6 Resümee und Ausblick - diss.fu

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6 Resümee und Ausblick
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Bevor die Untersuchungsergebnisse dargestellt und theoretisch vertieft werden, wird
zunächst ein zusammenfassender Überblick über die einzelnen Kapitel und deren
Teilergebnisse gegeben.
6.1 Zusammenfassung der Untersuchung
Ausgehend von dem Untersuchungsgegenstand der europäischen Netzwerke der
Sozialen Arbeit und den verschiedenen zugrunde gelegten Grundannahmen wurde
in einer praxistheoretischen Annäherung an den Gegenstand die Fragestellung formuliert, inwieweit europäische Netzwerke in ihrem besonderen Bedingungskontext
geeignet und in der Lage sind, zu einem erfolgreichen transnationalen Erfahrungsaustausch unter Akteuren der Sozialen Arbeit beizutragen. Anhand einer qualitativen Analyse einzelner ausgewählter Netzwerke wurde untersucht, was die derzeit so
populären europäischen Netzwerke tatsächlich leisten, ob sie in der Praxis in der
Lage sind, den organisationsbezogenen Austausch und die Vernetzung in der Sozialen Arbeit zu unterstützen und ob sie eine geeignete Anpassung an die im Rahmen
des Strukturwandels geänderten Bedingungen und Lebenswelten bieten. Dieser Fragestellung wurde exemplarisch an Netzwerken im Bereich der Armutshilfe nachgegangen. Die Abbildung 6 auf der folgenden Seite stellt die Untersuchung zusammenfassend dar.
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161
Im Verlauf der Untersuchung wurde vor dem empirischen Einstieg in das Feld eine
Erörterung des Netzwerkkonzeptes, eine Betrachtung des Untersuchungsfeldes sowie eine Methodendiskussion vorgenommen. Die hier erzielten Teilergebnisse sind
in die Untersuchung der einzelnen Netzwerke eingeflossen. Die Erörterung des
Netzwerkkonzeptes anhand der vorliegenden Literatur hat die breite begriffliche
Verwendung des Netzwerkes verdeutlicht, die neben dem methodischen und dem
theoretisch-analytischen Zugang eine metaphorische Begriffsverwendung nahelegt.
Die vorhandenen Ansätze zum Netzwerkkonzept werden entsprechend in die formale Netzwerkanalyse (methodische Ansätze) und die Analyse interorganisationaler
Netzwerke (theoretisch-analytische Zugänge) eingeteilt. 328 Die breite begriffliche
Verwendung des Netzwerkkonzeptes erfordert eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Die Ansätze der interorganisationalen Netzwerke bilden einen
geeigneten Anknüpfungspunkt für die Untersuchung, da sie in der Lage sind, den
Sinngehalt von Netzwerken zu hinterfragen.
Zur weiteren Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes wurde eine nähere Betrachtung des Untersuchungsfeldes vorgenommen. Es wurde herausgearbeitet, dass
sich das Bild von Armut in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend geändert hat.
Im Zuge der Globalisierung und europäischen Integration gewinnen europäische
Rahmenbedingungen an Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung von Armut und
auch für die Armutsbewältigung. Die EU setzt mit ihrem in 2000 verabschiedeten
Armutsprogramm hier an und mit der offenen Methode der Koordinierung wird ihr
zumindest in Teilen die notwendige Befugnis zur Einflussnahme auf nationale Missstände gegeben. Das gewandelte Armutsbild stellt die Soziale Arbeit vor neue Herausforderungen. Bisherige Hilfeansätze greifen nicht mehr, die Individualisierung
und Entgrenzung von Armut erfordern eine flexible, auf Vernetzung ausgerichtete
Hilfe und einen fachlichen Austausch zwischen Nationen mit ähnlichen Problemlagen. Diese Notwendigkeit wird vom Armutsprogramm der EU erkannt und aufgegriffen. Entsprechend wurden Förderprogramme zur Unterstützung von Netzwerken
und zur Förderung des Austausches entwickelt.
Die Vielzahl europäischer Vernetzungsformen lassen sich grob untergliedern in EUgeförderte Netzwerke, unabhängige Netzwerke und lose Vernetzungen. Da die losen Vernetzungen, die häufig in Form von Projektpartnerschaften gebildet werden,
in der Regel nur für einen befristeten Zeitraum bestehen und über wenig netzwerkeigene Organisations- und Kommunikationsstrukturen verfügen, wurden sie in der
Auswahl der zu untersuchenden Netzwerke nicht berücksichtigt. Tatsächlich finden
328
vgl. Weyer, J. (2000a)
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sich jedoch Formen loser Vernetzungen auch als Bestandteil der EU-geförderten und
der unabhängigen Netzwerke. Das EAPN wurde aufgrund seiner exklusiven Förderung durch die EU als das europäische Netzwerk zur Bekämpfung von Armut und
Ausgrenzung als erstes zu untersuchendes Netzwerk ausgewählt. Die Auswahl der
weiteren Netzwerke, Caritas Europa, und Haus Neudorf, ATD – 4. Welt, erfolgte
anhand bestimmter Kriterien, die sich aus der Untersuchung des EAPN ergeben haben: Während bei Caritas Europa die strukturell engere Organisationszugehörigkeit
und das gemeinsame Leitbild die Auswahlkriterien bildeten, waren bei Haus Neudorf die Rückkopplungsprozesse innerhalb des Netzwerkes und die Partizipation
Betroffener die entscheidenden Momente. Um qualitative Aussagen über erfolgreiche Vernetzungsstrategien eruieren zu können, wurde eine detaillierte fallbezogene
Analyse vorgenommen. Das Untersuchungsdesign sah entsprechend ein fallrekonstruktives Vorgehen nach Hildenbrand vor. 329 Demnach wurde zunächst ein Netzwerk ausgewählt und in seinem Sinngehalt als Ganzes in Form von Fallmonografien
rekonstruiert. Um die komplexen Netzwerkgebilde in ihrer Gesamtheit erfassen zu
können, wurde zur Erhebung der Daten eine Methodentriangulation zugrunde gelegt, die qualitative Interviews mit Netzwerkvertretern mit einer Dokumentenanalyse
und Interviews mit externen Experten verband. Die konkreten Untersuchungsergebnisse, die Typisierung der Netzwerke und ihre theoretische Vertiefung sowie ein
Ausblick für die Soziale Arbeit sind Gegenstand der abschließenden Erörterungen.
6.2 Typisierung europäischer Netzwerke
Auf der Grundlage der Fallmonografien und ausgehend vom erhobenen Material
kann nun eine Typisierung der Netzwerke vorgenommen werden: Es lassen sich die
Kommunikationsnetzwerke, die Organisationsnetzwerke und die Bewegungsnetzwerke als strukturelle Typisierung unterscheiden, um Tendenzen der europäischen
Netzwerkarbeit aufzuzeigen und einzelne Typen mit ihren Gestaltungselementen zu
kennzeichnen.
6.2.1 Kommunikationsnetzwerke
Die Kommunikations- oder auch Experten- oder Professionalisierungsnetzwerke haben sich in Folge veränderter Politikprozesse durch die Europäisierung gebildet. Die
dadurch entstandenen neuen politischen Räume haben auf der einen Seite zu einer
veränderten Form der Zusammenarbeit von Organisationen mit politischen Organen
der europäischen Union geführt. Auf der anderen Seite verstehen sich diese Netz-
329
vgl. Hildenbrand, B. (1999)
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werke als Diskursmanager, die auf eine professionelle Politisierung der Fachöffentlichkeit zielen und damit einen öffentlichen Raum entstehen lassen. In diesem Kontext werden eine interdisziplinäre, transnationale Zusammenarbeit und der Austausch von Erfahrungen befördert.
Die EU-Organe nutzen die Netzwerke als Experten für die jeweiligen Fachthemen,
fördern sie entsprechend und gestehen ihnen einen konsultativen Status zu. Die
Netzwerke verpflichten sich, mit ihren Mitgliedern eine repräsentative Vertretung
der jeweiligen Länder zu ermöglichen und die EU über fachspezifische Entwicklungen und Bedarfslagen zu informieren. Gleichzeitig haben die Netzwerke den Auftrag, die Mitglieder, quasi als Transmissionsgremium, mit Informationen über die
Planungen und Politik der EU zu versorgen und auf deren Akzeptanz hinzuarbeiten.
Um diesen Wissenstransfer leisten zu können, benötigen sie Partner, die sie als Experten beziehungsweise Organisationsmanager in den verschiedenen Ländern unterstützen. Mit diesem Netzwerkkonzept hat sich in den letzten Jahren eine professionalisierte Kommunikationsstruktur zur Verständigung über politische Prozesse
herausgebildet. Über das Wissens- und Diskursmanagement hinaus, das in erster
Linie Informationen strukturiert und transportiert und damit wichtige Debattenbeiträge liefert, besitzt dieses Konzept geeignete Ansatzmöglichkeiten für Netzwerke,
als politischer Akteur aufzutreten. Die zentrale Position dieser Netzwerke als Vermittler zwischen politischen Organen der EU und Interessenvertretern der verschiedenen europäischen Länder ermöglicht, mit dem vorhandenen Wissenspotential eine
Professionalisierung und internationale Kompetenzentwicklung der Mitglieder anzuschieben, sie werden zu professionellen Qualitätsentwicklern. Auf dieser Grundlage
können sie bei der Intensivierung demokratischer Prozesse als Vorreiter auftreten
und ihre Mitglieder als „Enabler“ beziehungsweise Demokratisierer zum Lobbying
mit dem Auftrag der Armutsbekämpfung motivieren und eine Partizipation der nationalen Organisationen im geeinten Europa erreichen. Diese Prozesse sind in hohem
Maße abhängig von funktionierenden Kommunikationsstrukturen zur Basis und einer entsprechenden Bereitschaft zur Mitarbeit im Netzwerk, da das Netzwerk von
der Basis den Input für politische Forderungen benötigt, um entsprechend auf europäischer Ebene agieren zu können. Politikberatung des Netzwerkes wird so zur Politikfundierung.
Das EAPN ist in diesem Sinne ein Kommunikationsnetzwerk.
6.2.2 Organisationsnetzwerke
Ebenfalls im Zuge der zunehmenden Europäisierung sind die Organisationsnetzwerke entstanden. Die Notwendigkeit ihrer Entstehung ergibt sich aus der Zielsetzung,
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eine Verbesserung der Fachpraxis durch die Internationalisierung ihrer Strukturen
und Kommunikation zu erreichen. Im Vordergrund stehen somit vorrangig interne
Belange im Sinne des Qualitätsmanagements und des organisationalen Lernens.
Organisationsnetzwerke auf europäischer Ebene, die in der Regel lose organisiert
sind und als übergeordnetes Koordinationselement betrachtet werden, dienen somit
für die bestehenden verbandlichen Strukturen auf den jeweiligen nationaler Ebenen
dazu, den internen Zusammenhalt untereinander zu stärken und sich europäisch zu
positionieren, zum Beispiel durch Unterstützung beim Aufbau von Außenkontakten.
