Allgemeine Physiologie der Großhirnrinde 15 Einleitung

Werbung
Allgemeine Physiologie der Großhirnrinde 15
N. Birbaumer | R.F. Schmidt
Einleitung
Elektrische Spannungs- und magnetische Feldänderungen der kortikalen Nervenzellen sind Ausdruck des Aktivitätszustandes der Nervennetze. Ihre Aufzeichnung mit
Hilfe des Elektroenzephalogramms und des Magnetenzephalogramms stellt einen wichtigen Zugang zur Klärung
der Beziehungen zwischen sensorischen, motorischen
und kognitiven Prozessen und deren neuronalen Grundlagen dar. Gemeinsam mit der Erfassung der regionalen
Hirndurchblutung konnten enge Zusammenhänge zwischen gesunden und krankhaften Veränderungen der
Hirnaktivität und Verhalten hergestellt werden.
a81 a00003400063
15.1 Kortikale Neurone
Die kortikalen Neurone ähneln in ihren biophysikalischen
Eigenschaften den spinalen Neuronen
Ruhe- und AktionspotentialeΩ Die verschiedenen Schichten des Kortex
enthalten eine große Anzahl unterschiedlichster Neurone, die sich aber
zwei Haupttypen zuordnen lassen, nämlich den Pyramiden- und den
Sternzellen. Ihre Form, Ausbreitung, Verknüpfung miteinander und ihre
afferenten und efferenten Verbindungen sind in Kap. 1 beschrieben. Intrazelluläre Ableitungen bei Pyramidenzellen ergaben Ruhepotentiale von
-50 bis -80 mV, und die Amplitude der Aktionspotentiale betrug (bei einer
Dauer von 0,5 bis 2 ms) 60–100 mV. Die Aktionspotentiale starten am
Axonhügel der Zellen und breiten sich von dort sowohl nach peripher als
auch über das Soma und die proximalen Dendriten aus. Es fehlen beim
Aktionspotential ausgeprägte Nachpotentiale, so daß die Pyramidenzellen
mit Frequenzen bis zu 100 Hz entladen können. Intrazelluläre Ableitungen
von Sternzellen sind schwierig, da die Neurone sehr klein sind. Ihre biophysikalischen Eigenschaften scheinen aber mit denen der Pyramidenzellen identisch zu sein.
Synaptische PotentialeΩ Verglichen mit den motoneuronalen postsynaptischen Potentialen (rAbb. 3-11, S. 73) sind die kortikalen Potentiale durchweg länger. Erregende postsynaptische Potentiale haben oft eine Anstiegszeit von mehreren Millisekunden und eine Abfallzeit von 10–30 ms,
während hemmende postsynaptische Potentiale meist noch länger, nämlich
70–150 ms dauern. An apikalen Dendriten wurden EPSP registriert, die
mehrere Sekunden andauerten.
Hemmende postsynaptische Potentiale sind im spontan aktiven Kortex
seltener als erregende und dann von kleinerer Amplitude. Deswegen besteht
ohne subkortikalen Zufluß im Kortex Hypererregung mit epileptischer Aktivität. Dagegen können nach Aktivierung kortikopetaler sensorischer Bahnen häufig große und langdauernde hemmende postsynaptische Potentiale
entweder isoliert oder im Anschluß an erregende synptische Potentiale registriert werden. Diese hemmenden postsynaptischen Potentiale verhindern Erregungsausbreitung zu benachbarten Zellgruppen und hängen
wahrscheinlich mit Konturenverschärfung und Aufmerksamkeitsfokussierung zusammen (s. Kap. 10 und Kap. 16).
390 | 15 Allgemeine Physiologie der Großhirnrinde
Die Überträgersubstanzen der kortikalen Neurone sind
vor allem Glutamat, Monoamine und Azetylcholin
Die Pyramidenzellen benutzen als Transmitter anscheinend eine erregende
Aminosäure, in der Regel Glutamat. Einige der erregenden Sternzellen enthalten Neuropeptide (CCK, VIP), die hemmenden Sternzellen machen häufig von GABA als Transmitter Gebrauch. Viele der afferenten Fasern benutzen die Monoamine Noradrenalin und Dopamin, andere Azetylcholin.
(Bezüglich weiterer Details der Großhirnrinde s. Kap. 1 und Kap. 16)
a81 a00003400063
15.2 Das Elektroenzephalogramm, EEG und
Magnetoenzephalogramm (MEG)
Die kollektive elektrische Tätigkeit der Kortexneurone kann
mit Hilfe von Elektroden auf der Kopfhaut oder direkt am Gehirn
registriert werden.
