Musterlösung zur Prüfung Rechtssoziologie I, FS 2010

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Musterlösung zur Prüfung Rechtssoziologie I, FS 2010
Diese Lösungsskizze soll als Musterbeispiel dienen, wie die Fragen hätten beantwortet werden können, um die volle Punktzahl zu erreichen. Für das Punktemaximum wurde nicht die
gleiche Ausführlich-/Vollständigkeit wie in dieser Lösungsskizze erwartet (die auch noch einmal dem Verständnis dienen soll).
Bei der Beantwortung der Fragen spielt neben dem Inhalt immer auch die Präsentationsform
eine wichtige Rolle: Positiv bewertet wurden: ausformulierte Gedanken (statt blosser Stichworten), zusammenhängende Darstellung und korrekter sprachlicher Ausdruck.
1. Frage (15%): Was ist unter dem Begriff "lebendes Recht" zu verstehen?
15 Punkte
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Begriff geprägt von Eugen Ehrlich (1862-1922)
Recht wird verstanden als Regel menschlichen Handelns und damit als eine gesellschaftliche Erscheinung; die Rechtswissenschaft als Teil der (theoretischen) Soziologie
Aus Ehrlichs Sicht gibt es drei wesentliche Unterschiede zu herkömmlichen Rechtsbegriffen:
1. Recht nicht notwendig staatlich
- Beispiele
 Arbeitsvertrag: Zunächst Realität, erst später auch dogmatische Kategorie
 Kartelle, Trusts
- Historisch
 Gemeinrecht
 Staatliches Recht erst im Zuge der politischen Monopolisierung der Rechtsetzung: z.B. im Kaiserreich/ Absolutismus
- Nicht-staatliches Recht in der Wissenschaft
 Naturrecht: Recht aus Natur des Menschen (später: Positivierung)
 Historische Rechtsschule: Recht aus „Volksgeist“ (Rechtsbewusstsein des
Volkes)
 Nicht-staatliches Recht kaum erforscht; Berücksichtigung der Rechtsprechung
2. „Recht“ nicht allein Entscheidungsnorm der Justiz:
 Regeln des Handelns sind Regeln des Sollens
 Sollen nicht in erster Linie durch Gerichte bestimmt
 Empirische Bestimmung des Einflusses der Gerichte
 Vorstellung, dass Recht Entscheidungsregel für Gerichte ist: „professionsspezifische Illusion“
3. Recht muss nicht notwendig mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden (Regel des
Handelns nicht notwendig Zwangsnorm)
 z.B. kein Zwang im öffentlichen Recht
1

Bedeutung gesellschaftlicher Standards (gegenüber Klagemöglichkeit), Bsp.:
Spielschulden
- Von Ihnen oft erwähnt: Roscoe Pounds (1870-1964) Abgrenzung von „law in action“
gegenüber „law in the books“
2. Frage (15%): Was ist mit "verstehender Soziologie" gemeint?
15 Punkte
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Ansatz Max Webers (1864-1920)
deutendes Verstehen sinnhaft orientierten sozialen Handelns als Grundlage der Sozialwissenschaft
Deutendes Verstehen macht den Kern der Sozialwissenschaft aus, geht über Beobachtung qualitativ hinaus
Nicht nur funktionale Erklärung von sozialem Handeln; verschiedene (rationale, irrationale, emotionale, wertrationale) Motivationsgründe können herangezogen werden
Soziales Handeln auf Verhalten Anderer bezogen und daran in seinem Ablauf orientiert
Sinn: von Akteuren gemeinter Sinn
Durch Erfassung des Sinnzusammnenhangs: ursächliche Erklärung von Ablauf und
Wirkung sozialen Handelns
Begriff des Verstehens:
 kann rationales Verstehen bedeuten, wie bei Nachvollzug einer Rechnung
 oder immerhin annäherungsweises emotionales Nacherleben
In der Soziologie werden Sinnorientierungen auf dem Niveau einer Vielzahl von Personen untersucht
Idealtypische Orientierung an Zweckrationalität, die andere Sinnorientierungen erkennbar macht
Häufige Fehler: Keine adäquate Bestimmung des Begriffs der „verstehenden Soziologie“; kein Bezug zum Kriterium der Sinnhaftigkeit; Vermischung mit Ausführungen
zu Aufgabe 3.
