Originalarbeit Die Verwirrung um Verwirrtheit, Stupor und Koma Terminologische Bemerkungen zu den Bewusstseinsstörungen n C. W. Hess Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik, Inselspital, Bern Summary Hess CW. [Confusion over delirium, stupor and coma.] Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 2007;158: 354–9. Taxonomy and nomenclature of normal and abnormal states of consciousness have been highly variable, imprecise and sometimes confusing, because the terms used to describe them have been given different meanings depending on medical field (e.g. neurology and psychiatry) and language. Compounding the difficulty is the fact that the terms continue to be changed in an attempt to reflect pathophysiology of disturbed consciousness which, however, is still not fully understood. In this article the terminological development and various definitions of the terms sopor, stupor, delirium, akinetic mutism and coma vigile, “apallisches Syndrom” (“apallic syndrome”) or vegetative state are being described with special emphasis on the German and English medical usage and some discrepant denotations. Acute confusional state (“akuter Verwirrtheitszustand”) e.g. has been classified either as a symptom or – inauspiciously – also as syndrome/disease thereby making it synonymous to delirium. The English usage of the term “stupor” in neurology instead of “sopor” (semi-comatose state) stands in contrast to the psychiatric usage, where stupor implies absence of voluntary movement and responsiveness to external stimuli while being fully awake (e.g. dissociative stupor). German designations such as Bonhoeffer’s “akuter exogener Reaktionstyp” (“acute exogenous reaction type”) as umbrella term for symptomatic psychoses, Wieck’s “Durchgangssyndrome” (“transitional syndromes”) for acute reversible organic psychic disorders with unaltered consciousness or “Dämmerzustand” Korrespondenz: Prof. Dr. med. Christian W. Hess Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik Inselspital CH-3010 Bern e-mail: [email protected] 354 (twilight state) are being discussed and related to the term “delirium” with its various definitions in recent years. Keywords: sopor; stupor; delirium; acute confusional state Einleitung Begriffsverwirrungen gehören zur klinischen Medizin wie das Wasser zum Fisch. Das liegt einerseits sicher daran, dass die klinische Medizin, ähnlich etwa wie die Psychologie, keine exakte Wissenschaft ist. Bereiche wie die Neurologie und Psychiatrie sind wegen ihrer unübertroffenen Komplexität besonders anfällig auf terminologische Verwirrungen. Verschiedene Schulen schufen in ihrer Sprache ihre eigene Systematik, mehr oder weniger ungeachtet anderer schon existierender terminologischer Regelwerke. Heute versuchen internationale Expertengremien eine einheitliche Nomenklatur zu schaffen, wobei dann häufige Modifikationen gelegentlich der Klarheit abträglich sind. Neue Erkenntnisse rufen zwar manchmal nach einer neuen Systematik in der Terminologie, welche die zugrundeliegenden entwickelten physiologischen und pathologischen Konzepte widerspiegeln soll. Das hat dann manchmal zur Folge, dass deskriptive Begriffe für ätiologisch nicht belegte Symptome oder Syndrome einem ätiologisch definierten Krankheitsbild zugeordnet werden. Ist die Synkope rein deskripitiv ein paroxysmaler Bewusstseinsverlust mit transientem posturalem Versagen (Sturz) oder, pathophysiologisch eingegrenzt, Ausdruck einer transienten globalen zerebralen Ischämie oder gar, wie auch