18.5.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen

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B
455
18.5 Umschriebene Entwicklungsstörungen
Therapie: Sowohl logopädische, verhaltenstherapeutische und suggestive Verfahren
als auch Entspannung und Singen sind mit Erfolg angewandt worden.
Verlauf: In 4 von 5 Fällen tritt eine Spontanremission oder deutliche Besserung ein.
Bei den übrigen Patienten erweist sich die Symptomatik häufig als hartnäckig und
bleibt trotz Therapie über Jahrzehnte bestehen.
Poltern
Therapie: Logopädische, verhaltenstherapeutische, suggestive Verfahren, Entspannungstechniken, Singen.
Verlauf: In 4 von 5 Fällen Spontanremission,
ansonsten oft hartnäckiger Verlauf.
Poltern
▶ Definition. Störung des Redeflusses durch hohe Sprechgeschwindigkeit, gestörten
▶ Definition.
Sprechrhythmus und Verstümmelung von Lauten. Die Verständlichkeit ist eingeschränkt, häufig fehlt eine richtige Satzgliederung (Tab. B-18.12).
≡ B-18.12
≡ B-18.12
Symptomatik des Polterns (F98.6) nach ICD-10
■
hohe Sprachgeschwindigkeit mit falscher Sprechflüssigkeit und beeinträchtigter Sprechverständlichkeit
■
fehlerhafte Satzmuster
Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer Störungen.
ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
Symptomatik: Überstürzter Redefluss, Verschlucken und Verstümmeln von Lauten
und Wortenden mit nachfolgend beeinträchtigter Verständlichkeit. Satzmuster sind
häufig fehlerhaft. In der Mehrzahl besteht zusätzlich eine Sprachentwicklungsverzögerung. Begleitend können impulsive Persönlichkeitszüge bestehen. Im Gegensatz
zu den Stotterern können die Polterer bei Aufforderung den Redefluss verbessern.
Symptomatik: Überstürzter Redefluss, Verschlucken und Verstümmeln von Lauten, beeinträchtigte Verständlichkeit. Oft zusätzlich
Verzögerung der Sprachentwicklung. Der Redefluss kann bei Aufforderung verbessert werden.
Therapie: Die meisten Therapieverfahren sind logopädischer Art, z. B. Aufforderung
zum langsamen Sprechen, Mitklopfen der Silbenzahl. Im Vordergrund der Psychoedukation steht die Aufklärung der Eltern und des sozialen Umfeldes über die Symptomatik und den möglichen Verlauf.
Therapie: Logopädische Therapieverfahren
und Psychoedukation.
18.5.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten
18.5.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
Lese-Rechtschreib-Störung (LRS)
Lese-Rechtschreib-Störung (LRS)
▶ Definition. Im Verhältnis zu den kognitiven Fähigkeiten des Kindes, seines Alters
und seiner Klassenstufe deutlich beeinträchtigte Lesegeschwindigkeit, Lesegenauigkeit und Leseverständnis sowie trotz regelmäßiger Unterrichtung eine signifikant
erhöhte Anzahl von Rechtschreibfehlern (Tab. B-18.13).
≡ B-18.13
▶ Definition.
Symptomatik der Lese- und der Rechtschreibstörung nach ICD-10
Symptomatik der Lesestörung
■
Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen
■
niedrige Lesegeschwindigkeit
■
Symptomatik der Rechtschreibstörung
■
Schwierigkeiten beim Schreiben von Buchstaben, Wörtern und
Sätzen
Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der
Zeile im Text
■
hohe Fehlerzahl bei ungeübten Diktaten
■
hohe Fehlerzahl beim Abschreiben von Texten
■
Vertauschung von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in den Wörtern
■
Grammatik- und Interpunktionsfehler
■
Ersetzen von Wörtern durch ein in der Bedeutung ähnliches Wort
■
häufig unleserliche Handschrift
■
Unfähigkeit, Gelesenes zu wiederholen
■
Unfähigkeit, aus dem Gelesenen Zusammenhänge zu erkennen und
Schlussfolgerungen zu ziehen
Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien.
9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
Epidemiologie: Die Lese-Rechtschreib-Störung und die kombinierte Lese- und
Rechtschreib-Störung wird in allen Schriftsprachen beobachtet. Mit einer Prävalenz
von ca. 12 % gehört sie zu den häufigen umschriebenen Entwicklungsstörungen. Die
ICD-10 unterscheidet eine kombinierte Lese- und Rechtschreibstörung (Prävalenz
um 8 %) von einer isolierten Rechtschreibstörung (Prävalenz um 7 %). Eine isolierte
Epidemiologie: Die Lese-Rechtschreib- und
die kombinierte Lese- und Rechtschreib-Störung gehören mit einer Prävalenz von ca. 12 %
zu den häufigen umschriebenen Entwicklungsstörungen.
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ICD-10
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Lesestörung (Prävalenz um 6 %), die bisher nicht in der ICD-10 gelistet wird, tritt
vergleichbar häufig auf. Insgesamt ist die Prävalenz der LRS bei Jungen doppelt so
hoch. Das DSM-5 führt eine spezifische Lernstörung ein, die in 3 Subytpen untergliedert ist: spezifische Lernstörung mit Beeinträchtigungen im Lesen (F81.0): Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis sowie der Dyslexia, die als
eine alternative Bezeichnung für eine Lernstörung aufgeführt wird. Sie ist durch
Probleme beim Worterkennen, bei der Graphem-Phonem-Zuordnung und durch
eine Rechtschreibstörung gekennzeichnet. Wie bereits im DSM-IV klassifiziert das
DSM-5 die Rechtschreibstörung umfassender als spezifische Lernstörung mit Beeinträchtigungen beim schriftlichen Ausdruck. Als Subgruppen dieser Störung beschreibt das DSM-5 nicht nur die Rechtschreibschwierigkeiten, sondern auch Probleme bei der strukturellen und inhaltlichen Textproduktion, der Genauigkeit der
Grammatik und der Zeichensetzung.
Neu im DSM-5 ist die Einführung einer Schweregradeinteilung, die allerdings nicht
codiert wird. Es werden 3 Schweregrade der spezifischen Lernstörungen unterschieden: leicht, mittelgradig und schwer. Von einem leichten Schweregrad wird
ausgegangen, wenn einzelne Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen
aufgetreten sind, die aber noch kompensiert werden können. Dies setzt jedoch ausreichende Unterstützungsmaßnahmen voraus. Wenn trotz intensiver Förderung
deutliche Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen vorliegen, soll ein mittelgradiger Schweregrad festgehalten werden. Sind schriftsprachliche Anforderungen im Alltag nur sehr eingeschränkt zu bewältigen und können diese ohne intensive Hilfen und länger andauernde Unterstützungsmaßnahmen nicht gelöst werden,
soll der Schweregrad schwer beschrieben werden.
Ätiologie: Eine Interaktion von genetischer
Disposition, geringerer und verzögerter Aktivierung von funktionell bedeutsamen Hirnregionen und Umweltfaktoren stellen das
aktuelle Ursachenmodell der LRS dar.
Ätiologie: Es liegt eine genetische Disposition für eine LRS vor. Kandidatengene klären
ca. 2–4 % der Varianz im Lesen und Schreiben auf. Auf neurophysiologischer Untersuchungsebene zeigt sich eine verzögerte Aktivierung von okzipitotemporalen Hirnregionen, die wesentlich an der Wortverarbeitung beteiligt sind. Auch in temporoparietalen Regionen, die bei der Zuordnung der gehörten Laute zu den entsprechenden
Buchstaben und Wortsegmenten aktiviert werden, finden sich wiederholt geringere
Aktivitätsmuster bei Kindern mit einer LRS. Untersuchungen zur Konnektivität frontaler und okzipitaler Hirnregionen zeigen eine verminderte Konnektivität einzelner
Bahnen. Neben einer geringeren Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses findet
sich eine beeinträchtige Lautunterscheidung und Laut-Buchstaben-Zuordnung, die
insbesondere am Anfang des Schriftspracherwerbs von großer Bedeutung ist.
Zu den diskutierten, relevanten Umweltfaktoren gehören das familiäre Umfeld mit
einer geringeren Anregung von Sprachfertigkeiten und wenigen Schriftsprachanlässen, ein überfordernder Erstleseunterricht (Ganzwortmethode) und ein falscher
Erstschreiblehrgang (Schreiben, wie man es hört).
Symptomatik: Die Lesestörung äußert sich
durch eine verlangsamte Lesegeschwindigkeit. Im Bereich der Rechtschreibung finden
sich v. a. orthografische Regelfehler (betrifft
u. a. Groß- und Kleinschreibung, Schreibung
von Konsonanten im Wortstamm, Auslautschreibung).
Symptomatik: Bereits im Vorschulalter können erste Auffälligkeiten auf das Entstehen einer LRS hinweisen. Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden, Laute zu einem
Wort zu verbinden, Laute aus dem Gedächtnis abzurufen, Schwierigkeiten beim
schnellen Abruf von Wörtern aus dem Gedächtnis können Prädiktoren einer LRS
sein. Beim Lesenlernen finden sich ausgeprägte Schwierigkeiten, einzelne Laute zu
verbinden. In den höheren Klassen steht die verlangsamte Lesegeschwindigkeit im
Vordergrund. Im Bereich der Rechtschreibung finden sich überwiegend orthografische Regelfehler, die oft noch im Erwachsenenalter gehäuft auftreten; die häufigsten Probleme sind:
■ Groß- und Kleinschreibung
■ Schreibung von Konsonanten im Wortstamm (z. B. Tane statt Tanne)
■ Auslautschreibung (z. B. Lant statt Land)
■ Schreibung von Konsonantenhäufung (z. B. schpitz statt spitz)
■ Auslassen von Buchstaben im Wortstamm (lam statt lahm)
■ Umlautschreibung (Beume anstatt Bäume).
Die Lese-Rechtschreib-Störung beeinflusst die Leistungsfähigkeit in allen schulischen Leistungsbereichen, auch im Rechnen. Beim Lesen von Textaufgaben verlesen sich die Kinder und benötigen im Vergleich zu ihren Mitschüler erheblich länger beim Erlesen der Aufgabeninstruktionen.
Kinder mit einer LRS sind trotz ihrer guten Begabung in der Schule erheblich benachteiligt und nicht selten stigmatisiert. Von Mitschüler gehänselt und in der Klas-
Die LRS beeinflusst auch andere schulische
Leistungen (z. B. Rechnen) und führt zu einer
erheblichen Benachteiligung und nicht selten
Stigmatisierung (oft in Verbindung mit körperlichen Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen vor dem Schultag).
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B
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18.5 Umschriebene Entwicklungsstörungen
Komorbidität: Komorbide Störungen treten mit einer Häufigkeit von bis zu 40 % auf
und beeinflussen wesentlich die Therapiekonzeption, den Erfolg der spezifischen
LRS-Förderung sowie den gesamten Entwicklungsverlauf. Bei Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird die Primärsymptomatik
der Aufmerksamkeitsstörung vorrangig behandelt, um die Kinder mit einer LRS in
die Lage zu versetzen, sich auf die Förderungen zu konzentrieren. Angststörungen
entwickeln sich nicht selten als Folge des kontinuierlich erlebten Versagens in der
Schule, der fehlenden Unterstützung und der fehlenden Lösungsmöglichkeiten für
das Kind mit einer LRS. Bei Jugendlichen mit einer LRS finden sich bei bis zu 20 %
depressive Störungen, nicht selten auch Suizidgedanken. Weiterhin können Störungen des Sozialverhaltens und Rechenstörungen auftreten.
Komorbidität: Zu den häufigen komorbiden
Störungen gehören die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS),
Angststörungen, depressive Störungen,
Störungen des Sozialverhaltens und Rechenstörungen.
Diagnostik: Im Vordergrund der Diagnostik stehen die Familien-, Schul- und Eigenanamnese sowie die Überprüfung der verschiedenen Teilkomponenten des Lesens
und eine differenzierte Beurteilung der Rechtschreibleistung.
Zur Diagnostik der Lesefähigkeit stehen standardisierte Testverfahren zur Verfügung, die Lesegeschwindigkeit, Lesegenauigkeit und Leseverständnis messen. Zusätzlich werden Lese-Screenings für Klassentestungen durchgeführt. Diese ersetzen
aber die ausführliche Diagnostik nicht.
Die Rechtschreibleistung wird mit dem Schreiben einzelner Wörter in einem Lückentext und dem Schreiben von Texten erfasst. Die Testwörter repräsentieren eine
Auswahl wesentlicher orthografischer Probleme von Kindern mit einer LRS
(Abb. B-18.3).
Diagnostik: Wesentliche Bestandteile der
Diagnostik sind eine Familien-, Schul- und Eigenanamnese, psychometrische Untersuchung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit (Abb. B-18.3), der Intelligenz (z. B. HAWIK-IV) und des Gedächtnisses, Untersuchung des Visus und der peripheren
Hörfunktionen sowie Untersuchung von Verhalten, Aufmerksamkeit, Emotion und Affekt.
⊙ B-18.3
Rechtschreibtest eines 10-jährigen Jungen (5. Klasse)
⊙ B-18.3
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se bloßgestellt sind Erfahrungen, die Schüler mit einer LRS oft berichten. Ambulant
werden Kinder mit einer LRS oft wegen körperlicher Beschwerden, unklarer heftiger
Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen vorgestellt, die meist vor dem Schulbesuch
auftreten. In den Schulferien zeigt sich diese Symptomatik meist nicht. Bei unklaren
Kopf- und Bauschmerzen vor dem Schultag sollte an das Vorliegen einer LRS gedacht werden.
