als PDF herunterladen

Werbung
Freudenberg: Ernst Moros Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings
Dtsch. med. Wschr., 86. Jg.
Ernst Moros Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings
Von E. Freudenberg
Die Jahrhundertfeier der Gründung der Universitätskinder-
klinik in Heidelberg bietet den Anlaß zu einem geschichtlichen Rückblick auf ein auch heute noch wichtiges Gebiet der
Pädiatrie, die Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings. Dies gilt um so mehr, als der hervorragendste Vertreter
der Heidelberger Pädiater, Ernst Moro, gerade diesem Ge-
biete die Arbeit vieler Jahre zugewandt hat, und dieser
Arbeit wichtige Erkenntnisse zu verdanken sind.
Gleich am Anfang seiner Laufbahn, 1905, machte Moro eine
wichtige Entdeckung: die der Keimfreiheit des Dünndarms. Es
tion des Dünndarms" prägte. Erst im Jahre 1918 wurde dieser
Beobachtung durch Bessau auch die Bestätigung für die Ver-
hältnisse intra vitam hinzugefügt, indem er sich der Duodenalsonde bediente.
Nach seiner Berufung von München nach Heidelberg im
Jahre 1911 widmete sich Moro klinischen und experimentellen
Arbeiten, die dem Ziele galten, die Bedingungen zu ermitteln,
unter denen es zur endogenen Infektion kommt. Als begün-
stigende Momente erwiesen sich in diesen Versuchen an
Jungtieren (Hund, Kaninchen, Meerschweinchen) hohe Zucker-
beeinträchtigt den Wert dieser Entdeckung nicht, daß sie
innerhalb weniger Monate, und völlig unabhängig, noch an
zwei anderen Stellen erfolgte, durch Tissier am Institut Pa-
zufuhr und Uberwärmung. Nach den damals entwickelten
Vorstellungen beruht die Zuckerwirkung auf vermehrter
Vegetation der durch den Zucker angelockten Bakterien, die
steur in Paris und durch Rolly und Liebermeister in Deutschland, sie erweist nur ihre Richtigkeit. Im gleichen Jahre noch
ergänzte Moro diesen Befund durch die Feststellung, daß bei
den akuten Ernährungsstörungen des Säuglings, den schweren Brechdurchfällen, bei sofort post mortem vorgenommenen
Dünndarm, Lahmiegung der Fermentproduktion und Austrocknung (Exsikjose). Auch ein Darmdtastikum, das Podophyllin, führte unter geeigneten Bedingungen zur endogenen
Sektionen der gesamte Dünndarm von Colibazillen überschwemmt ist, wofür Moro den Begriff der endogenen Infek-
Uberhitzung im Wärmeofen führt zu Epithelschädigungen im
Dünndarminfektion.
Eine auffällige Parallele finden diese Versuche in gewissen. Tatsachen und Erfahrungen, die später in zoologischen Gärten ermittelt
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
1212
Freudenberg: Ernst Moros Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings
wurden, indem immer wieder wertvolle Tiere durch die Fütterung
seitens der Besucher zugrunde gingen. Besonders gefährdet erwiesen
sich hierbei die Wiederkäuer - wofür die besonderen anatomischphysiologischen Verhältnisse des Magens dieser Tiere die Ursache
sein dürften -, andererseits aber die Dickhäuter, also Flußpferd und
Elefant. Unter den schädlichen Futterstoffen spielt der Zucker die
Hauptrolle. Die Tiere erliegen hierbei einer Enteritis. In quantitativer
Hinsicht kann man sich einen Begriff von den verzehrten Mengen
machen, wenn man vernimmt, daß nach einem guten" Besudistag
3-5 kg Zucker aus dem Löwenkäfig gesammelt werden konnten.
Leider stehen vorläufig bakteriologische Untersuchungen bei diesen
Beobachtungen noch aus. Sie sind geplant.
Die Versuche Moros zur experimentellen Erzeugung der
endogenen Infektion fielen in die Zeit, in der Finkelstein und
Meyer mit ihrer Hypothese hervortraten, daß von der artfremden Milch, der Kuhmilch, Schädigungen ausgehen, und
daß diese Schädigungen durch den Molkenanteil der Kuhmilch bedingt seien, nicht durch das Eiweiß, das Kasein",
und nicht durch das Fett der Kuhmilch.