Bei den Organisationsnetzwerken handelt es sich dementsprechend um eine organisationale Internationalisierung: Die Verbände internationalisieren sich durch ein
europäisches Netzwerk, das durch eine lose Kopplung der Einzelorganisationen mit
dem Ziel der Vernetzung, der Nutzung von Standortvorteilen und, in höherem Maße
als die Kommunikationsnetzwerke, zur verbandlichen Interessenvertretung im Sinne
von Fördermittelakquise, Lobbying oder Ähnlichem dienen. Ein großer Vorteil dieser
Netzwerke besteht darin, dass es keine grundsätzlichen Vermittlungsprobleme zwischen den Organisationsebenen gibt, da die internen Kommunikationsstrukturen in
der Organisation klar geregelt sind. Entscheidend sind hier auch das Selbstverständnis der Organisation an sich und die starke Identität, die u.a. durch den traditionellen Auftrag der Armenfürsorge und durch das Zusammengehörigkeitsgefühl als Teil
eines Ganzen, (bei Caritas Europa mit der Großorganisation der Kirche im Hintergrund) mitgetragen wird. Dieses Selbstverständnis wirkt sich nicht nur auf die netzwerkinterne Kommunikation und den Zusammenhalt aus, sondern insbesondere auf
das fachliche Handeln, das Armutsverständnis und die praktische Arbeit an der Basis. Die starke Identität mit dem Netzwerk ergibt sich in erster Linie aus dem gemeinsamen Armutsverständnis. Damit sind wichtige Voraussetzungen geschaffen,
um inhaltlich viel tiefer in die Armutsbekämpfung einzusteigen als es bei den Kommunikationsnetzwerken, die lediglich Informationen transportieren, möglich ist.
Beispielhaft für die Organisationsnetzwerke kann Caritas Europa genannt werden.
6.2.3 Bewegungsnetzwerke
Bei den Bewegungsnetzwerken lässt sich die Tendenz der Steuerung der Arbeit
durch die Inhalte noch viel deutlicher wahrnehmen. Während die Organisationsnetzwerke die Bildung einer europäischen Netzwerkebene gleichzeitig zur Verbesserung ihrer Interessenwahrnehmung vorantreiben, ist in den Bewegungsnetzwerken
die inhaltliche Arbeit zentral. Die europäische Netzwerkebene wird als Instrument
genutzt, um die inhaltliche Arbeit effektiver transportieren zu können. Die Netzwerkstrukturen sind den Inhalten entsprechend untergeordnet, die sie stützen.
Prägnanter Bestandteil dieses Netzwerktypes ist Empowerment als basisdemokrati-
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scher Ansatz. Betroffene werden als Experten beteiligt, dies ergibt sich aus dem
selbst übernommenen Auftrag als Advokat sozialer Gerechtigkeit. Es geht nicht nur
darum, für Betroffene zu kämpfen, sondern auch darum, diese zum aktiven Kampf
gegen ihre Situation zu befähigen. Die Netzwerkvertreter handeln dabei aus der
Überzeugung, sich ehrenamtlich einzusetzen, als Artisans de la démocratie, als
„Praktiker“ der Demokratie. 330 Diese Überzeugung der Netzwerkvertreter, die stark
persönlich motiviert ist und weder Strukturen noch Strategiepläne braucht, um Mitglieder zur Mitarbeit zu motivieren und Rückkopplungsprozesse zu fördern, ist daher
in ihrer Wirkung sehr stark. Die Überzeugung und Motivation zur Mitarbeit ergeben
sich aus einer Übereinstimmung mit den Inhalten und nicht, wie bei den Organisationsnetzwerken, aufgrund der Zugehörigkeit zur Organisation.
Die Bekämpfung der Armut geschieht in der konkreten Arbeit, in der Einzelfallarbeit
vor Ort. Gleichzeitig wird die europäische Relevanz der lokalen Arbeit jedoch immer
mitgedacht; die Verschränkung „lokal handeln – europäisch denken“ gelingt. Die
Bedeutung des internationalen Engagements und des öffentlichen Involvements für
die konkrete Arbeit vor Ort ist bewusst; entsprechend werden die Öffentlichkeitsarbeit, die politische Arbeit, wie zum Beispiel die Beteiligung am Weltarmutstag, und
die Durchführung von Seminaren betont. Bewegungsnetzwerke zeichnen sich durch
ein exemplarisches Arbeiten aus, Einzelfälle aus der Praxis werden politisiert und
öffentlich gemacht, um am konkreten Fall auf das Thema Armut aufmerksam zu
machen und politische Forderungen zu formulieren.
ATD – Haus Neudorf ist ein typischer Vertreter der Bewegungsnetzwerke.
6.3 Bezüge zur Theoriediskussion
Die Untersuchungsergebnisse weisen auf eine Diskrepanz zwischen Netzwerktheorien und der empirisch erfahrenen Praxis hin und somit auf einen weitergehenden
Forschungsbedarf. Sie bieten insofern Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung derzeitiger Netzwerkkonzepte.
In Ergänzung der bestehenden Literatur werden darum Strukturelemente europäischer Netzwerkarbeit identifiziert.
330
vgl. Rosenfeld, J. (1998)
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6.3.1 Metaphorische Begriffsverwendung
Der Untersuchung wurde eine breite Definition des Netzwerkkonzeptes zugrunde
gelegt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen, kontrovers geführten Theoriediskurses des Netzwerkkonzeptes nachvollziehbar beziehungsweise
zwingend erforderlich. Die Diskussion ist geprägt durch die Frage, inwieweit das
Netzwerkkonzept über eine metaphorische Anwendung hinaus als Theorie verortbar
ist beziehungsweise überhaupt den Anspruch einer eigenständigen Theorie für sich
stellen kann.
Es hat sich herausgestellt, dass der Begriff des Netzwerkes unbestritten und einvernehmlich von allen Interviewpartnern der einzelnen Netzwerke in einem metaphorischen Sinn definiert wurde. In allen Interviews wurde deutlich, dass der in der Praxis
zugrunde gelegte Netzwerkbegriff ein paradigmatischer ist. Während die Netzwerkstrukturen, insbesondere aufgrund ihrer Größe und ihrer supranational bedingten
Komplexität in der Regel über hierarchische Ebenen und standardisierte Arbeitsinstrumente verfügen, ist der Netzwerkcharakter der Netzwerke insbesondere als Idee,
im Sinne einer Leitidee, ausgeprägt. So werden als gemeinsame Kriterien eines
Netzwerkbegriffes einvernehmlich Aspekte wie demokratische Strukturen, gemeinsame Ziele und Interessen oder partnerschaftliche Beziehungen benannt. Diese allgemeine Begriffsverwendung wurde in den erfragten Definitionen des Begriffs „Austausch“ nochmals deutlich gespiegelt. Aussagen wie zum Beispiel „exchange is
communication and this is networking“ 331 zeigten auf der einen Seite, dass größtenteils eine vage Vorstellung über transnationale Austauschprozesse im Netzwerk besteht und die zugrunde liegenden qualitativen Ansprüche an Austausch stark variieren. So wurden im EAPN die Möglichkeiten des Austausches aufgrund der vielen
Unwägbarkeiten und der Heterogenität der Netzwerkakteure mit großer Vorsicht
bewertet, während Caritas Europa, unter Außerachtlassen dieser Hemmnisse, unzählige Beispiele praktizierten Austausches aufzählte. Gleichzeitig kam jedoch zum
Ausdruck, dass Austausch tatsächlich einen universellen Charakter hat, der im Rahmen der Netzwerkarbeit Raum erhält, zum Beispiel durch die Schaffung informeller
Foren in Form von Seminaren, oder mit der Vernetzung ganz selbstverständlich einhergeht.
Die Untersuchungsergebnisse bestätigen die metaphorische Bedeutung des Netzwerkbegriffes. Sein universeller Charakter ist systemimmanent. Auch wenn die
„Schwammigkeit“ in der Verwendung des Netzwerkkonzeptes im fachlichen Diskurs
kritisiert wird und eine theoretische Verortung erschwert, macht gerade dies das
331
E3, Interview vom 10.04.2002
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Netzwerkkonzept aus. Das heißt, die breite Verwendung des Netzwerkbegriffes ist
beizubehalten, ja, ist auszuhalten, um den spezifischen Charakter dieser Koordinierungsform zu beschreiben. Gleichzeitig ist es jedoch sinnvoll und erforderlich, das
Netzwerkkonzept in seiner Ausgestaltung zu konkretisieren, um es, - in theoretischer Sicht - in Abgrenzung zu anderen Koordinierungsformen, greifbarer zu machen
und – in praktischer Sicht- um Vernetzung zu standardisieren. Es zeigt sich jedoch,
dass hier Pionierarbeit zu leisten ist, da hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der
Netzwerkarbeit, sei es bezogen auf die Organisationsstruktur, auf die Beziehungen
zwischen den Netzakteuren oder auch auf die Kommunikationsstrukturen, in den
Interviews sehr unterschiedliche, teils sehr vage Vorstellungen bestehen. Es waren
wenig gemeinsame Nenner einer erfolgreichen Netzwerkarbeit zu identifizieren.
Da Netzwerke jedoch zum einen Raum brauchen, um flexibel gestaltet werden zu
können, und zum anderen, abhängig von ihrer jeweiligen Zielsetzung, unterschiedlich zu gestalten sind, geht es bei der Konkretisierung des Netzwerkkonzeptes nicht
darum, bestimmte Vorgaben zu definieren, die eine erfolgreiche Vernetzungsarbeit
versprechen. Vielmehr ist ein Handlungsrahmen abzustecken, der unterschiedliche
Gestaltungselemente zulässt.
Die im Folgenden dargestellte Abgrenzung des Netzwerkkonzeptes zu Organisationen und die Benennung von Strukturelementen europäischer Netzwerkarbeit zielen
in diese Richtung.
6.3.2 Abgrenzung von Netzwerk und Organisation
Die theoretische Verortung des Netzwerkkonzeptes impliziert seine Abgrenzung zur
Koordinierungsform der Organisation, da das Netzwerk in der Literatur gemeinhin
als dritte Koordinierungsform zwischen Markt und Organisation verstanden wird.
Entsprechend herrscht in der Literatur die Meinung vor, dass das Netzwerk als selbständige Form neben der Organisation besteht beziehungsweise ein Entwicklungsstadium hin zu einer Organisation darstellt. 332 Die Untersuchungsergebnisse zeigen
jedoch, dass die bisherigen theoretischen Konstrukte in dieser festen Zuordnung
nicht greifen. Die Aufteilung Netzwerk oder Organisation ist zu relativieren, da sich
auf der Basis der Untersuchung Überschneidungen zwischen diesen Koordinierungsformen gezeigt haben, die zulassen, dass eine Organisation gleichzeitig auch ein
Netzwerk sein kann. So verfügt das EAPN über hierarchische Strukturen und ist doch
ein Netzwerk. Die Mitglieder von Caritas Europa sind geschlossene Organisationen
332
vgl. Powell, W.W. (1996); Sydow, J. (1993)
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mit klaren Entscheidungsbefugnissen und doch Teil eines europäischen Netzwerkes.