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18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Für die Entscheidung, ob eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung vorliegt, empfiehlt das DSM-5, quantitative und qualitative Aspekte der Lernbereiche zu beurteilen:
■ Zu den qualitativen Aspekten gehört, dass die Lernstörung die Schulleistungen in
den relevanten Fächern negativ beeinflusst und die Symptomatik in den Schulberichten und der Lehrerbeurteilung beschrieben ist. Auch das Vermeiden von Aktivitäten, die Fertigkeiten aus den Lernbereichen erfordern, oder das Berichten von
Schwierigkeiten im Alltag (z. B. beim Ausfüllen von Formularen oder Überprüfen
des Wechselgeldes) sind klinische Hinweise auf das Vorliegen einer spezifischen
Lernstörung, vor allem auch bei Erwachsenen.
■ Zur Überprüfung der quantitativen Kriterien werden standardisierte Tests eingesetzt. Zur Beurteilung, ob eine Minderleistung vorliegt, wird die individuelle Leistung in den einzelnen Lernbereichen mit der – aufgrund der Klassenstufe/des Alters – zu erwartenden Leistung verglichen (Diskrepanzkriterium). Auch wenn das
DSM-5 betont, dass die quantitative Festlegung der Minderleistung schlecht begründet ist, empfiehlt es eine Standardabweichung von 1,5. Diese Diskrepanz ist
mit einer größeren Sicherheit bzgl. der Diagnosestellung verbunden.
Die Intelligenzdiagnostik sollte anhand eines umfangreichen Verfahrens erfolgen,
das erlaubt, die individuellen Stärken und Schwächen des Kindes zu erfassen. Hierfür stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung (z. B. der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder, HAWIK-IV).
Die häufig auftretenden schulbezogenen Ängste, die Beurteilung des Affekts, des
Verhaltens, der Emotionen, der Aufmerksamkeit und der Gedächtnisfunktionen
werden mit standardisierten Testverfahren, klinischen Interviews und Fragebögen
untersucht.
Um sehbedingte Lesestörungen auszuschließen, sollte bei entsprechenden Hinweisen in der Anamnese eine Untersuchung in einer Sehschule erfolgen. Bei bestehenden Hörschwächen, die meist im Vorschulalter schon auftreten, ist eine pädaudiologische Untersuchung im Schulalter sinnvoll.
Differenzialdiagnose: Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bei ausgeprägter Intelligenzminderung, vorübergehende Lese- und
Rechtschreibschwäche bei psychischen Erkrankungen sowie bei Vorliegen eines ADHS.
Differenzialdiagnose: Die Abgrenzung der LRS von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bei bestehendem ADHS gelingt meist durch eine ausführliche Anamnese.
Kinder mit einem ADHS entwickeln erst im Laufe der Beschulung Schul- und Lernprobleme, diese zeigen sich meist in allen Schulfächern. Auch bei einer Intelligenzminderung zeigen sich die Lernprobleme in allen schulischen Leistungsbereichen
und nicht umschrieben im Lesen und oder Rechtschreiben.
Therapie: Sie besteht aus der spezifischen
Förderung des Lesens und Rechtschreibens,
der Behandlung komorbider Störungen, der
kooperativen Arbeit mit den Eltern und der
Schule sowie der schul- und sozialrechtlichen
Beratung. Trotz einer Vielzahl von Hilfsangeboten und Förderkonzepten sind nur wenige
hinsichtlich der Wirksamkeit untersucht.
Therapie: Die Therapie setzt sich aus der spezifischen Förderung des Lesens und
Rechtschreibens, der Behandlung komorbider Störungen, der kooperativen Arbeit
mit den Eltern und der Schule sowie der schul- und sozialrechtlichen Beratung zusammen. Die Förderung erfolgt entweder in außerschulischen Fördereinrichtungen
oder in der Schule, zum Teil auch zu Hause. Das Förderangebot ist sehr umfangreich
und heterogen. Die wenigsten Methoden sind jedoch hinsichtlich der Wirksamkeit
untersucht. Förderkonzepte, die das Lesen in kleinen Schritten beinhalten und orientierend am normalen Schriftspracherwerb ansetzen, sind wirksam, auch wenn
insgesamt die Effekte dieser Methoden gering sind. Für die Behandlung der Rechtschreibstörung sind Förderkonzepte hilfreich, die orthografisches Wissen (Rechtschreibregelwissen) sehr strukturiert und nachhaltig fördern. Die Förderung wird
meist 1–2 Jahre durchgeführt, abhängig vom Schweregrad auch deutlich länger.
▶ Merke.
▶ Merke. Erst durch längere, sehr strukturierte Förderung können Therapieeffekte
bei der LRS erzielt werden.
Verlauf: Die LRS wird oft zu spät diagnostiziert mit den Folgen, dass Kinder mit einer
LRS psychische Symptome als Folge des kontinuierlich erlebten Versagens und der fehlenden Unterstützung entwickeln.
Verlauf: Die Lese-Rechtschreib-Störung wird oft erst im 2. Schuljahr, nicht selten sogar später diagnostiziert. Wird die Störung nicht diagnostiziert oder liegen keine
Hilfe und Unterstützung vor, entwickeln sich oft psychische Belastungen, die zu
einer psychiatrischen Erkrankung führen können. Die Rechtschreibstörung und die
Beeinträchtigung der Lesegeschwindigkeit bleiben oft bis ins Erwachsenenalter bestehen. Erwachsene vermeiden Situationen, in denen sie in der Öffentlichkeit
schreiben oder ggf. laut vorlesen müssen. Die psychischen Folgen und ihre Behandlung stehen bei Erwachsenen mit einer LRS meist im Vordergrund der Therapie.
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B
459
18.5 Umschriebene Entwicklungsstörungen
Rechenstörung
Rechenstörung
▶ Synonym. Dyskalkulie, Rechenschwäche.
▶ Synonym.
▶ Definition. Umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht durch
▶ Definition.
fehlende Unterrichtung oder Intelligenzminderung erklärt werden kann (Tab. B-18.14).
Symptomatik der Rechenstörung (F81.2) nach ICD-10
■
umschriebene Beeinträchtigqualitatung von Rechenfertigkeiten in den Bereichen genaues
und flüssiges Rechnen, genaues mathematisches Schlussfolgern und im Einprägen von
arithmetischen Fakten
■
Minderleistung nicht erklärbar durch Intelligenzminderung, unangemessene Beschulung
■
hauptsächlich sind grundlegende Rechenfertigkeiten betroffen (Addition, Subtraktion,
Multiplikation, Division), die Repräsentation, das Erkennen und der Umgang mit Größen
und Mengen sowie der Gedächntnisabruf von gelerntem Faktenwissen
≡ B-18.14
Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer Störungen.
ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
Im DSM-5 wird die Rechenstörung im Kapitel „Spezifische Lernstörung mit Beeinträchtigung beim Rechnen“ geführt. Dort werden im Bereich der Rechenstörung,
vergleichbar wie für die Lesestörung, einzelne Teilbereiche (Zahlenverständnis,
arithmetisches Faktenwissen, genaues oder flüssiges Rechnen und mathematisches
Schlussfolgern) hervorgehoben. Die „Dyscalculia“ wird als ein zusätzliches Störungskonzept aufgeführt. Hierunter werden Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von
Zahlen, dem Erwerb von arithmetischem Faktenwissen und bei der schnellen und
genauen Durchführung von Rechenoperationen zusammengefasst. Liegt mehr als
eine Lernstörung vor, werden alle Lernstörungen, einschließlich der Störungskomponenten, einzeln klassifiziert und beschrieben.
Epidemiologie: Rechenstörungen treten in allen Kulturen auf, die Prävalenzschätzungen liegen trotz unterschiedlicher Methoden der Erfassung von Rechenleistungen zwischen 3 und 8 %. An einer Rechenstörung leiden mehr Mädchen. Jungen haben häufiger eine Rechtschreibstörung, bei der Lesestörung ist das Geschlechtsverhältnis ausgeglichen.
Epidemiologie: Die Prävalenz der Rechenstörung liegt zwischen 3 und 8 %.
Ätiopathogenese: Der Erwerb rechnerischer Fähigkeiten beginnt bereits im 1. Lebensjahr (präverbales Addieren und Subtrahieren) und setzt sich über die gesamte
Schullaufbahn fort. Das zählende Rechnen wird beim Erwerb durch die Finger unterstützt und mit der Entwicklung durch schnellere und effizientere Strategien abgelöst. Mit Einführung der Ziffern wird ein visuell-verbales und verbal-visuelles Transcodieren notwendig (die arabische Zahl 3 wird als Zahlwort „drei“ codiert). Hierbei
können entwicklungsabhängig typische Fehler auftreten (zweihundertundvier wird
als 2004, 200 + 4 codiert). Zu den basisnumerische Fähigkeiten gehören ferner das
Wissen über die Struktur des Zahlensystems (z. B. Zehner-Einer-Inversion bei 21, gesprochen nicht zwanzig 1, sondern einundzwanzig). Arithmetisches Faktenwissen
(z. B. 8 + 7 = 15; 6 × 4 = 24) erfordern neben guten Gedächtnisfunktionen den Übergang vom zählenden Rechnen zu durch Übung angeeigneten, automatisierten arithmetischen Operationen. Für komplexe Aufgaben ist prozedurales Wissen notwendig,
d. h. das Wissen um die Anwendung und Ausführung von Rechenschritten.
Bei Rechenstörungen liegen komplexe kognitive Beeinträchtigungen in den Bereichen Zahlen- und Mengenverständnis vor, die möglicherweise auf eine genetische
Disposition und veränderte Hirnfunktionen zurückgeführt werden können. Familienuntersuchungen zeigen, dass Rechenstörungen familiär gehäuft auftreten. Erste
molekulargenetische Befunde weisen auf Einzelnukleotid-Polymorphismen hin, die
mit der Rechenstörung assoziiert auftreten. Auch Zwillingsbefunde und Untersuchungen von Frauen mit einem Turner-Syndrom, bei denen überzufällig häufig
Rechenschwächen beobachtet werden, legen eine genetische Disposition der Rechenstörung nahe. In Regionen des parietalen Kortex der linken und rechten Hemisphäre, insbesondere des intraparietalen Sulcus, der mit Verarbeitung von Zahlen
und Mengen in Verbindung gebracht wird, finden sich verzögerte und verminderte
Aktivierungsmuster bei Kindern mit einer Rechenstörung.
Ätiopathogenese: Rechnerische Fähigkeiten
entwickeln sich bis ins junge Erwachsenenalter. Aufbauend auf basales, präverbales Addieren und Subtrahieren erlernen die Kinder
visuell-verbales Zuordnen von Ziffer und
Zahlwort und entwickeln basisnumerische
Fähigkeiten über die Struktur des Zahlensystems. Hierauf folgt in der Entwicklung arithmetisches Faktenwissen und prozedurales
Wissen.
Als Ursache für die Rechenstörungen werden
genetische Faktoren und funktionelle Beeinträchtigungen verschiedener Hirnregionen, insbesondere des parietalen Kortex, angenommen.
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≡ B-18.14
B
Symptomatik: Die Symptomatik ist komplex
und zeigt sich in gestörter Numerosität, Zählschwierigkeiten, Schwierigkeiten bei visuellverbaler Zuordnung, dem Abruf von numerischem Faktenwissen und Gedächtnisproblemen.
Ein beeinträchtigtes Mengen- und Zahlenverständnis beeinträchtigt wesentliche Alltagsfunktionen (z. B. beim Abschätzen von Entfernungen oder von Geldbeträgen/Wechselgeld).
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Symptomatik:
■ grundlegende Schwierigkeiten der Numerosität (z. B. gestörter Zahlensinn; Beispiel: welche Menge ist etwa mit der Zahl 30 verbunden)
■ Schwierigkeiten beim Zählen
■ Schwierigkeiten beim visuell-verbalen Transcodieren von Zahlen (z. B. Zahlendreher wie 42 als vierundzwanzig gelesen, Stellenwertfehler wie dreihundertundzwölf als 30 012)
■ Defizite im Aufbau und Abruf von numerischen Faktenwissen (z. B. zählendes
Rechnen bei der Addition)
■ Defizite im prozeduralen Wissen und im Faktenwissen
■ Defizite im verbalen Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis.
Bereits vorschulisch zeigen sich Auffälligkeiten im Umgang mit Zahlen, beim Zählen,
beim Benennen von Ziffern, beim Vergleich von Zahlen und bei einfachen Additionen und Subtraktionen.
Defizite in der visuell-räumlichen Verarbeitung zeigen sich nicht nur bei schriftlichem Rechnen von Zahlenkolonnen, sondern auch im Alltag, z. B. bei der örtlichen
Orientierung im Raum und beim Abschätzen von Entfernungen. Die beeinträchtigte
Mengenvorstellung zeigt sich im Alltag beim Abschätzen von Geldbeträgen (z. B.
Wechselgeld) oder von Größen (welches Buch ist größer?).
Komorbidität: Häufige komorbide Störungen
sind LRS und ADHS.
Komorbidität: Die Rechenstörung tritt häufig gemeinsam mit einer LRS auf, eine
weitere häufige komorbide Störung ist das ADHS. Das gemeinsame Auftreten von
Dyskalkulie und LRS führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung in wesentlichen
schulischen Anforderungsbereichen und beeinträchtigt die schulische Entwicklung
nachhaltig.
Diagnostik: Neben einer ausführlichen Eigen-, Familien- und Schulanamnese werden
im Rahmen der Diagnostik basisnumerische
und rechnerische Leistungen mithilfe von psychometrischen Testverfahren quantitativ und
qualitativ erfasst (Abb. B-18.4).
Zur qualitativen Diagnostik gehören Schulberichte und Lehrerurteile sowie die Beurteilung der Bewältigung von Alltagsaufgaben
(z. B. Wechselgeld abschätzen, das Lesen der
Uhr, Größen- und Mengenschätzen).
Zur quantitativen Diagnostik gehört eine
deutliche Minderleistung in einem standardisierten Rechentest.