Als Beweisstück für diese Hypothese diente der Molken-
austausch-Versuch. Dieser kann in zweierlei Weise ausgeführt werden: entweder so, daß die Kuhmilchmolke durch
Frauenmilchmolke.ersetzt wird, indem man Fett und Käsestoff
durch Labung in der Kuhmilch entfernt und der Frauenmilchmolke zufügt, die ihrerseits durch Verlabung von Fett und
Kasein vorher befreit worden war. Gerade auf diesem Punkt,
die Verlabung der Frauenmilch, werde ich nachher ausführlicher zurückkommen. Die Vergleichsnahrung zur molkenausgetauschten Nahrung ist Kuhmilch, die dem gleichen technischen Prozeß unterworfen wird, indem der Labkäse feinst
verteilt in die Kuhmilchmolke zurückgegeben wird.
Es ist aber auch ein anderes Vergleichsverfahren versucht
worden, das der zuerst erwähnten Zubereitung gegenübergestellt werden sollte: eine Mischung von Kuhmilchmolke mit
dem Labkäse und dem Fett aus der Frauenmilch. Auch diese
Mischung müßte nach der Hypothese Finkelstein-Meyers ungünstig sein; in gleicher Weise wie die verlabte Kuhmilch.
Was heißt ungünstig? Man prüfte nach folgenden Gesichtspunkten: 1. Gewährt die Mischung mit Frauenmilchmolke als
Basis einen besseren Gewichtsansatz bei vergleichenden Ernährungsversuchen? 2. Gehen von eben dieser Mischung die
gleichen Heilwirkungen bei ernährungsgest&ten Kindern aus,
besonders bei akuten Dyspepsien und Toxikosen, wie von
Frauenmildi? 3. Gehen von den Vergleichsmischungen - verlabter Kuhmilch oder aber Kuhmilchmolke mit Käse und Fett
aus Frauenmilch - Schädigungen aus?
Bevor wir diese Fragen beantw.orten, muß darauf hingewiesen werden, daß die Frauenmilchmolke einen höheren Gehalt
an Milchzucker und Molkenprotein hat und somit kalo rienreicher ist, so daß nach Zufügung von Fett und Kasein aus
Kuhniilch auch diese Nahrung etwa 13 Cal. pro 100 ml mehr
enthält als die Vergleichsnahrung. Merkwürdigerweise hat
man darauf kaum Rücksicht genommen Es kommt aber noch
ein zweiter Fehler hinzu, der von der schwierigen Verlabbarkeit der Frauenmilch durch Labpräparate herrührt. Sie geht
nur vonstatten, wenn die pH-Stufe von. 5,2-5,5 genau ein-
1213
frieren ohne weiteres mit Kälberlab verlabt werden. Diese
Angabe - deren Durchführung sich die Kliniker noch erleich-
terten, indem sie die Frauenmilch nur einige Stunden im
Eisschrank abkühlten -, ist völlig falsch. Auch nach wochenlangem Einfrieren läßt sich Frauenmilch bei ihrer natürlichen
Reaktion nicht verlaben. Von der gekühlten Frauenmilch kann
jedoch das erstarrte Fett abfiltriert werden. Die abfließende
klare Flüssigkeit wurde für die Frauenmilchmolke gehalten,
sie enthält aber das ganze Frauenmilchkasein. Ergo enthielt
die kaseinfreie Vergleichslösung auf der Basis der Kuhmilchmolke überhaupt nur 0.3_0.50/o Protein. Ernährungsversuche
mit einem solchen Gemisch mußten versagen, namentlich
gegenüber einer Nahrung mit 3.5°/o Protein. Soviel zu Frage 1.
Die weitere Frage, die zweite, ob Frauenmilchmolke mit
Kasein und Fett aus Kuhmilch die von der Frauenmilch bekannten Heilwirkungen ausübt, hat der Autor, der sie am
sorgfältigsten bei ernährungsgestörten Kindern bearbeitet
hat, Benjamin an der Münchener Kinderklinik, verneint.