Und auch ATD - Haus Neudorf verliert durch die geschilderte teils zentralistische
Steuerung durch ATD International nicht seinen Netzwerkcharakter. Ausgangsbasis
für diese Erkenntnis ist die Definition des Netzwerkkonzeptes als Idee, im Sinne einer metaphorischen Begriffsverwendung. Es ist somit eine zentrale Erkenntnis der
vorliegenden Arbeit, dass das Netzwerkkonzept neu zu definieren ist. Die metaphorische Begriffsverwendung ist notwendiger Bestandteil des Netzwerkkonzeptes, die
eine Greifbarkeit des Begriffes erschwert, ihn aber gleichzeitig ausmacht. Gerade
aufgrund dieser systemimmanenten Überschneidungen ist jedoch eine begrifflich
klare Abgrenzung von Netzwerken zu anderen Koordinierungsformen wie Organisationen unbedingt notwendig, um eine unscharfe Definition zu vermeiden. Dies um
so mehr, da der Begriff des Netzwerkes derzeitig sehr populär ist und oft vorschnell
für unterschiedliche Phänomene genutzt wird. Alle reden vom Vernetzen, es gibt
jedoch keine öffentliche Definitionsmacht für den Begriff, der Verwendung liegt in
der Öffentlichkeit keine wissenschaftlich fundierte Basis zugrunde.
6.3.3 Strukturelemente europäischer Netzwerke
Um dem spezifischen Charakter des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden, hat sich die besondere Relevanz der Strukturelemente Kontextualität, Differenz
und Mehrebenenansatz herausgestellt, anhand derer im Folgenden eine theoretische Verortung der Untersuchungsergebnisse vorgenommen wird, die jeweils textnah anhand der empirischen Daten belegt wird.
Der Lebensweltansatz nach Thiersch verspricht eine Integration dieser Kernelemente
des Untersuchungsgegenstandes und soll entsprechend als theoretische Ausgangsbasis dienen.
Kontextualität
Das Strukturelement der Kontextualität nimmt die Einbettung des Netzwerkgeschehens in seine soziale Umwelt in den Blick. Während in den bestehenden Netzwerkkonzepten und der Netzwerkanalyse unter dem Begriff „Kontext“ die Netzwerkumwelt als Partial- und Gesamtnetz mit den einzelnen Akteuren, ihren Herkunftsorganisationen oder auch den Außenbeziehungen beziehungsweise Einbindungen in
andere Netzwerke verstanden werden, soll der Begriff erweitert werden und im Sinne von Pfenning auch die kulturell geprägten Einstellungen und ihre „soziale Umwelt“ außerhalb des Netzwerkes mitbetrachten.
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Soziale Netzwerke basieren auf der Erfassung sozialer Beziehungen und deren Inhalten. Sie beschreiben das interpersonale soziale Umfeld von Personen. Durch die lokale Platzierung und die
Abhängigkeit der Ausgestaltung sozialer interpersonaler Beziehungen von sozialen Handlungsräumen involviert die Netzwerkanalyse auch Variablen der sozialen Umgebung. Die Netzwerkanalyse erscheint demgemäß als Fortführung der Kontext- und Mehrebenenanalyse zu einem
verbesserten sozialökologischen Analysemodell, daß dem (das den, d.Verf.) einzelnen Akteur
auch in seinen externen Abhängigkeiten erfaßt. 333
Der jeweilige Kontext des Netzwerkes erschöpft sich dabei nicht nur auf zum Beispiel rechtliche oder juristische Rahmenbedingungen, sondern wirkt bis in die kulturell gebundenen Traditionen der jeweiligen Kooperationsformen und selbst in die
damit verbundenen Momente von Vertrauen, Macht und Herrschaft, die jeweils einen unterschiedlichen Sinn erhalten. 334 So wurde in den Interviews auch deutlich,
dass das europäische Handeln und Auftreten der Netzwerkakteure, selbst der langjährigen Vertreter der europäischen Ebene weiterhin stark national geprägt sind. Als
Beispiel lässt sich ein gemeinsam erstelltes Positionspapier des EAPN benennen, das
von einem französischen Vertreter verfasst wurde und bei den übrigen Netzwerkvertretern Kritik hervorgerufen hat, da sie sich und ihre Position in den französisch geprägten Begrifflichkeiten nicht wiederfinden konnten.
Anhand des empirischen Materials konnten verschiedene Ebenen der kontextuellen
Einbettung identifiziert werden.
Durch regionale Nähe ergeben sich vereinfachte Kommunikationswege, so kann
man sich in der Region leichter treffen. Auch zufällig, häufigere Kontakte, ebenso
wie regionale Identitäten und traditionelle Vergesellschaftungsformen, erhöhen darüber hinaus die Chancen zur Entwicklung von Vertrauensbeziehungen. Die jeweils
regionale soziale Umwelt, oder auch Lebenswelt, des Netzwerkes sind dabei von
hoher Bedeutung für die Identität der Netzwerkakteure und entsprechend für das
Profil des Netzwerkes. Die in den Netzwerken der Sozialen Arbeit auf allen Netzwerkebenen beobachtete stark aufgabenbezogene Identität, ist rückgekoppelt zum
Arbeitsgegenstand, der vor Ort ist, und somit zum Kontext. Gelingt es dem Netzwerk nicht, eine dem Netzwerk eigene Identität aufzubauen, führt dies in der Regel
zu einem widersprüchlichen Netzwerkprofil, dass die Einzelidentitäten der Netzwerkakteure auf den einzelnen Netzwerkebenen widerspiegelt und entsprechend
unterschiedliche Netzwerkfunktionen zentral stellt. So ergibt sich beim EAPN beispielsweise eine Betonung der Lobbyarbeit auf europäischer Ebene während die
lokale Ebene den Austausch im Netzwerk eine zentrale Position einnimmt. Diese in
333
334
Pfenning, U. (1995): S. 20
vgl. auch Weyer, J. (2000b)
6 Resümee und Ausblick
170
hohem Maße kontextgebundene Identität lässt sich zum Beispiel auflösen durch die
Entwicklung eines gemeinsamen Leitbildes wie bei Caritas Europa oder durch die
prozessual angelegte Vertrauensbildung und Betonung der personellen Netzwerkstrukturen und der hohen Verbindlichkeit wie bei ATD. Kontextualität wirkt sich somit auf die Binnenstruktur des Netzwerkes aus, indem sie von dieser ablenkt, insbesondere dann, wenn keine eigene Netzwerkidentität vorliegt. Überregionale Kontakte sind gezwungenermaßen oft selektiver, da allgemein gezielter geplant und
vorbereitet. Hier spielt die soziale Nähe, die eng mit der regionalen Nähe verbunden
ist, eine große Rolle. So war unter anderem häufig ein engerer Kontakt zu Partnern
des Netzwerkes festzustellen, mit denen die Netzwerkakteure vor Ort zusammengearbeitet haben, also zum Beispiel auf europäischer Ebene zu den Mitarbeitern der
Kommission, mit denen man sich zum Lunch trifft, als zu den Netzwerkpartnern
selbst, mit denen, bedingt durch die räumliche Entfernung, nur gezielt und meist
themenorientiert, bei Sitzungen oder per E-Mail kommuniziert wird. Diese stark horizontal geprägte Kommunikation bringt mit sich, dass die insbesondere vertrauensfördernden Gespräche über alltäglich Ereignisse unter den Netzwerkpartnern innerhalb des Netzwerkes in der Regel eher einen geringen Stellenwert haben. Damit
verbunden erhöht sich auch die Chance zur Weitergabe impliziten, kontextgebundenen, nicht handelbaren Wissens, das nach Heidenreich mit der Transnationalisierung
der Kommunikations- und Informationsflüsse an Bedeutung gewinnt, denn je leichter und schneller expliziertes Wissen weltweit verfügbar ist, desto wichtiger werden
implizite, mit ihrem Entstehungskontext verbundene Wissensbestände. 335 Hier stellt
sich jedoch die Frage, inwieweit dies auch auf den sozialen Bereich übertragbar ist,
da sich hier, aufgrund der hohen Abhängigkeit des impliziten Wissens von Klienten,
Milieu und politischen Programmen, generell die Frage der Übertragbarkeit dieses
Wissens stellt. Implizites Wissen meint hier insbesondere die nicht unbedingt immer
verschrifteten sozialarbeiterischen Konzepte und Methoden. Die benannte kontextgebundene Vertrauensbildung lässt sich nach Heidenreich durch identitätsstiftende,
institutionelle oder prozessorientierte Strukturen ausgleichen. 336 Hier lässt sich jedoch anhand der Interviews feststellen, dass den einzelnen Strukturen eine unterschiedliche Wertigkeit zukommt. So werden identitätsstiftende Strukturen, wie sie
beispielsweise bei Caritas Europa angetroffen wurden, qualitativ höher bewertet als
institutionelle, da sie, getragen durch ein gemeinsames Leitbild und eine Netzwerkidentität, ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Netzwerkakteure erzeugen, das die
Mitarbeit im Netzwerk aus Überzeugung und, damit verbunden meist mit hohem
Engagement, ermöglicht.
335
336
Heidenreich, M. (2000)
vgl. Heidenreich, M. (2000)
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171
Während Kontextualität auf der einen Seite bedeutet, sich, gezwungenermaßen, in
einem bestimmten vorgegebenen Rahmen zu bewegen, impliziert das Konzept auf
der anderen Seite auch die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung mit der
das Netzwerk umgebenden Umwelt, das heißt die Außenorientierung des Netzwerkes. Dies kann einerseits als Kooperation mit Partnern außerhalb des Netzwerkes
verstanden werden, ohne die ein Netzwerk hochgradig instabil ist, andererseits
kann es jedoch auch die aktive Beeinflussung der Rahmenbedingungen im Kontext
von Lobbyarbeit beinhalten, mit dem Ziel diese im eigenen Sinne zu ändern. Dies
wird von Heidenreich in abgewandeltem Sinne unter den Begrifflichkeiten „regionale Konzentration“ und „Pfadabhängigkeit“ abgehandelt. 337 Er meint hier jedoch die
Ansiedlung von Netzwerken, beziehungsweise allgemein Organisationen, in Regionen, die von ihren Rahmenbedingungen her Standortvorteile bieten, sei es durch die
Konzentration von Organisationen einer Branche und der damit verbundenen Bündelung von Wissen oder, im Sinne von Pfadabhängigkeit, durch die historischtraditionell entstandene Akkumulierung von Wissensbeständen. Diese Typisierung
lässt sich nicht auf den sozialen Bereich übertragen, da hier die Standortfrage aufgrund der erforderlichen räumlichen Nähe von den Klienten und deren Bedarf bestimmt wird. Entsprechend können die vorgegebenen Rahmenbedingungen nicht als
Auswahloption fungieren, vielmehr müssen sie als gegeben hingenommen werden.