Diagnostik: Aufgrund der Komplexität des Störungsbildes und der verschiedenen
Funktionsbereiche soll die Diagnostik die Bereiche der Zahlenverarbeitung, des
Mengenwissens, der visuell-räumlichen Fähigkeiten, des Rechnens sowie des prozeduralen Wissens erfassen. Hierzu stehen standardisierte Rechentests zur Verfügung (Abb. B-18.4), die entweder an schulischen Anforderungen („curriculares
Wissen“) orientiert sind oder eher an den neurokognitiven Defiziten. Da die Geschwindigkeit von Rechenoperationen oft beeinträchtigt ist, erfassen manche Tests
spezifisch eine Speed-Komponente des Rechnens. Bisher liegen standardisierte Verfahren mit ausreichender Normierung lediglich bis zur 9. Klassenstufe vor, sodass
für Schülerinnen und Schüler höherer Klassenstufen zurzeit keine psychometrische
Diagnostik möglich ist.
Für die Entscheidung, ob eine Störung vorliegt, geben die Klassifikationssysteme
quantitative und qualitative Aspekte der Lernbereiche an, die beurteilt werden sollen.
⊙ B-18.4
a
Zwei Untertests aus dem Heidelberger-Rechentest (HRT) eines 8-jährigen Jungen (2. Klasse)
b
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461
B 18.6 Tief greifende Entwicklungsstörungen
Zu den qualitativen diagnostischen Aspekten gehört, dass die Lernstörung die
Schulleistungen in den relevanten Fächern negativ beeinflusst und die Symptomatik in den Schulberichten und der Lehrerbeurteilung beschrieben ist. Auch das
Vermeiden von Aktivitäten, die Fertigkeiten aus den Lernbereichen erfordern,
oder das Berichten von Schwierigkeiten im Alltag (z. B. beim Ausfüllen von Formularen oder Überprüfen des Wechselgeldes) sind klinische Hinweise auf das Vorliegen einer spezifischen Lernstörung, vor allem auch bei Erwachsenen.
■ Zu den quantitativen Aspekten gehört eine deutliche Minderleistung in einem
standardisierten Rechentest, der es erlaubt, die individuelle Leistung des Kindes in
Bezug zur Klassen- oder Altersnorm zu setzen.
Das DSM-5 betont zusätzlich zur ICD-10 die klinische Diagnose und fordert nicht
mehr das IQ-Diskrepanz-Kriterium, das in der ICD-10 und im DSM-IV noch eine
zentrale Rolle bei der quantitativen Diagnostik einnimmt bzw. einnahm.
Die Diagnostik basiert auf verschiedenen Methoden: Anamnese (Entwicklungs- und
Familienanamnese), klinisches Interview, Schulbericht, Beurteilungsskalen und pädagogische oder psychologische Testdiagnostik. Dazu können Testverfahren eingesetzt werden, die basierend auf dem Lehrplan die einzelnen Lernbereiche überprüfen und Testverfahren, die auf die Erfassung einzelner Störungsbereiche (z. B. Lesegeschwindigkeit) fokussieren. Die Testverfahren sollen individuell durchgeführt
werden, über eine angemessene Testgüte verfügen und kulturell angemessen sein
(insbesondere bei der Überprüfung von Intelligenz). Die Beeinträchtigungen müssen
länger als 6 Monate vorliegen, auch wenn Interventionen (zu Hause oder in der
Schule) durchgeführt wurden. Es darf sich nicht um eine vorübergehende Störung
handeln.
Da bei der Dyskalkulie oft schul- bzw. mathematikbezogene Ängste auftreten, sollten diese erfasst werden. Neben den neurokognitiven Funktionen, die für die rechnerischen Fähigkeiten notwendig sind, werden außerdem Verhalten, Aufmerksamkeit, Emotionen, Ängste und Affekt untersucht.
Differenzialdiagnose: Eine Schädigung des Gyrus angularis in Verbindung mit einer
Fingeragnosie, Rechenstörung, einer Agraphie und einer gestörten Links-rechts-Orientierung wird als Gerstmann-Syndrom bezeichnet und ist eher selten. Rechenschwierigkeiten treten auch beim Turner-Syndrom, Fragilen-X-Syndrom und bei
Kindern mit fetalem Alkoholsyndrom auf.
Differenzialdiagnose: Gerstmann-Syndrom
(selten), Rechenschwierigkeiten beim TurnerSyndrom und beim Fragilen-X-Syndrom.
Therapie: Spezifische Konzepte werden abhängig von der qualitativen Diagnostik
der Rechenschwierigkeiten in der Dyskalkuliebehandlung eingesetzt. Dabei handelt
es sich nicht um eine Intensivierung des bereits vermittelten, schulischen Lernstoffs.
Abhängig vom Schweregrad der Rechenstörung ist eine individuelle Einzeltherapie
über einen längeren Zeitraum (meist 1–2 Jahre) notwendig. Im Vordergrund steht
zunächst, die Grundlagen des Rechnens sowie das Verständnis für Mengenrelationen und Zahlengrößen zu vermitteln. Hierzu werden Anschauungshilfen eingesetzt,
um z. B. Zahlengrößen begreifbar zu machen. Da viele Kinder mit einer Rechenstörung Schwierigkeiten beim Speichern und Abruf von arithmetischen Fakten haben,
sollten insbesondere diese Bereiche gefördert werden. Außerdem sollte die Angst
vor dem Umgang mit Zahlen und Rechnen vermindert werden. Effektiv sind Einzelförderungen, die neben einem strukturierten Aufbau insbesondere die Motivation
stärken.
Therapie: Abhängig von dem Ergebnis der
Diagnostik und dem Schweregrad der Rechenstörung werden Mengen- und Zahlenverständnis und der Abruf von arithmetischem
Faktenwissen gefördert. Verminderung der
Angst vor Zahlen und dem Rechnen sind
ebenso wichtig für die Förderung.
18.6 Tief greifende Entwicklungsstörungen
Tief greifende Entwicklungsstörungen bezeichnen schwere und tief greifende Beeinträchtigungen mehrerer Entwicklungsbereiche und können sowohl in qualitativer
wie quantitativer Hinsicht erhebliches Ausmaß erreichen. Kommunikation, Interaktion, Interessen und Aktivität sind beeinträchtigt, häufig treten stereotype Verhaltensweisen auf. In vielen Fällen entwickelt sich eine geistige Behinderung. Tief greifende Entwicklungsstörungen sollten nicht als kindliche Psychosen oder kindliche
Schizophrenien bezeichnet werden. Liegen identifizierbare chromosomale, morphologische oder postinfektiöse Störungen vor, müssen diese gesondert codiert
werden.
18.6
Tief greifende Entwicklungsstörungen
Tief greifende Entwicklungsstörungen sind
durch schwere und einschneidende Beeinträchtigungen mehrerer Entwicklungsbereiche charakterisiert. In vielen Fällen entwickelt sich eine geistige Behinderung.
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■
462
B
18.6.1 Frühkindlicher Autismus
18.6.1 Frühkindlicher Autismus
▶ Synonym.
▶ Synonym. autistische Störung, Kanner-Syndrom, infantiler Autismus, Pervasive
developmental Disorder (PDD).
▶ Definition.
▶ Definition. Tief greifende Störung von Kommunikation, Empathie, Kontakt, Interaktion und Entwicklungsfähigkeit. Eine normale Entwicklung ist selten, Intelligenzminderung, epileptische Anfälle und andere neurologische Auffälligkeiten sind bei
einem Teil der Kinder möglich (Tab. B-18.15).
Historisches: Der Begriff Autismus bezeichnet einen krankhaften Zustand der Selbstbezogenheit und des Rückzugs und findet
heute v. a. bei den kindlichen Formen des
Autismus Verwendung.
Im DSM-5 werden alle autistischen Subtypen
zur Autismus-Spektrum-Störung
(Tab. B-18.15) zusammengefasst.
Historisches: Der Begriff Autismus wurde ursprünglich von Eugen Bleuler als wesentlicher, wenngleich nicht spezifischer Teil der Schizophreniesymptomatik verstanden und beschreibt einen Zustand pathologischer Selbstbezogenheit und sozialen Rückzugs. In der Folgezeit erfuhr der Begriff eine erhebliche Ausdehnung und findet heute vor allem für die Klassifikation kindlicher Autismusformen Verwendung.
Im DSM-5 werden alle autistischen Subtypen zur Autismus-Spektrum-Störung
(Tab. B-18.15) zusammengefasst und schließen folgende Formen ein: frühkindlicher
Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus, High- und Low Functining Autism, desintegrative Störung des Kindesalters, nicht näher bezeichnete tiefgreifende
Entwicklungsstörung. Da alle diese Subtypen im DSM-5 nicht mehr gesondert klassifiziert werden, sind Symptom-Spektrum und Verlaufsmuster der Autismus-Spektrum-Störung breit und vielfältig.
Epidemiologie: Die Störung tritt bei 2-5 pro
10 000 Kindern und bevorzugt bei Jungen auf.
Epidemiologie: Autismus gehört zu den bekanntesten kinderpsychiatrischen Begriffen, die Störung ist jedoch insgesamt selten und betrifft 2 bis 5 von 10 000 Kindern.
Knaben sind 3- bis 4-mal häufiger betroffen als Mädchen. Die soziale Verteilung ist
ausgewogen. Früher hatte man ein bevorzugtes Auftreten in der Mittel- und Oberschicht angenommen.
Ätiopathogenese: Die autistischen Störungen sind in Symptomatik und Genese heterogen. Hirnorganische Störungen und ein familiärer Autismusfaktor sind vermutlich die
wichtigsten Ursachen des Autismus. Eine eindeutige familiäre Häufung ist nicht nachweisbar.
Ätiopathogenese: Die Annahme einer rein psychogenen Verursachung des frühkindlichen Autismus ist nicht haltbar. Bedeutsam ist die Vielzahl beschriebener zerebraler Auffälligkeiten, die eine hirnorganische Genese vermuten lassen. Dafür
sprechen auch der hohe Anteil von Intelligenzminderungen und das Auftreten von
Epilepsien bei etwa einem Drittel der Kinder. Hirnorganische Befunde und Intelligenzniveau sind aber nicht diagnosebestimmend. Es ist eine Vielzahl kognitiver, auditiver und visueller Defizite beschrieben worden. Bei einem Teil der Autisten besteht ein vergrößerter Kopfumfang. Eine eindeutige familiäre Häufung ist nicht gesichert. Auffällig ist jedoch das häufige Vorkommen von schizoiden, intellektualisierenden Persönlichkeiten im Umfeld der Patienten, sodass ein hereditärer
Autismusfaktor (van Krevelen) mit unterschiedlicher Penetranz, vor allem in der väterlichen Aszendenz, postuliert wurde. Obwohl die Anzahl identifizierbarer Teilsyndrome zunimmt, bleibt die Heterogenität der Störung bestehen.
Symptomatik: Die Kinder kapseln sich in unterschiedlichem Ausmaß von ihrer Umgebung
ab und nehmen nur auf bestimmten, ritualisierten Wegen Kontakt zu ihr auf. Empathie,
Mitleid oder andere Gefühle der Zuwendung
sind Autisten fremd.
Symptomatik: Die Kinder kapseln sich in unterschiedlichem Ausmaß von ihrer Umgebung ab und nehmen nur auf bestimmten, ritualisierten Wegen Kontakt zu ihr
auf. Soziale Aktivitäten sind auf ein Minimum reduziert oder sehr auffällig. Auch die
Resonanz auf soziale Signale ist eingeschränkt, gefühlsarm und merkwürdig, die interaktive Wechselseitigkeit, die für eine adäquate oder flüssige Kommunikation notwendig ist, fehlt weitgehend. Empathie, Mitleid oder andere Gefühle der Zuwendung sind Autisten fremd.
Diese starke Selbstbezogenheit führt fast immer zum Fehlen freundschaftlicher Beziehungen, sowohl zu Kindern als auch zu Erwachsenen. Umgekehrt zeigen die Kinder auch so gut wie nie das Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung, Zärtlichkeit
oder Lob. Besonders typisch ist, dass kein Blickkontakt aufgenommen wird und die
Kinder durch ihr Gegenüber hindurchsehen.
Die Sprachentwicklung ist in der Regel von klein auf gestört. Die aktive Sprache
bleibt unproduktiv, unmoduliert, affektarm und wird kaum von Mimik oder Gestik
begleitet. Begleitend finden sich Echolalie, repetitive Bemerkungen, Neologismen,
bizarre Verknüpfungen, Verdrehungen und die sog. pronominale Umkehr (die Kinder sagen „du“ statt „ich“). Sprache und Kommunikation sind starr, unfroh und reduziert. Eigene Interessen werden nur selten entwickelt und münden häufig in stereotype Verhaltensmuster. Oft besteht eine intensive Bindung an bestimmte Gegenstände (z. B. Bälle, Stofftiere, Schnüre) und Räumlichkeiten. Die Stereotypien können
Diese starke Selbstbezogenheit führt fast
immer zum Fehlen freundschaftlicher Beziehungen. Typisch ist, dass die Kinder keinen
Blickkontakt aufnehmen und durch ihr Gegenüber hindurchsehen.
Die Sprachentwicklung ist in der Regel von
klein auf gestört. Die aktive Sprache bleibt
unproduktiv, unmoduliert, affektarm und
wird kaum von Mimik oder Gestik begleitet.
Begleitend finden sich verschiedene Begleitsymptome (z. B. pronominale Umkehr, Neologismen). Stereotype Verhaltensmuster
sind ebenfalls häufig. Oft besteht eine intensive Bindung an bestimmte Gegenstände.