Die dritte Frage, die nach schädigenden Wirkungen, die von
der Kuhmilchmolke ausgehen könnten, werden wir nachher
- bei der Besprechung des alimentären Fiebers - beantworten.
Daß die gesamten Versuche bei ihrer technischen Unvoll-
kommenheit, bei den meist viel zu kurzen Perioden der Ernährungsversuche, die verglichen wurden, keine sehr klaren
Antworten auf die gestellten Fragen gegeben haben, ersieht
man aus ihrer Beurteilung durch die Initianten sèlbst. 1921
und 1938 schreibt Finkelstein - in seinem klinisch ausgezeich-
fleten Buch ,Säuglingskrankheiten" -: Eine überzeugende
Beweisführung ist nicht gelungen" bzw. Das Gesamtergebnis
der bisherigen Mühen ist bescheiden", und L. F. Meyer und
Nassau drücken sich 1953 ebenfalls sehr zurückhaltend aus,
so daß einem - angesichts der großen Literatur über den
Molkenaustausch - die Verse, die Mephisto bei seinem
letzten Auftreten im Faust (II) spricht, in den Sinn kommen:
Ein großer Aufwand, schmählich, ist vertan".
Als sich Moro mit seinen Schülern diesem umstrittenen
Gebiete zuwandte, sagte er ausdrücklich, er täte das nicht,
um die Hypothesen von Finkelstein-Meyer zu stützen oder
zu erschüttern". Reiz läge aber darin, ein Gebiet auf neuen
Wegen zu begehen, das im Ernährungsexperiment lohnende
Ausblicke zu geben versprochen hatte.
Als echter Naturforscher bediente sich Moro ganz neuer
Untersuchungsverfahren, ud zwar unter Anleitung Warburgs, der damals in Heidelberg weilte, nämlich der in ihren
Anfängen stehenden manometrischen Methode, um die Sauerstoffaufnahme von Darmzellen im Medium der homologen und
der heterologen Molke vergleichend zu messen. Die Versuche
hatten ein klares Ergebnis in dem Sinne, daß die Epithelien
des Dünndarms von neugeborenen oder sehr jungen Tieren in
der homologen Molke einen besseren Sauerstotfkonsum hatten als in Frauenmilchmolke. Da diese Unterschiede auch in
malen Säurezusätze, von denen wir lesen, waren für den
der enteiweißten Molke bestanden, wurde an eine Mitwirkung
der Molkensaize bei dem gefundenen Effekt gedacht, wofür
der Beweis zunächst mißlang. Erst 1922 erbrachte György in
der Moro'schen Klinik den Nachweis, daß der Phosphatgehalt
der Molken, für den es ein Optimum gibt, eine entscheidende
Rolle spielt.
erstrebten Zweck völlig un!ureichend. Die meisten Autoren
haben ganz auf sie verzichtet, weil Fuld und Wohigemut angegeben hatten, Frauenmilch könne nach mehrtägigem Ein-
Schofmann vergleichende Versuche über die Resorption des
Mildizuckers in homologer und heterologer Molke aus dem
gehalten wird. Zur damaligen Zeit bestand hierüber noch
Ieine Klarheit und pH-Messungen konnten zudem nur unter
Schwierigkeiten ausgeführt werden. Die verwendeten mini-
Parallel mit den erwähnten Arbeiten unternahm ich mit
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
Nr. 25, 23. Juni 1961
Freudenberg: Ernst Moros Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings
überlebenden Dünndarm junger Saugkälber. Analoge Versuche Pfaundlers und Zoepfels an Zicklein, und zwar am überlebendem Darm, führten zu gleichen Ergebnissen. Auch hier
trat wieder die Begünstigung im homologen Medium hervor,
wobei es offen blieb, wie weit eine Begünstigung der Laktase
hierbei eine Rolle spielte. Laktose wird bekanntlich langsam,
ihre Spaltprodukte schnell resorbiert. Diese zweite Frage
wurde von uns 1922 gelöst, wobei sich zeigte, daß dem Phosphatgehalt wiederum eine ausschlaggebende Rolle zukam,
dessen Optimum für die tierischen und die humanen ZellLaktasen nicht das gleiche war. Von hier weiterschreitend
habe ich die Untersuchungen unternommen, die 1929 unter
dem Titel ,,Physiologie und Pathologie der Verdauung im
Säuglingsalter" erschienen sind, Indem dies erwähnt wird,
soll nur betont werden, daß die Anregung zu dieser über
Jahre betriebenen Forschungsrichtung auf Ernst Moro zurückgegangen ist.