Sie bilden, wie bereits gesagt, den Rahmen für die Netzwerkaktivitäten und können
bestenfalls positiv beeinflusst werden. Man kann sie sich jedoch nicht aussuchen
und kann ihnen nicht entfliehen. Man kann jedoch auch in der Sozialen Arbeit von
regionaler Konzentration und Standortvorteilen sprechen, bei Strukturen, die im
Sinne der Sozialraumorientierung auf der einen Seite ein bedarfsgerechtes , interdisziplinär ausgewogenes Angebot darstellen und auf der anderen Seite bei einer Häufung von sozialen Angebotsstrukturen in sozialen Brennpunkten. Das heißt, dass
auch die soziale Infrastruktur zu den Kontextbedingungen zu zählen ist und dass
auch diese von den einzelnen Projekten aktiv gestaltet werden kann. Dies geschieht
in beiden Fällen, neben der Lobbyingarbeit und Bedarfsrückmeldung an die politische Ebene, insbesondere durch eine funktionierende Vernetzung zwischen den
Angeboten, was wiederum auf die hohe Bedeutung von Netzwerken zur Steuerung
des Kontextes, der Rahmenbedingungen verweist. 338 Die benannte klienten- beziehungsweise aufgabenbezogene, und somit stark kontextgebundene, Orientierung
der sozialarbeiterischen Projekte auf lokaler Ebene, erschwert jedoch die Wahrnehmung europäischer Themen, da Europa praktisch nicht als Kontextrahmen wahrge-
337
Heidenreich, M. (2000): S. 99
vgl. auch Pfenning, U. (1995); Pfenning schlägt eine Unterteilung der Kontaktumwelten von Netzwerken in habituelle, normierte Umwelten (Arbeitsplatz, Parteien, Universitäten, Organisationen)
und selbst gestaltbare Umwelten (Bürgerinitiativen, Freundes- und Bekanntenkreis) vor.
338
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nommen wird, auch wenn es das tatsächlich, zum Beispiel aufgrund gemeinschaftsrechtlicher, auch auf nationaler Ebene bindender, Vorgaben ist. Auch die europäische Ebene der Netzwerke ist häufig zu stark in ihren Kontext eingebunden. Es gelingt ihr nicht ausreichend, die lokale Ebene in ihre Arbeit zu integrieren. Gleichzeitig ist sie jedoch der zentrale Akteur, um die Einbindung der Regionen in das
Netzwerk voranzutreiben und durch die Förderung der vertikalen Kommunikation
die Optimierung der Binnenstruktur zu erreichen, das heißt, den europäischen Kontext auf alle Ebenen des Netzwerkes zu transportieren und gleichzeitig lokale Wissensbestände zu generieren, also Austausch, der sich aus der Unterschiedlichkeit der
einzelnen Netzwerkebenen ergibt, zu fördern. Für die europäischen Netzwerke ist
die Kontextualität besonders prägnant, da es verschiedene regionale Ebenen gibt
und die einzelnen Ebenen durch sehr unterschiedliche historisch-kulturelle Hintergründe geprägt sind und zusätzlich auf den verschiedenen Ebenen, europäisch, national und lokal, stark variieren. Entsprechend sind sowohl die jeweiligen nationalen
als auch die europäischen Rahmenbedingungen relevant für die Gestaltung der europäischen Vernetzung.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kontextualität auf allen Netzwerkebenen eine
Rolle spielt und insbesondere im sozialen Bereich stark aufgabenbezogen zu verstehen ist.
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Mehrebenenansatz
Im Laufe der Untersuchung wurde nach kurzer Zeit deutlich, dass die regionalen
Ebenen im Netzwerk – europäisch, national, lokal - und der Kommunikations- und
Informationsfluss zwischen den Ebenen ein zentrales Strukturelement der Netzwerke
darstellen. Insbesondere die Rückkopplungsprozesse zwischen den Ebenen haben
sich als relevant für das Netzwerk erwiesen und standen im Vordergrund der Untersuchung. Die Rückkopplungsprozesse zwischen den Ebenen wurden von der Mehrzahl der Interviewten als schwierig und verbesserungsfähig beschrieben. Kommunikationsprobleme ergeben sich hier auch dadurch, dass die Netzwerkvertreter der
einzelnen Ebenen sich in unterschiedlichen Lebenswelten befinden. Bislang hatten
die unterschiedlichen lokalen und nationalen Welten und die europäische Lebenswelt, die geografisch am ehesten in Brüssel zu verorten ist, kaum gemeinsame Berührungspunkte. Sie bestanden mehr oder weniger nebeneinander. Mit zunehmender Globalisierung und der europäischen Integration sind die bestehenden Lebenswelten miteinander verbunden worden, neue Lebenswelten sind entstanden, welche
die Betroffenen vor neue Anpassungsanforderungen stellen. Neben den von
Thiersch benannten Wandlungsprozessen innerhalb der Lebenswelt in historischer
Linie, also im Längsschnitt, sind jedoch auch Wandlungsprozesse zu beobachten, die
im Querschnitt, also in räumlicher Linie geschehen, das heißt die räumliche Abgrenzung, die Grenzen der Lebenswelt ändern sich. 339 So stellt auch Pries fest, dass soziale Räume vormoderner Gesellschaften in der Regel „flächenräumlich horizontal eng
begrenzt“ 340 sind. Die auf diese Weise in den letzten Jahrhunderten entstandenen
Nationalstaaten und –gesellschaften werden von ihm als „doppelt exklusiv ineinander verschachtelten Flächen- und Sozialräume“ 341 bezeichnet, das heißt, dass es in
flächenräumlicher Extension (Nationalstaat) nur eine sozialräumlich Extension (Nationalgesellschaft) gibt. Mit den gesellschaftlichen Änderungen durch Moderne und
Industrialisierung wurde dieser flächenräumliche Bezug jedoch zunehmend aufgelöst. So lässt sich zum Beispiel durch die europäischen Einigungsbemühungen eine
Öffnung der nationalen Lebenswelten hin zu einem gemeinsamen Europa feststellen
und somit zu einer Vergrößerung der eigenen Lebenswelt beziehungsweise diese
wird Teil der gemeinsamen Lebenswelt „Europa“, die sich zum Beispiel konkret an
den freieren Zollbestimmungen im Rahmen des Binnenmarktes beobachten lässt.
Gleichzeitig bleiben die regionalen Lebenswelten erhalten und es ergibt sich ein
Nebeneinander verschiedener nationaler Lebenswelten, die, unter anderem durch
EU-rechtliche Regelungen, unweigerlich miteinander verbunden sind. Dies zwingt
339
vgl. Thiersch, H. (2002)
Pries, L. (1999): S. 385
341
ebd.: S. 386
340
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den Einzelnen dazu, seine Lebenswelt neu zu definieren und die Tatsache, dass die
eigene Lebenswelt nunmehr räumlich nicht mehr überschaubar ist und viele fremde,
bislang unbekannte Variablen enthält, verstärkt den Eindruck, den Überblick zu verlieren. Abgrenzungen zu nebenstehenden Lebenswelten gelingen nur noch unzureichend, man muss sich miteinander, mit dem Fremden auseinandersetzen. Die europäischen Netzwerke sind hier geeignet, sich den Anpassungsanforderungen zu stellen. Gleichzeitig sind sie durch die geforderten Anpassungsleistungen jedoch auch
überfordert, wie die unzureichenden Rückkopplungsprozesse zwischen den Netzwerkebenen zeigen. Die Kommunikationsprobleme innerhalb des jeweiligen Netzwerkes ergeben sich auch aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen über die
Zielsetzung des Netzwerkes und über unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte. So
sind die nationalen und lokalen Mitglieder viel stärker in die Arbeit ihrer Herkunftsorganisationen vor Ort eingebunden. Ressourcen für die Mitarbeit in europäischen
Netzwerken stehen ihnen nur begrenzt zur Verfügung. Entsprechend ist der Mehrwert des europäischen Engagements nicht immer klar erkennbar und die Motivation
zur Mitarbeit beziehungsweise das Zusammengehörigkeitsgefühl auf der lokalen
Ebene unzureichend ausgeprägt. Neben den von Thiersch benannten Schwierigkeiten bei der Anpassung an sich ändernde Bedingungen wurden in der Untersuchung
insbesondere die Vermittlung und Verständigung zwischen den einzelnen Lebenswelten als große Hürde erlebt. Dieses stellt natürlich insofern nur eine Spezifizierung
der Anpassungsleistungen dar, als der geänderte Zuschnitt der Lebenswelt, von einer regional klar abgrenzbaren zu einer sich mehr und mehr global öffnenden, eine
neue Herausforderung bildet, die das Zusammenleben und sich Arrangieren innerhalb dieser erfordert. Dies wird besonders an der lokalen Ebene deutlich, die in ihrer
Motivation, sich im europäischen Netzwerk zu engagieren, insofern eingeschränkt
ist, als die alltägliche Arbeit vor Ort für sie an erster Stelle steht und ein Bezug zu
Europa nur ansatzweise vorhanden ist. Die Einbeziehung europäischer Kontexte in
die Arbeit, im Sinne von „europäisch denken, lokal handeln“, ist als Prozess zu betrachten, bei dem die Netzwerke sich als sehr hilfreich erweisen können. Die europäischen Netzwerke fungieren hier als Vermittler, um Kontakte zwischen Mitgliedern zu stiften oder diese zur Mitarbeit im Netzwerk anzuregen. Denn, indem die
Projekte beispielsweise an transnationalen Austauschprozessen über ihre tägliche
Arbeit teilnehmen, wird ihr europäisches Bewusstsein gestärkt. Die einzelnen Netzwerkebenen stehen in enger Abhängigkeit zueinander, eine erfolgreiche Vernetzungsarbeit benötigt daher eine funktionierende Binnenstruktur des Netzwerkes. So
benötigt die europäische Netzwerkebene fachlichen Input von der Basis und eine
repräsentative Mitgliederstruktur, um ihren beratenden Status bei den EU-Organen
nicht einzubüßen. Auf der anderen Seite ist die lokale Ebene auf die Unterstützung
der europäischen Ebene als Initiator angewiesen, der Kontakte stiftet und Räume
zum Erfahrungsaustausch schafft, und als Sprachrohr, um sich an der politischen
Meinungsbildung auf europäischer Ebene zu beteiligen.
