Karsten Rinas Was ist Morphosyntax? 0. Vorbemerkung Die folgenden knappen Ausführungen sollen einen ersten Einblick in die Disziplin der Morphosyntax ermöglichen. Auf die Erläuterung von Problemen wird bewusst verzichtet. Detailliertere Informationen finden sich in vielen Einführungen in die Linguistik. Zur Vertiefung eignet sich beispielsweise: RINAS, Karsten (2013) Einführung in die Sprachwissenschaft. I. Die sprachlichen Ebenen. Olomouc: UPOL. Im Folgenden sollen einige grundlegende sprachliche Konzepte (Wort, Satz, Morphologie, Syntax) vorgestellt werden. Aus der Erläuterung des sachlichen Zusammenhangs dieser Konzepte wird dann die Disziplin der Morphosyntax motiviert. 1. Das Wort Natürliche Sprachen sind komplexe Gebilde, die aus diversen Einheiten zusammengesetzt sind. Eine der wichtigsten Einheiten natürlicher Sprachen sind die Wörter; jeder geschriebene oder gesprochene Text lässt sich in Wörter untergliedern. (In geschriebenen Texten werden Wörter durch Zwischenräume voneinander abgegrenzt.) Wörter werden auch – vor allem für praktische Zwecke – systematisch erfasst in ein- oder zweisprachigen Wörterbüchern. Wörter sind jedoch keine unanalysierbaren Gebilde, sondern sie lassen sich in kleinere, elementarere Einheiten untergliedern. 2. Das Morphem Dass Wörter untergliedert werden können, wird bereits im schulischen Sprachunterricht vermittelt, gerade auch im Fremdsprachenunterricht, wo Phänomene aus dem Bereich der ‘Formenlehre’ behandelt werden. Hierzu gehört etwa die Flexion/Beugung der Verben, wie zum Beispiel die folgende Bildung der Formen im Präsens im Deutschen: (1) (ich) komm-e (du) komm-st (er) komm-t (wir) komm-en (ihr) komm-t (sie) komm-en Diesem Schema liegt eine Gliederung zugrunde: Es wird unterschieden zwischen dem Stamm (komm-) und seinen Endungen (-e, -st usw.). Dieser Stamm wird auch als ‘Grundmorphem’ bezeichnet. Er stiftet gewissermaßen die Identität dieser lexikalischen Einheit, und ihm lässt sich eine klare Bedeutung zuweisen. Die Endungen haben eine abstraktere ‘grammatische Bedeutung’: Sie reflektieren hier vor allem Numerus und Person des Subjekts. Sowohl Stämme als auch Flexionsendungen werden zu den Morphemen gerechnet, welche üblicherweise als die kleinsten bedeutungstragenden Teile der Sprache definiert werden. 1 Neben Stämmen und Flexionsendungen werden auch weitere ‘Vorsilben’ (Präfixe) und ‘Nachsilben’ (Suffixe) zu den Morphemen gerechnet, vgl. etwa: (2) un-ver-meid-bar Bestimmt bzw. abgegrenzt werden solche Morpheme letztlich durch Vergleichen analoger Fälle: (3) (4) (5) vermeid-bar, denk-bar, lös-bar... un-nötig, un-schön, un-erfreulich... ver-zichten, ver-geben, ver-lassen... 3. Die Morphologie Die Morphologie ist die Lehre von den Morphemen. Ihre Aufgabe besteht darin, • das Inventar von Morphemen für die jeweiligen Sprachen zu bestimmen und • die Regeln für die Verknüpfung dieser Morpheme zu beschreiben. Hierbei gilt als Grundregel, dass jedes Wort mindestens einen Stamm bzw. ein Grundmorphem enthält, mit dem noch weitere Morpheme verbunden sein können. Es gibt zahlreiche verschiedene Bauformen bzw. Muster für die Verbindung von Morphemen. Im Deutschen gibt es unter anderem die folgenden elementaren Konstruktionsmuster: Konjugation: kauf-t-est Deklination: ein-es schön-en Mann-es Komposition: Auto-bahn [= Flexion der Verben] [= Flexion der Artikel/Adjektive/Nomina] [= Verbindung mehrerer Grundmorpheme] 4. Der Satz Eine weitere grundlegende Einheit natürlicher Sprachen ist der Satz. Man kann den Satz als eine relativ eigenständige, abgeschlossene Äußerung definieren, welche in verschiedenen Funktionen (etwa als Mitteilung, Frage, Aufforderung) gebraucht werden kann. In der Schriftsprache werden Sätze durch Satzschlusszeichen – Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen – markiert. 