3. Frage (15%): Bitte erläutern Sie den soziologischen Rechtsbegriff Max Webers.
15 Punkte
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Weber: Recht äusserlich garantiert durch Chance des Zwanges durch spezifischen
Stab von Menschen
Abgrenzung von anderen (sozialen) Normen (Brauch, Sitte, Konvention, soziale Regelmässigkeit)
 Brauch: auch erst seit kurzem bestehende tatsächliche Übung
 Sitte: gewohnheitsmässig verfestigte Übung
 Konvention: informal sanktionierte soziale Norm (z.B. Ethik)
 Soziale Regelmässigkeiten: bloss faktisch übereinstimmende Verhaltensweisen
(z.B. wegen gleicher zweckrationaler Motivation verschiedener Akteure)
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Geltung = tatsächliche Chance der Orientierung des Handelns an Vorstellung einer legitimen Ordnung
Legitimität einer Ordnung:
 kraft Tradition
 kraft Affekt
 kraft Wertrationalität (z.B. Naturrecht)
 kraft positiver Satzung, an deren Legitimität geglaubt wird („Legalitätsglaube“
/ Legitimität der Legalität)
 beruhend auf Vereinbarung
 beruhend auf Oktroyierung und Fügsamkeit
Häufige Fehler: Wiederholung von Ausführungen aus Frage 2 bzw. „Verwechselung“
der Aufgaben 2 und 3; keine Angaben zu Abgrenzung und Legitimität.
4. Frage (10%): Um welche Probleme geht es bei gegenwärtigen Debatten um "Rechtspluralismus"?
10 Punkte
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Kernthese des Rechtspluralismus: Es existiert eine Vielzahl von normativen Ordnungen neben dem staatlichen Recht, die Rechtscharakter haben
 Z.B. lex mercatoria
Vielfalt der Rechtsordnungen steht im Konflikt zum Prinzip der „Einheit der Rechtsordnung“ und dem Geltungsmonopol des staatlichen Rechts
Probleme der Legitimität umfassen, z.B.:
 Anerkennung von Normen, die von nicht-staatlichen Akteuren geschaffen
wurden: keine (notwendige) Rückbindung an demokratische Prozesse; politische Verantwortung kann nicht klar zugeordnet werden; Rechtsgleichheit gefährdet
 Keine klare Hierarchie zwischen den verschiedenen Rechtssystemen
 Abgrenzung zu anderen sozialen Normen (Sitte, Konvention,…) unmöglich
 Spannung von Partikularität, Tradition und Universalismus (der Menschenrechte)
 Normative Ordnungen werden als Recht anerkannt, um kulturellen Besonderheiten einer Gemeinschaft zu entsprechen,
 z.B. die Normen einer indigenen Kultur
 Diese besondere Ordnung kann aber Rechtspositionen ihrer Mitglieder auch
verletzten, insbesondere deren Menschenrechte
 Bsp.: indigene Rechte und Rechte der Frauen
Mögliche Lösung daher: Einbettung von partikularen Ordnungen in universale
Rechtsordnung.
Diese Aufgabe wurde von Ihnen zumeist gut gelöst. Ihre sinnvollen Ausführungen zu
den genannten und anderen Problemen wurden (unabhängig vom konkreten Ergebnis)
gewürdigt.
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5. Frage (10%): Bitte erläutern Sie die folgenden Begriffe der empirischen Rechtssoziologie: (a) Unabhängige/abhängige Variable, (b) Experiment, (c) Quasi-Experiment
a) Unabhängige/abhängige Variable
4 Punkte
-
-
unabhängige Variable ist die erklärende Variable in einer Theorie oder Hypothese, die
abhängige Variable die erklärte Variable
Beispiel aus der Vorlesung:
 Hypothese: Tragen eines sichtbaren religiösen Symbols beeinflusst religiöse
Überzeugungen von Kindern
 Unabhängige Variable: Tragen des Symbols
 Abhängige Variable: Beeinflussung
Viele von Ihnen konnten die Bedeutung der beiden Begriffe zumindest anhand von
Beispielen erklären
b) Experiment
3 Punkte
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Versuchs- und Kontrollgruppe: In Versuchsgruppe werden Variablen variiert, in Kontrollgruppe nicht
Randomisierung: Zufällige Zuweisung von Probanden zu Versuchs- oder Kontrollgruppe
Veränderung unabhängiger Variablen
Kontrolle übriger Umstände
Messung der Veränderung der abhängigen Variablen
Ermöglicht Kausalaussagen
-
Von Ihnen häufig genannt: Unterscheidung von Labor- und Feldexperiment.
-
c) Quasi-Experiment
3 Punkte
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Vergleich von ähnlichen sozialen Zuständen, bei Abweichung bestimmter Variablen
Zeitlich oder räumlich
Keine Kontrolle der unabhängigen Variablen: Deshalb keine sichere Erkenntnis über
Kausalzusammenhänge
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Von Ihnen häufig genanntes Bsp.: Kriminalität vor/nach Abschaffung/Einführung der
Todesstrafe; Kriminalität in verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten mit/ohne
Todesstrafe
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Häufiger Fehler: Verwechselung mit dem Begriff „Gedankenexperiment“
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6. Frage (10%): Welcher Zusammenhang besteht zwischen Korrelation und Kausalität?