6 Resümee und Ausblick
175
Neben den Netzwerkbemühungen trägt auch die EU zur Vermittlung zwischen den
nationalen und europäischen Welten, beispielsweise mit ihrer aktuellen Armutspolitik, bei, indem sie, unter Einsatz der offenen Methode der Koordinierung eine Steuerung der einzelnen nationalstaatlichen Bemühungen zur Bekämpfung von Armut
vornimmt. Die Tendenz der EU ist hier jedoch die Harmonisierung der Systeme, das
heißt die Tendenz zu einer gemeinsamen europäischen Handlungsebene, was sich
zum Beispiel auch an der Konvergenzempfehlung ablesen lässt. Angesichts der großen Unterschiede der einzelnen nationalen Unterschiede und ihrer historischkulturell geprägten Entwicklung stellt sich die Frage, ob eine Konvergenz der Systeme herzustellen ist und ob eine Aufhebung der Differenz, die sich, insbesondere
auch für den transnationalen Austausch, als sehr reizvoll darstellt, überhaupt angestrebt werden sollte oder ob es vielmehr darum gehen sollte, eine gemeinsame Basis
zu finden, um eine Verständigung über die jeweiligen nationalen Besonderheiten
und somit einen Austausch über diese herzustellen. So lässt sich parallel eine interessante Gegenentwicklung beobachten, die auf die Tendenz zurück zur Regionalisierung gerichtet ist. Dahme spricht hier vom Trend zur Modernisierung durch Regionalisierung. Es wird zunehmend darauf verzichtet, flächendeckende Lösungen von
oben vorzugeben, vielmehr wird es den Regionen überlassen, individuelle Lösungen
zu finden, auszuhandeln und zu implementieren. Diese Linie wird auch durch die
Intention der Verwaltungssteuermodelle und der damit verbundenen Übertragung
Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen an die Kommunen bestätigt. Dahme
sieht diese Entwicklung jedoch nicht risikolos. Für ihn bleibt abzuwarten, ob dieser
Trend nicht zu starken Disparitäten in der Versorgung der Bevölkerung führt und die
Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse verletzt. 342 Entsprechend sieht die EU darin die
Legitimation einer globalen Vernetzung. Das besondere Dilemma dabei sind jedoch
die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der EU, da Sozialpolitik nach wie vor
in nationaler Kompetenz liegt.
Differenz
Daran anknüpfend sei auf die Differenz, die Heterogenität der einzelnen Akteure
verwiesen, die bei den europäischen Netzwerken von besonderer Relevanz sind und
insbesondere für Lernprozesse im Netzwerk förderlich sein kann. Insbesondere auch
hinsichtlich des Erfahrungsaustausches, des Austausches von good practices der
einzelnen Länder, die unterschiedliche Umgehensweisen zu vergleichbaren Problemen entwickelt haben, kann die Kooperation dieser heterogenen Akteure ein prominenter Mechanismus der Entstehung emergenter Strukturen sein, indem neue
342
vgl. Dahme, H.-J. (1999)
6 Resümee und Ausblick
176
Wirklichkeiten geschaffen werden mit eigenständigen Qualitäten, die sich nicht auf
die Eigenschaften der Bestandteile des Netzwerkes reduzieren lassen. Dagegen kann
eine zu hohe Differenz, sei es aufgrund unterschiedlicher Interessen und Organisationskulturen oder unvereinbarer Problemwahrnehmungen und Lösungsstrategien,
eine Verständigung über gemeinsame Inhalte behindern und auch zur Auflösung
des Netzwerkes beitragen. So führen nach Weyer
divergierende Interessen und Ziele, unterschiedliche Organisationskulturen, inkompatible Problemwahrnehmungen und Lösungsstrategien oder auch Angst vor Wissensverlust zu fragilen
Netzkonstellationen. 343
Entsprechend wurde auch in der Untersuchung bestätigt, dass die Heterogenität der
einzelnen Netzwerkakteure ambivalent zu sehen ist, da die Differenz ein hohes Potential an Lerneffekten enthält, gleichzeitig für eine Verständigung über die jeweiligen Inhalte und mögliche gemeinsame Vorhaben oder auch die Übertragung einzelner Konzepte jedoch die Strukturen fehlen beziehungsweise auch gar nicht vorhaltbar sind, so dass sich immer wieder die Frage der Sinnhaftigkeit der Vernetzung
stellt. Diese theoretisch breit vertretene Auffassung hat einen stark hypothetischen
Charakter und lässt sich empirisch insoweit nicht belegen, da nicht einmal immer
die Voraussetzungen für einen Austausch gegeben sind. Häufig bleibt er aufgrund
ganz konkreter Hindernisse wie Sprachbarrieren oberflächlich. Der Reiz großer Vielfalt besteht für die Netzwerkvertreter allerdings im Kennenlernen alternativer Modelle, die Denkanstöße für die eigene Arbeitsweise geben. Die von Weyer angeratene Kombination der beiden Sichtweisen, Netzwerke zwar als geschlossene Gemeinschaften zu sehen, deren besondere Produktivität jedoch insbesondere im Import
von implizit verfügbaren Ressourcen, Know-how und Informationen der einzelnen
Netzwerkakteure liegt, setzt genau hier an. Um einen qualitativen Austausch zu
gewährleisten, greift man allerdings zu kurz, wenn der Austausch sich in einem reinen Informations- und Wissenstransfer erschöpft. 344 Inwieweit Differenz der Netzwerkvertreter für einen tatsächlichen, das heißt inhalts- beziehungsweise aufgabenorientierten, zeitlich längerfristigen Austausch mit der Erzeugung konkreter gemeinsamer Arbeitsergebnisse und gemeinsamen Handelns (Projekte, Lobbying u.ä.),
jedoch förderlich beziehungsweise hinderlich ist, wird erst dann entscheidbar, wenn
die Basisvoraussetzungen für einen Austausch benannt und geschaffen wurden und
wenn man auf dieser Grundlage die Ergebnisse tatsächlicher Austauschprozesse
empirisch eruiert hat. Von einer solchen koordinierten, prozessevaluierten Erstellung
eines Handlungsrahmens für den Austausch und vor allem von „capacity building“
und der Offenheit der Netzwerkakteure wird auch die Option des organisationalen
343
344
Weyer, J. (2000a): S. 21
Weyer, J. (2000b)
6 Resümee und Ausblick
177
Lernens beeinflusst. Das von Heidenreich in diesem Zusammenhang benannte Dilemma regionalen Lernens lässt sich nur lösen, wenn Offenheit der sozialen Organisationen gerade angesichts der zunehmenden Konkurrenzsituation im sozialen Sektor durchgehalten werden kann und eine Schließung gegenüber anderen Organisationen vermieden werden kann und der offene Austausch über angewandte
Arbeitsverfahren und Inhalte aufrecht erhalten wird. Durch die Beteilung der Organisationen an einem Netzwerk bestätigen sie zwar grundsätzlich ihre Offenheit zum
Austausch, diese Grundhaltung muss jedoch auch untermauert sein durch die Bereitschaft zu Solidarität und Vertrauen. Der europäischen Netzwerkebene kommt
hier die wichtige Funktion zu, die Ausgeglichenheit zwischen den Netzwerkpartnern
zu gewährleisten, passende Kontakte herzustellen und die suboptimalen Zeitressourcen einzelner Netzwerkakteure zu kompensieren.
Die Anerkennung beziehungsweise die Auslotung struktureller Differenz bilden die
Basis für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit in der Praxis. Welche Konsequenzen sich
daraus für die Soziale Arbeit ergeben, soll im Weiteren verdeutlicht werden.
6.4 Ausblick für die Soziale Arbeit
Vernetzung und Netzwerkarbeit gewinnen für die Soziale Arbeit zunehmend als
Methode an Bedeutung, um eine Anpassung an die sich ändernden Lebenswelten
zu leisten. Im Folgenden sollen daher auf der Basis der Untersuchungsergebnisse
Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit und Herausforderungen für die
Soziale Arbeit benannt werden.
Für die Soziale Arbeit gilt, dass sie zwar nach wie vor lokal stattfindet, andererseits
wird der überregionale, internationale Rahmen, in dem sie eingebettet ist, immer
wichtiger. Sie muss sich darum diesen veränderten „Lebenswelten“ stellen und sehen, dass unter den einzelnen, kulturell und politisch unterschiedlich geprägten
Staaten insbesondere in der EU gemeinsame oder ähnlich gelagerte Problemlagen
bestehen, die nicht mehr ausschließlich lokal bearbeitet werden können, sondern
die einer Vernetzung, eines Austausches bedürfen.
6.4.1 Rahmenskizze für einen netzwerkgestützten Austausch
Der Prozess der Entwicklung einer Austauschkultur in der europäischen Sozialarbeit
befindet sich noch in den Anfängen und erfordert Basisarbeit, die klarer Kriterien
und Rahmenbedingungen bedarf. In einem nächsten Schritt können dann durch die
Analyse von Ablaufprozessen fundiertere Aussagen getroffen werden, wie die Effektivität europäischer Netzwerkarbeit gesteigert werden kann.
6 Resümee und Ausblick
178
Prämissen der Vernetzung
Auf der Basis der Untersuchungsergebnisse lassen sich Prämissen für die europäische Netzwerkarbeit ableiten. Vernetzung ist zunächst ein auf Dauer gerichteter
Prozess, wobei die Dauer je nach Zielsetzung des Austauschprozesses variieren
kann. Denkbar sind zum Beispiel zeitlich befristete gemeinsame Projekte wie ein
interkultureller Jugendaustausch, die gemeinsame Entwicklung von Indikatoren als
Grundlage von Bedarfsanalysen oder die konkrete Übertragung eines bewährten
Konzeptes in ein Partnerland. Ein weiteres Definitionskriterium ist die Zielgerichtetheit des Austausches. Der Austausch findet also nicht losgekoppelt von Inhalten
statt, um der Gefahr vorzubeugen, zu verpuffen beziehungsweise sich selbst zu genügen, sondern er ist ergebnisorientiert auf die Erreichung konkreter Arbeitsergebnisse ausgerichtet. Dies kann die Erstellung einer Projektdatenbank, die Entwicklung
und Auflistung von bewährten Arbeitsverfahren oder die Formulierung sozialpolitischer Positionspapiere sein. Hier ist es von großer Bedeutung, dass die erarbeiteten
Praxiskonzepte unter dem Vorzeichen der Nachhaltigkeit entwickelt und eingesetzt
werden, dass sie an die Öffentlichkeit beziehungsweise die vorgesehenen Zielgruppen vermittelt und mit vergleichbaren Themen verknüpft werden. Der Austausch
wird dabei als Prozess verstanden, der sich nicht in einmaligen oder sporadischen
Treffen erschöpft, sondern von der kontinuierlichen Planung inklusive einer sorgsamen Vor- und Nachbereitung und einer anschließenden Erfolgskontrolle getragen
wird. Der Prozess des Austausches wird eingebunden in den Bedingungskontext des
Austauschgegenstandes, des thematischen Bezugs sowie der beteiligten Partner.