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18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
463
B 18.6 Tief greifende Entwicklungsstörungen
≡ B-18.15
Diagnostische Leitlinien des frühkindlichen Autismus (F84.0) nach ICD-10 bzw. diagnostische Kriterien der AutismusSpektrum-Störung (F84.0) nach DSM-5 (Auszüge)
ICD-10
■
vor dem 3. Lebensjahr beginnende, abnorme oder
beeinträchtigte Entwicklung mit Störung von Interaktion, Kommunikation und Interessen, eingeschränktem, repetitivem und oft ritualisiertem
Verhalten mit Veränderungsangst
DSM-5
■
anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion
■
eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
■
Die Symtome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen.
■
Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen.
■
Diese Störungen können nicht besser durch eine intellektuelle Beeinträchtigung
oder eine allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden.
■
mit oder ohne begleitende sprachliche Beeinträchtigung
■
in Verbindung mit einer bekannten körperlichen Erkrankung, genetischen
oder Umweltbedingung
■
in Verbindung mit einer anderen Störung der neuronalen oder mentalen
Entwicklung
■
mit Katatonie
ICD-10: Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische
Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
DSM-5: Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013
American Psychiatric Association, dt. Version © 2015 Hogrefe Verlag
erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, während ansonsten die Aufmerksamkeitsspanne eher kurz ist. Daraus ergibt sich eine massive Störung des Spielverhaltens.
Viele Gegenstände werden nur in monotoner Weise gedreht oder gewendet.
Neue Verhaltensweisen werden nur schwer oder gar nicht erlernt, Imitationslernen
findet so gut wie nicht statt (z. B. keine Nachahmung der häuslichen Aktivitäten anderer Familienmitglieder). Gegenüber neuen Situationen oder Anforderungen besteht eine ausgeprägte Veränderungsangst, Spontaneität, Kreativität, Fantasie oder
Neugier sind eingeschränkt. Spezialinteressen sind dagegen bekannt. Passagere
Selbstverletzungen, gelegentlich im Rahmen von Stereotypien, kommen vor.
Die Mehrzahl der betroffenen Kinder weist eine Intelligenzminderung auf. Zusätzlich kann eine Vielzahl akzessorischer Symptome wie Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen oder affektive Störungen bestehen.
Neben typischen Formen, die alle genannten Kriterien erfüllen, werden zahlreiche
atypische Formen angetroffen, die nicht alle Hauptkriterien, stattdessen aber atypische oder akzessorische Symptome aufweisen.
Diagnostik: Die Diagnose wird durch Anamnese, klinische Beobachtung mithilfe von
Fremdbeobachtungs- und Beurteilungsskalen oder mit Elterninterviews gestellt.
Differenzialdiagnose: Die differenzialdiagnostischen Möglichkeiten umfassen eine
Vielzahl meist seltener, oft ebenfalls unscharf definierter Syndrome. Am bekanntesten sind andere tief greifende Entwicklungsstörungen, infantile Demenz- und Degenerationssyndrome, Rett-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom, komplizierte Sprachstörungen (Aphasien), umschriebene Entwicklungsstörungen (S. 449), Intelligenzminderungen mit Stereotypien (S. 441) und Deprivationssyndrome mit konsekutiven
Beziehungsstörungen. Aber auch atypische Psychosen, komplexe Zwangsstörungen
und komorbide Tourette-Syndrome mit ausgeprägten Tics und Stereotypien stellen
im Kindesalter gelegentlich schwierige differenzialdiagnostische Probleme dar.
Bei den desintegrativen Störungen (Dementia infantilis, Heller-Demenz, desintegrative Psychose) kommt es nach einer Phase normaler frühkindlicher Entwicklung im
3.–4. Lebensjahr innerhalb kurzer Zeit zum Verlust bereits erworbener Sprachfähigkeit, motorischen Stereotypien, Zwangslachen und -weinen, Automatismen und
Wesensveränderungen. Der Verlauf ist initial meist progredient und kommt dann
gelegentlich zum Stillstand. Später können selten auch Besserungen auftreten. Die
Prognose ist insgesamt ungünstig, obgleich identifizierbare hirnorganische Läsionen
in aller Regel nicht gefunden werden.
Neue Verhaltensweisen werden nur schwer
oder gar nicht erlernt. Gegenüber neuen Situationen oder Anforderungen besteht eine
ausgeprägte Veränderungsangst.
Häufig ist eine Intelligenzminderung vorhanden, akzessorische Symptome (z. B. Phobien) kommen ebenfalls vor.
Zahlreiche atypische Autismusformen sind
beschrieben.
Diagnostik: Durch Anamnese, Klinik, Beurteilungs- und Fremdbeobachtungsskalen, Elterninterviews.
Differenzialdiagnose:
■ andere tief greifende Entwicklungsstörungen
■ infantile Demenz-/Degenerationssyndrome
■ Rett-Syndrom
■ Fragiles-X-Syndrom
■ komplizierte Sprachstörungen (Aphasien)
■ umschriebene Entwicklungsstörungen
■ Intelligenzminderung
■ komplexe Zwangsstörungen
■ desintegrative Störungen (nach einer Phase normaler Entwicklung kommt es zum
Verlust bereits erworbener Fähigkeiten).
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Bestimme, ob:
■ mit oder ohne begleitende intellektuelle Beeinträchtigung
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Aufgrund klinischer und genetischer Befunde
werden frühkindlicher Autismus und infantile
Psychosen (S. 467) als getrennte Störungsbilder angesehen.
Infantile schizophrene Psychosen (S. 467) und frühkindlicher Autismus werden heute aufgrund klinischer und genetischer Befunde trotz ähnlicher Querschnittssymptomatik voneinander unterschieden. Typisch psychotische Phänomene wie Wahn,
Halluzination und Zerfahrenheit fehlen beim frühkindlichen Autismus oder treten
nicht in der für Psychosen typischen Kombination auf. Eine familiäre Belastung
durch Psychosen fehlt bei den autistischen Störungen.
Therapie:
■ Unterstützung der normalen Entwicklung
■ Förderung der allgemeinen Lernfähigkeit
■ Reduktion von Stereotypien
■ Verbesserung des sozialen Verhaltens
■ Minderung familiärer Belastungen.
Therapie: Das therapeutische Vorgehen ist weniger durch die Methodik, sondern
mehr durch die individuellen Eigenheiten des Kindes und die Ziele der Behandlung
determiniert:
■ Unterstützung der normalen Entwicklung
■ Förderung der allgemeinen Lernfähigkeit
■ Reduktion von Rigidität und Stereotypien
■ Verbesserung des sozialen Verhaltens
■ Minderung familiärer Belastungen und Fehlhaltungen.
Schnelle Erfolge sind normalerweise mit keiner Methode zu erwarten, da sich autistische Kinder oft jeder Therapie zumindest passiv widersetzen. Alle Therapien müssen
hochfrequent durchgeführt und in den Tagesablauf eingebettet werden. International
hat sich die ABA-Methode (applied behavior analysis) am meisten durchgesetzt.
Psychopharmakologisch muss zwischen der Behandlung der Grunderkrankung oder
einzelner besonders problematischer Symptome bzw. Störungen unterschieden werden. Eine zuverlässige und überprüfte medikamentöse Therapierbarkeit des Autismus ist bisher nicht erwiesen. Versuche mit Vitaminen (z. B. Vitamin B6), Elektrolyten (z. B. Magnesium) oder Kortikoiden haben ebenso zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt wie die Behandlung mit Clonidin, Sekretin, Naltrexon, Antidepressiva,
Antipsychotika, Stimulanzien oder Anxiolytika. Auch die potenzielle Wirksamkeit
neuerer antidepressiver und neuroleptischer Substanzen ist noch nicht abschätzbar.
Grundsätzlich behandlungsbedürftig sind epileptische Anfälle, die auf die üblichen
Antikonvulsiva eingestellt werden. Auch schwere und wiederholte Erregungszustände und Selbstverletzungen müssen mit dämpfenden Substanzen (Benzodiazepine,
Antipsychotika) zumindest versuchsweise behandelt werden. Da viele neue psychoaktive Substanzen wesentlich weniger unerwünschte Nebenwirkungen haben, ist im
Einzelfall ein medikamentöser Behandlungsversuch durchaus erwägenswert.
Schnelle und andauernde Erfolge sind nicht
zu erwarten. International hat sich die ABAMethode etabliert.
Eine zuverlässige und überprüfte medikamentöse Therapie gibt es bisher nicht. Die
pharmakologische Therapie beschränkt sich
weitgehend auf schwere Erregungszustände,
Selbstverletzungen oder epileptische Anfälle.
Verlauf: Der frühkindliche Autismus ist eine
Erkrankung mit meist chronischem Verlauf.
Nur in Einzelfällen sind rasche Besserungen
bekannt geworden.
In Pubertät und Adoleszenz treten gehäuft
(Auto-)Aggressivität, Destruktivität und affektive Labilität auf. Bei niedrigem IQ ist die
Prognose besonders ungünstig.
18.6.2 Rett-Syndrom
▶ Definition.
Verlauf: Der frühkindliche Autismus ist eine primär chronische Störung, die nur in
Einzelfällen die Entwicklung eines normalen Lebensstils zulässt. In der Kindheit
hervorstechende Züge sind meist über lange Zeit zu beobachten. Die Variabilität des
klinischen Bildes ist insgesamt gering, obwohl in Einzelfällen rasche Veränderungen
bekannt geworden sind. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen gehen selten in schizophrene Psychosen über.
Die meisten Patienten werden in Behinderteneinrichtungen oder in der Familie und
nur initial in der Kinder- und Jugendpsychiatrie betreut. Besonders schwierig kann
die Pubertäts- und Adoleszenzphase durch autoaggressive und destruktive Tendenzen bei gleichzeitiger Intensivierung der affektiven Labilität sein. Später erfolgt meist
wieder eine Beruhigung. Die Prognose ist besonders ungünstig bei niedrigem IQ.
18.6.2 Rett-Syndrom
▶ Definition. Angeborene, neurodegenerative Erkrankung mit stereotypen „waschenden“ Handbewegungen, autistischen Zügen, diversen akzessorischen Auffälligkeiten und zeitweise progredientem Verlauf. Das Syndrom wurde 1966 erstmals
von A. R. Rett beschrieben (Tab. B-18.16).
Epidemiologie: Auftreten bei Mädchen im
Kleinkindalter. Manifestationsalter zwischen
6. Lebensmonat und 4. Lebensjahr.
Epidemiologie: Das Rett-Syndrom beginnt, soweit bisher bekannt, im Kleinkindalter
und tritt nur bei Mädchen auf. Die Häufigkeit beträgt etwa 1:10 000–15 000. Nach
unauffälliger Schwangerschaft, Geburt und Säuglingszeit manifestiert sich das RettSyndrom zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr.
Ätiopathogenese: Meist spontane Mutation
des MeCP2-Gens auf dem X-Chromosom. In
Muskel-, Nerven- und Hirnbiopsien finden sich
verschiedene Hinweise auf eine degenerative
ZNS-Schädigung (z. B. Axonopathien).
Ätiopathogenese: Das Rett-Syndrom gehört nach ICD-10 zu den autistischen Unterformen, deren genetischer Hintergrund aufgeklärt ist. Es handelt sich um eine meist
spontane Mutation des MeCP2-Gens auf dem X-Chromosom (Xq28). Muskel-, Nerven- und Hirnbiopsien zeigen diskrete Anzeichen einer degenerativen Erkrankung
des ZNS (z. B. Anreicherung von Glykosphingolipiden und Gangliosiden, Axonopathien, Verlust von Myelinkörpern).
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464
465
B 18.6 Tief greifende Entwicklungsstörungen
≡ B-18.16
Diagnostische Leitlinien des Rett-Syndroms nach ICD-10
ICD-10
■
≡ B-18.16
DSM-5
Rett-Syndrom (F84.2)
– Beginn im 7.– 24. Lebensmonat, nur beim weiblichen
Geschlecht
– Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Ausbildung
stereotyper, „waschender“ Handbewegungen
– Verlust bzw. mangelnde Entwicklung der Sprache
– autistische Züge
– ataktisch-spastische Störungen sowie multiple zusätzliche Auffälligkeiten
Im DSM-5 wird die RettStörung nicht mehr separat
klassifiziert.
Symptomatik: Leitsymptome sind autistische Züge, Sprachverarmung, Verlust feinmotorischer manueller Fertigkeiten, stereotype waschende und knetende Handbewegungen und andere Bradydyskinesien. Typisch ist außerdem eine Verlangsamung des Kopfwachstums. Zusätzlich können Minderwuchs, Mikrozephalie, Hyperventilation, Hyperammonämie, Apraxie, Ataxie, Gangstörungen, Hypersalivation,
mangelhaftes Kauen der Nahrung, spinale Atrophien, Spastik, Skoliose und viele andere Symptome bestehen. In der Mehrzahl der Fälle sind pathologische EEG-Befunde und epileptische Anfälle vorhanden.
Symptomatik: Es kommt zum Verlust feinmotorischer Fertigkeiten. Sprachverlust, Stereotypien, Minderwuchs, Mikrozephalie, Apraxie, Gangstörungen, spinalen Atrophien, Epilepsie und vielen anderen Symptomen.
Diagnostik: Die Diagnose wird durch klinische Beobachtung, Gentests und nach
Ausschluss anderer, ähnlicher Erkrankungen gestellt.
Diagnostik: Die Diagnose wird klinisch und
genetisch gestellt.
Differenzialdiagnose: Stereotypien beim frühkindlichen Autismus können ähnlich
aussehen. Auch Kinder mit einem unerkannten Fragilen-X-Syndrom (Martin-BellSyndrom) kommen differenzialdiagnostisch in Betracht.
Differenzialdiagnose:
■ frühkindlicher Autismus mit Stereotypien
■ Fragiles-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom).
Therapie: Eine zuverlässige, kausale Behandlung ist derzeit nicht bekannt. Epileptische Anfälle werden mit Antikonvulsiva behandelt. Die Betroffenen müssen wie andere Behinderte geführt und in Sondereinrichtungen betreut werden.
Therapie: Eine kausale Behandlungsform ist
derzeit nicht bekannt.
