Psychiatrische Epileptologie Psychiatrie für Epileptologen - Epileptologie für Psychiater von Bettina Schmitz, Michael Trimble 1. Auflage Thieme 2005 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 13 133221 9 Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG 58 1 Klinik Abb. 1.2.7.1 Psychogene Störungen: Terminologie. Somatisierung eines unbewussten, unerträglichen, seelischen Konfliktes Konversionsstörung somatoforme Störung Symptome, die eine körperliche Störung nahelegen, ohne dass organische Befunde vorliegen dissoziative Störung Störung der integrativen Funktionen der Identität, des Gedächtnisses oder des Bewusstseins nistischen Störungen, die Hypochondrie und die Somatisierungsstörung zu finden sind. Im amerikanischen DSM-IV ist die Zuordnung ganz anders. Hier ist die Konversionsstörung als eigenständige Diagnose erhalten worden als eine von zwei wesentlichen Varianten der somatoformen Störung (American Psychiatric Association 2000). Psychogene Anfälle dürfen dann in Abhängigkeit von assoziierten diagnostischen Kriterien hier oder dort klassifiziert werden. Im amerikanischen System wird der entscheidende Wert auf den Ausschluss einer organischen Genese gelegt ± das entspricht auch einer juristischen Perspektive. Im Unterschied dazu wird im ICD-10 die Konversions- bzw. dissoziative Störung durch die psychologische Verursachung positiv definiert (Weltgesundheitsorganisation 1991). Die dissoziativen Störungen beschreiben im DSM-IV eine eigene Gruppe mit Störungen, bei denen es primär zu einer Veränderung des Gedächtnisses, des Bewusstseins oder der Persönlichkeit kommt. Hier sind also solche pseudoneurologischen Störungen, bei denen primär die Motorik betroffen ist, z. B. konvulsive psychogene Anfälle, nicht als dissoziative Störung zu klassifizieren. 1.2.7.3 Epidemiologie Jeder vierte Patient, der mit der Verdachtsdiagnose epileptischer Anfälle in einer Epilepsieambulanz vorgestellt wird, und jeder fünfte Patient, der wegen einer pharmakoresistenten Epilepsie im Video-EEG untersucht wird, hat psychogene nichtepileptische Anfälle (Blumer et al. 1995). Der Pseudostatus epilepticus ist der häufigste Grund für einen vermeintlich pharmakoresistenten Status epilepticus (Shorvon 1994). Die Prävalenz liegt bei 2 bis 33/100 000, die Inzidenz bei 1,4 bis 3/100 000 Personen (Benbadis und Hauser 2000, Sirgurdatottir und Olafsson 1998). Damit sind epileptische Anfälle etwa 25-mal häufiger als psychogene nichtepileptische Anfälle. In Anbetracht der häufigen Fehldiagnosen sind die epidemiologischen Daten allerdings zurückhaltend zu werten. Psychogene nichtepileptische Anfälle entwikkeln sich überwiegend erst nach der Pubertät (Abb. 1.2.7.2). Sie sind am häufigsten im jungen Erwachsenenalter, kommen aber auch im Senium vor (typisch sind psychogene Sturzanfälle mit hohem Fehldiagnoserisiko). Ein Erkrankungsbeginn vor dem 10. Lebensjahr ist selten, eine Manifestation vor dem 5. Lebensjahr eine absolute Rarität, es sei denn, man wertet die kindlichen Schreianfälle und ¹Tantrumsª als dissoziative Anfälle. Frauen sind mit einem Anteil von etwa 75 % häufiger betroffen als Männer. Freud erklärte die weibliche Prädilektion durch unerfüllte sexuelle Wünsche bzw. ödipale Konflikte. Andere Autoren erklärten die Häufung psychogener Anfälle bei Frauen durch die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft als dissoziative Reaktion auf Gefühle der Ohnmacht, Wut und Angst, eine im Unterschied zu gezielten aggressiven Handlungen bei Frauen gesellschaftlich besser akzeptierte Reaktionsform. Kombinationen epileptischer und psychogener nichtepileptischer Anfälle sind gerade in epi- Schmitz, Trimble, Psychiatrische Epileptologie (ISBN 313133221), 2005 Georg Thieme Verlag KG 1.2 Psychiatrische Störungen bei Epilepsien 120 Manifestationsalter Diagnosealter Anzahl der Patienten 100 80 60 40 20 0 0–9 10–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 > 70 59 Abb. 1.2.7.2 Manifestations- und Diagnosealter psychogener nichtepileptischer Anfälle. 