Die spontanen Potentialschwankungen des Gehirns werden Elektroenzephalogramm (EEG) genannt
DefinitionΩ Legt man auf die Kopfhaut der Schädeldecke eine knopfförmige Elektrode, so lassen sich zwischen dieser Elektrode und einer entfernten,
indifferenten Elektrode (etwa am Ohrläppchen) beim Menschen und anderen Wirbeltieren kontinuierliche elektrische Potentialschwankungen ableiten, die als Elektroenzephalogramm, abgekürzt EEG bezeichnet werden
(rAbb. 15-1). Ihre Frequenzen liegen zwischen 1–80 Hz und ihre Amplituden in der Größenordnung von wenigen Mikrovolt bis mehrere hundert Mikrovolt (mV).
Diese Möglichkeit, die elektrische Hirnaktivität beim Menschen zu registrieren, wurde von dem Jenaer Nervenarzt Hans Berger entdeckt, der zwischen 1929 und 1938 die Grundlagen für die klinischen und experimentellen Anwendungen dieser Methode legte. Erfolgt die Ableitung direkt von der
Hirnoberfläche (im Tierexperiment oder bei einem neurochirurgischen
Eingriff), so erhält man das Elektrokortikogramm (ECoG), dessen Potentialschwankungen sich durch etwas größere Amplituden und bessere Frequenzwiedergabe auszeichnen. Auch von tieferen Hirnstrukturen können
15.2 Das Elektroenzephalogramm, EEG und Magnetoenzephalogramm (MEG) | 391
Augen offen
frontal rechts
frontal links
1
2
präzentral rechts
3
4
präzentral links
5
6
parietal rechts
parietal links
7
8
okzipital rechts
1 = F3
3 = C3
2 = F4
4 = C4
5 = P3
6 = P4
7 = O1
8 = O2
okzipital links
100 µV
1s
Abb. 15-1. Normales Elektroenzephalogramm (EEG) des ruhenden, wachen Menschen. Gleichzeitige,achtkanalige,unipolare Ableitung von den links in der Skizze angegebenen Orten auf der Schädeldecke (Kopfhaut). An jedem Ohrläppchen war eine weitere Elektrode angebracht, die zusammengeschaltet als indifferente Elektrode dienten. Öffnen der Augen blockierte den a-Rhythmus (Mod. nach
Richard Jung)
über operativ eingeführte Elektroden analoge Potentialschwankungen abgeleitet werden.
Auswertung des EEGΩ Um in Diagnostik und Forschung Vergleiche zu erleichtern, sind die Lage der Ableitelektroden (rAbb. 15-1, links) und die Ableitebedingungen (Schreibgeschwindigkeiten, Zeitkonstanten und Filter des Verstärkersystems) international weitgehend standardisiert worden. Das EEG wird dabei entweder wie in rAbb. 15-1 unipolar (eine Schädelelektrode gegen eine indifferente Elektrode, beispielsweise an einem Ohrläppchen) oder zwischen zwei auf dem Schädeldach aufgebrachten Elektroden bipolar abgeleitet. Die Auswertung konzentriert sich
vor allem auf Frequenz, Amplitude, Form, Verteilung, Häufigkeit und Ordnungsgrad
(„Komplexität“) der im EEG enthaltenen Wellen. In rAbb. 15-1 ist die bei Reizung
oder andersartiger Aktivierung des Hirns typische Desynchronisation, die Ablösung langsamer hochamplitudiger Wellen durch schnelle Wellen niedriger Amplitude zu sehen.
392 | 15 Allgemeine Physiologie der Großhirnrinde
Mit der Magnetoenzephalographie (MEG) können die durch Hirnaktivität hervorgerufenen magnetischen Felder erfaßt werden
Jede Bewegung elektrischer Ladungen ruft ein Magnetfeld hervor. Das Gehirn generiert daher auch schwache magnetische Felder (Flußdichte weniger als der zehnmillionste Teil des Erdmagnetfeldes), die mit hochempfindlichen Detektoren (heliumgekühlten SQUIDs: „superconducting quantum
interference devices“) nachgewiesen werden können (rAbb. 15-2). Der
Vorteil dieses aufwendigen Verfahrens gegenüber dem EEG liegt in seiner
wesentlich besseren räumlichen Auflösung der Entstehungsorte kortikaler
a
b
d
e
c
f
Abb. 15-2 a–f. Magnetenzephalographie (MEG) illustriert am Beispiel eines Ganzkortex-MEG-Systems mit 150 Aufnahmekanälen a MEG-Aufnehmer (dewar). b Querschnitt durch den dewar. Die
Registrierspulen und die Squids schwimmen in flüssigem Helium, da die Squids nur in extrem tiefen
Temperaturen ihre Aufnahmefähigkeit entwickeln. c Registrierspulen d Typische Versuchssituation
e Abgeleitete Magnetfelder nach Darbietung eines taktilen Reizes am Finger der linken Hand. Jede
einzelne Linie stellt das Magnetfeld in einer der Registrierspulen 80 ms nach Darbietung des taktilen
Reizes dar f Lokalisation des Ursprungs des Magnetfeldes im gyrus postzentralis (gelber Dipol) (Weitere Erläuterungen im Text)
15.2 Das Elektroenzephalogramm, EEG und Magnetoenzephalogramm (MEG) | 393
Herunterladen