Insel Hans: OZEANE „Wettlauf zu den letzten Grenzen“ Die Welt nimmt eine unermessliche Goldgrube ins Visier: den küstennahen, rohstoffreichen Meeresgrund. Noch ist er weitgehend herrenlos, aber nicht mehr lange. Der Streit um Besitzansprüche und Ausbeutungsrechte ist eröffnet. E s ist ein dämmriger Januartag im einen gigantischen Flottenstützpunkt. Of- verbindlicher Rechtstitel sichern immer Jahr 2010. Patrouillenboote mit eis- fiziell spricht Washington von einem neu- größere Soldatenkontingente die Förderfesten Rümpfen und der rot-weißen en Brückenkopf im Kampf gegen den Ter- plattformen ab. Ahornflagge am Heck stoßen vor in die ror. In Wahrheit will man knallhart AnSo oder ähnlich könnte der Kampf um einsamen Gneis- und Gletscherwelten sprüche durchsetzen – auf unterseeische die rohstoffreichen Meeresböden demnördlich der Hudson Bay. Sie setzen Elite- Mineralien, auf Gas und auf Öl. Vor dem nächst verlaufen – nach Ansicht des Global soldaten ab, „Ice Ranger“, gedrillt für Internationalen Seegerichtshof in Ham- Business Network (GBN), einer renomKämpfe jenseits des Polarkreises. Der Sen- burg zanken die Beteiligten um polare mierten Beratungsagentur mit Sitz in San der CBC berichtet live vom größten Ma- Claims. Gutachten steht gegen Gutachten. Francisco, Kalifornien. Ein Szenario, genöver in der Geschichte Kanadas. 15 Mil- Die Ölfirmen setzen Fakten und beginnen wiss. Und doch wirkt es auf bedrückende lionen Menschen sehen danach die Repor- Probebohrungen, unter Militärschutz. Statt Weise realitätsnah. tage bei YouTube, ihr Titel heißt: Denn längst werden Strategien Nordpol Alaska „Ist das der Beginn des entwickelt, wie auf die uner(USA) nächsten Kalten Kriemesslichen Ressourcen unBarentsJapan ASIEN see ges?“ ter dem Meeresboden Insel Hans Die anderen Zugriff genommen Kanada Grönland Okinotori EUROPA Arktis-Anrainer Paracelsus-Inseln werden kann. Wie (dänisch) ziehen nach. Däman BesitzanSpratly-Inseln nemarks Marisprüche erheben NORDAMERIKA Pazifischer ne kreuzt vor und ausweiten Ozean Grönland, ruskönnte. Und wie Osttimor sische Fregatzu verhindern AFRIKA Atlantischer ten durchpflüist, dass andere Ozean gen das TreibNationen dabei Indischer AUSTRALIEN Ozean eis an den querschießen. SchmelzränVorige Woche dern der Poltrafen sich auf kappe, die USA Grönland Minister SÜDAMERIKA Kerguelen errichten in Fort aus Russland, KanaPrudhoe in Alaska da, Norwegen, Däne108 Ausland NTV / DPA ROYAL DANISH NAVY / AFP Meer ragt, so kann die Uno-Behörde einen Nutzungsbereich von 350 Seemeilen zugestehen, in Sonderfällen sogar noch mehr. Das verleitet manche Regierungen zu ungewöhnlichen Anstrengungen. Ein Parlamentsvizepräsident beispielsweise, der im Namen seiner Nation am Nordpol auf Tauchstation geht, ist ein Novum in der Weltpolitik: Es war der Russe Artur Tschilingarow, 66, der sich am 2. August 2007 mit der Tauchkapsel „Mir-1“ vom Forschungsschiff „Akademik Fjodorow“ in 4261 Meter Tiefe auf den Arktisboden absenken ließ. Scheinwerfer irrlichterten über gelblichen Schlamm. Kein Lebewesen war zu sehen. Unter dem Druck der Wassermassen begann die Kapsel zu knirschen, „als wollte das Meer uns zerdrücken“, erinnert sich ein Expeditionsmitglied. Doch die Besatzung erfüllte mannhaft ihren Auftrag. Ein Roboterarm pflanzte eine kleine russische Fahne aus Acryl in die arktische Tiefsee, an einem Ständer aus rostfreiem Titan. Wladimir Putin empfing die Rückkeh„Nutze die Arktis oder verliere sie“ rer eigens in seiner Residenz Nowo-Ogarmark und den USA, um ein „wildes Wett- geht es um den letzten globalen Koloni- jowo bei Moskau und ließ wissen, solche rennen zum Nordpol“ zu verhindern, wie sierungsakt: 123 Jahre nach der Berliner Expeditionen seien „nicht nur für die Wisder dänische Gastgeber Per Stig Møller er- Konferenz, auf der Afrika aufgeteilt wurde, senschaft wichtig, sondern