Technische Universität Berlin Magisterarbeit Lernkultur im Musikunterricht. Videoethnographische Fallstudie an einer Ganztagsgrundschule Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister Artium (M. A.) im Fach Erziehungswissenschaft Evelyn Lahr Erstprüferin: Prof. Dr. Sabine Reh Zweitprüfer: Prof. Dr. Ulf Preuss–Lausitz Bearbeitungszeitraum: 29. März 2008 bis 29. Juli 2008 Berlin, Juli 2008 2 1 Einleitung.........................................................................................................................3 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik......................................................................8 2.1 Praxistheorie als Kulturtheorie – Wissen und Bedeutung..........................................................................8 2.2 Lernkultur.................................................................................................................................................12 2.3 Von der Lernkultur zu einer Fachlernkultur............................................................................................13 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik................................................................................28 3.1 Datenerhebung: Videographie..................................................................................................................29 3.2 Datenauswertung: Schriftliche Transformation der Videobilder und Schnitt..........................................30 3.3 Datenanalyse: Heuristik und Induktion....................................................................................................31 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts................................................36 4.1 Zugang zum Feld......................................................................................................................................38 4.2 Videographie.............................................................................................................................................39 4.3 Videointerpretation der Szene „Kopf auf die Bank“ – Vorbereitung der Schülerkörper auf kognitives Lernen....................................................................40 4.4 Auswahl der Szenen..................................................................................................................................43 4.5 Raum, Artefakte und Körper....................................................................................................................45 4.6 Videointerpretation der Szene „Fällt euch da was auf“ – Kognitive Haltung und 'hochkulturelle' körperlich–soziale Ordnung...............................................48 4.7 Videointerpretation der Szene „Florian musiziert“ – Musikalische Sprachlosigkeit und individueller Sinnstiftungsprozess.............................................58 5 Praktische versus ästhetische Rationalität.................................................................69 6 Schluss............................................................................................................................72 7 Anhang A: Verzeichnisse.............................................................................................78 7.1 Abbildungsverzeichnis..............................................................................................................................78 7.2 Tabellenverzeichnis..................................................................................................................................78 8 Anhang B: Empirisches Material................................................................................79 8.1 Szenische Verläufe...................................................................................................................................80 8.2 Szenenindex zum Film „Musikpraxis der Schüler“..................................................................................85 8.3 Szenische Beschreibungen........................................................................................................................96 8.4 Inhalt der DVD.......................................................................................................................................113 9 Literaturverzeichnis...................................................................................................114 10 Erklärung...................................................................................................................119 1 Einleitung 3 1 Einleitung Das Lernen in der Institution Schule zu untersuchen liegt nahe, da es ihre zentrale Funktion ist. Dagegen ist eine kulturtheoretische Untersuchung des Lernens in der Unterrichtsforschung ein Novum und bedarf deshalb nicht nur einer präzisen begrifflichen Klärung des Kultur– und des Lernkulturbegriffs, sondern auch der theoretischen Explikation des Ertrages dieser Perspektive. Der theoretische Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist der bedeutungs– und wissensorientierte Kulturbegriff, wie er von Andreas Reckwitz rekonstruiert wurde: "Das entscheidende Merkmal der Kulturwirklichkeit des Menschen – im Unterschied zur tierischen Lebensweise – ist nun nicht, daß Regeln und Institutionen vorliegen, welche eine soziale Ordnung sichern und die Instinktarmut kompensieren; als entscheidendes Merkmal erscheint vielmehr, daß der Mensch in einem »symbolischen Universum« lebt und die Welt nicht anders erfahren kann als dadurch, daß er ihr – im Unterschied zu den bedeutungslosen Signalen der Tierwelt – fortwährend Bedeutungen verleiht, er nur in einer »Bedeutungswelt« handeln kann." (Reckwitz 2006, S. 86) Kultur ist demnach erstens weder ein Sammelbecken für wie auch immer in der Geschichte entwickelte Normen noch eine Totalität im Sinne eines geistiges Erbes aller materialisierten Gedanken, sondern ein „Komplex von Sinnsystemen“ (ebd., S. 85). Zweitens stehen Sinnsysteme nicht zur individuellen Wahl, sondern sind für Menschen eine unhintergehbare Instanz für die Entstehung von Wirklichkeit. Die Menschen sind dazu gezwungen der Welt Bedeutungen zuzuschreiben, um handlungsfähig zu bleiben. Begreift man Lernen kulturtheoretisch, entsteht die Möglichkeit es als Entstehung und Aufrechterhaltung eines Sinnsystems und nicht (nur) als Zunahme an Kenntnissen und Fertigkeiten zu begreifen. Die aktuelle schulpädagogische Diskussion hat im Gegensatz zu diesem bedeutungs– und wissensorientierten Kulturbegriff den Begriff der Lernkultur normativ, im Sinne einer besseren Lernkultur besetzt. Dass der Begriff Hochkonjunktur erfährt, wird zum Beispiel an der Anzahl der Treffer bei Google deutlich. Für die Suche nach der Begriffskombination „neue Lernkultur“ werden 25.200 Einträge präsentiert. Die damit in Zusammenhang stehenden Begriffe wie Selbständigkeit, Verantwortung und Individualisierung klingen nach einer Integration einiger reformpädagogischer Ideen in ein neues Ideal einer Schule, das sich z. B. gegen die schulische Langeweile und reine Reproduktion von Wissen richtet. Im Zusammenhang mit dem Berliner und Rheinland–pfälzischen Forschungsprojekt „Lernkultur– und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen“ (LUGS)1 liegt eine praxistheoretische2 Grundlegung qualitativer Unterrichtsforschung vor (vgl. Kolbe, Reh, 1 2 Vgl. www.lernkultur–ganztagsschule.de Die Praxistheorie ist eine Variante der bedeutungs– und wissensorientierten Kulturtheorie. 