10 Punkte
-
Korrelation beschreibt die statistische Beziehung zwischen zwei oder mehreren Variablen
Bei Bestehen einer Korrelation zwischen zwei Variablen ist noch nicht gesagt, dass
eine Grössen die andere kausal beeinflusst
Korrelation wirft lediglich die Frage auf, ob ein Kausalzusammenhang besteht
Kausalzusammenhang muss theoretisch begründet werden
Häufige Ungenauigkeit: „Korrelation“ bezeichnet einen (spezifisch) statistischen Zusammenhang zwischen zwei (oder mehr) Variablen, nicht bloss jegliche Beziehung.
7. Frage (10%): Was ist Justizforschung und welche Ergebnisse hat sie erbracht?
10 Punkte
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Justizforschung fragt danach, welche (rechtlichen und sonstigen) Faktoren die Entscheidung eines Gerichts bestimmen.
z.B. untersucht sie die These, dass die richterliche Entscheidung abhängig sei von der
sozialen Herkunft des Richters / der Richterin (sog. „Dahrendorf-These“)
 Ralf Dahrendorf (1929-2009): Sozial selektive Rekrutierung relevant für Entscheidungsverhalten; wirkt sich negativ auf untere soziale Schichten aus
 Empirische Studien, z.B.:
 Richter, die Mieter sind, entscheiden tendenziell mieterfreundlicher
 Arbeitsrichter, die Gewerkschaftsmitglieder sind, entscheiden dagegen
nicht arbeitnehmerfreundlicher
 Insgesamt: Kein Zusammenhang feststellbar
 Ergebnis: Kein einfacher Kausalzusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der richterlichen Entscheidung;
 Verschiedene Faktoren relevant: Persönliche, oftmals reflexiv gebildete Einstellungen, Normmaterial, Dogmatik, professionelles Rollenverständnis,
Rechtskultur
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Aufgabe 7 wurde von Ihnen zumeist gut gelöst, insbes. die Dahrendorf-These sowie
diesbezügliche. Studien wurden häufig genannt.
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Darüber hinaus wurden besonders honoriert: Bemerkungen zur Verfahrenssoziologie
(Prozessflut, Zugangsbarrieren, Ungleiche Behandlung vor Gericht, Selektivität der
Strafverfolgung, Alternativen zur Justiz)
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8. Frage (15%): Überzeugt Sie Max Webers These, dass das Recht einen wesentlichen
Teil der Rationalisierung der westlichen Gesellschaften bildet? Beziehen Sie in Ihre
Überlegungen auch aktuelle Entwicklungen ein.
15 Punkte
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-
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„Rationalisierung“
 Zwiespältigkeit des Rationalisierungsbegriffs: Zwischen Zweck und Wertrationalität, beides für Weber vom Begriff umfasst
Faktoren des Rationalisierungsprozesses
 Wissenschaft und Technik
 Wirtschaftsform
 Bürokratie
 Staat
 Recht
 Kulturelle Voraussetzungen: (Wirtschafts-)Ethik: Fähigkeit zur praktischen rationalen Lebensführung
 Religiöse Rationalisierung: Weltreligionen beenden magische Konzeption der
Welt; Protestantische Ethik
„Entzauberung“ / Beherrschbarkeit / Sinnentleerung als Folgen der Rationalisierung
Kunst als Mittel einer „innerweltlichen Erlösung vom Alltag“
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Diese Frage stellte den reflexiven Kern der Klausur dar, unter den möglichen angesprochenen Gesichtspunkten fanden sich:
 Systematisches, dogmatisch durchgebildetes Recht Teil einer instrumentalen
Rationalität: funktionale Gesellschaftsgestaltung dadurch einfacher
 Recht dabei durch rechtsstaatliche Gewährleistungen ein Element der Bewahrung von Freiheit und Autonomie
 Materiale Rationalisierung durch Menschenrechtsidee (in Webers Terminologie: Wertrationalität): Rationalisierung durch Menschenrechte führt über
Weber hinaus, der Menschenrechten skeptisch gegenüberstand; Menschenrechte standen am Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht rechtskulturell zur
Debatte, ein Umbruch fand nach 1945 statt
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Bei der Beantwortung dieser Frage zeigten Sie kreative und interessante Gedankengänge; Schwierigkeiten bereiteten allerdings Webers Begriff der Rationalisierung sowie die Benennung weiterer Faktoren neben dem Recht.
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