auch geopoliklärte: „Wenn wir an die Bodenschätze rüstet sich die Staatenwelt für die Par- tisch, vom Standpunkt der Interessen Russdort unter dem Meeresboden denken und zellierung des verbliebenen, des allergröß- lands in diesem Teil der Welt“. „Die Arktis war immer russisch und an den derzeitigen Ölpreis, dann wissen ten Kontinents und seiner Schätze. Die Preisfrage ist, wem die Ozeane künf- bleibt russisch“, ergänzte der weißbärtige wir, dass hier unglaublich viel Geld auf tig gehören werden, zumindest ihre breiten Patriot Tschilingarow. „Wenn nicht wir uns dem Spiel steht.“ Noch ist es eine Konkurrenz jenseits der Randbereiche. Die Antwort hängt vor al- mit der Aneignung der nördlichen MeeresSchlagzeilen, noch sind nur ein paar For- lem vom Ausmaß des Festlandschelfs ab, gründe befassen, tun es andere.“ Der stuschungsschiffe unterwegs, um zu vermes- das Küstenstaaten für sich reklamieren dierte Ozeanologe, ein Parteigänger Putins, sen, wie weit ein Festlandschelf in den können, vom Ausmaß ihres Kontinental- wurde prompt zum „Helden Russlands“ Ozean abfällt, also der küstennahe, fla- sockels unter Wasser. Und wieder mal ha- und zum Akademiemitglied ernannt. Sein Heimatland beansprucht insgesamt chere Meeresboden. Im weltweiten Durch- ben die schon 1885 tonangebenden Induschnitt beträgt die Verlängerung eines Kon- striestaaten die besten Karten. Sie können 1,2 Millionen Quadratkilometer Meerestinents unter Wasser 74 Kilometer. Manche am ehesten den nötigen Forschungsauf- boden, unter dem Milliarden Tonnen Öl Festlandsockel sind allerdings wesentlich wand treiben, um ihre Forderungen aus- und Gas vermutet werden. Moskau stützt sich auf Artikel 76 der Uno-Seerechtskonlänger, das Sibirische Schelf erstreckt sich sichtsreich vorzutragen. Grundsätzlich wird allen Küstenstaaten vention von 1982, die den Begriff Kontisogar 1500 Kilometer weit. Dahinter folgt eine ausschließliche Wirtschaftszone von nentalschelf definiert – und hofft optimisdann immer der Kontinentalabhang. Um ein großes Schelf nachzuweisen, 200 Seemeilen (370,4 Kilometer) zuge- tisch auf eine 350-Seemeilen-Zone. Die Chancen stehen allerdings nicht müssen Tiefenmessungen erfolgen und vor standen. Hier verfügen sie über souveräne allem Gesteinsproben vorgelegt werden, Rechte; ihnen gehört alles, was dort lagert, gut; ein erster Antrag wurde 2002 zudie denen des Festlands entsprechen. Wer kraucht und schwimmt. Gelingt der Nach- rückgewiesen, die Russen sollten nachAnsprüche auf eine besonders große weis, dass das Festlandschelf weiter ins bessern. Moskaus Großmachtpolitiker ficht das nicht an. „Unsere Schelfzone erhebt, muss Präsenz in der Arktis sollte entsprechende Belege bei laut Seerechtskonvention der Uno für alle offensichtlich sein“, der zuständigen Uno-Beverkündete Konteradmiral hörde einreichen. Nur so Andrej Tkatschow. Schon kann das Anrecht auf eine 1 2 3 flogen wieder strategische Ausweitung der nationai Meeresspiegel Bomber über das Eismeer, len Feuchtzonen begründet wie donnernde Vorboten werden. KontinentalSchelf jenes Konflikts, den das Zuständig ist die Festabhang AUSSCHLIESSLICHE GBN skizzierte. Schon landsockel-GrenzkommissiTiefsee WIRTSCHAFTSZONE beschwor die Zeitung on in New York, sie ist be350-MEILEN-ZONE Hoheitliche Rechte zur „Rossiiskaja gaseta“ eine setzt mit Experten verINTERNATIONALES Erforschung und wirtschaft- Wirtschaftszone, „Schlacht um die Arktis“. schiedenster naturwissenGEWÄSSER lichen Nutzung des Meeres erweiterbar auf Jedes Mitglied der Unoschaftlicher Disziplinen, mit Gemeinsames Erbe maximal 350 sowie des Meeresbodens; Konvention, das seine Hydrologen, Geologen, Geoder Menschheit Seemeilen 200 Seemeilen Hoheitszone korrigieren grafen. Juristen aber sind möchte, muss spätestens nicht vertreten, und das ist See0 meilen 100 200 300 400 500 zehn Jahre nach Ratifizieein