313 konsekutiv an der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn diagnostizierte Patienten (April 1991 bis April 2001). 212 Patienten hatten nur psychogene nichtepileptische Anfälle, 101 Patienten zusätzlich epileptische Anfälle. Weitere Einzelheiten zu Patientengruppe und Diagnoselatenz: Reuber M. et al. 2002. Alter in Jahren leptologischen Zentren nicht ungewöhnlich. Etwa 10% der Epilepsiepatienten, die in spezialisierten Abteilungen behandelt werden, haben zusätzlich psychogene Anfälle. Besonders häufig betroffen sind lernbehinderte Patienten. 1.2.7.4 Diagnose Entscheidend für die Diagnose sind die Anamnese und die Anfallsbeobachtung. Letztere kann im Zweifel durch eine Videoaufzeichnung, optimal mit simultaner EEG-Registrierung, erleichtert werden. Manchmal lassen sich nur in der Videoaufzeichnung psychogene Anfallselemente erfassen (z. B. in der Zeitlupe sichtbare Schutzreflexe bei Sturzanfällen). Auch bei dieser Methode gibt es Fehlerquellen. So entwickeln Epilepsiepatienten nicht selten unter dem Video-Monitoring de novo psychogene Anfälle. Man sollte daher immer die aufgezeichneten Anfälle von Angehörigen als typisch identifizieren lassen. Für die sichere Beurteilung eines Video-EEGs ist viel Erfahrung notwendig. Anamnese Besonders bei Patienten, die rezidivierende nichtepileptische Status entwickeln, ist ein Zusammenhang mit sexuellem oder anderem Missbrauch in der Kindheit beschrieben worden. In einer Untersuchung von Betts und Boden (1992) war bei 50 % der Fälle ein sexueller Missbrauch in der Kindheit bekannt. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sexueller Missbrauch auch von Epilepsiepatienten mit 10% häufiger berichtet wird als in der Allgemeinbevölkerung (Alper 1993). Viele Patienten kennen epileptische Anfälle aus ihrer beruflichen oder privaten Umgebung, haben also ein ¹Modellª. Prädisponiert sind deshalb Personen aus paramedizinischen Hilfsberufen. Eine positive Familienanamnese für epileptische Anfälle ist also nicht notwendigerweise als ein Indiz für eine genetische Prädisposition zu werten. In einer Studie hatten 38% der Patienten mit psychogenen Anfällen einen an Epilepsie erkrankten Familienangehörigen (Lancman et al. 1993). Patienten ¹lernenª im Rahmen einer langen Krankengeschichte eine ¹epileptischeª Anfallsschilderung. Daran haben auch ¾rzte Anteil durch wiederholte, suggestive Anamnesen und gut gemeinte lehrreiche Kommentare. Ein Phänomen, das besonders häufig vorkommt bei Patienten mit interiktalen epilepsieverdächtigen EEGBefunden (Henry und Drury 1998) und natürlich auch durch Informationsmaterialien für Betroffene und Selbsthilfegruppen gefördert wird. Die Resistenz gegenüber Antiepileptika ist kein zuverlässiges diagnostisches Kriterium, denn natürlich gibt es auch pharmakoresistente Epilepsien. Bei psychogenen Anfällen beobachtet man allerdings häufiger paradoxe Reaktionen, also eine Steigerung der Anfallsfrequenz bei Intensivierung der Pharmakotherapie bzw. Ausdosierung von Antiepileptika, z. B. vermehrte Anfälle trotz zerebellärer Intoxikationszeichen (cave: prokonvulsive Wirkungen von Antiepileptika in hoher Dosierung z. B. bei Phenytoin). Verdächtig sind wiederholte Rettungsstellenbesuche und Schmitz, Trimble, Psychiatrische Epileptologie (ISBN 313133221), 2005 Georg Thieme Verlag KG