schon vorgeschlagen, ätiologisch auf kardiogene Ursachen begrenzt? Im Bereich der Bewusstseinsstörungen ist die terminologische Verwirrung besonders eindrücklich, weshalb hier die Problematik mit speziellem Blick auf die «Verwirrtheit» und das «Delirium» beleuchtet werden soll. Auf eine Darlegung der Differentialdiagnose und Therapie wird verzichtet und auf die nachfolgenden Aufsätze verwiesen. SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. s a n p . c h 158 n 8/2007 Der Terminus «Bewusstsein» in der Medizin Der Begriff des Bewusstseins hat sich in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich entwickelt. Der Lateiner hat «Conscientia», wörtlich «das Mitwissen», aus dem griechischen «Syneidesis» (συνειδεσις) übernommen, was im Altertum die Bedeutung des Wissens um das eigene Wissen, vor allem auch des Mitwissens eigener (oder fremder) Schuld, hatte. Luther übersetzte «Syneidesis» mit «Gewissen». Im Deutschen hingegen bedeutete das Verb «bewissen», den Durchblick oder Überblick zu haben bzw. die Fähigkeit, das eigene Erleben zu betrachten, oder generell zu Wissen zu gelangen [1]. Seit dem 18. Jahrhundert blieb nur noch die adjektivische Formulierung «bewusst sein» im Gebrauch, woraus später das Substantiv «Bewusstsein» entstand. Der Begriff des Bewusstseins wird auch heute je nach Wissensgebiet verschieden verstanden und findet entsprechend ganz unterschiedliche Definitionen. Allein innerhalb der Neurophysiologie und Psychologie ist das Verständnis des Bewusstseins bislang nur lückenhaft und dessen Störungen sind hoch komplex. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die damit verbundenen Begriffe oft unscharf definiert sind, je nach Disziplin unterschiedlich gebraucht werden und einem steten Wandel unterworfen sind. In den neurokognitiven Wissenschaften verstehen wir heute unter Bewusstsein eine Qualität des psychischen Erlebens, welches nach dem amerikanischen Neurologen und Psychiater Stanley Cobb (1887–1968) am besten als «gewahr sein seiner selbst und seiner Umgebung» umschrieben wird [2]. Als Bewussteinsinhalte wird die Summe aller kognitiven und emotionellen Funktionen bezeichnet. Dass die Verarbeitung der Bewusstseinsinhalte mehrheitlich unbewusst abläuft (s. unten), ist nur eines der begrifflichen Paradoxa ums Bewusstsein, mit denen wir leben müssen. Wachheit schliesslich ist essentielle Voraussetzung, aber nicht ausreichend für das Bewusstsein. In diesem Sinne versteht sich der Schlaf als bewusstloser Zustand, obschon gewisse kognitive und emotionelle Aktivität als «Traumbewusstsein» offensichtlich gleichwohl vorhanden ist. Schliesslich wird in den klinischen Neurowissenschaften der Bewusstheit das Unbewusste (früher auch «Unterbewusste») gegenübergestellt. In Anlehnung an Freud wird in der Psychiatrie teilweise Vorbewusstes (engl. preconsciousness) oder «fringe consciousness» nach William James [3] von Unbewusstem abgegrenzt, wobei letzteres dem Bewusstsein willentlich nicht zugänglich wäre (also verdrängtes Wissen), während das Vorbe- 355 wusste alltägliche automatisierte kognitive Prozesse betrifft, die dem Bewusstsein grundsätzlich zur Verfügung stehen. Darunter könnte man folglich auch transkortikal bedingte Reflexe subsumieren. Die Unterscheidung zwischen Vorbewusstem und Unbewusstem wird aber in der Psychiatrie nicht generell gemacht, wurde z.B. von M. Bleuler nicht vorgenommen und ist auch in der Neurologie nicht üblich. Im klinischen Alltag der Medizin schliesslich hat sich die operationelle Definition bewährt, dass ein «ansprechbarer» (= Antwort gebender, engl. «responsive») Patient bei Bewusstsein ist, im Wissen, dass es wichtige Ausnahmen gibt (Mutismus, Stupor, Anarthrie). Umgekehrt gilt ein Patient als komatös, wenn er auch durch heftige Intervention nicht zum Augenöffnen gebracht werden kann, wiederum mit einigen Ausnahmen (bilaterale M.