Unter Anerkennung der Differenz der jeweiligen Kontexte wird entschieden, ob eine
gemeinsame Grundlage für den Austausch gegeben ist und er Aussicht auf Erfolg
hat. Vernetzung findet hierbei auf verschiedenen Ebenen statt. Neben der gängigen
Vorstellung von Erfahrungsaustausch, im Sinne eines Austausches von guter Fachpraxis über sozialarbeiterische Konzepte und Methoden oder sozialpolitische Programme, lassen sich weitere Ebenen des Austausches identifizieren wie zum Beispiel
der Austausch über organisationale Problemstrukturen, die unter anderem die Frage nach der Qualitätsentwicklung und –sicherung in Organisationen, ihren Kommunikationsstrukturen und –kulturen sowie ihren Umgang mit Problemen der Personalentwicklung und Fehlerkontrolle umfassen. 345
345
vgl. Wolff, R. (1996): S. 8
6 Resümee und Ausblick
179
Kriterien einer erfolgreichen Netzwerkarbeit
Die vorgenommene Typisierung der europäischen Netzwerke und deren unterschiedliche Ausgestaltung machen deutlich, dass die Qualität und die Effektivität der
Netzwerkarbeit maßgeblich von der Zielsetzung des jeweiligen Netzwerkes abhängen. Nach der Zielsetzung richtet sich, in welchem Maße und mit welcher Priorität
bestimmte Gestaltungselemente auf die Qualität der Netzwerkarbeit wirken. Als
besonders prägnante Kriterien für eine erfolgreiche Vernetzung wurden in den Interviews eine gemeinsame Verständigungsebene, das Verhältnis von Struktur und Person, das Verständnis von Fort- und Weiterbildung, die professionelle Identität und
der Arbeitsansatz des bottom-up beziehungsweise top-down benannt.
Gemeinsame Verständigungsebene
Für eine erfolgreiche Netzwerkarbeit ist die Herstellung einer gemeinsamen Verständigungsebene erforderlich. Dies erfordert vordergründig zunächst die Abstimmung und Einigung auf gemeinsam getragene Konzepte und Verfahrensregeln,
nicht zuletzt die Entwicklung einer gemeinsamen Praxissprache, sowie eine Informationsvermittlung an alle Netzwerkteilnehmer, damit sie die jeweiligen relevanten
nationalen Kontextbedingungen kennen und verstehen. Da die einzelnen Praxissprachen jedoch so nachhaltig durch die historisch-kulturelle Einbindung der jeweiligen
Länder, ihre Mentalität und politische Entwicklungstraditionen geprägt sind, ist Verständigung von den einzelnen Projekten hier nur begrenzt leistbar. Sie bedarf eines
mehrseitigen knowing-in-action. So klagt auch nicht von ungefähr die vergleichende
Sozialpädagogik über die Schwierigkeiten bei der Bestimmung von einheitlichen
quantitativen und insbesondere qualitativen Kriterien der Vergleichbarkeit der verschiedenen Praxissysteme, was zudem noch dadurch erschwert wird, dass die nationalen Kontexte zunehmend durch europäische Vorgaben überlagert werden. Jedenfalls fehlen der vergleichenden Sozialpädagogik zum jetzigen Zeitpunkt noch die
entsprechenden Kontextdaten und müssen am Austausch beteiligte Projekte sich biund multilateral auf konsensfähige Rahmenkonzepte und auf die konkret für den
Austausch relevanten Kontextbedingungen einigen. Für die Abstimmung von Verfahrensregeln kann ein vom Netzwerk erarbeitetes Standardmodell zugrunde gelegt
werden. Daneben spielt der Zeitfaktor eine wichtige Rolle im Austauschprozess. So
erfordert die Zusammenarbeit der einzelnen Netzwerkakteure zur Organisation und
Durchführung des Austauschprozesses zunächst eine intensive und gründliche Vorbereitung, die eine Klärung der gegenseitigen Erwartungen, der gemeinsamen Arbeitsinhalte und der zugrunde gelegten Verfahrensregeln beinhaltet. Darüber hinaus
muss den beteiligten Partnern die Zeit zugestanden werden, sich und die jeweiligen
Herkunftsorganisationen kennen zu lernen, um sich besser aufeinander einlassen zu
6 Resümee und Ausblick
180
können und so Vertrauen zueinander aufzubauen. Dies muss auch die Möglichkeit
implizieren, einen geplanten Austauschprozess vorzeitig abzubrechen, wenn die
Partner keine konsensfähige Arbeitsgrundlage finden.
Strukturelle und personelle Faktoren
Auch der personelle Faktor ist von hoher Bedeutung, zum einen mit Hinblick auf die
Entwicklung gegenseitiger Sympathiebeziehungen und die daran gekoppelte vertrauensbasierte und engagierte Zusammenarbeit, und zum anderen hinsichtlich persönlicher Beziehungskompetenzen der Beteiligten. Sie sollten in der Lage sein, mit
Problemen und Krisen adäquat umzugehen, nicht zuletzt über analytische Fähigkeiten zur Beurteilung des Austauschgegenstandes und des Prozessverlaufes verfügen.
Als Gegenpol zur Personenorientierung kommt auch der Strukturierung und Koordinierung des Austauschprozesses durch die europäische Netzwerkebene eine wichtige Funktion zu, um den beteiligten Partnern klare Rahmenvorgaben zur Orientierung geben zu können: So ist zum Beispiel immer auf eine schriftliche Fixierung der
benannten Rahmenvereinbarung zu drängen, die bei Schwierigkeiten zu unterstützen wäre, womit eine Projektgruppe allein überfordert ist; dies gilt ebenso bei der
Auswahl geeigneter Auswahlpartner, die natürlich durch eine gute Kenntnis der
einzelnen Mitglieder und ihrer konkreten Arbeit erleichtert wird. Das Netzwerk ist
hier auch in der Pflicht, Austauschprozesse zu initiieren und nicht beteiligte Netzwerkmitglieder über laufende Verfahren und entsprechende Arbeitsergebnisse zu
informieren. Weiterhin spielt die Dokumentation der Austauschprozesse eine Rolle,
um erfolgreiche Modelle für andere nachhaltig verfügbar zu machen, vor allem um
Standards zu entwickeln und vorzubereiten.
Während das EAPN das beschriebene theoretische Mehrebenenmodell mit der Betonung der europäischen Ebene zwar strukturell umgesetzt hat, zeigen sich in der
Praxis große Lücken hinsichtlich der Rückkopplung zwischen den Ebenen. Durch die
starke personelle, inhaltsbezogene Bindung der Netzwerkmitglieder von ATD, die
durch die freiwillige, aus Überzeugung stattfindende Mitarbeit im Netzwerk und die
damit verbundene geringe Fluktuation und durch die hohe Autorisierung einzelner
zentraler Netzwerkakteure, die für diese Positionen berufen und durch eine hohe
Verbindlichkeit der Netzwerkakteure mitgetragen werden, gibt es in der Rückkopplung zwischen den Ebenen keine großen Probleme. Da es sich bei ATD um ein sehr
spezifisches Vernetzungsmodell handelt, kann es nicht verallgemeinert werden. Das
ATD-Basis-Modell stützt jedoch die bereits genannten Effektivitäts-Kriterien europäischer Vernetzungen, die von einer Netzwerkidentität als Grundlage für Motivation
und Engagement im Netzwerk ausgeht. Darüber hinaus wird auch hinsichtlich der
Frage von Struktur und Personen deutlich, dass beide Faktoren eine Rolle spielen.
Struktur gewinnt dabei vor allem mit steigender Größe des Netzwerkes, die eine
6 Resümee und Ausblick
181
Steuerungsmöglichkeit durch informelle Kommunikation übersteigt, an Bedeutung,
um Verfahrensabläufe zu standardisieren und damit die Funktionalität des Netzwerkes aufrechtzuerhalten.
Schulung
Weiterhin ist die Schulung der einzelnen Mitglieder, unter Einbeziehung der lokalen
Ebene, die für die konkrete Soziale Arbeit vor Ort zentral ist, bedeutend, um die
Mitglieder überhaupt zu befähigen, einen Austauschprozess zu planen und durchzuführen. Vorrangig ist hier sicherlich die Schulung der Sprachkompetenzen, sowie,
zumindest in der Übergangszeit, die Bereitstellung von Dolmetschern beziehungsweise von Sprachmittlern. Wesentlich ist die breite Vermittlung von Wissen über
europäische Politikstrategien, über die nationalen System der einzelnen Netzwerkmitglieder, vor allem jedoch über Möglichkeiten der Netzwerkarbeit selbst sowie
über die Vermittlung von Kompetenzen in der PR-Arbeit, um die Netzwerkarbeit in
der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Identität
Ein geklärtes Selbstverständnis, was die eigene Arbeit beziehungsweise die Ziele
und Aufgaben der der eigenen Organisation betrifft, ist wesentlich, um zur Mitarbeit
in Netzwerken motiviert zu sein. In Netzwerken, die finanziell nicht ausreichend
ausgestattet sind und die vom ehrenamtlichen Engagement der Mitglieder leben,
spielt die professionelle Identität eine noch größere Rolle als beispielsweise bei Organisationen mit fest angestelltem Personal. In dem Maße, in dem die aktive Beteiligung der Netzwerkakteure von Bedeutung ist, steigt auch die Bedeutung ihrer Identifizierung mit dem Netzwerk. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der erkennbare Mehrwert durch die Beteiligung an der Netzwerkarbeit. Es lassen sich
verschiedene Identitätsindikatoren unterscheiden, strategische, aufgabenbezogene
und räumliche Indikatoren. Die mangelnde EAPN-Identität der Mitglieder beispielsweise hängt eng zusammen mit der starken nationalen Identität der Mitglieder und
deren Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Herkunftsorganisation. Die Mitgliedschaft
im EAPN stellt nur einen Teil der Arbeit und der bestehenden Vernetzungen dar.
Eine eigene EAPN-Identität besteht noch nicht. Das Verhältnis zum EAPN wird rein
strategisch-funktional betrachtet, nämlich als Notwendigkeit, um bestimmte Interessen durchsetzen zu können. Die Interviewten aller Netzwerkebenen stimmten darin
überein, dass die alltägliche Arbeit und die Aufgaben der Herkunftsorganisation
häufig im Vordergrund stehen, und dass europäische Netzwerke beziehungsweise
europäische Themen nur ansatzweise eine Rolle spielen. Dies hängt nicht zuletzt mit
der Ressourcenverteilung im Netzwerk zusammen, die durch eine relativ gute personelle und finanzielle Ausstattung auf europäischer Ebene geprägt ist. Von den nati-
6 Resümee und Ausblick
182
onalen Mitgliedern wird die Mitarbeit im Netzwerk jedoch in der Regel ehrenamtlich, das heißt zusätzlich zur alltäglichen Arbeit in der Herkunftsorganisation, geleistet. Insbesondere auf der lokalen Ebene, auf der Ebene der klientenbezogenen Sozialen Arbeit, die von den lokalen Lebensweltbezügen der Klienten ausgeht, ist die
konkrete Arbeit der zentrale Bezugspunkt. Eine Transferleistung zu europäischen
Themen ist häufig nicht leistbar, da sie zu weit hergeholt, zu abstrakt bleibt. Die
Partizipation an europäischen Diskussionen wird zunächst als Mehrarbeit empfunden, die zusätzlich zur eigentlichen Arbeit zu erbringen ist. Der Mehrwert, der durch
eine europäische Orientierung der täglichen Arbeit gegeben ist, ist für die Projekte
nicht eindeutig bestimmbar; eine Orientierung auf Europa wird dann auch häufig als
Mehraufwand gesehen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung der räumlichen Entfernung für die Identitätsbildung der Netzwerkakteure. So ist beispielsweise
im Sekretariat in Brüssel die EU aufgrund der Nähe zu den EU-Organen und anderen
europäischen NGOs und wegen des regen Austausches sehr präsent. Die Nähe zur
EU wird noch dadurch verstärkt, dass die europäischen Netzwerkvertreter eine relativ hohe Distanz zur lokalen Ebene, zum tatsächlichen Geschehen vor Ort haben.