1 Einleitung 4 Fritzsche, Idel, Rabenstein, 2008b3; Kolbe, Reh, Idel, Rabenstein, Weide 2008a4). Das Projekt grenzt sich von jenem normativen Lernkulturbegriff ab. Ausgehend von der Auffassung, dass „die Lernkultur das Zentrum der Kultur einer Schule“ (ebd., S. 130) bildet, wird dort ihr theoretischer Begriff entworfen: Die Lernkultur sei eine „in sozialen Praktiken erzeugte [hegemoniale] performative und symbolische Ordnung“ (ebd.), die interpretatives, methodisches und emotional–motivationales Wissen umfasst. In pädagogischen Praktiken – den „regelgeleitete[n], typisierte[n] und routinisiert wiederkehrende[n] Aktivitäten“ (ebd.) – wird gelernt, indem „Differenzen der unterschiedlichen Verwendung von sinnhaften Unterscheidungen durch Subjekte“ (ebd.) hergestellt und bearbeitet werden. Eine praxistheoretische Untersuchung des Unterrichts ermöglicht somit zum einen, seine Totalität auf das für die Entstehung des sozialen Sinns wesentliche Konstrukt zu reduzieren: das der pädagogischen Praktiken (vgl. Reckwitz 2003, S. 293). Der scheinbar uferlose Kulturbegriff, der die Welt der Objekte und der durch sie entstandenen Prozesse, also Handlungen, deren Werte und Normen umfasst, wird dadurch – nicht nur durch die Einschränkung auf das Lernen – zu einer empirisch handhabbaren ‚Formel’. Zum anderen – und das ist der zentrale Vorteil der praxeologischen Perspektive auf das Lernen – wird die Materialität des Sozialen rehabilitiert. Die Beschränkung vieler Untersuchungen auf die sprachlich vermittelten Bedeutungen der schulischen Akteure, wie zum Beispiel über den Unterricht als Sprachspiel von Manfred Lüders (Lüders 2003), wird überwunden und um die Körper und die materiellen Objekte der Welt erweitert. Das Lernen wird hier nicht als ein psychischer oder gar unbewusster Prozess gesehen, sondern wird im Zusammenspiel von Körperbewegungen mit Dingen beobachtbar. Ebenfalls ändert sich mit der praxeologischen Perspektive auf das Lernen das Verständnis von Unterricht: Das Lernkulturkonzept möchte den Unterricht nicht mehr im Sinne einer (vorwiegend) quantitativen Wissensdifferenz und eines personengebundenen Wissens verstehen und nicht mehr, wie es in der schulbezogenen Unterrichtsforschung üblich ist, die Prozesse der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten im Sinne einer didaktisch gesteuerten Schließung der Wissens– und Könnenslücken untersuchen. Im Anschluss an interpretative Ansätze, die „die soziale Konstituiertheit und Sinnhaftigkeit des Unterrichtsgeschehens hervorh[eben]“ (Lüders, Rauin 2004, S. 693), bietet das Lernkulturkonzept stattdessen die Möglichkeit an, Handeln als Ergebnis von Wissensordnungen (und nicht in erster Linie Normen oder Zwecksetzungen) zu erklären. Die Klassenöffentlichkeit wird zu einem Ort, an 3 4 Nachfolgend als Kolbe et al. 2008b zitiert. Nachfolgend als Kolbe et al. 2008a zitiert. 1 Einleitung 5 dem sich alle Akteure gemeinsam auf eine Bedeutung, eine Prozedur und eine Bewertung 'einigen'. Dabei ist jede Handlung der Gefahr des Nichtverstehens oder der Entstehung einer Ordnung der Gegensätze ausgeliefert. Die Definition von Unterricht als Überwindung der Wissens– und Fähigkeitendifferenz muss unter dieser theoretischen Annahme transformiert werden: Unterricht wird hier als ein Komplex von Praktiken verstanden, in dem die Teilnehmer potentiell vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wissensordnungen handeln. Zu der lernkulturellen Perspektive auf den Unterricht kommt die fachliche – Musik als Schulfach – hinzu, was nur scheinbar eine Einschränkung darstellt, denn tatsächlich wird damit Unterrichtsforschung um didaktische Forschung erweitert. Die Frage nach dem 'Wie' des Lernens steht hier neben der Frage nach seinem 'Was'. Das Ergebnis der vorliegenden empirischen Untersuchung gibt einen guten Grund beide Forschungsparadigmen miteinander in einen Dialog treten zu lassen: Es gibt nämlich einen Zusammenhang zwischen einer Lernkultur und einem Verständnis des Lerngegenstandes, der besonders im Schülerverhalten deutlich wird, das 'neben' (auf der 'Hinterbühne') der pädagogischen Intention stattfindet. Wie die vorliegende Untersuchung zeigen wird, zeigen die Schüler ein alternatives Verständnis des Lerngegenstands und stellen gleichzeitig das pädagogische intentionale Lernen mit seinem intentionalen Gegenstand als schulisch legitim dar. Die Frage an die erziehungswissenschaftliche Ethnographieforschung, zu der die vorliegende Arbeit gehört, ob diese nur „exotische Außenblicke“ (Hünersdorf et al. 2008)5, also Blicke jenseits der pädagogischen Intention liefert, kann hier verneint werden. Allerdings sei betont, dass es in dem hier untersuchten Fall, eine zweite/dritte Schulklasse, mit dem Fokus auf das Fach unmöglich war sich vom Blick der pädagogischen Intention zu verabschieden, denn die Schüler selbst wollten stets den Anspruch des intentionalen fachlichen Lernens erfüllen. Ob dies eine Besonderheit dieses Faches, dieser Altersstufe oder dieser Lerngruppe ist, könnte allerdings erst in einer größeren Untersuchung beantwortet werden. Der Praxistheorie, dem Lernkulturkonzept des Forschungsprojekts LUGS und der Beschränkung auf den Musikunterricht folgend, sind musikbezogene pädagogische Praxen, wie zum Beispiel die Praxis der Musikrezeption und ihre pädagogischen Praktiken, wie die komplementären Praktiken des Fragestellens und Fragebeantwortens der Untersuchungsgegenstand. Das empirische Material stammt aus dem Videopool des Forschungsprojekts: Vier Schulstunden eines Musikunterrichts in derselben Schulklasse bei derselben Lehrerin. 5 Zitat auf dem Buchdeckel. Das Band ist noch nicht veröffentlicht. 1 Einleitung 6 Um eine Verbindung zwischen der Unterrichtsforschung und der didaktischen Forschung herzustellen, muss das auf Untersuchungen sehr unterschiedlicher Angebote ausgerichtete Lernkulturkonzept des Forschungsprojekts LUGS auf das Musikfach zugeschnitten werden, indem die dort entwickelte Heuristik daraufhin modifiziert wird. Dies stellt das erste Problem der Arbeit dar. Hierfür wird gefragt, welche Thesen und welches Verständnis vom schulischen Gegenstand Musik insbesondere die musikpädagogische Forschung bisher entwickelt hat. Befragt werden dazu einige wenige prominente Autoren (im deutschsprachigen Raum Hermann Kaiser und Jürgen Vogt, im angloamerikanischem Raum David J. Elliot), die die musikpädagogische Diskussion zur Zeit maßgeblich beeinflussen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht sodann die empirische Untersuchung der Lernkultur im Fach Musik am Fall eines Grundschulunterrichts einer zweiten/dritten Klasse. In der musikpädagogischen Diskussion steht an zentraler Stelle der Begriff des Ästhetischen. Neben vielen Versuchen ästhetisches Lernen, ästhetische Erfahrung (vgl. Kaiser 1996b) oder Bildung (vgl. Mahlert 2004) zum Teil äußerst abstrakt zu bestimmen, lassen sich zwei grundsätzliche Merkmale des Ästhetischen formulieren: Zweckfreiheit und Wertbezogenheit (vgl. Daucher 1990, S. 19). H. Daucher fragt nach dem daraus resultierenden Widerspruch des Wertbezugs bei scheinbar gleichzeitiger Nutzlosigkeit (ebd.). Scheinbar deshalb, weil es anthropologische Gründe für ästhetische Bedürfnisse gibt. Die Motivationspsychologie stellt dafür den Begriff der intrinsischen Motivation bereit, die „bewirkt, dass ein Verhalten um seiner selbst willen in Gang gesetzt wird.“ (ebd., S. 20) Dieses Verhalten wird als befriedigend empfunden, wie zum Beispiel ein erfreuliches Gefühl beim Erkennen von Ähnlichkeiten (vgl. ebd., S. 22). Trotz solcher Versuche das Ästhetische begreifbar zu machen, fehlt bis heute eine Tradition der empirischen Untersuchung des ästhetischen Lernens oder ästhetischer Bildung im Unterricht. In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, dass das Lernkulturkonzept empirische Untersuchung ästhetischen Lernens über Beobachtungen pädagogischer Praktiken ermöglicht. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Zunächst soll die theoretische Grundlage dargestellt werden (Kapitel 2). Den Ausgangspunkt stellt die Praxistheorie dar, deren Explikation sich an den Arbeiten von Andreas Reckwitz orientiert (Kapitel 2.1). Der im Forschungsprojekt LUGS entwickelte Lernkulturbegriff (Kapitel 2.2) soll darauffolgend modifiziert werden, so dass nach der Rezeption der musikpädagogischen Literatur mögliche Wissensordnungen bezüglich des Gegenstands Musik herausgearbeitet werden (Kapitel 2.3). Anschließend sollen die Erhebungs- und Auswertungsmethoden erläutert werden (Kapitel 3). Die theoretische Arbeit (Kapitel 2.3) soll hier in eine Heuristik mit musikbezogenen Fragen münden. Das Kernstück 1 Einleitung 7 der empirischen Arbeit (Kapitel 4) bildet die Rekonstruktion der den Praktiken zugrundeliegenden Wissensordnungen in zwei Szenen aus der Unterrichtseröffnung und dem fragend–entwickelnden Unterricht und einer weiteren Szene aus einem aus allen vier Schulstunden geschnittenen Film, der die unterrichts– und musikbezogenen Musikpraktiken der Schüler zeigt. zusammengefasst Im Anschluss (Kapitel 5). wird das Schlussfolgerungen Gesamtergebnis bezüglich des der Untersuchung theoretischen und methodischen Vorgehens, sowie der Frage nach ästhetischem Lernen in der Schule schließen die Arbeit ab (Kapitel 6). 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 8 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik In diesem Kapitel wird der theoretische Rahmen der Arbeit als ein Weg von der Praxistheorie über das Konzept der Lernkultur bis zu einem Konzept einer Lernkultur im Fach Musik dargestellt. Ausgangspunkt sind die Arbeiten von Andreas Reckwitz zu Praxistheorie (Kapitel 2.1) sowie die praxistheoretisch fundierte Untersuchung der Lernkultur an Ganztagsschulen6 (Kapitel 2.2). Das modifizierte Konzept der Lernkultur bildet den Abschluss der theoretischen Grundlage der Arbeit (Kapitel 2.3). Auf die Frage, was der Musikunterricht leisten soll, gibt es unzählige Antworten. Die Frage, was Musik sei, traut sich kaum jemand zu beantworten. Dabei sollte die Verständigung darüber, was im Unterricht eigentlich verhandelt wird, der Ausgangspunkt jeder Musikpädagogik sein. Es wird zu zeigen sein, wie entgegengesetzt die Paradigmen der deutschsprachigen und angloamerikanischen Literatur sind: Musik als Produkt - Musik als Prozess sowie Kunstmusik - Gebrauchsmusik sind die impliziten oder expliziten Hauptbegriffe und paradigmatischen Gegensätze der musikpädagogischen Diskussion. Ausgehend von der Frage, was an den drei Wissensarten (methodisches, interpretatives und emotional-motivationales Wissen) musikspezifisch sein könnte, wird die musikpädagogische Literatur nach Thesen durchsucht, um schließlich praxistheoretische Ableitungen zu bilden. 2.1 Praxistheorie als Kulturtheorie – Wissen und Bedeutung Andreas Reckwitz rekonstruiert vier Typen des Kulturbegriffs: normativ, totalitätsorientiert, differenzierungstheoretisch und schließlich bedeutungs– und wissensorientiert. Der normative Kulturbegriff geht auf die Antike zurück und bezeichnet die von einer Bewertung abhängige Lebensweise eines Kollektivs, welche in einem affirmativen und erstrebenswerten Zustand für die ganze Menschheit gelten soll. (vgl. Reckwitz 2004, S. 65–66) Im Gegensatz zum normorientierten ist der totalitätsorientierte Kulturbegriff zweifach kontextualisiert: Die Reichweite der Kultur ist zeitlich und auf die Ebene ihrer 'Träger' im Sinne einer sozialen Gruppe begrenzt (vgl. ebd., S. 72). Nachdem der differenzierungstheoretische Kulturbegriff den normativen und totalitätsorientierten Balast abgeworfen hat, indem die Kultur als ein gesellschaftliches System verstanden wird, in dem „die Produktion, Verteilung und Verwaltung von >Weltdeutungen< intellektueller, künstlerischer, religiöser oder massenmedialer Art stattfindet“ (ebd., S. 79), konnte sich daraus der bedeutungs– und 6 Das Projekt LUGS wird bis zum Ende des Schuljahres 2008/2009 fortgesetzt. 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 9 wissensorientierte Begriff entwickeln. Die Idee von Kultur als einem gesellschaftlichen System wird ersetzt durch die Idee, die Welt als ein Sinnsystem zu verstehen, welches „in Form von Wissensordnungen handlungsleitend“ wirkt (ebd., S. 90). Die Reichweite der Kultur wird nicht heuristisch oder normativ bestimmt, sondern als Frage gestellt. U. Oevermann sieht zwei Reichweiten von sozialen Deutungsmustern: „Soziale Deutungsmuster lassen sich nach der Reichweite ihrer Geltung sowohl historisch–zeitlich als auch synchronisch im Hinblick auf die sozialen Kategorien von Menschen, die sie teilen, unterscheiden.“ (Oevermann 1973, S. 10) Die Untersuchung der alltagsästhetischen Schemata von G. Schulze (Schulze 2005) wäre ein Beispiel für die zweite Perspektive: Der Autor ordnet fünf gesellschaftlichen Milieus drei alltagsästhetische Schemata zu, deren zeitliche Reichweite auf den Zeitpunkt der Untersuchung beschränkt ist. Die Praxistheorie ist neben 'mentalistischen' und 'textualistischen' ein kulturtheoretischer Ansatz, der das Soziale nicht im menschlichen Geist, in Texten oder Diskursen, sondern in sozialen Praktiken lokalisiert. "[…] Praktiken […] stellen sich als Muster gleichförmigen, öffentlich identifizierbaren Verhaltens oder als komplexe Systeme von Verhaltensmustern dar, die über zeitliche wie über räumliche Grenzen – und damit auch über die persönlichen Besonderheiten von Individuen – hinweg existieren." (Reckwitz 2006, S. 559). Die Transformation der Lokalisierung des Sozialen impliziert folgendes: 1. Eine Aufhebung der in den 'mentalistischen' Ansätzen vorzufindenden Differenz zwischen Wissen und Handeln im Sinne einer Innen–Außen–Differenz 7: Das Wissen ist dort ein mentaler Sinnfaktor, eine innere eigenständige, nicht zugängige Sphäre, der gegenüber das beobachtbare Verhalten steht (vgl. ebd., S. 319). In der Praxistheorie existiert das Wissen nur in den Praktiken bzw. die Praktiken sind Ausdruck des Wissens. Für eine empirische Arbeit bedeutet es, dass Wissensbestände beobachtbar sind und das Wissen, das in den Praktiken keinen Ausdruck findet, kein Bestandteil der Untersuchung ist. Dieser 'Verzicht' ist nur möglich, weil nicht Personen, sondern Praktiken untersucht werden. Die Personen werden zu Teilnehmern der Praktiken 'degradiert'. 2. Im Gegensatz zu 'textualistischen' Ansätzen, die den Texten und Diskursen zugrundliegende Bedeutungen rekonstruieren, sind für die Praxistheorie Textbedeutungen Ergebnisse “sozialer Rezeptionspraktiken“ (Reckwitz 2006, 7 Auf eine Ausführung der Innen–Außen–Differenz des Mentalismus soll hier verzichtet werden. Stattdessen wird auf die Darstellungen von Reckwitz verwiesen werden: Reckwitz 2004, S. 319 ff. 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 10 S. 607) und können nur in der Beobachtung der Praktiken, also nicht vom Verhalten losgelöst, untersucht werden. 3. Die Reichweite der Sinnsysteme kann weiter ausdifferenziert werden. Ein Praktiken–Komplex kann entweder in einem bestimmten 'sozialen Feld' gelten, in dem „Praktiken ,der Sache nach' zusammenhängen und aufeinander abgestimmt sind – etwa in einer Institution, einer Organisation oder in sog. 'Funktionssystemen'“ (Reckwitz 2003, S. 295) oder innerhalb einer „'Lebensform', in der Praktiken etwa in einer kulturellen Klasse, einem Milieu oder einer kulturellen Bewegung so miteinander zusammenhängen, dass sie die gesamte Lebens– und Alltagszeit der beteiligten Subjekte strukturieren." (ebd., S. 295). Die Frage nach geltenden Bedeutungsmustern in einem Schulfach, ist eine empirische Frage, die an Praktiken, die sachlich zusammenhängen, bearbeitet wird. 4. Mit der zentralen Stellung der Praktiken bietet die Praxistheorie eine avancierte Möglichkeit an Handlungsmuster zu erklären. Reckwitz sieht insgesamt drei Möglichkeiten Handeln sinnorientiert zu erklären: zweck–, norm– und wissensorientiert. Dem zweckorientierten Handlungsmustern Zwecke, Ziele und Ansatz Motive nach liegen den Nach dem zugrunde. normorientierten Ansatz sind es Normen und Regeln (vgl. Reckwitz 2006, S. 117 ff.). Das Problem, das die Kulturtheorie löst, ist die Frage danach, was wiederum den Normen und Regeln zugrunde liegt und wie Handlungsmuster, die keiner Norm folgen, wie das Aufspannen eines Regenschirms bei Regen, zu erklären sind. Kulturtheoretisch sind es „kognitive Unterscheidungs– und Typisierungsordnungen“ (Reckwitz 2004, S. 315), auf deren Grundlage Intentionen und Normen entstehen. Praxistheoretisch sind es jene Sinnsysteme, die in der Form der Wissensordnungen Handlungsmuster erklärbar machen. Zentral