-levator-palpeprae-Plegie, sehr selten anders herum: tonische Lidretraktion bei Ponsinfarkt trotz Koma). Bewusstseinsstörungen Aus didaktischen Gründen hat es sich in der klinischen Medizin bewährt, Bewusstseinsstörungen in quantitative und qualitative einzuteilen, im Wissen, dass in der klinischen Realität meist beide Aspekte betroffen sind. Die rein quantitativen Bewusstseinsstörungen betreffen eine pathologische Reduktion der Wachheit, werden mit zunehmender Eintrübung in Somnolenz oder Benommenheit (engl. obtundation), Sopor und Koma (Tab. 1) eingeteilt [4], wobei auch Zwischenstufen definiert wurden. Für diesen quantitativen Aspekt wird im Deutschen heute oft auch der Begriff der Vigilanz (engl. arousal) gebraucht, während man früher (und z.T. auch heute noch) darunter im ursprünglichen Sinne des Wortes (lat. vigilantia) die Wachsamkeit oder Aufmerksamkeit verstand. Somnolenz wird von der physiologischen Schläfrigkeit insofern abgegrenzt, als letztere durch Schlafen behoben wird, was bei der (pathologischen) Somnolenz nicht der Fall ist. Zu beachten ist, dass im Englischen (und Französischen) für «Sopor» von den Neurologen oft «stupor» gebraucht wird [5], was im Deutschen eine andere Bedeutung hat (s. unten). Schliesslich meinen Plum und Posner [5] mit «clouding of consciousness» nicht eine quantitative Bewusstseinsminderung im Sinne des «Eintrübens», sondern eine qualitative Bewusstseinsänderung im Sinne von Verwirrtheit (s. unten), wobei diese Wortwahl im Englischen umstritten blieb [6] und aus dem neuen DSM wieder getilgt wurde [7]. Rein quantitative Be- SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. a s n p . c h 158 n 8/2007 Tabelle 1 Quantitative Bewusstseinsstörungen (nach [4]). I Minderung der Wachheit A Schläfrigkeit (engl. «drowsiness», «sleepiness») Schlafneigung bei Müdigkeit, jederzeit über windbar situationsbedingt auch häufig unter normalen Bedingungen B Somnolenz (engl. «obtundation», «somnolence») reduzierte Aufmerksamkeit mit verlangsamten Reaktionen und abnormer Schlafneigung, durch äussere Reize weckbar C Sopor (engl. «stupor», franz. «stupeur») nur durch starke und wiederholte (Schmerz-)Reize vorübergehend und unvollständig weckbar D Koma vollständig unweckbare Bewusstlosigkeit ohne jegliche verständliche Sinnesäusserung auf Reize; Augen bleiben geschlossen, keine verständlichen verbalen Äusserungen, keine gezielte Abwehr auf Schmerz; ungezielte motorische Reaktionen aber möglich II Steigerung Wachheit Hypervigilanz und Insomnie: Zustände bedingt durch ein Übergewicht der vigilanzfördernden gegenüber den schlaffördernden Mechanismen, charakterisiert durch vermindertes Schlafbedür fnis (ohne erhöhte Tagesschläfrigkeit) oder durch Einschlaf- und Durchschlafstörungen (assoziiert mit abnormer Tagesschläfrigkeit). wusstseinsminderung ist schlafähnlich und findet man bei Störungen der meso-dienzephalen, der Wachheit dienenden Strukturen (ARAS). Im klinischen Gebrauch der somatischen Medizin darf man sich bei der Koma-Beurteilung freilich nicht auf die Vigilanz beschränken, und der Einbezug der Motorik ist essentiell. Die grosse Stärke der relativ einfachen Glasgow Coma Scale (GCS, [8]) ist ihre inzwischen universelle Anwendung, die es anderen Systemen schwer macht, sich durchzusetzen, auch wenn sie sich als überlegen erwiesen haben [9]. In der Psychiatrie, Neurologie und Inneren Medizin gleichermassen wichtig sind die qualitativen Bewusstseinsstörungen. Dabei sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: Als Verwirrtheit (früher auch: «Amentia») wird ein Zustand behinderter Aufmerksamkeit beschrieben, bei dem geordnetes Denken und Handeln nicht mehr möglich ist. Verwirrte Patienten sind nicht mehr in der Lage, ein formal korrektes Gespräch zu führen, und sind oft zeitlich und örtlich desorientiert. Bei der neurologischen Testung findet man eine fehlende gerichtete Aufmerksamkeit und 1 Kurzzeitgedächtnis wie in den neurokognitiven Wissenschaften definiert: umfasst Merkspanne und Arbeitsgedächtnis, Dauer Sekunden bis wenige Minuten. 356 Konzentrationsfähigkeit und damit auch ein defektes Kurzzeitgedächtnis1, wobei vor allem das Arbeitsgedächtnis schwer gestört ist; alles Modalitäten, die bei den psychiatrischen Bewusstseinsverschiebungen (s. unten) und auch bei leichter Bewusstseinstrübung in der Regel wenig beeinträchtigt sind. Verwirrtheit umschreibt somit eine qualitative Bewusstseinsstörung mit im wesentlichen erhaltener Wachheit, aber schwer gestörter Aufmerksamkeit und schwer gestörtem Kurzzeitgedächtnis (= Merkspanne und Arbeitsgedächtnis1), woraus zwangsläufig auch eine schwere Denkstörung und oft auch Desorientiertheit resultieren. Auch die amnestische Episode der transienten globalen Amnesie imponiert manchmal vordergründig als Verwirrtheit, weil der Patient wegen der Amnesie zeitlich und örtlich desorientiert ist. Typisch ist das schwer gestörte Langzeitgedächtnis (anterograd und retrograd Monate bis einige Jahre) bei weitgehend intaktem Kurzzeitgedächtnis1) und Aufmerksamkeit. Die Patienten sind deshalb in der Lage, ein formal korrektes Gespräch zu führen, und haben keine Denkstörung, wie es bei Verwirrtheit gefordert wird. Der häufig organisch bedingte akute Verwirrtheitszustand (engl. acute confusional state) und damit auch das Delirium und der Dämmerzustand (s. unten) entsprechen somit dem ätiologisch definierten akuten exogenen Reaktionstyp von Karl Bonhoeffer (1868–1948): Die Summe der psychischen Begleiterscheinungen körperlicher Krankheiten, die gegenüber den «endogenen Psychosen» einheitliche Merkmale aufweisen [10]. Die zweite qualitative Dimension der Bewusstseinsstörungen betrifft Bewusstseinsverschiebungen durch Verfälschung des psychischen Erlebens, beispielsweise melancholischer, manischer oder wahnhafter Natur, und ist meist psychischen Ursprungs. Die Patienten sind orientiert und können ein zwar inhaltlich unsinniges, aber formal korrektes Gespräch führen. In der Psychiatrie hat man dafür früher auch den Begriff der «Verworrenheit» gebraucht. Bei restlosem Fehlen der Bewusstseinsinhalte, aber erhaltener bzw. wiedererlangter Wachheit haben wir das Paradoxon des «wachen Bewusstlosen», als coma vigile (zu deutsch: «Wachkoma») oder apallisches Syndrom (= dekortiziert), auf englisch erst seit den 1980er Jahren als «vegetative state» [5] bezeichnet. Es handelt sich eigentlich um einen Zustand totaler Demenz, wie er nach einem Koma (typischerweise nach reanimiertem Herz-Kreislauf-Stillstand) entweder als transienter oder persistierender Zustand (engl. persistent vegetative state) resultieren kann. Die Begriffe SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. s a n p . c h 158 n 8/2007 Tabelle 