Problem. Schließlich Maritime Zonen d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 8 109 BENT PETERSEN / SCANPIX / DPA Ausland Teilnehmer der Arktiskonferenz vor Grönland (am 28. Mai): Enorme Begehrlichkeiten „Wettlauf zu den letzten Grenzen“. Allerdings: Die Uno schlichtet keine Streitfälle, das bleibt Juristen oder Diplomaten überlassen. Ihre Experten bestätigen allenfalls – unter anderem durch Analyse eingereichter Gesteinsproben –, ob ein Unterwasser-Plateau tatsächlich so weit reicht, wie ein Staat es gern hätte. Fällt die Entscheidung positiv aus, so kann jeder andere Staat binnen drei Monaten Protest erheben. In diesem Fall geht das Dossier zurück, alle Ansprüche bleiben eingefroren. Den naheliegenden Weg haben jetzt Russland, Dänemark, Norwegen, Kanada und die USA beschritten: Sie trafen sich zur Grönland-Konferenz, um die ArktisFrage einer einvernehmlichen Lösung zuzuführen. Doch dass die Dinge derzeit friedlich laufen, ist keine Garantie für später, wenn die Förderung von Rohstoffen aus den Schelfzonen ein profitables Alltagsgeschäft geworden ist. Denn die Begehrlichkeiten und damit das Konfliktpotential sind enorm. Die zurzeit definierten Küstenzonen werden auf global 60 Millionen Quadratkilometer geschätzt. 15 Millionen könnten DORAN CLARK / GETTY IMAGES rung des Abkommens eine entsprechende Eingabe machen. Für 122 Länder läuft die Frist am 13. Mai 2009 ab. Es ist der Stichtag für die halbe Welt. Auch vorher oder zwischendurch kann eine Regierung Wünsche anmelden. Zweimal jährlich nimmt die New Yorker Kommission Änderungsbegehren entgegen und bearbeitet sie. Die große Debatte um das Eigentum am Menschheitserbe Meer aber hat schon jetzt begonnen, ein knappes Jahr bevor die Anträge dutzendweise in New York eintreffen werden. Australien war der eigentliche Motor. Bereits 1982 unterzeichnete die Regierung in Canberra das Uno-Abkommen und beschloss zugleich eine eigene maritime Agenda. Der amtierende Energieminister Martin Ferguson ist wie seine Vorgänger der Überzeugung, dass die lichtlosen Tiefen der Ozeane „eine Goldgrube von ungeahnten Dimensionen“ sind. Das hat insbesondere die Franzosen zu einer Vermessungsoffensive angespornt. Walter Roest, Direktor am Forschungsinstitut für die Nutzung des Meeres (Ifremer) bei Paris, spricht von einem Ölplattform in der Arktis: Ausweitung der nationalen Feuchtzonen 110 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 8 hinzukommen, drei Viertel der Fläche Nordamerikas. Allein Frankreich könnte sich dank seiner Überseebesitzungen von rund elf Millionen auf zwölf Millionen Quadratkilometer verbessern. Insgesamt 14 Vermessungseinsätze sind die Franzosen bislang gefahren. Mit Spezialfrachtern von Ifremer, mit dem Forschungsschiff „Marion Dufresne“ des Instituts für Polarforschung, mit Fregatten der Marine. Bei bis zu zehn Windstärken, bei Seegang mit acht Meter hohen Brechern. Mehr als vier Wochen lang untersuchte allein der Geologe Roland Vially, 50, mit der „Marion Dufresne“ und einer Equipe von 15 Wissenschaftlern und zwei Dutzend Seeleuten den Meeresboden zwischen 200 und 5000 Meter Tiefe. Ein Sonar mit breitem Streuwinkel lieferte Daten, mit denen eine plastische Meeresbodenkarte erstellt wurde. Das Echolot ermöglichte es, den vulkanischen Gesteinsaufbau am Übergang vom Kerguelen-Plateau zur Tiefsee zu erforschen. Die Dokumente werden bald der UnoBehörde vorgelegt. Roland Vially ist mit seiner Mission zufrieden: „Wir wollten unsere UnterwasserClaims abstecken, in diesem Fall auch gegenüber den Australiern. Es gab keine Schwierigkeiten.