In ihrem Gefolge, und ebenso durch die Forschungen anderer
Autoren, hat sich eine andere Anschauung allmählich Bahn gebrochen. Eine unmittelbare Schädigung durch die artfremde Milch wird
- mit Ausnahme der Fälle von enteraler Allergie durch Kuhmilch - nicht mehr angenommen. Jedoch gehen von der artfremden
Nahrung mittelbare Schädigungen aus. Sie sind zum Teil motorischer
Art und drü&en sich in einer verlängerten Darmpassage und Magenverweildauer aus, zum Teil sind sie digestiver Natur und betreffen die Beeinflussung enzymatischer Vorgänge wie der Tätigkeit der
Lipasen und Laktasen, endlich betreffen sie die Resorption der Verdauungsprodukte. Diese wird am besten erforscht mittels der Jeju-
nalsondierung, bei der die Säuglinge durch feine intranasal eingeführte Sonden ohne Behinderung des Trinkens aus der Flasche
mittels Probeentnahme nach den Mahlzeiten fortlaufend untersucht
werden.
Es werden beim Vergleich von Frauenmilch und Kuhmilch bzw.
mit Milthmischungen bedeutende Unterschiede im Verhalten der
Resorption und des Proteinabbaues, besonders aber der Zuckerresorption zu Gunsten der Frauenmildi erkennbar.
Die gesamten erwähnten Vorgänge werden durch die artfremde
Nahrung verlangsamt, und dies bewirkt eine erhöhte Gefährdung,
und zwar dann, wenn diejenigen Vorgänge zur Wirksamkeit gelangen, die einzeln oder gemeinsam dyspeptische Störungen auslösen. Dies sind die parenteralen Infekte, Uberhitzung und Uberfütterung. Hierzu kommen die konstitutionellen Faktoren, deren
Eingreifen schon aus der sehr deutlichen Alterskonstitution ersicht-
lich wird. Bekanntlich sind junge Säuglinge im Alter bis zu vier
Monaten viel mehr gefährdet als ältere.
Diese Zusammenhänge hat Moro schon 1916 in voller Klarheit
erkannt und ausgesprochen.
Seitdem sind freilich die Verhältnisse noch komplizierter gewor-
den, denn man kann nicht mehr an der möglichen Mitwirkung
enteraler Viren vorbeigehen. Gelegentliche Epidemien solcher Ätio-
logie sind beschrieben worden, z. B. durch Adenovirus von Hirajama in Japan. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, daß
es Interferenzen zwischen Viren und Darmbakterien gibt, wie man
solche zwischen Staphylokokken und Viren im Rachen gefunden hat.
Vorläufig ist das terra incognita.
Ein recht bescheidener Restbetrag, wenn ich so sagen darf,
ist also übrig geblieben von dem, was man früher als durch
die artfremde Nahrung bewirkten Schaden angesehen hat. Es
gibt aber sogar einen Gegenwert der Molke in positivem
Sinne. Joppich hat gezeigt, daß die Stickstoffbilanzen bei einer
nur Kasein als Stickstoffquelle enthaltenden Nahrung schlech-
ter sind, als wenn gleichzeitig bei gleichen N-Mengen Mol-
kenproteine in der Nahrung vorhanden sind. Dieses Phänomen ist schwer verständlich. Zwar enthält Kasein sehr viel
weniger Cystin als die Molkenproteine, aber Cystin ist keine
essentielle Aminosäure, so daß man nicht sagen kann, worin
der Vorzug der Nahrung besteht, die Molkenprotein enthält.
Dtsch. med. Wschr., 86. Jg.
Wir müssen aber nochmals zurückkehren zu dem Molkenaustauschversuch und dessen Kritik. Einer Wirkung der artfremden Molke haben wir bisher noch nicht gedacht, nämlich
ihrer unter bestimmten Voraussetzungen Fieber erzeugenden
Eigenschaft.