2 Differentialdiagnose der Ver wirr theitszustände. Dauer Beginn/Verlauf non-konvulsive epileptische Anfälle (komplex-par tielle Anfälle oder Absence1) Sekunden – Minuten (selten Stunden bis Tage: Status epilepticus non-convulsivus) Beginn paroxysmal Hypovigilanzzustände (automatische Handlungen) Sekunden – Minuten in der Regel selbstbegrenzend Parasomnien Minuten nachts, Beginn akut, selbstbegrenzend organisches Delirium Stunden – Tage – Wochen Beginn akut/subakut, Ausprägung fluktuierend, Schlaf-Wach-Störung funktionelle Psychosen (v.a. Schizophrenien) Tage – Wochen Beginn subakut Demenz chronisch meist irreversibel 1 können im Er wachsenenalter auch de novo, z.B. nach Benzodiazepam-Entzug, auftreten haben unterschiedliche Entstehungsgeschichten mit Bedeutungswandel, bevor sie zu Synonymen konvergierten. Die Begriffe werden auch nicht gleichermassen geschätzt: Vor dem «vegetativen Zustand» schreckt man wegen der pejorativen Konnotation zurück, «apallisch» impliziert eine nicht immer bewiesene Pathogenese, und «coma vigile» kann verwirren, weil es sich eben gerade nicht um ein Koma handelt. Und in der älteren französischen Fachliteratur wurde coma vigile noch als Synonym zu «obnubilation» (zu deutsch: Benommenheit) verwendet [11]. Der akinetische Mutismus (engl. «akinetic mutism»), in der Vergangenheit oft uneinheitlich gebraucht, sollte für einen Zustand extremer Apathie und Abulie reserviert bleiben, wie er z.B. nach medialen, frontobasalen Läsionen auftritt [4]. Im Unterschied zum coma vigile werden Zeichen von Aufmerksamkeit beobachtet, wie das fixierende Folgen der Augen. Zudem kann der Patient durch intensive, wiederholte Reize zu sparsamen Äusserungen und zu gezielten Bewegungen gebracht werden. Als psychogener Stupor (engl. dissociative stupor) wird auch im Englischen eine Reaktionslosigkeit aus psychischen Gründen bei erhaltenem Wachbewusstsein bezeichnet [12]. Der katatone Stupor (engl. catatonic unresponsiveness) ist eine Variante davon. Etwelche Verwirrung stiftet in der angelsächsischen und französischen Inneren Medizin und Neurologie der vom Lateinischen weit entfernte Gebrauch des Terminus Stupor anstelle von Sopor (lat. stupor = Erstarrung, Staunen). Aufgrund des verbreiteten Gebrauchs englischer Lehrmittel hält diese Verwirrung zum Teil auch im Deutschen Einzug. In der Neurologie wurde der «organische Stupor» folgerichtig auch für strukturell bedingte Reaktionslosigkeit bei erhaltenem Bewusstsein gebraucht [13], womit 357 z.B. das «locked-in Syndrom» oder eine akinetische Krise bei Parkinson dazu gehören würden. Ursächlich steckt hinter einer Verwirrtheit, je nach Dauer, entweder eine funktionelle (Epilepsie, Vigilanzstörung, Parasomnie, Psychose) oder eine organische kognitive Störung (Enzephalopathie) bzw. eine fortgeschrittene Demenz (Tab. 2). Pathogenetisch steht die Störung der Aufmerksamkeit und, damit verbunden, des Kurzzeitgedächtnis1, ganz im Vordergrund, welche die Denkstörung und Desorientierung zwangsläufig nach sich zieht. Ein echtes Koma oder Sopor auf rein funktioneller Basis ist nicht bekannt; es besteht immer eine organische (Mit-)Ursache. Die funktionellen Verwirrtheitszustände dauern in der Regel kurz und werden durch folgende Affektionen verursacht (Tab. 2): non-konvulsive epileptische Anfälle (komplex-partielle oder Absence), Hypovigilanzzustände mit automatischen Handlungen (bei Narkolepsie, idiopathischer Hypersomnie oder Schlaf-Apnoe-Syndrom) und Parasomnien in der Nacht (REM-Schlaf-Verhaltensstörung, Somnambulismus). Eine