Verlauf: Die Entwicklung ist Anfangs unauffällig, dann verzögert und letztlich formt
sich meist das Bild eines mehrfach behinderten Kindes aus. Durch fortschreitenden
intellektuellen Abbau, Muskelschwund, Ataxie und Skoliose werden die betroffenen
Kinder zunehmend pflegebedürftig.
Verlauf: Die Entwicklung ist deutlich verzögert und die Kinder werden zunehmend
pflegebedürftig.
18.6.3 Asperger-Syndrom
18.6.3 Asperger-Syndrom
▶ Synonym. schizoide Störung des Kindesalters, autistische Psychopathie.
▶ Synonym.
▶ Definition. Autistisches Syndrom, das sich durch Vorliegen von Spezialinteressen
▶ Definition.
und stereotypen Aktivitäten bei gestörter Beziehungsfähigkeit auszeichnet. Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus sind Sprachfähigkeit und Intelligenz in der
Regel erhalten oder besonders ausgebildet. Das Syndrom wurde 1943 von H. Asperger erstmals beschrieben (Tab. B-18.17).
≡ B-18.17
Diagnostische Leitlinien des Asperger-Syndroms nach ICD-10
ICD-10
■
Asperger-Syndrom (F84.5)
– qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion
– motorische Ungeschicklichkeit
– stereotype Interessen und Aktivitäten
– Fehlen einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung
– deutliches Überwiegen des männlichen
Geschlechtes
DSM-5
■
Asperger-Störung
Im DSM-5 wird die Asperger-Störung unter
den Autismus-Spektrum-Störungen eingeordnet (s. Tab. B-18.15).
ICD-10: Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer
Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
≡ B-18.17
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
ICD-10: Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer
Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
466
B
▶ Merke.
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
▶ Merke. Das klinische Bild ist bei typischer Ausprägung beeindruckend und unter-
Epidemiologie: Die Erkrankung tritt überwiegend bei Jungen auf.
Epidemiologie: Die Prävalenz im Kindesalter wird auf ca. 3 von 10 000 geschätzt.
Die Erkrankung tritt überwiegend bei Jungen auf (8:1).
Ätiopathogenese: Konstitutionelle Variante
mit hirnorganischen Anteilen.
Ätiopathogenese: Wie bereits von Asperger angenommen, handelt es sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit um eine konstitutionelle Variante mit familiärer Häufung in der
männlichen Linie, d. h. der genetische Einfluss ist hoch. Begleitende Symptome wie
feinmotorische Ungeschicklichkeit, epileptische Anfälle, aber auch neuere Befunde
durch bildgebende Verfahren (functional MRI) machen eine hirnorganische Beteiligung wahrscheinlich. Als neuropsychologische Grundstörung wird eine Empathieschwäche („theory of mind“) sowie eine Beeinträchtigung exekutiver Funktionen (flexibles Planen), des Spiegelneuronensystems und der Kontexterfassung angenommen.
Symptomatik: Asperger-Autisten sind in ihrer
Schwingungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit eingeschränkt, während sie in ihren Spezialgebieten brillieren und geradezu
auftrumpfen können.
Asperger-Autisten versagen oft in der Schule,
weil sie auf ihre Interessen fixiert bleiben und
sich nicht ausreichend am regulären Unterricht beteiligen.
Symptomatik: Asperger-Autisten sind in ihrer sozioemotionalen Schwingungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit eingeschränkt, während sie in ihren Spezialgebieten
brillieren und geradezu auftrumpfen können. Bereits vor der Einschulung findet
man unter ihnen beachtete Naturforscher, Kunstkenner und Rechenkünstler, die unkindlich ernst, introvertiert, grüblerisch und egozentrisch sind. Als Jugendliche wirken die Patienten scheu, angespannt, skurril, verschroben und reagieren bisweilen
gereizt, wenn man sie in der Ausübung ihrer Interessen einschränkt. Sie lassen
meist jugendtypische Eigenheiten vermissen, zeigen extreme Humorlosigkeit und
eine Neigung zur Entwicklung von Stereotypien.
Intelligenz und Sprachfähigkeit sind normal oder sogar besonders stark ausgeprägt.
Die Sprache ist häufig monoton, leiernd, manchmal auch fast flüsternd oder extrem
laut und nicht an der umgebenden Situation orientiert. Inhaltlich bietet sie eine eigenwillige Originalität mit Neologismen („naszierende Sprache“). Im kognitiven Bereich finden sich originelle, bisweilen auch abwegige Denkmuster.
Als komorbide Störungen treten vor allem Zwänge (S. 483), Tic-Störungen (S. 483)
und hyperkinetische Störungen (S. 471) auf, die das klinische Bild prägen und die
Therapierbarkeit erschweren können.
Aufgrund der Symptome kommt es vor allem in Schule und Beruf zu Folgeproblemen. Asperger-Autisten versagen in der Schule, wenn sie egozentrisch an bestimmte Details fixiert bleiben. Trotz normaler Intelligenz können sie oft nicht genug Interesse entwickeln, um sich am regulären Schulunterricht zu beteiligen.
Diagnostik: Die Diagnose wird klinisch gestellt.
Diagnostik: Die Diagnose wird vorwiegend klinisch gestellt, es gibt jedoch auch
Checklisten für das Asperger-Syndrom.
Differenzialdiagnose: Entwicklungs- und Bindungsstörungen (S. 495), Schizophrenia simplex (S. 170), schizotype Störung (S. 390),
Zwangsstörungen (S. 483) bzw. Zwangserkrankungen (S. 146).
Zur Unterscheidung der autistischen Syndrome s. Tab. B-18.18.
Differenzialdiagnose: Andere tief greifende Entwicklungsstörungen, Bindungsstörungen (S. 495), Schizophrenia simplex (S. 170), schizotype Störungen (S. 390),
Zwangsstörungen (S. 483) bzw. Zwangserkrankungen (S. 146) und postenzephalitische Residualzustände.
Eine klassische Formulierung lautet, dass Asperger-Kinder im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus, früher sprechen als laufen, d. h. die sprachliche Entwicklung
verläuft meist ungestört und tritt in Relation zur verzögerten motorischen Entwicklung (Störungen von Grob- und Feinmotorik, Koordinationsstörungen) verfrüht ein.
Da die frühkindliche Entwicklung beim Asperger-Syndrom weniger gestört ist, erfolgt die Diagnosestellung später als beim frühkindlichen Autismus und erst dann,
wenn man bereits eine gewisse Verlaufsspanne überblickt. Zur Unterscheidung der
autistischen Syndrome s. Tab. B-18.18.
Intelligenz und Sprachfähigkeit sind normal
oder sogar besonders stark ausgeprägt. Im
kognitiven Bereich finden sich originelle, bisweilen auch abwegige Denkmuster.
≡ B-18.18
Unterscheidung der autistischen Syndrome nach ICD-10
frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom) autistische Psychopathie (Asperger-Syndrom)
Geschlechterverhältnis 3 : 1
(Jungen : Mädchen)
9:1
Diagnosestellung
Kleinkindalter
Kindergarten- und Schulalter
Intelligenz
häufig vermindert
normal bis überdurchschnittlich
Sprache
gestörte und verzögerte Sprachentwicklung
frühzeitige Sprachentwicklung, wandlungsfähige Sprache mit großem
Wortschatz
Motorik
in der Regel keine Einschränkungen
motorische Auffälligkeiten (z. B. motorische Ungeschicklichkeit)
Kontaktaufnahme
Umgebung ist nicht existent
Umgebung wirkt störend
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scheidet sich deutlich von anderen Störungen des autistischen Formenkreises.
B
467
18.7 Psychosen im Kindes- und Jugendalter
Therapie: Im Rahmen einer langfristigen Betreuung gelingt es in günstigen Fällen,
die rigiden Haltungen zu mindern und Schulbesuch oder Ausbildung zu ermöglichen. Verhaltenstherapeutische Ansätze wie die ABA (applied behavior analysis)
oder interaktionszentrierte Gruppentherapieverfahren werden als hilfreich eingeschätzt.
Therapie: Langfristige Betreuung von Patient
und Familie unter Einbeziehung von schulischen und beruflichen Förderungsmöglichkeiten. Spezifische verhaltenstherapeutische
Ansätze.
Verlauf: Der Verlauf ist meist chronisch und dauert typischerweise bis ins Erwachsenenalter hinein an. Mit der Zeit wirkt sich gerade die „Originalität“ der AspergerPatienten als Hemmnis aus.
Verlauf: Der Verlauf ist oft chronisch und
dauert bis ins Erwachsenenalter an.
▶ Merke. Die soziale Prognose ist von der Integrationsbereitschaft abhängig. Ist die-
▶ Merke.
Im Erwachsenenalter tritt die Prägnanz des Erscheinungsbildes gelegentlich etwas
zurück. Auch dann haben die Patienten jedoch weniger Beziehungsfähigkeit, seltener Partnerbeziehungen und mangelnde empathische Fähigkeiten. Von gehäuften
Suizidgedanken und gelegentlichen psychotischen Entgleisungen wird berichtet.
▶ Klinischer Fall. Wir haben fast 3 Jahrzehnte lang den Lebensweg eines Knaben und jungen
Mannes verfolgt, der in seinem ganzen Verhalten das ausgeprägte Bild des autistischen Psychopathen zeigte. Es war, als nähme er die anderen Menschen überhaupt nicht zur Kenntnis, so
abwesend trieb er dahin, er kannte die nächsten Bekannten oft nicht wieder. So wie er motorisch besonders ungeschickt war, so blieb er auch in seinem ganzen Benehmen krass ungeschickt und unangepasst ... In der Schule gab es große Schwierigkeiten, er lernte nichts oder
lernte nicht so, wie der Lehrer gerade wollte.
Schon im Kleinkindesalter zeigte sich bei diesem Menschen eine ganz ungewöhnliche mathematische Begabung, die spontan aus ihm hervorbrach. Durch Fragen, denen man nicht ausweichen konnte, erwarb er sich von den Erwachsenen das nötige Wissen, das er dann ganz selbstständig verarbeitete. So wird aus seinem 3. (!) Lebensjahr folgende Szene berichtet:
Das Gespräch war eines Tages auf Vielecke gekommen. Die Mutter musste ihm ein Dreieck, ein
Viereck und ein Fünfeck in den Sand zeichnen. Da nimmt er selber den Stab, zieht einen Strich
und sagt: „Das ist ein Zweieck, nicht?“, macht einen Punkt und sagt: „Und ist das ein Eineck?“ –
Das ganze Spiel, das ganze Interesse des Knaben war auf die Mathematik ausgerichtet. Vor seiner Einschulung konnte er bereits Kubikwurzeln ziehen – es wird immer wieder betont, dass
die Eltern gar nicht daran dachten, dem Kind etwa mechanisch unverstandene Rechenfertigkeiten einzutrichtern, sondern dass er von sich aus diese Beschäftigung, auch gegen den Widerstand seiner Erzieher, geradezu erzwang. Im Gymnasium überraschte er seine Lehrer durch sein
bis in die abstraktesten Gebiete vordringendes mathematisches Sonderwissen, dem er es auch
verdankte, dass er trotz seines oft unmöglichen Benehmens und seines Versagens in anderen
Gegenständen ohne Aufenthalt durch die Matura kam.
Nicht lange nach Beginn seines Hochschulstudiums – er hatte sich die theoretische Astronomie
als Fach gewählt – wies er einen Berechnungsfehler Newtons nach. Sein Lehrer riet ihm, diese
Entdeckung zur Grundlage seiner Dissertation zu machen. Von vornherein stand bei ihm fest,
sich der akademischen Laufbahn zu widmen. In ungewöhnlich kurzer Zeit wurde er Assistent
an einem Hochschulinstitut für Astronomie und erreichte seine Habilitation (zitiert aus Asperger 1956).
18.7 Psychosen im Kindes- und Jugendalter
▶ Synonym. infantile Psychosen, Very Early Onset Schizophrenia (VEOS), juvenile
Im Erwachsenenalter tritt das Erscheinungsbild gelegentlich etwas zurück. Auch dann besteht aber geringere Beziehungsfähigkeit und
mangelnde Empathie.
▶ Klinischer Fall.
18.7
Psychosen im Kindes- und
Jugendalter
▶ Synonym.
Psychosen, Early Onset Schizophrenia (EOS) .
▶ Definition. Schwere psychische Störungen, die durch beeinträchtigte Beziehungen
zur Innen- und Außenwelt, Störungen des Antriebs und der Interessen sowie umschriebene Symptome wie Depression, Manie, Denk- und Sprachstörungen, Halluzinationen und Wahn gekennzeichnet sind.
Historisches: Der Begriff der kindlichen Psychose wurde lange Zeit als Oberbegriff
für zahlreiche ausgeprägte, aber unterschiedliche psychische Störungen verwendet.
Inzwischen hat eine nosologische Differenzierung stattgefunden: Kindliche Psychosen werden von anderen schweren psychischen Störungen des Kindesalters, z. B. au-
▶ Definition.
Historisches: Psychosen des Kindes- und Jugendalters werden von tief greifenden Entwicklungsstörungen (S. 461) abgegrenzt.
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se nicht vorhanden oder herstellbar und gelingt kein Schulabschluss, bleiben die
Betroffenen Sonderlinge oder erfolglose Privatgelehrte. Im günstigen Fall finden
sich soziale oder berufliche Nischen, die der Kultivierung der Spezialinteressen
Raum bieten und die Existenz der autistischen Züge kupieren können.
468
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Epidemiologie: Im Kindesalter sind manischdepressive und schizophrene Psychosen sehr
seltene Störungen. Im Jugendalter nimmt vor
allem die Häufigkeit der schizophrenen Psychosen zu.
In geringerem Ausmaß nehmen auch die
affektiven oder bipolaren Psychosen im
Jugendalter zu.