Hier begegnen wir dem Problem des alimentären Fiebers,
das bis in die zwanziger Jahre des Jahrhunderts eine große
Rolle in der pädiatrischen und, durch sie angeregt, auch in
der pharmakologischen Literatur spielte. Schließt man wieder
aus, was nur durch technische Fehler (pyrogenhaltiges Was-
ser) verursacht war, so bleibt übrig der von Finkeistein angegebene Versuch, bei dem durch Trinken von dreiprozentiger
Kochsalzlösung bei Säuglingen in einem Teil der Fälle Fieber
erzeugt wird. Die Nachprüfungen haben das bestätigt, doch
war es unmöglich, den Vorstellungen Finkeisteins zu folgen
die er später nicht mehr vertreten hat -, der in der dreiprozentigen Kochsalziösung ein Modell der Kuhmilchmolke,
und zwar von deren Salzen, sehen wollte. Das ist in jeder
Hinsicht eine Unmöglichkeit, wie jeder, der diese Verhältnisse zu überschauen vermag, zugeben wird. Es gibt keine
Vergleichsmöglichkeit im biochemischen Sinne.
Moro hat daher bei der Entstehung des alimentären Fiebers
durch Molke größeres Gewicht auf den Milchzuckergehalt der
Molke gelegt als auf deren Salzgehalt. Er spricht klar aus, daß
am alimentären Fieber die Molkensalze unbeteiligt sind und
setzt einem langen Irrweg ein Ende.
Er legte weiterhin Gewicht auf die Tatsache, daß die Kinder, die bei Milchzuckerzulagen zur Molke fieberten, Diarrhoen
bekamen, die er auf einen leichten Gärungskatarrh des Dünn-
darms bezog, indem der verabreichte Zucker die Bakterien
anlocke - im Sinne der endogenen Infektion des Dünndarms.
Wenn wir heutzutage auf diese Versuche zurückblicken, so
müssen wir freilich sagen, daß die Zulagen von Milchzucker
zur Molke, die doch an sich schon 4-5°/o davon enthält, mit
7_140/0 den Bereich der in der Ernährungspraxis vorkommenden Konzentrationen zu weit überschreiten und daher
ungeeignet waren, die angenommenen schädlichen Wirkungen von natürlicher Kuhmilchmolke zu begründen. Bedenken
wir nur, daß in diesen Versuchen massive Laktosurien auftraten sowie Laktoseausscheidung im- Stuhl, Vorgänge, die
auch bei schweren Enteritiden seltene Ausnahmen sind.
Betroffen wurde Moro durch den Befund, daß mit eiweißfreier, zudcerangereicherter Molke kein Fieber entstand,
dagegen wohl mit enteiweißter Molke, der 2°/o Wittepepton
zugesetzt wurde. Eine Peptonlösung ohne Molke, oral gegeben, erzeugte kein Fieber. Auch sogenanntes abiuretes
Pepton in Molke bewirkte Fieber.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß es diese Beobachtungen waren, die Moro 1922 zu seiner Amintheorie der
Toxikose führten. Sie enthielten die Elemente, aus denen
sich seine spätere Konzeption aufbaute: 1. Die Anlo&ung der
Kolibazillen in den Dünndarm durch Zucker, wo sie eine saure
Gärung auslösen. 2. Die Anwesenheit eines Materials Peptide
und Aminosäuren -, das die Kolibazillen durch Decarboxylie'rung bei saurer Reaktion in Amine überführen. 3. Die Anwesenheit der für dieses Geschehen nötigen Enzyme in den
Kolibazillen. Diese bedienen sich ihrer, um die sie vernichtende pH-Stufe von 4,5 durch Aminbildung (auch niedere
Amine und Ammoniak entstehen) hinauszuschieben.
Die Voraussetzungen zu solchem Geschehen sind bei den
akuten Enteritiden gegeben. Moro hat als begünstigenden
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
1214
Freudenberg: Ernst Moros Lehre von den Ernährungsstörungen des Säuglings
Faktor die Darmschädigung durch Exsikkose mit gesteigerter
Permeabilität angenommen. Vielleicht ist dieses Erfordernis
für gut wasserläslidie und resorptionsfähige Substanzen nicht
obligat.