EAPN-Seminare zum Beispiel finden in der Regel in Brüssel statt, beim Informationsaustausch im Netzwerk steht in der Praxis die Informationsvermittlung von europäischen Themen an die Mitglieder im Vordergrund, der Input von unten ist dagegen
eher gering. Andersherum ist „Europa“, das als geografischer Standort nicht festlegbar und am ehesten noch in Brüssel zu finden ist, oft zu weit weg von der lokalen
Ebene und deren konkreten Lebensweltbezügen.
Arbeitsansatz
Kommunikationsnetzwerke wie das EAPN werden in hohem Maße von der EU gefördert, mit inhaltlichen Vorgaben belegt und entsprechend zentral von oben gesteuert. Dies ermöglicht eine professionelle Ausgestaltung und Ausstattung der
Netzwerke, beinhaltet gleichzeitig aber die Gefahr der Instrumentalisierung und der
inneren Aushöhlung des Netzwerkes. Da diese Netzwerke als Vermittler zwischen
EU-Organen und Mitgliedern fungieren und hier einen exklusiven konsultativen Status auf politischer Ebene genießen, können sie sich der Steuerung von oben nur
teilweise entziehen. Parallel zu solchen Transmissionsnetzwerken haben sich BasisNetzwerke wie ATD – Haus Neudorf herausgebildet, die vorrangig themenbezogen
arbeiten und über eine vitale, funktionierende Basis- und Binnenstruktur verfügen.
Diese Netzwerke schöpfen ihr Potential aus der Beteiligung ihrer Mitglieder und aus
den persönlich getragenen Überzeugungen ihres Tuns. Sie benötigen eigentlich keine europäische Netzwerkebene, um zur Mitarbeit motiviert zu werden, sie nutzen
vielmehr die europäische Ebene als Mittel, um ihre Forderungen nachhaltiger vertreten und bekannter machen zu können. Dieser bottom-up-Ansatz zeigt eine hohe
Kongruenz der Netzwerkakteure mit ihrem Handeln. Auch wenn sie aufgrund der
6 Resümee und Ausblick
183
schlechten finanziellen Ausstattung und der geringen Ressourcen immer auch existentiell bedroht sind, ist eine wichtige Ressource ihrer Arbeit der enge Austausch mit
der Basis.
6.4.2 Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit
Die auf der Basis der Untersuchungsergebnisse entwickelten Netzwerktypen bieten
geeignete Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit. Es lassen sich methodische,
programmatische, politische und strategische Herausforderungen für die Soziale
Arbeit ableiten.
Die vorliegende Analyse europäischer Netzwerke bildet zudem eine wichtige Grundlage für weiterführende Arbeiten, um Entwicklungskonzepte und, in einem nächsten
Schritt, Monitoring-Methoden für die Vernetzungspersonen in der Sozialen Arbeit zu
erarbeiten.
Europäische Vernetzung als methodische Herausforderung für die Soziale Arbeit
Vernetzung als Methode spielt in der Sozialen Arbeit eine bedeutende Rolle. Sie
ermöglicht den Austausch von Erfahrungen und Wissensbeständen, sei es die fallbezogene oder sozialraumorientierte Bearbeitung konkreter Konzepte oder der übergeordnete fachliche Austausch über inhaltliche oder strukturelle Aspekte zur Weiterentwicklung sozialer Hilfesysteme. Die in der Literatur breit vertretene Auffassung,
dass die Einbindung der europäischen Ebene in die alltägliche Arbeit der Sozialen
Arbeit mittlerweile unverzichtbar sei, ist in der Praxis nicht uneingeschränkt feststellbar. So erschöpft sich der „europäische Mehrwert“ häufig auf der programmatischen Ebene in der gebetsmühlenartigen Betonung der Notwendigkeit der Europäisierung Sozialer Arbeit und auf der praktischen Ebene, wenn überhaupt, in der Akquise zusätzlicher Mittel für die tägliche Arbeit. Selbst der vielgepriesene und
exklusiv von der EU geförderte transnationale Erfahrungsaustausch wird häufig lediglich im Sinne eines ersten „open your mind“ verstanden. Generalisierbare Ergebnisse einzelner Projektpartnerschaften, die konkret in der praktischen Arbeit einsetzbar wären und einen „Mehrwert“ versprechen, sind Mangelware, da auch nicht
einmal die Frage der Koordinierung einer empirischen Ergebnissicherung geklärt
ist. 346
346
vgl. auch Brandhorst, K. (2002)
6 Resümee und Ausblick
184
Die Idee, regionale Konzepte zu verallgemeinern und die Differenz und Vielfältigkeit
der einzelnen europäischen Länder für die eigene Arbeit zu nutzen, scheitert an fehlenden Strukturen und ungenügenden Rahmenbedingungen. Soziale Arbeit ist hier
dem Dilemma ausgesetzt, dass die europäische Vielfalt und die transnationale Vernetzung eine große Chance für die eigene Arbeit bedeuten, gleichzeitig jedoch der
Realisierung der europäischen Vernetzung im Weg stehen. Die unterschiedlichen
Praxissprachen, die räumliche Entfernung oder fehlende Ressourcen sind nur einige
der Barrieren, die eine überregionale Vernetzung erschweren. Aufgabe der sozialen
Arbeit ist es, Konzepte zu entwickeln, um diese Barrieren zu überwinden.
Die offene Methode der Koordinierung bietet einen möglichen Ansatzpunkt, der
Verquickung von Globalisierung und Europäisierung mit dem Gesichtspunkt der
Regionalisierung unter Anerkennung beider Tendenzen gerecht zu werden. Die hierin zugrunde gelegte europäische Koordinierung lokaler Aktivitäten misst der europäischen Ebene bei der Koordinierung und insbesondere auch bei der Mobilisierung
der lokalen Ebene eine besondere Aufgabe zu. Ein solches stark strukturorientiertes
theoretisches Modell supranationaler Netzwerke, das beispielsweise auch von Heidenreich präferiert wird, erscheint jedoch vor dem Hintergrund der empirischen Untersuchungsergebnisse als verkürzt. So zeigt insbesondere die Untersuchung des
ATD die außerdem große Bedeutung des „personellen Faktors“. Personen gewinnen
an Bedeutung zur Kompensation der fehlenden räumlichen Nähe der einzelnen
Netzwerkakteure; sie schaffen eine soziale Nähe, ohne dass die Netzwerke abstrakt
werden. Denn Vertrauen lässt sich nur über persönliche Kontakte und über informelle Komponenten, die in ihnen mitschwingen, aufbauen und langfristig stabilisieren.
Allein per E-Mail und Videokonferenzen wird ein global agierendes Unternehmensnetzwerk nicht funktionieren. 347 Hinzu kommt die hohe Bedeutung von Kontakten
vor Ort, z.B. in Form von Projektbesuchen; sie tragen dem lokalen Charakter von
Sozialarbeit Rechnung. Die räumliche Nähe zu den Mitgliedern ist auch deswegen
wichtig, weil die einzelnen nationalen Netzwerkvertreter maßgeblich durch ihre Herkunftsorganisationen, häufig sogar durch markante Formen nationaler Identität,
geprägt sind.
Soziale Arbeit muss jedoch neben einer Bewusstseinsbildung und der Schaffung von
Strukturen zur Vernetzung auch in programmatischer Hinsicht Visionen und Konzepte entwickeln und beisteuern, wie eine gelingende europäische Vernetzung aussehen könnte beziehungsweise welche Negativfolgen deren Nichterreichung auf eu-
347
vgl. auch Nohria, N., Eccles, R.G. (1999), Hermann, P. (1999); Diese betonen bestätigend, dass
auch bei noch so modernen technischen Möglichkeiten, die Zusammenarbeit grundsätzlich stark
von persönlichen Momenten abhängt.
6 Resümee und Ausblick
185
ropäischer wie auf nationaler Ebene hat. Die untersuchten Netzwerke liefern der
Sozialen Arbeit hier wertvolle Ansatzpunkte, die im Folgenden weiter ausgeführt
werden.
Netzwerke als Diskursraum, Organisationsverbund und Demokratiemodell
Europäische Netzwerke leisten einen wichtigen Beitrag zur überregionalen Vernetzung in der Sozialen Arbeit. Die untersuchten Netzwerktypen haben in ihrer Arbeit
verschiedene praxistheoretische Modelle entworfen, die zu einer gelingenden europäischen Vernetzung beisteuern. Den einzelnen Typen gelingt es in unterschiedlicher
Weise mit ganz eigenen Schwerpunkten, sich den geänderten Erfordernissen wie
dynamischen Umweltveränderungen, einem geänderten Armutsbild sowie der Mehrsprachigkeit in Europa anzupassen.
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Austausch zielgerichtet sein muss. Er muss
programmatisch und methodisch reflektiert sein. Austausch kann nicht für sich allein
stehen und darf sich nicht darin erschöpfen. Er sollte beispielsweise auf die Initiierung eines gemeinsamen Projektes oder die Formulierung und Durchsetzung politischer Forderungen zielen. Das kann zum Beispiel in Form eines gemeinsamen Projektes geschehen, wie bei einem interkulturellen Jugendaustausch in Haus Neudorf,
oder durch die politische Arbeit des Netzwerkes, zum Beispiel durch die Beförderung
bestimmter armutsrelevanter Themen auf die europäische Agenda, wie sie insbesondere vom EAPN in ihrer zivilgesellschaftlichen Verantwortlichkeit wahrgenommen wird. Insbesondere die Kommunikationsnetzwerke betonen programmatisch
die politische Funktion der Sozialen Arbeit und agieren als politischer Diskursraum.
Entsprechend spielt auch der vertikale Austausch im Netzwerk, das heißt die Kommunikation zwischen den Netzwerkmitgliedern und der koordinierenden europäischen Ebene, eine wichtige Rolle. Der vertikale Austausch steht nicht für sich, er
muss darauf gerichtet sein, die konkrete Arbeit vor Ort mit der politischen Arbeit zu
verknüpfen. Das heißt, das Netzwerk bietet der Sozialen Arbeit die Möglichkeit, sich
politisch auf europäischer Ebene zu artikulieren und stellt dafür die entsprechenden
Kommunikationskanäle bereit: Das Netzwerk wird zum politischen Diskursraum.