Symptomatik: Im Kindesalter ist die Diagnose oft schwierig, da typische Symptome häufig wenig ausgeprägt sind oder ganz fehlen.
Die Kriterien sind im Kap. „Affektive Störungen“ (S. 89) und „Schizophrene Psychosen“
(S. 156) nachzulesen.
Im Jugendalter nähert sich die Symptomatik
der Psychosen den klassischen Kriterien an.
Häufigste Form ist auch hier der paranoidhalluzinatorische Subtyp.
Auch bipolare Psychosen können vor allem
im Jugendalter noch eine untypische Ausprägung haben.
Epidemiologie: Schizophrene Psychosen kommen bei Kindern und Jugendlichen
häufiger und früher vor als affektive Psychosen. Dies liegt an unterschiedlichen Prozessen der Hirnreifung. Trotzdem sind Schizophrenien mit Beginn in der Kindheit
(VEOS) selten, manisch-depressive Störungen sind Raritäten. Etwa ab dem 12. Lebensjahr nimmt die Inzidenz der Schizophrenien kontinuierlich zu und erreicht ihr
Maximum zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Schizophrenien mit Beginn in der
Jugend (EOS) sind zwar immer noch seltene schwere Störungen, zählen aber im stationären Bereich der Jugendpsychiatrie bereits zu den häufigsten Diagnosen.
In geringerem Ausmaß nehmen auch die affektiven oder bipolaren Psychosen im Jugendalter zu. Reine Manien kommen, wie auch im Erwachsenenalter, am seltensten
vor. Die Ergebnisse einzelner Arbeitsgruppen über eine spezielle kindliche Form der
bipolaren Störungen in Komorbidität zum ADHS haben noch zu keinem Konsens geführt. Bipolare Störungen bleiben damit Störungen, die bevorzugt bei Jugendlichen
und Erwachsenen auftreten.
Etwa 10 % der Schizophrenien sollen sich vor dem 18. Lebensjahr manifestieren, zuverlässige epidemiologische Daten über Psychosen des Kindes- und Jugendalters
fehlen jedoch.
Symptomatik: Die Psychosen sind eine große Gruppe unterschiedlicher Störungen,
die in mehrere Untergruppen aufgeteilt werden. Die Kriterien sind im Kap. „Affektive Störungen“ (S. 89) und „Schizophrene Psychosen“ (S. 156) nachzulesen. Die traditionelle Unterscheidung von endogenen und exogenen Psychosen ist ist zwar immer noch sinnvoll, aber international nicht mehr gebräuchlich. Zu den endogenen
Psychosen zählen die schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen sowie – von
den affektiven Störungen – die uni- oder bipolaren manisch-depressiven Störungen
(auch affektive Psychosen genannt). Obwohl in den Klassifikationssystemen keine
eigenen Kriterien für Psychosen im Kindes- und Jugendalter angegeben werden, besteht kein Zweifel daran, dass die psychotische Symptomatik vor allem bei Kindern
von den klassischen Störungsbildern des Erwachsenenalters abweichen kann. So
sind bei den schizophrenen Psychosen Halluzinationen und Wahn im Kindesalter
häufig wesentlich weniger ausgeprägt und können für lange Phasen ganz fehlen. Im
Vordergrund stehen oft Symptome, die man in der klassischen Subtypologie der
Psychosen am ehesten der katatonen Schizophrenie zuordnen würde: Psychomotorische Unruhe oder Apathie, Grimassieren und Stereotypien. Unter den Halluzinationen finden sich oft solche, die sich auf den eigenen Körper beziehen (Leibhalluzinationen oder Zönästhesien). Die Kriterien für die im Jugend- und Erwachsenenalter wichtigsten schizophrenen Subtypen (paranoide, katatone, hebephrene Form)
werden nicht immer erreicht, sodass atypische, undifferenzierte oder desorganisierte Unterformen häufiger diagnostiziert werden.
Nach der Pubertät nähert sich die schizophrene Symptomatik langsam den typischen Konstellationen an. Paranoid-halluzinatorische Formen grenzen sich immer
deutlicher ab und sind auch im Jugendalter der häufigste Subtyp der Schizophrenie,
gefolgt von den Hebephrenien (hebe = Jugend, gr.).
Auch bipolare Störungen manifestieren sich im Jugendalter weniger typisch als im
Erwachsenenalter. Die Phasen sind oft kürzer („rapid cycling“) und weniger deutlich
ausgeprägt, komplette Remissionen und symptomfreie Intervalle seltener, chronische und rezidivierende Verlaufsformen häufiger. Auch Bipolar-II-Störungen (Hypomanie und Depression nach DSM-5) sollen bei Jugendlichen häufiger sein. Aus
diesem Grund ist die Prognose der bipolaren Störungen im Kindes- und Jugendalter
nicht wesentlich besser als die der schizophrenen Psychosen. Bei häufigen Episoden
kann es zudem zu ernsten Beeinträchtigungen der Schullaufbahn und der sozialen
Kontakte kommen, die nicht immer einholbar oder kompensierbar sind.
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tistische Störungen und andere tief greifende Entwicklungsstörungen (S. 461), abgegrenzt und stellen nur eine kleine Gruppe dar. Grundlage der differenziellen Psychopathologie sind eindeutige Befunde der Genetik und der Verlaufsforschung, die
gegen eine einheitliche Ätiologie von Psychosen und tief greifenden Entwicklungsstörungen sprechen.
469
18.7 Psychosen im Kindes- und Jugendalter
▶ Klinischer Fall. Bipolare Störung im Jugendalter
Die 15-jährige Jugendliche zeigte eine unauffällige Entwicklung und galt als ruhiges, gewissenhaftes Kind. Etwa 3 Monate vor stationärer Aufnahme erfolgte eine ambulante Vorstellung in
der psychiatrischen Ambulanz wegen Schulverweigerung. In der Folgezeit sei sie in der Schule
gemobbt worden, auf ihre Umwelt habe sie zerfahren, verwirrt und angetrieben gewirkt. Zu
Hause und in der Schule sei sie zunehmend lustlos und renitent gewesen. Wegen groben Unfugs
(Biertrinken während eines Schulfestes) wurde sie dann der Schule verwiesen (9. Klasse Gymnasium). Sie wechselte daraufhin auf das Nachbargymnasium, wurde dort aber bereits nach 1
Woche wieder der Schule verwiesen, da sie den Unterricht sprengte, dazwischen redete und
sich nicht steuern konnte. Auf die Gabe von Johanniskraut durch den Hausarzt sei sie gesprächiger geworden. Zeitweise habe sie nachts kaum noch geschlafen. Bei stationärer Aufnahme berichtete die Patientin von Stimmenhören, Körperhalluzinationen und dem Gefühl, dass es ihr
nicht gut gehe. Die Stimmung wirkte gehoben, jedoch nicht euphorisch, sondern eher moros –
verstimmt. Zu Beginn des stationären Aufenthaltes wurde der Differenzialdiagnose einer schizophrenen Psychose der Vorzug gegeben. Die Alternative einer manischen Störung wurde vorerst zurückgestellt. Die psychotische Symptomatik sistierte rasch nach Gabe eines atypischen
Antipsychotikums. Anschließend kam es zu nahezu täglichen Stimmungsschwankungen mit
vorwiegend nachmittäglich depressiver Stimmung. In der Folge war die Patientin antriebsarm,
dysphorisch, lustlos und klagte über Ängste in Belastungssituationen. Die differenzialdiagnostische Erwägung einer postschizophrenen Depression wurde verworfen und es erfolgte eine erneute medikamentöse Umstellung. Das Antipsychotikum wurde abgesetzt und stattdessen ein
Lithium-Präparat aufdosiert. Daraufhin besserte sich der Zustand der Patientin rasch und sie
wirkte wesentlich geordneter, jedoch immer noch antriebsarm und zeitweise dysphorisch. Nach
zusätzlicher Gabe von Lamotrigin entwickelt die Patientin innerhalb weniger Tage eine euthyme Stimmungslage, die bei Aufrechterhaltung einer spiegelkontrollierten niedrig dosierten Phasenprophylaxe mit Lithium und Lamotrigin bestehen blieb. Rückblickend wurde die Diagnose
einer bipolaren Störung mit initial psychotischer Manie, Rapid Cycling und zwischenzeitlich gemischten Zuständen gestellt.
▶ Klinischer Fall.
Neben den klassischen Psychoseformen können im Jugendalter auch seltene psychotische oder psychoseähnliche Störungen auftreten, die vor allem differenzialdiagnostische Bedeutung haben. Nahezu ausschließlich bei männlichen Jugendlichen tritt das Kleine-Levin-Syndrom auf mit der klassischen Symptomentrias periodische Hypersomnie, Megaphagie und diversen psychischen Symptomen, die teilweise psychotisch ausgeprägt sein können (Erregung, Irritierbarkeit,
Halluzinationen). Bei Mädchen treten gelegentlich periodische psychische Störungen auf, die in engem zeitlichem Kontext mit der Menstruation stehen. Die Symptomatik geht weit über den Schweregrad eines prämenstruellen Syndroms oder einer
prämenstruell dysphorischen Störung hinaus, zeigt eine überwiegend affektive Prägung, kann aber gelegentlich auch halluzinatorische und paranoide Symptome einschließen. Diese Störung zählt vermutlich zu den sog. Menstruationspsychosen und
wird im Jugendalter auch als „periodische Psychose der Pubertät“ bezeichnet. Sowohl das Kleine-Levin-Syndrom als auch die Menstruationspsychosen des Jugendalters haben eine überwiegend günstige Prognose.
Im Jugendalter können auch seltenere psychotische Störungen vorkommen. Das Kleine-Levin-Syndrom tritt fast nur bei männlichen Jugendlichen auf und ist durch die Trias
periodische Hypersomnie, Megaphagie und
diverse psychische Symptome gekennzeichnet. Bei Mädchen treten gelegentlich psychische Störungen auf, die im zeitlichen Kontext mit der Menstruation stehen. Die Symptomatik geht hierbei über ein prämenstruelles
Syndrom hinaus.
Differenzialdiagnose: Die verschiedenen psychotischen Störungen weisen je nach
Unterform und Manifestationsalter unterschiedliche differenzialdiagnostische Muster auf. Bei den seltenen affektiven Psychosen des Kindesalters kommen vor allem
andere affektive Störungen in Betracht (emotionale Störungen, Anpassungs- und Belastungsstörungen etc.). Im Jugendalter erweitert sich dieses Spektrum um Dysthymien, beginnende Persönlichkeitsstörungen (v. a. Borderline-Syndrom) und andere
psychotische Störungen. Bei den Schizophrenien des Kindesalters müssen vor allem
die schwerwiegenden Entwicklungsstörungen (Autismus, desintegrative Störungen), aber auch Mutismus, schwere Sprachentwicklungsstörungen und Intelligenzminderungen ausgeschlossen werden. Im Jugendalter ist die Differenzierung von
schizoaffektiven Störungen, Zwangsstörungen und dissoziativen Störungen erforderlich. Besonders wichtig ist bei Jugendlichen auch die Abgrenzung der Schizophrenien von drogeninduzierten Syndromen („exogene Psychosen“), die vor allem
bei Einnahme von Halluzinogenen (LSD, Pilze etc.), Ecstasy, Designerdrogen, Amphetaminen und Kokain, aber auch bei anderen Substanzen auftreten können. Dabei
sollte die Möglichkeit nicht übersehen werden, dass der steigende Substanzmissbrauch ein Symptom der schleichenden Manifestation der Psychose ist, die dann
auch ohne Drogen bestehen bleibt.
In den Klassifikationssystemen sind die früher häufig verwendeten Differenzialdiagnosen der Pubertäts- und Adoleszenzkrisen nicht mehr vertreten und sollten auch
Differenzialdiagnose: Die verschiedenen
psychotischen Störungen weisen je nach Unterform und Manifestationsalter unterschiedliche differenzialdiagnostische Muster auf.
■ Persönlichkeitsstörungen
■ schizoaffektive Störungen
■ drogeninduzierte psychotische Symptome
■ organische Störungen (z. B. Stoffwechselstörungen).
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B
470
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Therapie: Zusätzlich zu den bekannten therapeutischen Prinzipien (S. 114) ist Folgendes zu
beachten, vgl. auch Schizophrenie-Therapie
(S. 172):
■ Einbeziehung der Familie
■ Bedeutung der Schule
■ Erstdiagnose möglichst im stationären Rahmen
■ Einsatz neuer Psychopharmaka erfordert
häufig das Einverständnis der Eltern.
≡ B-18.19
Therapie: Die Therapie folgt denselben Prinzipien wie im Erwachsenenalter (S. 114),
vgl. auch Schizophrenie-Therapie (S. 172). Folgende Besonderheiten sind zu beachten:
■ Wie bei allen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters muss die Familie intensiv aufgeklärt und in die Behandlung einbezogen werden.
■ Die Schule und gute schulische Abschlüsse sind für die Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen von großer Bedeutung und stellen deshalb zentrale Therapieziele dar.
■ Aufgrund der besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sollte
bei Erstmanifestation eine stationäre Abklärung erfolgen.
■ Kinder und Jugendliche sind sensibler für Nebenwirkungen von Antipsychostika.
Neue, nebenwirkungsarme Antipsychotika und Antidepressiva sind aber für sie
oft noch nicht zugelassen, daher ergibt sich dann das Problem des „Off-Label-Use“
(Einsatz von Medikamenten ohne offizielle Zulassung für die Altersgruppe der
Kinder und Jugendlichen). Patient und Familie müssen daher gezielt informiert
und um Einverständnis beim Einsatz von Substanzen, gegen die ansonsten keine
Einwände bestehen, gebeten werden. Bei bipolaren Störungen ist auch in diesem
Alter die Langzeitbehandlung mit Lithium, neuen Antikonvulsiva und atypischen
Antipsychotika effektiv.