Gegen die Aminthese Moros haben Meyer-Rominger den
Einwand erhoben, daß im Stuhl von Säuglingen, namentliôi
künstlich ernährten, mit der biologischen Methode von Guggenheim und Löffler histaminartige Stoffe nachweisbar seien,
seltener bei Brustkindern. Dieser Nachweis im Stuhl sei daher
qhne Belang, er komme auch bei gesunden Kindern vor;
bewiesen sei Moros These nur dann, wenn auch im Urin
Histamin" nachgewiesen werden könne, und dies sei ihnen
bei einigen Fällen von Toxikose nicht geglückt.
Der Einwand ist nicht ganz stichhaltig, denn bei der tierexperimentellen Histaminvergiftung erscheint keineswegs
sofort Histamin im Urin, sondern nur in dem Maße, in dem
es nicht mehr - wohl besonders durch die Leber - entgiftet
werden kann.
Ferner ist die Entstehung im Dickdarm nicht mit der im
Dünndarm zu vergleichen, dessen Flächengröße und Resorptionsvermögen um vieles größer ist.
1928 vermochte Moros Schüler Röthler - wieder mit der
biologischen Methode - Amine im Urin von Toxikosen nachzuweisen. Wenn damit der erwähnte Einwand entkräftet ist,
so ist es doch wünschenswert, daß diese Amine auch chemisch
definiert werden können. Durch Schreier ist 1956 darauf hingewiesen worden, daß unter den gesuchten Aminen besonders
das Oxytryptamin, das sogenannte Serotonin oder Enteramin
von Erspamer, von Bedeutung sein könnte. Es wirkt auf die
Peristaltik, auf die Atmung, den Blutdruck, der bei Menschen
u. U. gesenkt wird, und auf die Diurese, die gehemmt wird.
Es spielt bei Scho&zuständen eine Rolle, indem die zirkulierende Blutmenge verkleinert wird, wie bei Toxikosen. Auch
das Sensorium ist betroffen; es entstehen Zustände ähnlich
einer Betäubung beim. Menschen. Der Stoff ist nicht nur ein
bakterielles Zersetzungsprodukt, sondern ein normaler im
Stoffwechsel auftretender und in gewissen Geweben gespeicherter, hormonartiger Wirkstoff.
Dieser Gedanke von Schreier wurde neuerdings bestätigt,
indem neben anderen Abbauprodukten des Tryptophans
- darunter der Vorstufe des Serotonins Hydroxytryptophan - auch Serotonin im Urin von Toxikose gefunden
wurde (1958, Kleinbaum-Leipzig), und zwar konstant und dem
Schweregrad entsprechend.
Wenn von der endogenen Infektion und ihren Folgen heutzutage weniger als früher die Rede ist, so deshalb, weil durch
die Aufstellung des Begriffes ,,Dyspepsie-Koli" durch Adam
und den späteren exakten Nachweis pathogener Kolistämme
durch das serologiscbe Verfahren von Kaufmann die Lehre
von der exogenen Infektion in den Vordergrund gerückt ist.
Besonders starke Aminbildner sind sie nicht.
Schließen sich die beiden Vorgänge - endogene und
exogene Infektion - gegenseitig aus, sind mit anderen Worten alle Säuglingsenteritiden durch pathogene Kolibazillen
verursacht?
Wenn man diese Frage nicht auf Grund kurzfristiger, lokal
beschränkter Beobachtungen, sondern auf Grund der Beobach-
tungen langer Jahresreihen beantwortet, so lautet die Antwort verneinend. Dies hat sowohl das Krankengut in Basel
wie in Freiburg gezeigt, kürzlich das in Moskau, wo nur 200/o
der Dyspepsien auf pathogenen Koli beruhte. Da Shigellen
1215
und Salmonellen oder andere exogene Erreger bei uns auch
kaum statistisch ins Gewicht fallen, so rückt um so mehr in
den Vordergrund die Pathogenese infolge der parenteralen
Infekte, die u. U. die Großzahl der Fälle bewirken können.