ist für die Praxistheorie die Transformation des Wissensbegriffs als Loslösung von einer Wahrheits–, Glaubens– und Subjektdimension. Das Wissen ist nicht eine kognitive Eigenschaft einer Person und wird nicht in der Form von expliziten kognitiven Regeln bewusst ständig und neu eingesetzt. (vgl. Hörning 2004, S. 143) Es ist auch kein „Aussagewissen (knowing that) von Überzeugungen“ (Reckwitz 2003, S. 292). Stattdessen ist es ein implizites praktisches Wissen, das drei Ausformungen hat: Erstens die des methodischen Wissens bzw. eines know–how, das einen Werkzeugcharakter hat (vgl. ebd.). Es drückt sich in immer wiederkehrenden Aktivitäten der Körper unabhängig von Zeit und 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 11 Raum aus. Auf der Grundlage dieses technischen Wissens können bestimmte Aktivitäten, wie z. B. Autofahren, gekonnt stattfinden oder bestimmte Produkte, wie ein Hammer, ein Buch oder ein Kleidungsstück hergestellt werden. Diese Praktiken sind in einer Kultur unabhängig von den Personen, die an ihnen beteiligt sind, typischerweise zu finden. Statt einer Einstellung, einer Haltung, einer Norm oder eines Interesses geht es hier um eine Technik seinen Körper und mit ihm Gegenstände/Artefakte zu bewegen. Die zweite Ausformung des praktischen Wissens ist die des interpretativen Verstehens (vgl. ebd.). Es handelt sich um eine „routinemäßige Zuschreibung von Bedeutungen zu Gegenständen, Personen, abstrakten Entitäten, dem ‚eigenen Selbst’“ (ebd.). Auch diese Wissensform ist nicht einer Praktik in der Form einer kognitiven Ordnung eines Subjekts vorgängig. Es sind stattdessen die in Bewegungsmustern „implizit gewusste Bedeutungen“ (ebd.), mit denen eine Sinnwelt erschaffen wird. Diese Ausformung, die des motivational–emotionalen Wissens, ist ein „impliziter Sinn dafür, was man eigentlich will', ,worum es einem geht' und was ,undenkbar' wäre.“ (ebd., S. 291). Es ist ein Wissen der Gründe, Wünsche, Zwecke und Interessen der Akteure. Die dritte Wissensform enthält eine evaluative Dimension der Praktiken: Sie gibt den Akteuren an, wie die Phänomene bewertet werden. Während die Rekonstruktion des interpretativen Verstehens zu begründen ermöglicht, warum die Akteure zu bestimmten Situationen kommen (vgl. Reckwitz 2006, S. 506), das methodische Wissen, wie die Akteure handeln, kann die Rekonstruktion der dritten Wissensform erklären, warum die Akteure etwas anstreben oder ablehnen. Im Aufsatz „Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck– und normorientierten Modellen zu den Kultur– und Praxistheorien“ (Reckwitz 2004) arbeitet Reckwitz sechs Merkmale der Praktiken heraus: 1. Im Gegensatz zum Begriff der Handlung, der „einen einzelnen, punktförmigen Akt“ (ebd., S. 320) bezeichnet bindet der Begriff der Praktik Raum und Zeit. Untersucht werden nicht von Individuen hervorgebrachte einzelne Handlungsakte, sondern eine typische Reihe an Praktiken, die innerhalb eines oder mehrerer Sinnsysteme zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Orten immer wieder stattfinden. So gibt es z. B. die Praktik des Meldens in ganz unterschiedlichen Situationen, wie einer Tagung, einem Meeting oder einer Schulstunde. 2. Im Gegensatz zu der üblichen Vorstellung den Körper als Instrument, als Ausführungsorgan eines Bewusstseins zu verstehen, ist die körperliche Bewegung bzw. 'performance' der materielle Bestandteil der Praktiken. Das Wissen ist im Bourdieu'schen Sinne inkorporiert. Das bedeutet, dass es körperlich mobilisiert 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 12 wird. Nach Außen ist die Körperlichkeit eine 'skillful performance', die interpretierbar ist (vgl. Reckwitz 2003, S. 290). 3. Zwischen den drei Wissensformen und den Körperbewegungen besteht ein doppelter Zusammenhang: Zum einen sind die Akteure darauf angewiesen, das Wissen im Handeln einzusetzen, um für die anderen Akteure verstehbar zu bleiben. Zum anderen werden die Wissensformen in den Praktiken 'ausgedrückt' (und eben nicht in mentalen Eigenschaften einer Person). 4. Die zweite materielle Instanz der Praktiken bilden die Artefakte, die, wie in 'textualistischen' Ansätzen, keine Träger von Sinnsystemen sind, sondern ihre Bedeutung ausschließlich in ihrer Verwendung erhalten. Ein Beispiel bietet hierfür die Studie „Zeitpraktiken“, in der das Technik–Zeit–Verhältnis untersucht wird. Bei der Frage nach der Zeitgestaltung im Umgang mit moderner Technik betonen die Autoren die Anwendung von der Vorstellung, dass Zeitpraktiken Ergebnis von technischen Eigenschaften sind: „Erst die Praktiken bringen (keineswegs beliebig) die Eigenschaften hervor, die wir so gerne als »feststehend« und »vorliegend« begreifen.“ (Hörning et al. 1997, S. 11) 5. Die Praxistheorie geht nicht von universalen, sondern kontingenten Handlungsstrukturen aus und grenzt sich damit besonders von Ansätzen wie der kognitiven Psychologie ab, für die „antihistorizistische[r] Universalismus [...] charakteristisch ist.“ (Reckwitz 2004, S. 322) 6. Das sechste Merkmal der Praktiken ist ihre Routinisiertheit, die das Handeln strukturiert. Eine Handlung wird erst zu einer Praktik, wenn das Moment der Wiederholung eintritt, denn erst in der Wiederholung kann gegenseitiges Verstehen entstehen. Damit sei die Praxistheorie in ihren für die vorliegende Arbeit relevanten Punkten umrissen. 2.2 Lernkultur Das Projekt LUGS entwickelte in Abgrenzung zum normorientierten Lernkulturbegriff, wie er in der Schulpädagogik verwendet wird (vgl. Kolbe et al. 2008a, S. 127), seine praxistheoretische Neukonzeptionierung mit 'pädagogischen Praktiken', 'Differenzen' und 'Sinn' als den zentralen Begriffen. Die Lernkultur wird als „in [pädagogischen] Praktiken erzeugte [hegemoniale] performative und symbolische Ordnung“ (ebd., S. 131) definiert. Sie 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 13 besteht aus bestimmten Praxen, wie zum Beispiel Familiarisierungspraxen, die sich wiederum aus Praktiken, wie den der körperlichen Zuwendung zusammensetzen8. Eine Praktik ist dann 'pädagogisch', wenn in ihr „Differenzen der unterschiedlichen Verwendung von sinnhaften Unterscheidungen durch Subjekte“ (ebd., S. 131) hergestellt und bearbeitet werden. Die schulischen Akteure als Teilnehmer der pädagogischen Praktiken bearbeiten drei Differenzen. Erstens die Differenz zwischen der sozialen Ordnung der pädagogischen Angebote und anderen sozialen Ordnungen: Die Akteure erzeugen und halten einen 'lernkulturellen Kontext' aufrecht. Praktiken der Hierarchisierung der Schüler wären ein Beispiel für Differenzbearbeitungen unter den Akteuren, die sich meistens entlang einer Leistungsordnung abspielen. Zweitens die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung. Hierbei geht es um die Frage, wie die Lücke zwischen Vermittlungs– und Aneignungsbemühungen erzeugt und bearbeitet wird. Dabei wird gefragt, wie sich die Akteure adressieren und wie Gestaltungsprozesse verlaufen. Die dritte Differenz bezieht sich auf die Art und Weise der Festlegung der schulischen Wissensordnung. Die Akteure bearbeiten also die Differenz zwischen relevantem und nicht relevantem Wissen. 2.3 Von der Lernkultur zu einer Fachlernkultur Was heißt es, die Frage nach Entstehung von Sinn im Musikunterricht zu stellen? Gibt es aufgrund des im Musikunterricht verhandelten Gegenstandes Besonderheiten, die die Untersuchung modifizieren würden? Das Ziel dieses Kapitels ist es nicht, Implikationen der musikalischen Gegenstände praxistheorietisch zu rekonstruieren, sondern durch ihre Rezeption als „sensitizing concept“ (Blumer 1954) Fragen und Probleme in der Entwicklung des theoretischen Begriffs der Fachlernkultur anzuregen. Im folgenden soll deduktiv vorgegangen werden, indem bei H. Kaiser, den Vertretern der praxialen Theorie und J. Vogt nach ihrem Musikverständnis allgemein und ihrem Verständnis von dem didaktisch eingespeisten Gegenstand gefragt wird. 2.3.1 Kunstmusik und Gebrauchsmusik Die meisten Paradigmen verstehen Musik als ein zu rezipierendes Objekt, schreibt H. Kaiser in seinem Aufsatz über den schulischen Musikunterricht (vgl. Kaiser 2002b). Durch den schulischen Rezeptionsprozess werden die Schüler, wenn sie gute Musik hören, zu guten Menschen („Das Erziehungs– und Therapieparadigma“), sie gelangen zur „vollgültigen Entfaltung des „Menschseins““ („Das anthropologische Paradigma“) oder sie werden 8 Vgl. Reh, S., Kolbe, Fritz–Ulrich (2008): Aus einem internen unveröffentlichten Papier. 