Außer in Notfallsituationen oder bei Unverträglichkeit können die in Tab. B-18.19
aufgeführten Antipsychotika und Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen
(S. 449) eingesetzt werden, wobei Kindern meist niedrigere Dosen als Jugendlichen
oder Erwachsenen gegeben werden. Eine Langzeit- oder Dauerbehandlung mit Antipsychotika sollte aufgrund der noch unbekannten Auswirkungen auf die Hirnreifung im Kindesalter auf solche Fälle beschränkt werden, die eine solche Medikation
unbedingt benötigen.
Ist mit diesen Substanzen kein zufriedenstellendes Behandlungsergebnis erreichbar,
können auch Clozapin und traditionelle Neuroleptika (z. B. Haloperidol) bzw. trizyklische Antidepressiva (Clomipramin, Amitriptylin) verabreicht werden. Kombinationen oder Augmentationen mit niedrigpotenten Neuroleptika oder Benzodiazepinen bzw. die Gabe von Phasenprophylaktika oder Mood Stabilizern (Lithium, Lamotrigin) folgen denselben Regeln wie im Erwachsenenalter.
≡ B-18.19
Auswahl an Antipsychotika und Antidepressiva, die bei Kindern und
Jugendlichen zum Einsatz kommen können (überwiegend off-label)
Generikname
Handelsname
Dosierungsempfehlungen
(Tagesdosis)
Antipsychotika
Amisulprid
Aripiprazol
Olanzapin
Quetiapin
Risperidon
Ziprasidon
Solian
Abilify
Zyprexa
Seroquel
Risperdal
Zeldox
300–900 mg
10–30 mg
10–20 mg
100–900 mg
2–4 mg
20–80 mg
Antidepressiva
Duloxetin
Escitalopram
Fluoxetin
Mirtazapin
Moclobemid
Sertralin
Cymbalta
Cipralex
Fluctin
Remergil
Aurorix
Zoloft
30–60 mg
10–20 mg
5–20 mg
5–30 mg
300–600 mg
50–100 mg
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nicht verwendet werden. Vorzuziehen ist eine möglichst präzise Beschreibung des
psychopathologischen Befundes und eine Klassifikation nach den aktuellen Kriterien. Dabei kommen vor allem beginnende Persönlichkeitsstörungen (S. 383), z. B.
schizoide, paranoide, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, in Betracht.
Differenzialdiagnosen, die man im Kindes- und Jugendalter üblicherweise nicht antrifft, sind demenzielle Störungen (Morbus Alzheimer), Auswirkungen von chronischem Substanzmissbrauch (Korsakow-Syndrom) und zerebrale Komplikationen
somatischer Grunderkrankungen wie Hypertonie oder Diabetes. Trotzdem gehört
die gründliche organische Abklärung gerade bei Erstmanifestationen von Psychosen
zu den zentralen ärztlichen Aufgaben, da in jedem Alter somatische Störungen mit
hirnorganischer Beteiligung bzw. Infektionen, Tumoren oder andere Erkrankungen
des ZNS auftreten können.
471
18.8 Expansive Verhaltensstörungen
Verlauf: Der Verlauf der Psychosen des Kindes- und Jugendalters ist ungünstiger als
im Erwachsenenalter. Dies gilt am sichersten für die Schizophrenien, aber auch für
die bipolaren Störungen. Je früher die Erstmanifestation eintritt, desto ausgeprägter
sind prämorbide Auffälligkeiten, schleichender Beginn, spätere Minussymptomatik
und postakute Residualzustände. Ein erheblicher Teil der Patienten mit VEOS und
EOS nimmt nach der ersten akuten Episode einen ungünstigen Verlauf, was dazu
führt, dass sie lange Zeit nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können,
nur selten Partnerschaften eingehen und langfristig auf Medikamente und rehabilitative Strukturen angewiesen bleiben. Die Suizidalität ist bei psychotischen Kindern
und Jugendlichen noch nicht erhöht, nimmt aber im jungen Erwachsenenalter, vor
allem bei Männern, deutlich zu.
Die Früherkennung der schizophrenen Psychosen und die Erkennung von Hochrisikopersonen ist wichtig, oft aber dadurch erschwert, dass in den prämorbiden
und akuten Phasen, die bei Jugendlichen anzutreffen sind, affektive Symptome wie
Angst, Depression und Konzentrationsstörungen im Vordergrund stehen, Halluzinationen und paranoide Symptome häufig verleugnet werden und die Diagnose deshalb verborgen bleibt. Die zunehmenden Prodromi führen häufig bereits vor Krankheitsbeginn trotz ausreichender Intelligenz zu einem Leistungsknick.
Verlauf: Die Prognose der im Jugendalter beginnenden Psychosen ist ungünstiger als im
Erwachsenenalter.
Affektive Störungen wie Angst und Depression stehen vor oder während der Erstmanifestation häufig im Vordergrund. Bereits vor der
ersten akuten Episode ist oft ein Leistungsknick zu beobachten.
18.8 Expansive Verhaltensstörungen
18.8
18.8.1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS)
18.8.1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Expansive Verhaltensstörungen
▶ Synonym. Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD), Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder -syndrom mit Hyperaktivität,
Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivitätsstörung.
▶ Synonym.
▶ Definition. Als hyperkinetisch wird ein Kind bezeichnet, das eine für sein Alter
und seine kognitive Entwicklung beeinträchtigte Aufmerksamkeit, ausgeprägte motorische Hyperaktivität, erhöhte Impulsivität sowie eine erhöhte Ablenkbarkeit aufweist. Die Symptombereiche lassen sich bereits vor dem 12. (DSM-5) bzw. 7. (ICD10) Lebensjahr beobachten und treten situationsübergreifend auf (Tab. B-18.20).
▶ Definition.
Klassifikation: Die ICD-10 bzw. das DSM-5 fordern für die Diagnosestellung der hyperkinetischen Störungen (F90.0) das Vorliegen der Kardinalsymptome „beeinträchtigte Aufmerksamkeit“ (ICD-10) bzw. „Unaufmerksamkeit“ (DSM-5) und „Überaktivität“ (ICD-10) bzw. „Hyperaktivität-Impulsivität“ (DSM-5) in mehr als einer Situation (z. B. zu Hause, in der Klasse), das Bestehen dieser Symptomatik über eine längere Zeit (beständig in den letzten 6 Monaten, in einem mit dem Entwicklungsstand
nicht zu vereinbarenden Ausmaß) und das Auftreten bereits vor dem 7. Lebensjahr
(ICD-10) bzw. vor dem 12. Lebensjahr (DSM-5).
Das DSM-5 führt weiterhin eine Schweregradklassifikation in leicht, mittel und
schwer ein:
■ Leicht: Wenige oder keine Symptome zusätzlich zu denjenigen, die zur Diagnosestellung erforderlich sind. Die Symptome führen zu nicht mehr als geringfügigen
Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionen.
■ Mittel: Ausprägung der Symptome und der funktionellen Beeinträchtigung liegt
zwischen leicht und schwer.
■ Schwer: Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Diagnosestellung erforderliche Anzahl oder mehrere Symptome sind besonders stark ausgeprägt oder die
Symptome beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit.
Klassifikation: Ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit und Hyperaktivität, die über längere Zeit (6 Monate) besteht und in mehreren
Lebenssituationen auftritt, wird als hyperkinetische Störung (ICD-10) oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (DSM-5)
klassifiziert.
Epidemiologie: Die anhand von Metaanalysen gewonnenen zuverlässigen Schätzungen der Prävalenz liegen bei ca. 5 %. Damit gehört die hyperkinetische Störung/ADHS
zu den häufigen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen. Jungen sind deutlich
häufiger (2:1, m:w) betroffen als Mädchen. Die häufigste Störung ist vermutlich die
kombinierte Störung aus Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (hyperkinetische Störung). Mittels DSM-5-Klassifikation ist es nun möglich, den klinisch zunehmend häufiger zu beobachtenden unaufmerksamen Subtyp zu erfassen,
der häufiger Mädchen betrifft.
Epidemiologie: Die hyperkinetische Störung/
ADHS tritt mit einer Häufigkeit von ca. 5 %
auf. Jungen sind deutlich häufiger betroffen.
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B
472
≡ B-18.20
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Diagnostische Leitlinien der hyperkinetischen Störungen nach ICD-10 und diagnostische Kriterien der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-5 (Auszüge)
ICD-10
beinträchtigte Aufmerksamkeit
■
Aufgaben werden vorzeitig abgebrochen
■
Tätigkeiten werden nicht beendet
■
Kinder wechseln häufig von einer Tätigkeit zur anderen,
wobei sie anscheinend das Interesse an einer Tätigkeit
verlieren, weil sie zu einer anderen hin abgelenkt werden.
DSM-5
Unaufmerksamkeit
■
6 (oder mehr) der folgenden Symptome:
Beachte: Für ältere Jugendliche und Erwachsene (17 Jahre und älter) sind
mindestens 5 Symptome erforderlich.
– Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den
Schularbeiten oder bei anderen Tätigkeiten.
– Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben
oder beim Spielen aufrechtzuerhalten.
– Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn bzw. sie ansprechen.
– Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und bringt
Schularbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende.
– Vermeidet häufig, hat eine Ablehnung gegen oder beschäftigt sich nur
widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen
erfordern.
– Verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden.
– Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.
– Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
Überaktivität
■
Exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die Ruhe
verlangen. Diese kann sich äußern in:
Hyperaktivität und Impulsivität
■
– Herumlaufen oder Herumspringen
6 (oder mehr) der folgenden Symptome:
Beachte: Für ältere Jugendliche und Erwachsene sind mindestens 5
Symptome erforderlich.
– Aufstehen, wenn dazu aufgefordert wurde, sitzen zu
bleiben
– Zappelt häufig mit Händen und Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.
– ausgeprägter Redseligkeit
– Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies
unpassend ist.
– Steht oft in Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.
– Lärmen, Wackeln und Zappeln
– Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen.
Folgende Begleitmerkmale sind für die Diagnose nicht
notwendig, stützen sie jedoch:
■ Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen
■
Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen
■
impulsive Missachtung sozialer Regeln
– Ist häufig "auf dem Sprung" oder handelt oftmals als wäre er oder sie
getrieben.
– Redet häufig übermäßig viel.
– Platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
– Kann häufig nur schwer warten, bis er bzw. sie wieder an der Reihe ist.
– Unterbricht oder stört andere häufig.
Bestimme, ob:
■ gemischtes Erscheinungsbild (F90.2): Sowohl das Kriterium der Unaufmerksamkeit als auch das Kriterium der Hyperaktivität-Impulsivität war
während der letzten 6 Monate erfüllt.
■
vorwiegend unaufmerksames Erscheinungsbild (F90.0): Kriterium der
Unaufmerksamkeit, aber nicht Kriterium der Hyperaktivität-Impulsivität war
während der letzten 6 Monate erfüllt.
■
vorwiegend hyperaktiv-impulsives Erscheinungsbild (F90.1): Kriterium
der Hyperaktivität-Impulsivität, aber nicht das Kriterium der Unaufmerksamkeit war während der letzten 6 Monate erfüllt.
Bestimme, ob:
■ teilremittiert: Wenn die Kriterien früher vollständig erfüllt worden sind, in
den letzten 6 Monaten jedoch nicht alle notwendigen Kriterien erfüllt
wurden und die Symptome immer noch eine Beeinträchtigung des sozialen,
schulischen und beruflichen Funktionsniveaus verursachen.
ICD-10: Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische
Leitlinien. 9. Auflage; Verlag Hans Huber, Bern 2014
DSM-5: Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013
American Psychiatric Association, dt. Version © 2015 Hogrefe Verlag
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– Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.
B
⊙ B-18.5
473
18.8 Expansive Verhaltensstörungen
⊙ B-18.5
Ursachenmodell des ADHS
genetische Faktoren,
Gen-Umwelt-Interaktion
neurobiologische Korrelate
in Form von veränderten
Hirnfunktionen
ADHS
Ätiologie: Es besteht eine genetische Disposition zur ADHS. Die Heritabilität wird
auf ca. 70 % geschätzt. Durch das Zusammenwirken von Umweltfaktoren und hirnfunktionellen Prozessen der Aufmerksamkeit und der Handlungsplanung können
ADHS-Symptome durch diese Interaktion verstärkt werden (Abb. B-18.5).
Ergebnisse aus MRT- und fMRT-Studien unterstützen die Annahme, dass der ADHS
eine strukturelle und funktionelle Störung präfrontaler Hirnregionen zugrunde
liegt. Abhängig von der Aufgabenstellung (z. B. selektive Aufmerksamkeit, Antwortunterdrückung als Korrelat wichtiger Inhibitionsprozesse) finden sich Aktivierungsunterschiede in verschiedenen kortikalen Arealen (frontalen und parietalen Hirnregionen). Eine Minderaktivierung in frontostriatalen Netzwerken korrespondiert
sehr gut mit den neurochemischen Befunden einer geringeren striatalen dopaminergen Transmission in diesen Hirnregionen.
Bei Kindern mit einer ADHS zeigt sich eine verminderte Aktivierung bei Aufgaben
zur selektiven Aufmerksamkeit über parietalen Hirnregionen. Auch molekulargenetische Befunde unterstützen die Bedeutung des dopaminergen Systems für die Entstehung der Aufmerksamkeitsstörung, der erhöhten Impulsivität und der Hyperaktivität. Es besteht eine Assoziation des Dopamin-D 4-Rezeptors (7-Repeat-Allel) und
der HKS. Andere Studien unterstützen die Bedeutung des Dopamin-Transportergens
(DAT 1) für die ADHS. Liegen Umweltrisikofaktoren vor, wie z. B. Alkohol- oder Nikotinabusus der Mutter während der Schwangerschaft, erhöht sich das Risiko für das
Kind, eine ADHS zu entwickeln, z. T. moduliert durch das Vorliegen eines bestimmten DAT-Polymorphismus.
