MANAGEMENT Serie „Selbstführung und Führung“, Teil 24 Der „Typ“ und die „Einzelfälle“: Zwei Ebenen des Wissens Eine für Lehrende und Lernende gleich wichtige Strukturierung des Wissens ergibt sich aus der Zweiteilung in „Typ“ und „Einzelfälle“. Beide Ebenen ergänzen einander und nehmen Bezug aufeinander. dem Bilanzschema. Wenn aber ein Bilanzlaie nur ein Buch über Bilanztheorie liest, wird er ebenfalls Verständnisschwierigkeiten haben, denn ihm fehlt die Anschauung aus den Beispielen. „Type“ und „token“ in sechs Begriffspaaren Beides gehört zum Verständnis eines Wissensgebietes zusammen: das Allgemeine, der „Typ“ bzw. das „Schema“ auf der einen Seite, und die Einzelfälle, die „tokens“ bzw. die „Aktualisierungen“ auf der anderen Seite. Gewöhnlich wird Charles Sanders Peirce (USA, 1839 – 1914) als Urheber Charles Sanders Peirce (1839 – 1914), Urheber der Differenzierung zwischen „type“ und „token“. Bild: Wikipedia an stelle sich vor, eine aktuelle Bilanz (z. B. von BMW, von BASF, von KSB usw.) werde einem Aktionär vorgelegt, der noch nie etwas von Bilanzen gehört hat. Er wird sie mit Sicherheit lesen (und auch vorlesen) können, doch wird er den Inhalt nur oberflächlich verstehen. Ihm fehlt für diesen „Einzelfall“ die Vertrautheit mit dem „Typ“, nämlich (Wort) unterschieden, so Lorenz (1996). Der finnische Philosoph Georg Henrik von Wright (1916 – 2003) bevorzugt die Begriffe der „generic acts“ (generische Handlungen) und „individual acts“ (individuelle Handlungen), so Kambartel (1995). Lorenz (1996, S. 360) weist ferner auf das Begriffspaar „universal“ und „singular“ hin. Chomsky (geb. 1928) verwendet demgegenüber die Begriffe „competence“ und „performance“, so Lorenz (1996) (Tabelle 1.) Ein Gang durch einige Wissensgebiete Die Zweiteilung des Wissens zieht sich durch beliebig viele Wissensgebiete hindurch, z. B.: In der In kaum einem Lehrbuch auf (westlichen) Musik gibt es (über findet man einen Hinweis auf verschiedene Oktaven hinweg) ein Notenschema mit c, d, e, f, g, „Typ“ und „Einzelfälle“ . a und h sowie fünf Zwischennoder Differenzierung zwischen „type“ und ten und mit Notenlänge. Damit lässt sich „token“ genannt, so Lorenz (1996). Anjedes Musikstück (als token) niederdere sprechen von „Schema“ und „Akschreiben. tualisierung“, so Kambartel (1995). Im In der Chemie gibt es BuchstabenFranzösischen hat F. de Saussure zwisymbole für die (über 100) einzelnen schen „langue“ (Sprache) und „parole“ Elemente, die sich zu Molekülen zusam- M 38 technologie &management 06/2010 Tabelle 1: Sechs alternative Begriffspaare zu „Typ“ und „Einzelfall“. MANAGEMENT dererseits benötigt er Prof. em. Dr. Heiner Müllerdie Erfahrung Merbach, aus vielen Technische Universität Kaiserslautern, Einzelbuhat zahlreiche nützliche Systematiken chungen, also von Philosophen übernommen. Dazu „Aktualisiegehört auch die Zweiteilung „type/ rungen“, um token“ bzw. „Schema/Aktualisierung“. sein Gebiet sicher zu beherrschen. Ein Mathematiker (und auch ein Anmenfügen lassen: H2O für Wasser, CH4 wender der Mathematik) lernt u. a. die für Methan, H2SO4 für Schwefelsäure, C2H5OH für Äthylen (Ethylalkohol) usw. Schemata der Matrizenrechnung und In den Ingenieurwissenschaften gibt linearen Algebra. Aber erst viele Beispiele machen ihn sicher in der Anwendung. es eine allgemeine Symbolik für techniDer Anfänger mag sich unter der Matrische Zeichnungen, also Typ bzw. Schezengleichung Ax = b nichts rechtes vorma, und die Vielfalt technischer Zeichstellen können, wohl aber der Fachnungen für jeden Einzelfall von Maschimann. nen, elektrischen Schaltungen bzw. Der musikalische Anfänger wird nach Bauten (mit leichten Unterschieden im einigem Üben zwar Noten lesen können, Detail zwischen Maschinenbau, Elekaber aus einem Notenblatt nicht bereits trotechnik und Bauwesen). Entsprechendes gilt für jede Sprache. eine Melodie erkennen oder gar aus einer Partitur einen Orchesterklang Die Sprache als „Schema“ besteht aus den Wörtern einerseits und den Regeln der Grammatik andererseits. Jeder einzelne Satz (auch schon jedes Wort) in Literatur der Sprache ist demgegenüber eine „Aktualisierung“ des Schemas. • Kambartel, Friedrich: Schema, in: MitLehren und Lernen besteht in jedem telstraß, Bd. 3, 1995, S. 697 – 698. Fall sowohl in der Aneignung des Allgemeinen, d.h. des Typs, des Schemas, als • Lorenz, Kuno: type and token, in: Mitauch in der Erfahrung durch Anwentelstraß, Bd. 4, 1996, S. 359 – 360. dung auf viele Einzelfälle. Beides er• Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopägänzt sich gegenseitig. die Philosophie und WissenschaftsEin Buchhalter muss einerseits die theorie, Bd. 1 bis 4. Stuttgart, Weimar: Systematik und Regeln des Buchhaltens verstanden haben, d. h. das Schema. An- wahrnehmen können. Dazu bedarf es der Erfahrung aus zahlreichen Beispielen. Wer also als Lehrer oder Hochschullehrer andere Menschen unterrichten will, der sollte einerseits sorgsam die wesentlichen Teile des Schemas (bzw. des Schemasystems) aneinanderfügen und andererseits zu jedem Schemateil Beispiele der Aktualisierung auswählen und vermitteln. Ganz ähnlich sollten sich auch die Lernenden darüber klar werden, welche Teile des zu lernenden bzw. gelernten Stoffes zum Schema gehören und welches die Beispiele sind, an denen sie die Schema-Teile internalisieren. Erstaunlicherweise findet man in kaum einem Lehrbuch auf Schul- oder Universitätsebene einen Hinweis auf „Typ“ und „Einzelfälle“ als die beiden Wissensebenen. Vermutlich würde die Bewusstmachung der beiden Ebenen zum Lehr- und Lernerfolg beitragen. Der finnische Philosoph Georg Henrik von Wright (1916 – 2003) Bild: Nationalencyklopedin Metzler 1980, 1984, 1995, 1996. • Müller-Merbach, Heiner: Type and token, schema and actualisation: hierarchies of knowledge, in: Knowledge Management Research and Practice, Vol. 5, No. 3, August 2007, pp. 222 – 223. technologie &management 06/2010 39