Es gibt also ein Gebiet, auf dem die endogene Infektion Moros
eine Rolle spielt.
Die skeptische Haltung, die dem Begriff Toxikose im eigentlichen Wortsinne an manchen Orten entgegengebracht wurde,
rührt daher, daß es unnötig schien, nach toxischen Stoffen
zu fahnden, wenn so schwere Schädigungen, wie sie die
Exsikkose bewirkt, im Spiele sind. ist diese Uberlegung
richtig?
Es kommt bei der Anhydrämie, wie man weiß, sowohl zu
Verschiebungen zwischen intra- und extrazellulärem Wasser,
wie zu lonenverschiebungen hierdurch. Damit wird die Ho-
möostase gestört, die physikalisch-chemische Konstanz in
gewissen Gewebs- und Zellabsdrnitten, womit wieder Funktionsstörungen dort in Gang kommen, z. B. im zentralen Nervensystem. Erregungs- wie Depressionserscheinungen sind
möglich.
Der besprochene Einwand besitzt also eine gewisse Berechtigung. Andererseits müssen wir bedenken, daß das Serotonin
gerade im hypothalamischen Hirnstamm gespeichert wird, eine
Uberladung mit Serotonin also ganz abnorme Auswirkungen
bringen muß, denn dort liegen ja auch die Zentren für den
Wasser- und Salzhaushalt. Wird von da aus die Regulation
gestört, so sind die Folgen wohl ähnlich, wie wenn es sich
um direkte Effekte der Wasser- und Salze entziehenden und
verschiebenden Faktoren handeln würde.
Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß auch Exsikkosen,
die auf anderen Ursachen als den bei toxischen Brechdurchfällen wirkenden beruhen, terminal ein ähnliches klinisches
Bild machen können. Wer den Verlauf von Pylorussteriosen
vor der operativen Ära und vor der Beherrschung der Technik des endovenösen Tropfeinlaufs beim Säugling noch kennen gelernt hat, wird dem nicht widersprechen. Auch Wasserbeschränkung bei Säuglingen, besonders bei reichlicher Eiweißzufuhr, kann sich schließlich ganz ähnlich auswirken. Es
liegt m. E. aber darin ein Unterschied, daß solche Vorgänge
langsam wirken und daß es erhebliche Zeit braucht, bis das
ominöse Krankheitsbild erscheint, während bei den echten
toxischen Brechdurchfällen der Zeitraum vom Zustand der
Gesundheit bis zum Koma u. U. in wenigen Stunden durchlaufen wird.
Einem Vergleich zwischen enteritischen und anderen Toxikosen stellen sich freilich so viele grundsätzlich verschiedene
Nebenumstände entgegen, daß die Diskussion unfruchtbar
wird. Der Zweck meiner Ausführungen hierzu ist der gewesen,
zu zeigen, daß die Probleme hier noch immer offen sind, und
daß der Standpunkt, den Moro vor Jahren eingenommen hat,
in einem etwas eingeschränkten Bereich seine Bedeutung behalten hat.
Am Ende meiner Betrachtungen über die Arbeiten Moro's
auf dem Gebiete der Ernährungsstörungen möchte ich auf
seine Beiträge zur Therapie eingehen. Wie bei fast allem, was
dieser weit vorausschauende Forscher unternahm, hat er auch
hier grundsätzlich Neues geschaffen. Schon im Jahre 1908 gab
er die Karottensuppe als Nahrung für Säuglinge an, die an
akuten Enteritiden erkrankt waren. Er schreibt, daß er durch
die Beobachtung angeregt wurde, daß neugeborene Meerschweinchen, die mit Kuhniildi gefüttert werden, an einer
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
Nr. 25, 23. Juni 1961
Dtsch. ned. Wsthr., 86, Jg.
Engel: Kinderpneumonie
tödlich endenden Enteritis erkranken. Werden die Tierchen
nach Beginn der Krankheit nun nicht weiter mit Kuhmilch,
sondern mit gelben Rüben ernährt, so genesen sie rasch. Die
Gedeihen. Es gehört freilich pädiatrische Erfahrung dazu, um
die Indikation und Kontraindikation hier richtig abzuwägen.