rein psychisch bedingte Verwirrtheit ist seltener, kommt aber bei Psychosen, vor allem bei der Schizophrenie, vor. Auch bei den hypovigilanz- und psychosebedingten Verwirrtheiten ist primär die Aufmerksamkeit gestört: Ein schizophrener Patient z.B. kann von seinem paranoid-halluzinatorischen Erleben derart in Beschlag genommen sein, dass die Wahrnehmung der Aussenwelt dadurch zeitweise unterbrochen ist. Delirium und Dämmerzustand Ein Tage oder Wochen dauernder, meist organisch bedingter, grundsätzlich reversibler akuter Verwirrtheitszustand wird heute meist als Delirium SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. a s n p . c h 158 n 8/2007 Tabelle 3 Amerikanische diagnostische Kriterien des Delirium nach DSM-IV-TR vom Jahr 2000 [7]. A Gestör tes Bewusstsein (im Sinne reduzier ter Klarheit der Umgebungswahrnehmung) infolge beeinträchtigter Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und umzustellen. B Veränderung kognitiver Funktionen (Störungen des Gedächtnisses, der Orientierung, der Sprache und/oder der Auffassung), die nicht durch eine bereits bestehende oder sich entwickelnde Demenz erklär t werden kann. C Die Störung entwickelte sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne (Stunden oder Tage) und hat die Tendenz, während des Tages zu fluktuieren. D Nachweis aufgrund Anamnese, körperlicher oder laborchemischer Untersuchung, dass eine allgemeinmedizinische Affektion, eine toxische Substanz, Medikation oder gleichzeitig mehrere der genannten Faktoren direkt zugrunde liegen. Anmerkung: Affektive Störungen wie Depression, Angst, Dysphorie, Euphorie oder Apathie bzw. Wahrnehmungsstörungen (Illusionen, Halluzinationen) und flüchtige Wahnideen sind typisch, aber unspezifisch und fakultativ. bezeichnet (Tab. 3) [14]. Typisch dabei ist das fluktuierende Ausmass, der gestörte Schlaf-WachRhythmus und oft auch eine psychomotorische Erregung, Irritabilität und Angst, gelegentlich mit illusionären Verkennungen oder Halluzinationen und sympathischer Aktivierung. Unter einem Dämmerzustand wird dagegen ein gehemmter bzw. hypoaktiver, aber normo-vigilanter Verwirrtheitszustand verstanden. Delirante und umdämmerte Patienten sind oft zeitlich und örtlich desorientiert, aber in der Regel autopsychisch orientiert und haben oft ein retrograd erhaltenes Langzeitgedächtnis. Schon Eugen Bleuler hat aber darauf hingewiesen, dass die Desorientiertheit nicht obligat ist [15]. Wichtigstes Symptom ist die reduzierte Klarheit der Umgebungswahrnehmung mit eingeschränkter Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu richten, aufrechtzuerhalten oder zu verlagern [14]. Die neuen DSM-IV-TR- [7] und auch ICD10-Kriterien fordern zudem den Nachweis einer zugrundeliegenden systemischen oder zerebralen Krankheit für die Diagnose, womit indirekt die Möglichkeit eines ähnlichen Krankheitsbildes funktioneller Genese impliziert wird. Die typischen adrenergen bzw. sympathikotonen vegetativen Begleiterscheinungen (Tachykardie, Hyperhidrosis, Mydriase) sind nicht obligat und fehlen in den DSM-Kriterien. Als Prototyp des Deliriums gilt auch heute noch das Alkohol-EntzugsDelir. Wichtig ist, dass auch paranoide Wahnvorstellungen beim organischen Delirium vorkommen können. Der in der deutschen Psychiatrie und Neurologie gebräuchliche Begriff des «Durchgangssyndroms» nach Wieck [16] für reversible organische 358 Psychosen, z.B. nach Narkose oder Schädelhirntrauma, beschreibt ein reversibles akutes Psychosyndrom leichterer Ausprägung ohne