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 14 mündige Teilnehmer der (Hoch–)Kultur („Das kulturtheoretische Paradigma“) (ebd., S. 4). Am häufigsten solle „das ästhetische Paradigma“ diskutiert und als Besonderheit des Musikunterrichts als Schulfach herausgestellt werden, so der Autor. Durch die „Aktivität der Sinne“ sollen die Schüler „Erkenntnis und Erfahrung von unserer natürlichen Welt und unseren sozialen Interaktionen“ gewinnen (ebd.). Kaiser verweist mit der Rekonstruktion der vier Paradigmen, ihrem Rezeptionsbegriff und der Verstehensleistung von außerschulischen musikalischen Produktionen auf eine Vorstellung von Musik als einem autonomen Kunstwerk. Musik ist damit ein Objekt mit immanentem Sinngehalt und die Schule Vermittlerin einer dem Werksinn angemessenen Rezeption. Der Autor grenzt sich dann von der schulischen Rezeptionspraxis ab und plädiert für Poiesis, als „herstellende Tätigkeit“ (ebd.). Damit schließt er nicht an die Produktionsdidaktik an, deren Zweck „das Ermöglichen und Anregen von ästhetischen Erfahrungen“ (Wallbaum 2000, S. 9) ist, sondern an die antike Ethik: Durch die Poiesis lernt der Mensch sittlich zu handeln, was 'Praxis' bedeuten soll. „Praxis entwickelt sich – als sittliche – durch handlungsbezogenes Wissen (Klugheit, Phrónesis).“ (Kaiser 2002b, S. 10) Während also im poietischen Handeln ein davon „ablösbares Produkt“ entsteht, ist gewissermaßen das 'Produkt' des praktischen Handelns der sittliche Charakter. Im Gegensatz zu rezeptionsorientierten Paradigmen, die einen musikalischen Gegenstand als Objekt und den Zielzustand der Schüler formulieren, bezieht H. Kaiser das außerschulische musikalische Leben der Schüler in seine Didaktik ein: „Kinder und Jugendliche verfügen keineswegs nur über ein poietisches Vermögen, sie haben überdies eine – z. T. auch nur usuelle – Praxis, eine Gebrauchspraxis.“ (ebd., S. 11) In einem anderen Aufsatz definiert Kaiser 'Gebrauchspraxen' als Musik, die musikalisch immanente und vor allem exmanente Zwecke hat: „Damit meine ich alle jene Formen von Handlungszusammenhängen und jene Situationen, in denen Musiken nicht ausschließlich selbstzweckhaft eingebunden sind, sondern in denen das Musikmachen, das Hören und Spielen von Musik, das Darüber–Reden usf. persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Zwecken eingefügt ist. Darunter fallen alle Formen vom geselligen Gebrauch von Musik bis hin zum professionellen Umgehen mit ihr.“ (Kaiser 2002a, S. 11) Schließlich formuliert der Autor mit den Begriffen Poiesis, Praxis und usuelle Praxis (sprich: die Gebrauchspraxis) sein musikdidaktisches Konzept: „Angestrebt werden kann die Überführung (Transformation) einer real oder verdeckt in die Schule hineinreichenden usuellen Musikpraxis (wie sie durch die Jugendlichen in die Schule hineingetragen wird) in eine verständige Musikpraxis, und dieses kann nicht anders als im Medium musikalischer Tätigkeit [Poiesis] vonstatten gehen.“ (Kaiser 2002b, S. 9) Der außerschulisch existente musikalische Gegenstand, der in die Schule hineingeholt wird, sei also die Gebrauchsmusik der Schüler statt einer Kunstmusik wie in den rezeptionsorientierten Paradigmen. Das Medium des musikalischen Lernens sei die Poiesis, 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 15 die herstellende Tätigkeit, und nicht die Rezeption. Das Ziel sei eine „verständige Musikpraxis“ statt ein Nachvollziehen von musikimmanenten Bedeutungen autonomer Kunstwerke. Was diese verständige Musikpraxis genau sein soll, wird vom Autor nicht weiter ausgeführt. Wichtig ist an dieser Stelle der dem Konzept von Kaiser zugrundeliegende Dualismus von Kunst– und Gebrauchsmusik. (Denkbar sind ganz andere Dualismen, wie „Musik des Fachmanns und des Laien, Musik für Kinder und für Erwachsene“ Vogt 2006c, S. 309.) Diesem Dualismus liegt die in unserer Kultur allgegenwärtige Unterscheidung zwischen zweckfreier E–Musik und zweckhafter U–Musik zugrunde und die Frage, ob denn die U– Musik Kunst sei. Das Problem ist, dass damit den Jugendlichen unterstellt wird, dass sie nicht verstehen, was sie musikalisch tun, und dass die Schule die Vermittlerin des richtigen Musikverstehens wäre. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, wie die Vertreter der 'New Philosophy of Music Education', wie David J. Elliot, diese normativ besetzte Unterscheidung zwischen U- und E-Musik implizit aufheben, indem dort Musik in einem anderen Dualismus gedacht wird. 2.3.2 'Musicing' statt 'music–as–object' H. Kaisers Standpunkt, die Musik sei eine „bestimmte gesellschaftliche Tätigkeit“ (Kaiser 2002b, S. 2) inklusive des Musikhörens, findet sich ebenfalls im Ansatz der praxialen Theorie der amerikanischen „New Philosophy of Music Education“ (Elliott 1995) wieder: "what music is, at root, is human activity" (ebd., S. 39) Beide Autoren fordern „reale Musikpraxis“ (Kaiser 2002b, S. 5) bzw. "music making of all kinds" (Elliott 2005, S. 7) ins Zentrum des Musikunterrichts zu stellen und grenzen sich damit gegenüber schulischer Rezeptionsorientierung ab. Während jedoch Hermann Kaiser erstens vor dem Hintergrund des U– und E–Musik–Dualismus argumentiert, im gewissen Sinne Musikstücke sortiert und zweitens musikalische Tätigkeit in den Dienst einer „verständigen Praxis“ stellt, hebt Elliot den Dualismus auf, indem er, ohne es als solches zu benennen, ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Musikprodukten entwickelt: "In short, musical products – performances, improvisations, compositions, and arrangements – are enmeshed in and derive their nature and significance from their contexts of creation and use." (ebd., S. 8) Elliots Verständnis von Musik als kontextabhängiger menschlicher Aktivität verschiebt das Gewicht vom musikalischen Objekt zum musikalischen Prozess, so dass der Autor von 'Musicing' und nicht von 'Music' spricht. Aufgrund der Betonung des Kontextes ist auch ein verändertes 9 Jürgen Vogt zitiert Erich Doflein. 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 16 Verständnis von Kunst folgerichtig: Dem „‚praxial’ view of art“ (Alperson 1991, S. 233) liegt ein vom autonomen Kunstbegriff abgegrenztes Verständnis von der Kunst vor: Die Kunst sei nicht auf der Grundlage universeller Merkmale zu verstehen, sondern „in terms of the variety of meaning and values evidenced in actual practice in particular cultures“ (ebd., S. 233). Wenn also jede Art von musikbezogenem Verhalten eine musikalische 'performance' ist, wenn Musik eine menschliche Aktivität ist, dann ist musikalische Fähigkeit – so Elliot – vom prozeduralen Wissen abhängig. Musik ist etwas, von dem man weiß, wie man es tun muss. Die praxiale Theorie rückt von dem musikalisch–mentalen Wissen, dem know–what, ab, ohne es zu negieren. Das prozedurale Wissen, welches bislang dem know–what untergeordnet war, bekommt ihm gegenüber eine zentrale Stellung. Für Elliot existiert Musik als Objekt nach wie vor. Allerdings gibt es für ihn „"other" musical work: the interpretative musical performance itself.“ (Elliot 1991, S. 33), die in der Musikphilosophie und –pädagogik bislang vernachlässigt worden sei (vgl. ebd., S. 22). Das Verhältnis zwischen dem Objekt und der 'performance' bestimmt D. Elliot in Abgrenzung zu der Philosophie „of music education as aesthetic education“ (MEAE) (ebd.). Musikalische 'performance' ist keine bloße Präsentation einer Komposition, sondern „another work of art“ (ebd., S. 32)10. Beide Arbeiten sind gleichwertig und Produkte einer 'performance'11. Elliots Musikphilosophie und –pädagogik, die der Praxistheorie sehr nah zu stehen scheinen, werfen die Frage nach einem praxistheoretischen Verständnis des Objekt–Begriffs auf, die im Kapitel 2.3.4 bearbeitet wird. Beide Autoren zeigen, dass hinter einer Musizierpraxis grundlegend unterschiedliche Musikbegriffe stehen können – Musizieren ist also nicht gleich Musizieren. 