Gleichzeitig sind die von der europäischen Ebene formulierten politischen Forderungen und Einflussmöglichkeiten durch Austausch mit der Basis fachlich und bedarfsbezogen zu unterlegen. Der netzwerkinterne Austausch mit der Basis gewährleistet
dem Gesamtnetzwerk die notwendige Repräsentativität, um sich als fachlich kompetenter Ansprechpartner zu etablieren. Mit der Stärkung des vertikalen Austauschs im
Netzwerk wird somit gleichzeitig die politische Verantwortung der Sozialen Arbeit
unterstrichen. Soziale Arbeit darf sich nicht nur auf die fallbezogene Linderung von
Armut und Armutsfolgen richten, sondern muss sich auch politisch engagieren und
6 Resümee und Ausblick
186
positionieren. Soziale Arbeit ist im Laufe ihrer Entwicklung Teil einer Konfliktlösungsstrategie geworden, in der es regelmäßig auch um die Frage der gerechten
Güterverteilung ging. Hier hat sie sich zwar um Kompromisse bemüht, aber letztendlich zu wenig sozialpolitisch engagiert. Europäische Netzwerke wie das EAPN
haben sich hier in den letzten Jahren teils professionell positioniert. Sie pflegen, im
Sinne von Policy-Netzwerken, einen intensiven Kontakt zu behördlichen Einrichtungen der EU und nehmen, unterstützt durch ihren konsultativen Status bei den EUOrganen Einfluss auf die Steuerung politischer Prozesse. Für die Soziale Arbeit geht
es nun zunächst darum, ein Bewusstsein über die Notwendigkeit des politischen
Engagements in Europa im Rahmen der praktischen Arbeit auszubilden. Erst auf
dieser Grundlage ist eine politische Beteiligung, im Sinne des EAPN, denkbar. Hier
spielt, wie die Analyse des EAPN verdeutlicht hat, die Rückkopplung der politischen
Arbeit mit der praktischen Arbeit vor Ort eine wichtige Rolle. Beim EAPN wurden
beispielsweise Verständigungsdefizite und Identitätsprobleme zwischen den unterschiedlichen Netzwerkebenen festgestellt, die dazu führen, dass die europäische
Netzwerkebene ihre politischen Forderungen teils losgelöst von der Basis formuliert.
In Organisationsnetzwerken wird insbesondere der Nutzen des organisationalen
Austausches für die Soziale Arbeit herausgestellt. Grund für die Beteiligung im
Netzwerk ist der erhoffte Gewinn für die tägliche Arbeit. Der horizontale Austausch,
das heißt der direkte Austausch zwischen Projekten der Sozialen Arbeit auf nationaler beziehungsweise lokaler Ebene, kann sowohl eine fallbezogene Zusammenarbeit
sein, beispielsweise im grenzüberschreitenden Bereich, sich aber auch auf den Austausch über Arbeitskonzepte, Formen der Vernetzung oder Organisationsstrukturen
und Rahmenbedingungen der Arbeit beziehen. Zudem können sich wertvolle Erkenntnisse auch für das mittlere Management sozialer Projekte ergeben. Das Kennenlernen von Organisationsstrukturen und Vernetzungsmodellen der einzelnen
Netzwerkpartner und ihre Diskussion können zu einer Optimierung der eigenen organisationalen Prozesse führen oder bei bestehenden strukturellen Problemen neue
Lösungsansätze bieten. Darüber hinaus kann der horizontale Austausch, soweit dies
fachlich notwendig erscheint, zu einer Vereinheitlichung und Standardisierung der
Arbeitsansätze beitragen. 348 Der Austausch von Erfahrungen oder aktuellen Informationen kann somit in der konkreten programmatischen Ausrichtung Sozialer Arbeit
neue Denkweisen initiieren. Die Akteure der Organisationsnetzwerke nutzen die
Mitgliedschaft im Netzwerk, um ihre Austauschbeziehungen strukturell abzusichern
und zu erleichtern. Das Netzwerk fungiert als Organisationsverbund. Der europäi-
348
Mit der europäischen Integration gewinnen die Bemühungen der Europäischen Kommission um
eine Vereinheitlichung der politischen und sozialen Systeme an Bedeutung; vgl. hierzu Kapitel
3.2.2, Allgemeine Trends in der EU
6 Resümee und Ausblick
187
schen Netzwerkebene kommt entsprechend eine untergeordnete Rolle zu, die Akteure dieser Ebene werden bedarfsbezogen als Initiator oder als Moderator von Austauschprozessen aktiviert.
Die Bewegungsnetzwerke setzen ebenfalls auf den Erfahrungsaustausch. Sie nehmen die Beteiligung der Betroffenen, im Sinne des sozialarbeiterischen Konzepts des
Empowerments, mehr in den Blick und messen entsprechend der politischen Vertretung auf europäischer Ebene zur Erreichung ihrer Ziele eine größere Bedeutung zu.
Netzwerke stellen für Betroffene ein politisches Sprachrohr dar und fungieren somit
als Demokratiemodell. Den Bewegungsnetzwerken gelingt der wechselseitige Rückkopplungsprozess im Netzwerk, denn der Kommunikations- und Informationsfluss
zwischen den Netzwerkebenen ist für einen gelingenden Austausch von hoher Bedeutung, ja sogar wesentlich. Die Praxis zeigt jedoch, dass diese Rückkopplung häufig auf einen reinen Wissenstransfer reduziert wird und durch unterschiedliche Vorstellungen der einzelnen Netzwerkebenen über die Zielsetzung des Netzwerkes, die
mangelnde Identität der Mitglieder mit dem Gesamtnetzwerk, nicht zuletzt durch
unzureichende Kommunikationsstrukturen und Ressourcen behindert wird.
Vernetzung als handlungsleitende Strategie der Sozialen Arbeit
Aus dem Gesagten lassen sich allgemeine strategische Herausforderungen an die
Soziale Arbeit ableiten, die die programmatischen Ziele und Praxistheorien der einzelnen Netzwerktypen miteinander kombinieren. Anknüpfungspunkt für diese Herausforderungen bilden die von Weik/Lang zusammengefassten Theorieansätze moderner Organisationen, das sensemaking, die Organisationskultur und das organisationale Lernen. 349
Soziale Arbeit steht aufgrund dynamischer Umweltveränderungen und zunehmender
Komplexität der zu bearbeitenden Problemlagen vor der Aufgabe, sich immer wieder
neu zu erfinden und flexibel zu sein, um den sich ändernden Bedürfnissen ihrer
Klienten gerecht zu werden. Organisationen wie die europäischen Netzwerke sind
geeignet, die notwendigen Anpassungsleistungen der Sozialen Arbeit zu unterstützen, da sie den Mitgliedern Hilfen zur Strukturierung und Einordnung der komplexen
Wissensbestände bieten und somit ihre Handlungsfähigkeit erhalten. Europäische
Netzwerke können zum Beispiel konkret die komplexen Vorgänge der EU mit ihren
Strukturen, Entscheidungsbefugnissen und Förderprogrammen zugänglicher machen, indem sie die vielfältigen Informationen aufbereiten und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, zum Beispiel durch die Formulierung politischer Positionspapiere.
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vgl. Weik, E.; Lang, R. (2005)
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Diese sinnstiftenden Prozesse, Weick spricht hier von sensemaking, sind eng gekoppelt an die Entwicklung einer Organisationskultur und an das organisationale Lernen. Entsprechend erfolgt Sinnstiftung auch über die Motivierung der Mitglieder zur
Mitarbeit im Netzwerk beziehungsweise zum Erfahrungsaustausch, um neue Lösungsansätze hinsichtlich aktueller Problemlagen zu diskutieren. Damit eine solche
Sinnstiftung gelingen kann, zählt es zur Aufgabe der Sozialen Arbeit, Strukturen zu
schaffen, die Vernetzung ermöglichen. Neben den eher formalen Leistungen wie der
Durchführung von Seminaren zur Schulung der Mitglieder und als Ort der Begegnung, der Schaffung eines Internetforums oder der Bereitstellung von Ressourcen ist
es für das Funktionieren einer Organisation bedeutend, ein kohärentes System aus
Werten, Ritualen, kollektiven Handlungsmustern und Symbolen zu schaffen, das die
Akteure der Organisation zusammenbindet und ihnen hilft, sich den Diskontinuitäten und raschen Änderungen ihrer Umwelt zu stellen.
Solche sozialen Mechanismen, die auf geteilten Denk-, Fühl- und Handlungsmustern
beruhen, tragen wesentlich dazu bei, eine Organisationskultur, eine eigene Identität
auszubilden. Sie helfen den Akteuren, ihre Organisation und ihre Mitglieder zu verstehen und sie anzunehmen. Entsprechend erhöht sich die Bereitschaft, sich in der
Organisation zu engagieren, für eine Sache zu kämpfen, an die man glaubt. Durch
gemeinsame Werte oder Kommunikationsregeln wird die Organisation stabilisiert.
Verständnisbarrieren, die in europäischen Netzwerken aufgrund der Unterschiedlichkeit der Mitglieder besonders hoch sind, werden abgebaut. Gleichzeitig muss die
Organisation individuelle Freiräume ermöglichen, um Veränderungen zuzulassen
und Anpassungen an die Umwelt zu ermöglichen.
Entsprechend gewinnt die Auseinandersetzung mit Prozessen organisationalen Lernens an Bedeutung. Die Überlebensfähigkeit Sozialer Arbeit hängt von ihrer Anpassungsfähigkeit ab. Indem Organisationen lernen, erweitern sie ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Fertigkeiten. Das wiederum beeinflusst die Fähigkeit, komplexe und
dynamische Umwelteinflüsse zu bewältigen. Die Herausforderung für lernende Organisationen besteht darin, Kernwissen zu identifizieren und den Erfahrungstransfer
zwischen einzelnen Mitarbeitern zu ermöglichen, neue Problemlösungen zu fördern
und Wissen zu sammeln und weiterzugeben. Dies gilt um so mehr für europäische
Netzwerke, denn der von den europäischen Netzwerken angestoßene Erfahrungsaustausch ist im Sinne des organisationalen Lernens zu verstehen, da er sich bemüht, sozialarbeiterische Konzepte zwischen den Mitgliedern des Netzwerkes zu
kommunizieren und somit neue Lösungswege aufzuzeigen. Die Unterschiedlichkeit
und Vielfalt der Mitglieder und ihrer Wissensbestände gilt hierbei als besondere
Chance. Gleichzeitig behindert die Unterschiedlichkeit der Mitglieder das organisationale Lernen, indem sie Verständnisbarrieren beinhaltet, die zu überwinden sind.
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Abschließend lässt sich sagen, dass die Soziale Arbeit durch die gesellschaftlichen
und politischen Entwicklungen hin zu pluri-lokalen Lebenswelten und dynamischen
Umweltveränderungen vor neue Herausforderungen gestellt ist. Europäische Netzwerke bieten eine geeignete Möglichkeit, diesen Änderungen zu begegnen, wenn
sie die Voraussetzungen des sensemaking, der Organisationskultur und des Organisationalen Lernens erfüllen.
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