“ Wo es zu Überschneidungen kam, bei den Kerguelen, vor Neukaledonien, einigte man sich mit Canberra oder tauschte zumindest Forschungsergebnisse aus. Richtigen Zoff hatte Australien bisher nur mit dem kleinen Osttimor. Zwischen beiden Staaten wird schon Öl gefördert, auch hier fand sich eine Kompromisslinie. Allerdings haben solche armen Staaten weder Machtmittel, um Konflikte erfolgreich durchzustehen, noch sind sie ohne weiteres imstande, ihre Ansprüche wissenschaftlich zu belegen. Und die Supermacht USA? Sie ist der Seerechtskonvention noch nicht einmal beigetreten. Ausnahmsweise bremsen weder die Regierung Bush noch die Industrie, sondern erzkonservative Senatoren, die jeden weiteren Uno-Vertrag als Knechtung betrachten und die nötige Zweidrittelmehrheit im Senat blockieren. Also begnügen sich die Vereinigten Staaten mit Messungen. Dieses Jahr geben sie 5,6 Millionen Dollar aus für den Beweis, dass ihr Kontinentalsockel breiter ist als 200 Seemeilen: Gleich an die 200 Kilometer mehr als vermutet sollen es im nördlichen Alaska sein. Nachbar Kanada handelte bereits, als wollte er das Szenario des Global Business Network Wirklichkeit werden lassen. Nachdem die Russen die ersten Fernbomber seit den Tagen des Kalten Krieges über die Arktis geschickt hatten, mobilisierte Ottawa zwei Kriegsschiffe, ein U-Boot sowie 600 Soldaten und Polizisten zur „Operation Nanook“. Premier Stephen Harper gab bekannt, sein Land werde bis zu acht eisgängige und bewaffnete Schiffe bauen für Polarpatrouillen, Kostenpunkt 3,1 Milliarden Dollar. 100 Millionen werden in einen neuen Tiefwasserhafen bei der ehemaligen Minenstadt Nanisivik im Norden investiert. Dazu baut Kanada ein Kaltwetter-Trainingszentrum für Soldaten in Resolute Bay. Harper will ganz einfach große Teile der Arktis: „Wir verstehen als erstes Prinzip arktischer Souveränität: Nutze sie oder verliere sie.“ Kanada streitet sich deshalb mit Dänemark über Hans, eine Insel, die über einen Meeresrücken möglicherweise mit dem Nordpol verbunden ist. Es streitet mit Russland über mehrere Wasserbereiche. Es streitet sich sogar mit den USA über die Nordwestpassage. Auch wenn sich die Minister auf Grönland vergangene Woche verständigten, Streitereien um den Nordpol künftig unter Uno-Regie friedlich zu regeln, so prognostizieren Experten wie Scott Borgerson vom US-Forschungsinstitut Council on Foreign Relations, ein früherer Offizier der Küstenwache, doch „einen verrückten und bewaffneten Wettlauf um Rohstoffe“ – wobei es besonders verrückt im Pazifik zwischen China, Japan, den Philippinen und Vietnam zugehen könnte. Warum wohl sorgt sich Japan derzeit so liebevoll um 40 000 Korallen, die Meeresbiologen der staatlichen Fischereibehörde auf Japans südlichster Insel Okinotori angesiedelt haben? Weil das unbewohnte Eiland zwischen Taiwan und Guam aus zwei winzigen Erhebungen besteht, die infolge des Klimawandels bald verschwinden könnten – und weil Tokio rund um dieses Zwerg-Eiland eine Meereszone von 400000 Quadratkilometern beansprucht, eine Fläche größer als Japan selbst. Peking streitet ab, dass es sich überhaupt um eine Insel handelt, mit der sich völkerrechtlich argumentieren ließe. Trotzdem versucht Japan, die Korallen anzusiedeln, damit sie die Erosion der strategisch wichtigen Landtupfer stoppen. So bizarr die Feinheiten dieses chinesisch-japanischen Zwists auch wirken: Es geht natürlich um Rohstoffe, etwa um Gasvorkommen, und es geht um militärische Kontrolle über die Taiwan umgebenden Gewässer. Und auch im Südchinesischen Meer dampft immer wieder Ärger hoch. Seit Jahrzehnten streitet Peking mit Taiwan, Vietnam, den Philippinen und Malaysia um die Spratly- und die Paracelsus-Inseln, wo ebenfalls Öl und Gas vermutet werden. Die Herrschaft über die Meere sei unabdingbar für die Entwicklung eines Landes im 21. Jahrhundert, eiferten chinesische Patrioten im Internet: „Garantiert wird es einen Krieg zwischen China, Japan, Vietnam und anderen geben.“ Rüdiger Falksohn, Uwe Klußmann, Cordula Meyer, Jan Puhl, Stefan Simons, Wieland Wagner d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 8 111