Bewusstseinstrübung, wo z.B. eine emotionelle Entgleisung oder Labilität ganz im Vordergrund steht [17], und ist somit vom Delirium abzugrenzen. Die amerikanischen Psychiater taten sich mit dem Begriff des Deliriums ausgesprochen schwer. Sie führten den Begriff erst spät ein und änderten seine Definition dann hin und her: Im ersten und zweiten Diagnostic and Statistical Manual 1952 und 1968 noch fehlend, sprach man von einem akuten und chronischen Typ der «psychosis associated with organic brain syndromes» [18]. Im DSM-III taucht der Begriff erstmals mit «clouding of consciousness» als zentralem Kriterium auf [19], was im DSM-III-R folgerichtig auf «reduced attentiveness» geändert wurde, nebst «disorganised thinking» [20], womit sich die Definition stark der deutschen annäherte [15]. Im DSM-IV wurde das erste und zentrale Kriterium dann allerdings wieder auf «disturbance of consciousness» zurückgewechselt, freilich wie folgt spezifiziert: «reduced clarity of awareness of the environment» [21]. Da sich im Angelsächsischen der Begriff des «twilight state» für Dämmerzustand in der Medizin nicht zu etablieren vermochte, wurde zudem in den 1990er Jahren dafür neu der Terminus «hypoactive delirium» (in etwa dem Dämmerzustand entsprechend) geprägt [22], der nun dem «hyperactive delirium» gegenübergestellt wird. Diese Spezifizierung hat nun teilweise auch im Deutschen Eingang gefunden, was vielleicht seine Berechtigung in der grundsätzlich vergleichbaren Ätiologie hat. Zudem gibt es durchaus Patienten, die zwischen gedämpft und agitiert hin und her fluktuieren. Während allerdings im Deutschen der Verwirrtheitszustand meist als relativ breit verstandenes und ätiologisch nicht belegtes Symptom verstanden wird, haben im Englischen der «acute confusional state» und das «delirium» teilweise zu praktisch identischen Synonymen konvergiert, was natürlich nicht sinnvoll ist und auch nicht allgemein akzeptiert wird. Der rein deskriptive Begriff des Verwirrtheitszustandes sollte keine Ätiologie und auch keine zeitliche Dimension implizieren. Auf diese Weise ist er geeignet, in einer Notfallsituation einen Zustand zu beschreiben, über dessen Entstehung, Hintergründe und weitere Entwicklung man noch nichts weiss, und wo man ganz unvoreingenommen ans diagnostische Werk gehen muss (Tab. 2). Die etwas umständlich anmutende DMS-IVDefinition des Deliriums wird als noch nicht stabilisiert und validiert betrachtet, so dass mit weiteren Revisionen gerechnet werden darf. Das SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. s a n p . c h 158 n 8/2007 Ziel ist letztlich, eine ätiopathogenetisch verlässliche Abgrenzung des Delirs einerseits zu den funktionellen Psychosen (Schizophrenie, Depression) und andererseits zu den irreversiblen degenerativen Demenzen zu ermöglichen, was weitgehend, aber nicht restlos gelungen ist [6]. So lassen sich z.B. die zwar seltenen, aber wichtigen reversiblen Demenzen nicht ohne weiteres abgrenzen, während eine Studie bei 325 älteren Patienten zeigte, dass Delirien nicht immer so reversibel sind, wie das in den amerikanischen Definitionen stipuliert wird [23], womit sich die Abgrenzung zur Demenz weiter verwischt. Wijdicks EF, Bamlet WR, Maramattom BV, Manno EM, McClelland RL. Validation of a new coma scale: the FOUR score. Ann Neurol. 2005;58:585–93. 10 Bleuler M, Willi J, Bühler HR. Akute psychische Begleiterscheinungen körperlicher Krankheiten. Stuttgar t: Thieme; 1966. 11 Fischgold H, Mathis P. 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