Viel diskutiert und populär sind Theorien über einen Zusammenhang verschiedener
Nahrungsmittelbestandteile (z. B. Farbstoffe, Konservierungsmittel) und einer
ADHS. Die oligoantigene Diät ist sehr verbreitet, auch wenn der Zusammenhang
zwischen der Reduktion bestimmter Nahrungsmittel und dem Verhalten bzw. der
Verhaltensänderung bisher pathophysiologisch nicht verstanden ist. Die Evidenz für
die Nahrungsmitteleinschränkung als Behandlungsoption für die ADHS ist sehr gering.
Ätiologie: Es besteht eine genetische Disposition zur ADHS, die sich im Zusammenhang mit Umweltfaktoren (z. B. perinatale
Risikofaktoren in Form von Alkohol, Nikotin)
auf hirnfunktionelle Prozesse der Aufmerksamkeitskontrolle (parietale Hirnregion) und
der Handlungsplanung (frontale Hirnregionen) auswirkt (Abb. B-18.5). Eine relevante
Rolle spielt hierbei das dopaminerge Neurotransmittersystem.
Symptomatik: Siehe Tab. B-18.20.
Symptomatik: Siehe Tab. B-18.20.
Bisher liegen keine gesicherten Befunde vor,
die den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelbestandteilen und einer ADHS erklären
können.
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neuropsychologische
Korrelate der gestörten
Aufmerksamkeit,
Handlungsplanung und -steuerung
B
18 Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen
Komorbidität: Schulische Entwicklungsstörungen/spezifische Lernstörungen, depressive
Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Tic-Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, disruptive Affektregulationsstörungen.
Komorbidität: Komorbide Störungen treten sehr häufig auf und beeinflussen die
Entwicklung und psychosoziale Integration nachhaltig. Für die Therapieplanung ist
das Erkennen komorbider Störungen sehr wichtig. Schulische Entwicklungsstörungen (Lese-Rechtschreib-Störung, Rechenstörung, motorische Entwicklungsstörung)
werden mit einer Häufigkeit von bis zu 40 % gefunden. Weitere komorbide Störungen sind depressive Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Tic-Störungen
und Störungen des Sozialverhaltens und disruptive Affektregulationsstörungen.
Diagnostik: Neuropsychologische Testverfahren ermöglichen, differenziert die Komponenten der Aufmerksamkeit, der exekutiven Funktionen und des Gedächtnisses zu erfassen. Mithilfe von standardisierten Selbstund Fremdbeurteilungsbögen wird das Verhalten zu Hause, in der Schule oder im Kindergarten beurteilt.
Diagnostik: Die Diagnostik einer ADHS umfasst verschiedene Bausteine, die alle relevant für eine valide und reliable Diagnosestellung sind. Im Vordergrund der Diagnostik stehen die genaue Verhaltensbeobachtung in verschiedenen Situationen (zu
Hause, im Kindergarten oder der Schule), die ausführliche Anamnese mit den Eltern,
die Exploration des Kindes, die Fremdanamnese und der psychopathologische Befund. Zur Dokumentation der Verhaltensbeobachtung werden standardisierte
Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen eingesetzt, z. B. der Fremdbeurteilungsbogen
für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, den Eltern, Lehrer und Erzieher anwenden können.
Weitere wesentliche Bestandteile der Diagnostik sind psychometrische Verfahren
zur Erfassung der Intelligenz, Verfahren zur Erfassung komorbider schulischer Entwicklungsstörungen sowie neuropsychologische Verfahren zur Messung der verschiedenen Komponenten der Aufmerksamkeit, der Impulskontrolle, des Arbeitsgedächtnisses, der Handlungsplanung und der Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Die internistische und neurologische Untersuchung gehören ebenfalls zur Standarddiagnostik. Der Ausschluss organisch begründeter Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen kann eine EEG- und/oder MRT-Untersuchung notwendig machen.
Bevor eine Behandlung mit Methylphenidat begonnen wird, sollten die Herzfunktionen unter Einschluss eines EKGs untersucht werden.
Eine internistische und neurologische Untersuchung ist zum Ausschluss organisch bedingter Verhaltensstörungen notwendig.
Differenzialdiagnose:
■ Hyperaktivität-Impulsivität bei Intelligenzminderung, fetalem Alkoholsyndrom,
organischem Psychosyndrom, Bindungsstörung mit Enthemmung, bei Störung mit oppositionellem Trotzverhalten oder intermittierender explosiver Störung, disruptive Affektregulationsstörung, Tic-Störung, Intoxikation, Hyperthyreose, gesteigerte
motorische Aktivität im Rahmen einer manischen oder hypomanischen Phase oder
impulsive und aggressive Durchbrüche bei
einer Autismus-Spektrum-Störung.
■ Aufmerksamkeitsstörung im Rahmen
einer organischen Hirnerkrankung, eines
Substanzmissbrauchs, einer psychotischen
Entwicklung, depressiven Störung, Angststörung, posttraumatischen Belastungsstörung oder Medikamentennebenwirkung
(z. B. Antihistaminika).
▶ Merke.
Differenzialdiagnose: Die differenzialdiagnostische Abgrenzung stellt, in Abhängigkeit vom Entwicklungsalter des Kindes, eine besondere Herausforderung dar, um
häufige Fehldiagnosen zu vermeiden.
Bei Vorschulkindern ist die Abgrenzung einer Autismus-Spektrum-Störung wichtig,
da manche Verhaltensweisen, wie z. B. Wutanfälle im Rahmen von Veränderungen
im sozialen Umfeld oder der Abweichung von erwarteten Ereignisabläufen, fälschlicherweise als Teil einer ADHS-Symptomatik gesehen werden. Bei Jugendlichen
muss die ADHS von der Borderline-Störung, die mit starker innerer Unruhe und Angespanntheit verbunden ist, abgegrenzt werden.
Bei Schulkindern können hyperaktives Verhalten und Unaufmerksamkeit im Rahmen einer schulischen Über- oder auch Unterforderung auftreten. Zur Abklärung
sind eine umfassende Intelligenz- und schulische Kompetenzdiagnostik notwendig.
Ferner ist bei Hyperaktivität-Impulsivität an ein fetales Alkoholsyndrom, organisches Psychosyndrom, eine Bindungsstörung mit Enthemmung, Tic-Störung, Störung mit oppositionellem Trotzverhalten oder intermittierende explosive Störung,
disruptive Affektregulationsstörung sowie an eine Intoxikation, Hyperthyreose oder
gesteigerte motorische Aktivität im Rahmen einer manischen oder hypomanischen
Phase zu denken.
Aufmerksamkeitsstörungen im Rahmen einer Epilepsie (z. B. sehr kurze Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität bei Absence-Epilepsie), im Rahmen einer Gehirnerkrankung (Tumor oder Folge eines Schädel-Hirn-Traumas), infolge eines Substanzmissbrauchs, im Rahmen einer psychotischen Entwicklung, depressiven Störung, Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung müssen abgegrenzt
werden. Zu den Medikamenten, die Aufmerksamkeit und Konzentration beeinflussen können, gehören Antiasthmatika, Antihistaminika, Steroide und Sympathomimetika.
▶ Merke. Die Diagnose einer ADHS setzt umfassendes fachärztliches Wissen voraus
und ist in jedem Fall multimodal und nicht auf die Erfassung der Symptomatik mittels Fragebogen begrenzt.
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475
18.8 Expansive Verhaltensstörungen
Therapie: Zu Beginn der Behandlung steht die Information über das Störungsbild,
die Diagnose, mögliche Ursachen, den Verlauf und die Behandlungsmethoden. Die
Entlastung der Eltern von Schuldgefühlen, die häufig über mehrere Jahre mit verschiedenen Erziehungsmethoden versucht haben, ihr Kind zu strukturieren und
einzugrenzen, steht im Vordergrund und bildet die Basis für die zukünftige Zusammenarbeit. Erzieher und Lehrer sollten unbedingt in die Aufklärung und Beratung
einbezogen werden. Die Planung der Intervention im Kindergarten und in der Schule zur Reduktion der problematischen Verhaltensweisen sollte koordiniert verlaufen
und in ein Gesamtbehandlungskonzept eingebunden sein.
Die Pharmakotherapie sollte mit Methylphenidat (MPH), dem Medikament der 1.
Wahl, durchgeführt werden. Die stärksten Effekte zeigen sich in der Verhaltensänderung, etwas geringer im Bereich der Aufmerksamkeit, am geringsten bei der
Kognition und der schulischen Leistungsfähigkeit. Außerdem zeigen sich eine Verbesserung der sozialen Integration sowie Verminderung aggressiver Verhaltensweisen. Bei Nichtansprechen auf MPH steht Dexamphetamin als zweite wirksame Substanz zur Verfügung. Zu den unerwünschten Nebenwirkungen, die meist initial und
dosisabhängig auftreten, gehören Einschlafstörungen, Appetitminderung sowie geringfügige Puls- und Blutdrucksteigerung. MPH löst keine psychische oder körperliche Abhängigkeit aus.
Bei den Psychotherapieverfahren liegt die höchste Evidenz für verhaltenstherapeutische Interventionen vor. Zu den Bausteinen der Verhaltenstherapie gehören nach
der Problemdefinition und -identifikation bei jüngeren Kindern die Spieltherapie,
bei älteren Kindern das Selbstinstruktionstraining, das Selbstmanagement und die
Entwicklung von selbstständigen Bewältigungsstrategien. Im Rahmen eines Kontingenzmanagements kommen Verstärkungsmethoden (z. B. Token-System) zum Einsatz. Durch positive sowie negative Verstärker, durch eltern- und familienzentrierte
Methoden wird der individuelle therapeutische Ansatz verstärkt. Der Transfer der
neu erlernten Verhaltensweisen in die Schule setzt eine enge Kooperation mit der
Schule und die Möglichkeit der Integration verhaltenstherapeutischer Elemente in
den Unterricht voraus. Im Vergleich zur Pharmakotherapie sind die Effekte der Verhaltenstherapie geringer, die Kombination beider Behandlungen wird empfohlen.
▶ Informationen zur Evidenz. Für die medikamentöse Behandlung der ADHS mit Methylphenidat oder Dexamphetamin liegt eine hohe Evidenz vor. Von ca. 30 % Nonrespondern abgesehen
gelingt es meistens, die Symptomatik wesentlich zu bessern (Evidenzgrad Ia). In der Regel wird
jedoch eine multimodale Behandlung durchgeführt, die zusätzlich zur Medikation als weitere
Bausteine noch Beratung, Psychoedukation, Einzeltraining (Hausaufgaben!) und Elterntraining
enthält.
Verlauf: Abhängig vom Erkrankungsalter, von der Schwere der Störung, dem Vorliegen komorbider Störungen und den individuellen und familiären Ressourcen stellen
sich die Verläufe unterschiedlich dar. Die Persistenz ist besonders hoch (bis zu 60 %),
wenn die Schwere der Störung sehr ausgeprägt ist; bei leichtem oder mittlerem
Schweregrad liegt sie zwischen 10 und 30 %. Nicht selten haben die Kinder und Jugendlichen, die die diagnostischen Kriterien im Verlauf nicht mehr erfüllen, eine
sehr beeinträchtigende Restsymptomatik oder einen hohe Belastung durch eine andere psychische Störung. Im Vordergrund steht hier die Störung des Sozialverhaltens
mit oppositionellen Verhaltensweisen, die die psychosoziale Integration und die Familien der betroffenen Jugendlichen nachhaltig beeinträchtigen kann. Faktoren, die
den Verlauf negativ beeinflussen, sind zusätzlich eine niedrige soziale Schicht der
Familie, geringere kognitive Fähigkeiten, Probleme in der Beziehungsgestaltung in
der Gruppe Gleichaltriger, elterliche psychiatrische Störung (ADHS, Substanzmissbrauch, Störung des Sozialverhaltens), frühe gestörte Eltern-Kind-Interaktion und
schulische Lern- und Leistungsstörung.
Besteht die ADHS auch noch im Erwachsenenalter, weist es eine hohe Komorbidität
mit Delinquenz, Sucht- und Persönlichkeitsstörungen auf. Im Vordergrund der
Symptomatik steht die Aufmerksamkeitsstörung, die motorische Unruhe und Hyperaktivität sind von untergeordneter Bedeutung. Sofern andere Therapieformen
nicht effizienter sind, sollte die Stimulanzientherapie in diesen Fällen fortgesetzt
werden. Im Erwachsenenalter ist bisher nur eine Substanz mit dem Wirkstoff MPH
zugelassen, sodass oft eine Medikamentenumstellung notwendig wird.
Therapie: Die Therapie beinhaltet psychoedukative, pharmakologische und psychotherapeutische Ansätze unter Einbezug des Kindes, seiner Eltern und des psychosozialen Umfelds.
Die wirksamste Substanz zur Reduktion der
Verhaltensauffälligkeiten und Verbesserung
der Aufmerksamkeit ist Methylphenidat
(MPH). Bei Nichtansprechen sollte als 2. Wahl
Dexamphetamin verabreicht werden.
Bestandteile der Verhaltenstherapie (VT)
sind bei jüngeren Kindern die Spieltherapie,
bei älteren Kindern das Selbstinstruktionstraining, das Selbstmanagement und die Entwicklung von selbstständigen Bewältigungsstrategien. Im Vergleich zur Pharmakotherapie sind die Effekte der VT geringer, die Kombination beider Behandlungen wird
empfohlen.
▶ Informationen zur Evidenz.
Verlauf: Der Verlauf der ADHS wird durch
den Schweregrad, dem Vorliegen komorbider
Störungen und dem Vorhandensein individueller und familiärer Ressourcen stark beeinflusst.
Persistiert die ADHS bis ins Erwachsenenalter,
besteht ein hohes Risiko für eine Entwicklung
mit Delinquenz, Sucht- und Persönlichkeitsstörungen.
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