2.3.3 Kulturwissenschaftliches Produktverständnis Auch J. Vogt grenzt sich gegenüber dem „ästhetischen Paradigma“ ab. Während H. Kaiser darin die Rezeptionsorientierung betont und D. Elliot in seiner amerikanischen Variante das Problem der universalen Bedeutungen sieht, ist für J. Vogt problematisch, dass dort keine normativen Urteile möglich sind. Das ästhetische Paradigma sei „indifferent gegenüber Zuschreibungen, wie „affirmativ“ oder „kritisch.“ (Vogt 2006b, S. 19). Wie Kaiser, wendet sich Vogt mit dem Ziel der Begründung einer kritischen Musikpädagogik gegen bloße „musikpraktische Realisierung“, also das poietische Musizieren, das ein fertiges Produkt zum Ziel hat (vgl. Vogt 2004, S. 12) und/oder dem wirtschaftlichen Verdienst dient, und fordert stattdessen ein Verständnis von Musikmachen als einer „Form sozialer Praxis“, die ihren 10 11 Elliot zitiert aus: Mark 1981, S. 321 Vgl. dazu: Schmidt 2006 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 17 Kontext reflektiert und gleichzeitig generiert. Ihre Bedeutung wird „kommunikativ ausgehandelt und interpretativ hergestellt“ (Vogt 2006b, S. 19). Das kommunikative Aushandeln und Interpretieren von Bedeutungen findet in der Spannung zwischen „hegemoniale[n] Mechanismen und Ansprüche[n] mit subjektiven Sinnzuschreibungen“ (ebd.) statt. Damit ergibt sich ein kulturtheoretisches Verständnis vom musikalischen Gegenstand in der Schule: Musik als schulische Praxis ist in außerschulische Musikpraxis insoweit eingebunden, dass ihre Kontexte im praktischen Vollzug reflektiert werden. In diesem Prozess entsteht ein neuer Kontext, nämlich der des schulischen 'Musikmachens', dessen schuleigene, schuleigensinnige bzw. schulspezifische Bedeutungen das Ergebnis der subjektiven und institutionellen Sinnzuschreibungen sind. J. Vogt formuliert damit zwei für das musikpädagogische Denken neue Sichtweisen. Erstens: Die außerschulischen musikalischen Sinnsysteme sind nicht als 'Original' vermittelbar. Man kann den Schülern nicht beibringen, wie Afroamerikaner vor 90 Jahren den Blues verstanden haben, auch wenn man die technische Beherrschung der damals verwendeten Instrumente nachahmen kann12. Zweitens: Die im Prozess der Rekontextualisierung entstandenen Bedeutungen sind nicht bloß das Ergebnis der Vorstellungen einer Person (ganz besonders des Lehrers). Musikmachen ist ein soziales Phänomen, so dass die Schüler, deren Sinnsysteme sich von denen des Lehrers unterscheiden können, gemeinsam mit dem Lehrer Bedeutungen aushandeln. Die Musikdidaktiken der drei Autoren sollen zum ersten Schritt einer praxistheoretischen Grundlegung der Fachlernkultur im Musikunterricht führen. 2.3.4 Praxistheoretische Bestimmung des musikalischen Gegenstands Aus praxistheoretischer Perspektive konstituiert sich der musikalische Gegenstand in den Musikpraxen und ihren Praktiken. Erst die Rekonstruktion der Wissensordnung in den Praktiken der Musikpraxen zeigt ein Verständnis dessen, was als Musik verstanden wird bzw. vor dem Hintergrund welcher Schemata ihr Verständnis entsteht. Ob also die Schule zum Beispiel 'vor dem Hintergrund' des Schemas E– und U–Musik oder Objekt und Prozess handelt, soll das Ergebnis des Rekonstruktion sein, bei der allerdings angenommen werden kann, dass diese beiden Schemata eine Rolle spielen werden. Als Musikpraxis wird jede Form menschlicher Aktivität verstanden, in der es um auditive Füllung der Umgebung geht, die „absichtsvoll und nach gewissen Gesetzen gestaltet wird“ (o. V. 2000-2007). Praktik als 'skillful performance' beinhaltet demnach nicht nur kompetente Bewegungen des Körpers, sondern in kompetenten Bewegungen kompetente Beteiligung der 12 Vgl. dazu: Carr 2001 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 18 Akteure am hörbaren Bereich. Ein regungsloses und stilles Liegen auf der Couch zu einer Entspannungsmusik ist genauso wie Tanzen eine Musikpraxis. Im Begriff der Musikpraxen sind alle Praktiken umfasst, die sich auf aktuelle, vergangene oder zukünftige, auditive Ereignisse beziehen. Das bedeutet, dass das geräuschlose Dirigieren, Schreiben von Notentexten oder Rezipieren gleichrangig wie das aktive Musizieren Musikpraxen sind. Das Musizieren soll nicht ausschließlich unter dem Aspekt einer Präsentation eines Musikwerkes betrachtet werden, das heißt, als Aktualisierung eines vergangenen Bedeutungskontextes. Jedes Musizieren ist immer gleichzeitig eine Rekontextualisierung einer vergangener Arbeit sowie der körperlichen und auditiven Beteiligungen an Musikpraxen, so dass eine neue Arbeit mit potentiell transformierten Bedeutungszuschreibungen entsteht. Musikalische Klassifikationen, wie z. B. nach Aufführungsform (Konzertmusik und Hausmusik), Besetzung (Gitarrenmusik und Vokalmusik) oder im ästhetischem Paradigma in U– und E–Musik (vgl. ebd.) sind keine den Musikpraxen vorgängige Unterscheidungen. Sie werden stattdessen als allgegenwärtige Schemata in den Praxen immer wieder hervorgebracht. In der Rekonstruktion sollen sie keine heuristische Funktion haben, sondern können ausschließlich ihr Ergebnis sein. Die 'Konstrukte' Gebrauchsmusik oder Programmmusik sind also keine den Praktiken vorgängigen Schemata, die in der Rekonstruktion angelegt werden. Wenn die Schüler sich zum Beispiel mit dem Stück „Peter und der Wolf“ von Sergei Prokofjew beschäftigen, ist der Sinn einer Programmmusik der Rekonstruktion nicht vorgängig. Stattdessen ist zu fragen, wie sich der Sinn als Programmmusik in den Praktiken entfaltet. Die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung ist also ein Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Sinnsystemen sowie zwischen ihnen und „hegemonialen [...] Ansprüchen“ (Vogt 2006b, S. 19), in denen Bedeutungen (zum Beispiel in der Form der Kritik an den Musikprodukten), „Wissen über musikalische Produkte“ und „Modalitäten ihrer praktischen Realisierung“ (ebd. S. 19–20) (know–how) ausgehandelt werden. Bevor auf die musikpädagogischen Thesen zu den drei Wissensformen eingegangen wird, soll in aller Kürze das musikalische Objekt/Artefakt bestimmt werden, da es Bestandteil der Heuristik sein soll. 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 19 2.3.5 Musikalische Objekte Das einzelne Schulfach zeichnet sich durch die Verwendung bestimmter Objekte13 der Welt (Dinge, Symbole und Verhaltensweisen) aus: im Sportunterricht z. B. Bälle oder Regelspiele und im Kunstunterricht z. B. Pinsel oder gemeinschaftliches Erstellen einer Fensterdekoration. Die folgende Darstellung soll einen Versuch darstellen musikbezogene „Objekte der Welt“ ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu systematisieren (siehe Abbildung 3.1). Dass ein komplexes Phänomen, wie Musik nur mit Schwierigkeiten oder sogar Fehlern in der Form von Entscheidungsbäumen abbildbar ist, wird z. B. daran deutlich, dass Symbole, die hier eine eigenständige Kategorie bilden, als musikalische Produkte definiert werden könnten. Aus einer physikalischen Perspektive, die hier zunächst eingenommen wurde, ist Musik als Schall zu verstehen. Denkt man z. B. an eine Situation, in der die Schüler von Noten singen, d. h. eine symbolische Darstellung in Schall umsetzen, wird anhand dieser Systematik deutlich, dass in diesem Fall mehrere Kategorien abgearbeitet werden: Notenschrift, Einsatz des Körpers als Schallerzeuger und die Verhaltensweise des Musizierens. Es wäre also denkbar, dass sich z. B. die Lernkultur einer Lerngruppe durch den Ausschluss bestimmter Objekte, wie der selbst erzeugten Musikinstrumente oder der Alltagsgegenstände, auszeichnet oder dass bestimmte Verhaltensweisen, wie das Musikhören, den Unterricht dominieren. Das Attribut künstlerisch soll hierbei keinen Einfluss auf die Bestimmung der Musikobjekte haben. 