Werfen wir nochmals einen Rückblick auf das Leben Moros,
Erfolge mit der Karottensuppe waren ausgezeichnet, nur
führte der etwas zu hoch gegriffene Salzgehalt (0.6°/o) bei
so sehen wir, wie er sich durch die Ergebnisse der experi-
einem Teil der behandelten Kinder zu Odemen. Moro hat deswegen selbst zur Vorsicht gemahnt. Als idi 1910 in der Poliklinik des Münchener Kinderspitals unter ihm arbeitete, ließ
er - bisweilen mit kühnen Analogieschlüssen - aufbaut,
er die Nahrung, wenn er sie hie und da verschrieb, mit nie-
Erfahrung aufbauend und von auf ihr begründeten Thesen
wieder ableitend. Er hat die verschiedensten Arbeits-Methoden benutzt, aus der Bakteriologie und der Serologie, mikro-
derem Kochsalzgehalt herstellen. Sie ist im Hause mühsam zu
bereiten, und deshalb setzte sich die Anwendung in breitem
Maße erst durch, als sie industriell als Trockenpulver vorbereitet in den Handel kam.
Die Karottensuppe war die erste der auf dem Prinzip der
Adsorption und dadurch bewirkten Umstimmung der barmflora beruhenden Heilnahrungen. In der radikalen Floraumstimmung, der Vorbeugung der endogenen Infektion und
in der Rehydration sah Moro ihre Wirkungsprinzipien.
Im Laufe der Zeit sind ihr zahlreiche andere Nahrungen
auf gleicher Basis gefolgt, wie das Johannisbrotmehl und die
Früditepulver aus Bananen und Äpfeln. Die stets zweischneidige Behandlung der Säuglingsenteritiden mit Antibiotika hat
diese Art von Ernährungstherapie nicht zu verdrängen vermocht. Sie ist zudem völlig gefahrlos.
Auch auf dem Gebiete der Behandlung chronischer Ernährungsstörungen verdankt man Ernst Moro einen wichtigen
Fortschritt. Er empfahl 1920 die eiweiß- und kalorienreiche
Ernährung atrophischer Säuglinge mit Buttermehlvollmilch
und Buttermehlbrei, der unter dem Namen ,,Morobrei" in das
pädiatrische Vokabular eingegangen ist. Wenn keine Störun-
gen der Darmfunktionen bestehen oder drohen, gibt die
Methode ausgezeichnete Ergebnisse und führt zu raschem
mentellen und der klinischen Beobachtung leiten läßt, auf die
die er dann nach den weiteren Beobachtungen umformt. Seine
Arbeitsweise ist somit zugleich induktiv und deduktiv, auf der
skopische, physikalische und chemische Methoden, wenn sie
ihn nur weiterführten. Am Anfang stand bei ihm das Sehen,
der Eindruck, das Sammeln von Erfahrungen, nicht das analysierende Grübeln, denn er war im Grunde eine künstlerische
Natur, von der das Wort aus dem Liede des Lynkeus gilt:
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt."
Zusammenfassung
Anläßlich einer Würdigung der Arbeiten von Ernst Moro zur Pathogenese der Ernährungsstörungen des Säuglings, die durch die
Jahrhundertfeier der Heidelberger Kinderklinik veranlaßt wurde,
wird die geschichtliche Entwicklung dieser Probleme dargestellt. Als
Entdecker der Keimarmut des Dünndarms - gleichzeitig mit Tissier
und Rolly und Liebermeister -, als Experimentator und Anreger
von Arbeiten über Verdauung und Stoffwechsel bei arteigener und
artfremder Ernährurg, als Begründer der Aminhypothese der Toxikosen, für die neuerdings das Serotonin verantwortlich gemacht
wird, als Schöpfer der Adsorptionstherapie der Enteritiden (Karottensuppe), endlich einer eiweiß- und kalorienreichen Ernährungsmethode für Atrophiker hat sich Moro bleibende Verdienste erworben.
(Ansthr.: Prof. Dr. E. Freudenberg, Basel/Schweiz,
Feierabendstr. 57)
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
1216
Herunterladen