5. Die Syntax Den Aufbau der Sätze untersucht die Syntax. Die Syntax ist somit die Satzlehre; sie untersucht, wie Sätze aus kleineren Einheiten gebildet werden. Sätze lassen sich (unter anderem) in Wörter untergliedern. Ein Satz besteht typischerweise aus mehreren Wörtern. Zwar gibt es auch Sätze, die nur aus einem Wort bestehen – beispielsweise der Aufforderungssatz Komm! –, doch sind dies eher Ausnahmen; in der Regel besteht ein Satz aus mehreren Wörtern. Die Syntax interessiert sich insbesondere dafür, welche Regeln zu beachten sind, wenn Wörter zu Sätzen zusammengefügt werden. Es ist offensichtlich, dass man hierbei nicht einfach in beliebiger Weise Wörter aneinander reihen kann, sondern dass bestimmte Regeln zu beachten sind. Hierfür einige Beispiele: • Die Reihenfolge von Wörtern ist (teilweise) festgelegt. So ist etwa ein schöner Abend eine übliche Abfolge, nicht aber ein Abend schöner, vgl. etwa: (6) Es war ein schöner Abend. 2 (7) *Es war ein Abend schöner. (Das Sternchen * signalisiert, dass das Beispiel ungrammatisch ist, also nicht den grammatischen Regeln entspricht.) • Einige Wörter, beispielsweise Verben, können sich nur dann mit anderen Wörtern verbinden, wenn diese Wörter eine bestimmte Form haben: (8) (9) Franz hat ihn angerufen. *Franz hat ihm angerufen. Man bezeichnet dieses Phänomen als Rektion. Im obigen Beispiel regiert das Verb anrufen den Akkusativ (und nicht den Dativ) des Pronomens. • Wenn Wörter in einer eng zusammengehörigen Wortgruppe (einem Satzglied) stehen, müssen sie in ihrer Form aufeinander abgestimmt sein. Beispielsweise kann in dem Ausdruck mit den _______ Studenten die Lücke nur durch ein Adjektiv besetzt werden, das die Form des Dativs im Plural aufweist: (10) (11) (12) mit den neuen Studenten *mit den neuem Studenten *mit den neuer Studenten Dieses Phänomen, dass Ausdrücke in ihrer Form aufeinander abgestimmt sind, bezeichnet man als Kongruenz. In Beispiel (10) kongruieren die Wörter den, neuen und Studenten miteinander, denn sie alle stehen im Dativ Plural Maskulinum. 6. Morphosyntax Bei den Phänomenen der Rektion und Kongruenz spielt also die Form der verwendeten Wörter eine Rolle: Es müssen die passenden morphologischen Endungen gewählt werden. Dies illustriert bereits, dass bei der Beschreibung des Aufbaus von Sätzen auch morphologische Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen. Mit anderen Worten: Es gibt enge Berührungspunkte von Syntax und Morphologie. Eine Reihe wichtiger syntaktischer Regeln kann nur im Rückgriff auf morphologische Faktoren analysiert werden. Aufgrund dieser engen Verbindung von Morphologie und Syntax ist vorgeschlagen worden, diese beiden Disziplinen unter der Bezeichnung Morphosyntax zusammenzufassen und sie im Zusammenhang darzustellen. Diese Betrachtungsweise wird auch in unseren Einführungsveranstaltungen zur Morphosyntax gewählt. Gründliche morphosyntaktische Kenntnisse sind eine unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit, grammatisch korrekt zu schreiben und zu sprechen. Man kann sagen, dass die Morphosyntax den Kernbereich dessen ausmacht, was gewöhnlich unter ‚Grammatik’ verstanden wird. Aus diesem Grund wird der Morphosyntax im fremdsprachlichen Unterricht besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die gängigen Übungsgrammatiken des Deutschen behandeln fast ausschließlich Phänomene aus diesem Bereich. 3