13 Der Begriff des Artefakts betont vor allem das Künstliche und von Menschen Gemachte und richtet somit die Aufmerksamkeit auf das Ergebnis, während der philosophische Objektbegriff das Subjekt integriert („das dem Subjekt Gegenüberstehende“ (wissen.de „Objekt“). 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik Abbildung 1: Musikunterrichtbezogene Objekte 20 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 21 2.3.6 Das 'musikpraktische Wissen' Das „praktische Wissen“ (Reckwitz 2003, S. 292) mit seinen drei Wissensformen bildet einen Teil der Rekonstruktion. Es ist im Folgenden zu fragen, welche Thesen die musikwissenschaftliche und -pädagogische Forschung zu interpretativem (Kapitel 2.3.6.1) und motivationalem Deutungswissen (Kapitel 2.3.6.2) sowie Handlungswissen (Kapitel 2.3.6.3) bisher formuliert hat, um im letzten Kapitel das praktische Wissen, das zentral für den Differenzbezug „Relevantes/Nicht relevantes Wissen“ ist, zu spezifizieren. 2.3.6.1 Musikbezogenes, interpretatives Wissen In der Musikwissenschaft, –pädagogik und –philosophie ist vor allem die Frage nach den der Musik als klangliches Produkt zugeschriebenen Bedeutungen bearbeitet worden, während die Frage nach den Bedeutungen der musikalischen Prozesse als menschliche Verhaltensweisen und Handlungen jenseits eines abstrakten Kunstwerk– oder eines konkreten Produktbegriffs am Rand der Diskussionen steht14. Die Musikwissenschaft beschäftigt sich dabei allgemein mit der Frage, welche Bedeutungen der Musik als Kunstwerk inhärent sind: "In diesen Interpretationskontexten bilden sich die Werke als relativ stabile, hierarchisch strukturierte und kulturell privilegierte Einheiten heraus – als autorisierte Ganze." (Cook 2007, S. 114) Es ist nicht verwunderlich, dass E. Hanslicks „Vom Musikalisch–Schönen“ (Hanslick 1854) so nachhaltig wirkte, da der Autor diese Selbstverständlichkeit negiert: Aus Hanslicks semantischer Perspektive soll Musik keine musikalische Bedeutung haben, da sie nichts aus der Welt darstellt (vgl. ebd.)15. Ch. Rolle bemerkt, dass die Frage nach der musikalischen Bedeutung unglücklich gestellt worden ist (vgl. Rolle 1996, S. 45). Anstatt Musik mit der Sprache zu vergleichen und nach „materialunabhängigen Bedeutungsentitäten“ (ebd., S. 45) zu suchen, sei die Frage nach dem Sinn 16, der sich im Umgang mit Musik entfalte, zu stellen. Allerdings solle gleichzeitig der Sinn „an den Tönen kleb[en]“ (Rolle 1996, S. 45), d. h. er solle unabhängig vom handelnden Subjekt sein. Das kulturelle Artefakt Musik sei also ein Träger von von Subjekten hergestellten und dann doch autonomen Bedeutungen (vgl. Reckwitz 2006, S. 590). Hier versucht sich zwar die Musikpädagogik von den rigiden Implikationen der Musikwissenschaft zu befreien mit dem Ergebnis, dass eine vermittelnde Antwort auf die Frage nach der Quelle der Bedeutungen gegeben wird: Nicht der Komponist konstituiert Bedeutungen und codiert sie im Notentext, sondern Subjekte, die mit der Musik 14 15 16 Dass auch die Musikpädagogik vor allem das musikalische Objekt im Blick hat, mag vielleicht daran liegen, dass sie sich als ein Teil der Musikwissenschaft versteht. Zumindest wird sie aus musikwissenschaftlicher Sicht als ihr Teilgebiet betrachtet. (vgl. Michels 1998, S. 12) Nicholas Cook hat darauf aufmerksam gemacht, dass beim genauen Lesen, dies nicht Hanslicks Position war, er jedoch in diesem Sinne rezipiert wird. (vgl. Cook 2007, S. 88) Ch. Rolle verwendet die Begriffe Sinn und Bedeutung gleichbedeutend. Wie später erläutert wird, leiten Sinnsysteme im Handlungsakt die Bedeutungszuschreibungen an (vgl. Reckwitz 2004, S. 312–313.) 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 22 umgehen und sie dabei in den Text 'einschreiben'. Ch. Rolle versucht zwischen zwei gegensätzlichen Positionen zu vermitteln: Auf der einen Seite sind die Bedeutungen der Musik inhärent, auf der anderen Seite werden sie sozial konstruiert. Versteht man Musik als ein kulturelles Artefakt, wie A. Reckwitz am Beispiel von literarischen Texten darstellt, dann besitzt sie „keinen immanenten Sinngehalt“ (Reckwitz 2004, S. 606). Es können keine den Artefakten immanente Bedeutungen rekonstruiert werden und diesen – möglicherweise ein konträres – Verhalten gegenübergestellt werden. Stattdessen werden in spezifischen Interpretationspraktiken aufgrund von Sinnsystemen den Artefakten Bedeutungen zugeschrieben (vgl. ebd., S. 606–611). Für die Untersuchung der musikalischen Objekte der Welt ist das Thema der Begrenztheit der Bedeutungen relevant. Für bestimmte klangliche Wendungen scheint es quasi natürliche Bedeutungen geben. N. Cook stellt es am Beispiel eines punktierten Rhythmus dar: Niemand würde auf die Idee kommen diesen Rhythmus mit Trauer zu verbinden (vgl. Cook 2007, S. 93–94). Der Autor vermutet, dass bestimmte Bedeutungszuschreibungen stabiler sind als andere. Die Praxistheorie löst das Problem der Unendlichkeit und Zufälligkeit der Bedeutungszuschreibungen, indem sie diese strukturiert. Wenn der punktierte Rhythmus fast niemals als ein Symbol der Traurigkeit verstanden wird, so liegt es in erster Linie nicht an seinen 'physikalischen Eigenschaften', sondern an dem Schema der Trauer und Langsamkeit. Denn ein punktierte Rhythmus entfaltet erste bei schnellen Tempi seine Wirkung. Hier zeigt sich, dass erst die Rekonstruktion des Sinnsystems bzw. Schemata ein bestimmtes Verhalten erklärbar und vorhersehbar macht. Es sei also festzuhalten, dass man im Allgemeinen eher dazu neigt Objekte im Zusammenhang mit ihrer vom soziale Kontext losgelösten Bedeutung zu betrachten. Am Beispiel des Versuchs von Ch. Rolle das Subjekt in den klanglichen Objekten konstante Bedeutungen zu integrieren zeigt, dass es schwierig ist sich von dieser Sichtweise zu befreien. Die Praxistheorie stellt an den Forscher die Aufgabe Objekte entgegen dieser allgemeinen und wahrscheinlich der abendländischen Kultur inhärenten Perspektive zu betrachten. Für das Phänomen Musik bedeutet es, dass Selbstverständliches plötzlich zu einer kulturellen Erscheinung wird. 2.3.6.2 Musikbezogenes emotional–motivationales Wissen Hinter dem emotional–motivationalen Wissen, also den Wünschen, Absichten und Zielen, stehen qualitative Unterscheidungen, in denen „Wertigkeit der Phänomene festgelegt wird.“ (Reckwitz 2006, S. 507) Positive Wertungen der Sinnelemente hängen mit erstrebenswerten Emotionen zusammen, negative Sinnelemente mit vermeidenswerten (vgl. ebd., S. 505). Wie wird in der Musikpädagogik über Wertungen diskutiert? Der Musikpädagoge Walter Heimann beschäftigt sich in dem Aufsatz „Die Zu–Mutung des Werturteils“ mit der musikalischen Wertübertragung im schulischen und außerschulischen Bereich 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 23 und fragt, welche Strukturen in der Wertbeeinflussung regelmäßig zu beobachten seien. Die Institution Schule sieht er als wissenschaftsorientiert und fragt sich, wie die institutionelle Kälte mit Emotionen wie Lust oder Liebe zusammenkommen kann. Der zweite Aspekt des Aufsatzes sind die Jugendkulturen. Die Schule kann sich zu ihnen unterschiedlich verhalten: Sie kann das jugendkulturelle Sinnsystem aufgreifen, es meiden oder aus dem schulischen Alltag ausschließen17. Theoretisch gibt es nach Heimann zwei Grundtypen des Lehrens und Lernens: Erstens den praktischen Typus, der praktisch rationalisiert ist, d. h. das Lehrern und Lernen orientiert sich „an einer für die Beteiligten geltenden musikalischen Ordnung und am Versuch, deren rein praktische Beherrschung zu fordern und zu fördern“ (Heimann 1987, S. 3) auszeichnet. Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen musikalischen Ordnung geht es bei diesem Typus um „musikalische Richtigkeit im Rahmen der gegebenen Stilistik“ (ebd., S. 4). Zweitens den musikalischen Typus, der musikalisch rationalisiert ist, d. h. das Lehrern und Lernen orientiert sich „an einer musikalischen Ordnung, [...] deren Vermittlung, sein eigentliches Ziel ist.“ (ebd.) Dieser Typus zeichnet sich durch eine Konkurrenz der Werte aus, deren Teilnahme im Unterricht rationalisiert wird mit dem Ziel positive Werte gegenüber einer Musik zu wecken und zu fördern. Heimann beschreibt die grundsätzliche Prozedur der Wertübertragung als eine Schrittfolge von identischer Wahrnehmung eines Objekts gefolgt von einer Zumutung eines Urteils. In der Schule finde die Wertübertragung im ersten Schritt über „Bemühung um klare Vorstellungen und Begriffe“ (ebd. S. 10) statt, gefolgt von einer „„Zu–Mutung“ eines positiven oder (bei nicht Gewolltem) eines negativen Werturteils [...] zumeist in der „Präskription“ oder „Suggestion“ eine Wertes“ (ebd. S. 10–11) Während der erste Schritt durch die Überwindung der Deutungsdifferenzen zwischen den Lehrenden und Lernenden gekennzeichnet ist, aber gleichzeitig zum schulischen Alltag gehört, scheint der zweite Schritt fachspezifisch zu sein. Heimann plädiert dafür, die Wertübertragung als Angebot zu präsentieren um nicht unter den Verdacht der Manipulation, wie es unter Gewaltherrschaften praktiziert wurde, zu geraten. Der Autor sieht in der schlechten Erfahrung mit der Werteerziehung der Hitler–Diktatur einen Grund dafür, dass sich „bei vielen Musiklehrern eine völlige Zurückhaltung gegenüber jeglicher musikalischer Beeinflussung geradezu als ausschließliches Ideal ihres pädagogischen Handelns herausgebildet [hat], die alles andere einheitlich unter Manipulationsverdacht stell[en].“ (ebd., S. 15) Angesichts des starken Einflusses der Medien (vgl. Vogt 2001, S. 69) auf die Werteausprägung stellt der Autor diese Zurückhaltung in Frage. Grundsätzlich sei die Werteübertragung etwas typisch außerschulisches, so dass die Schule zwangsweise mit jugendkulturellen Sinnsystemen konfrontiert wird. 17 Hermann Kaiser erklärt zum Beispiel die jugendkulturelle Gebrauchsmusik zum Ausgangspunk der musikpädagogischen Didaktik (vgl. Kapitel 2.3.1, S. 13). 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 24 Die vorliegende Arbeit ist zunächst von jugendkulturellen Sinnsystemen insofern nicht berührt, als die Schüler in der zweiten Klasse sind. Die Musikpsychologinnen Helga de la Motte–Haber und Sabine Jehne stellten 1976 fest, dass die Sechsjährigen im Vergleich zu Zehnjährigen in ihrer Meinung über Musik nicht besonders festgelegt sind18 (vgl. de la Motte-Haber, Jehne 1976). Die Praxistheorie untersucht jedoch nicht, aufgrund welcher mentaler Strukturen die schulischen Akteure handeln. Stattdessen ist zu fragen, welche Wissensordnung(en) den Wertzuschreibungen den musikunterrichtlichen Praktiken zugrunde liegen. Wertzuordnungen, die in den Praktiken, also im routinisierten Handeln, nicht 'ausgedrückt' werden, existieren praxistheoretisch nicht. Ergebnisse der (pädagogischen) Psychologie, wie die von de la Motte– Haber/Jehne sind allerdings ein wichtiger Hinweis, dass vermutlich in den hier untersuchten Praktiken von Seiten der Schüler keine klaren Strukturen von Abneigungen oder Vorlieben vorzufinden sein werden. 2.3.6.3 Musikbezogenes methodisches Wissen In musikpädagogischen und musikpsychologischen Untersuchungen werden routinisiert körperlich hervorgebrachte klangliche Produkte als Quantisierungsverzerrung des Zeit– und Tonhöhenrasters analysiert. Quantisierung bedeutet in dem Kontext die Abbildung der Tonhöhen und Rhythmen in einem System, welches ausschließlich diskrete (in endlichen Intervallen abgebildete) Werte enthalten kann. Ganz besonders in der Musikpsychologie steht die Forschung der Frühentwicklung der kindlichen Fähigkeiten unter dem Vorzeichen der Messung der Abweichung vom abendländischen Tonsystem und exakten Rhythmen 19. Auf der Grundlage der musiktheoretischen Begriffe, wie Ambitus (der von den Kindern beim Singen maximal erreichte Tonumfang), Tonart, Tonleiter, Intonation und Rhythmus gibt es Untersuchungen z. B. der Singfähigkeit der Grundschüler. Dabei wird festgestellt, dass viele Schüler ihre Lieder zu tief singen oder ein Drittel von ihnen den Ton nicht sauber abnehmen kann (vgl. Bojack 2006, S. 97– 98)20. Solche Untersuchungen des Outputs des Musikunterrichts stehen in einem Zusammenhang mit der Formulierung seiner Qualifikationsziele – also der Stimmausbildung, die an eine außerschulische Gesangsausbildung angelehnt ist. Forderungen danach, die Lehre solcher musikalischer Kulturtechniken ausschließlich den Fachkräften zu übergeben, sind folgerichtig, da ein typisches Qualifikationsziel der Musikschulen in die allgemeinbildende Schule hineingetragen wird. Solcher Zugriff auf die den Fähigkeiten der Schüler zugrundeliegende Wissensordnung bedarf 18 19 20 Vgl. dazu neuere Studien: LeBlanc et al. 1996, Schellberg 2006, Schellberg, Gembris 2004. Schellberg und Gembris haben in ihrer Untersuchung festgestellt, dass eine Opernarie von Mozart bereits bei Achtjährigen die größte Ablehnung erfuhr. Im Laufe der Grundschulzeit steige die Anzahl der Ablehnungen auf 80%. vgl. Bruhn 1997b, Bruhn 1997a, Shuter–Dyson 1997, Stadler Elmer 2002 vgl. Vogt 2006a, S. 192 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 25 einer eigenen Untersuchung. Allerdings ist es zu vermuten, dass die Vorstellung vom schulischen Musikunterricht als Gesangsunterricht wahrscheinlich den meisten Grundschulunterricht prägt. Da in der Praxistheorie Wissen nicht personengebunden ist, wird im Gegensatz zu dieser Art von Forschung über die Fähigkeiten der Schüler gefragt, was die Schüler als Teilnehmer einer Praktik können, welches prozedurale Wissen sie haben, um kompetent ihre Körper zu bewegen. Dabei wird nicht gemessen, welche Fähigkeiten sie im Unterricht erworben haben. Während die anderen Wissensformen spezifiziert werden mussten, muss das musibezogene methodische Wissen in dem Sinne erweitert werden, dass musikbezogenes know–how nicht nur auf gesangliche, instrumentale oder tänzerische Fähigkeiten beschränkt ist. Das bedeutet, dass musikspezifisches know–how nicht nur beim Musizieren, sondern bei jeder musikalischen Praxis, wie Musik hören, erforderlich ist. Denkt man an einen Besucher eines Symphoniekonzerts, ist die Frage nach den Techniken, die für die Teilhabe notwendig sind, eher ungewöhnlich. Dabei ist gerade dort die Fähigkeit den eigenen Körper zu disziplinieren (den Husten zu unterdrücken), ihn also stillzulegen, eine der wichtigsten Voraussetzungen, um an diesem Ereignis teilnehmen zu dürfen. (Nicht umsonst werden für Kinder Kinderkonzerte veranstaltet, in denen solche Fähigkeiten nur eingeschränkt abverlangt wird.) Mit dieser Sensibilisierung sollen die heuristischen Fragen des dritten Differenzbezugs entwickelt werden. 2.3.7 Drei fachkulturelle Differenzen Den Kernpunkt der Untersuchung der Lernkultur stellen drei Differenzbezüge dar: die Differenz von sozialer Ordnung der pädagogischen Angebote und anderer sozialer Ordnungen, die Differenz von Vermittlung und Aneignung und schließlich die von schulisch anerkanntem und nicht anerkanntem Wissen. Was bedeutet es im Einzelnen und welche Besonderheiten sind für eine Untersuchung des Musikunterrichts theoretisch zu erwarten? In der Untersuchung der ersten Differenz geht es um den lernkulturellen Kontext der Praktiken (vgl. Kolbe et al. 2008a, S. 133). Im Projekt LUGS steht besonders die Analyse sozialer Hierarchisierung entlang der Leistung der Schüler im Fokus. Es ist davon auszugehen, dass Hierarchien und Asymmetrien Bestandteile des schulischen Lernens sind, die sich jedoch ganz unterschiedlich innerhalb einer Schule oder Lerngruppe ausgestalten können. Für eine Untersuchung der Lernfachkultur wird bezüglich der sozialen Ordnung die Differenz zu außerschulischen Ordnungen bearbeitet. Als erstes ist dabei besonders an Musikpraktiken zu denken, in denen die Akteure an aktueller Füllung des auditiven Raums beteiligt sind, also dem Musizieren. Die soziale Ordnung des gemeinschaftlichen Musizierens kann auf ganz unterschiedliche Art hierarchisch und asymmetrisch sein. So gibt es im Sinfonieorchester eine personen– und instrumentenbezogene Hierarchie: Der Dirigent, der ganz oben an der Spitze steht, gefolgt vom Konzertmeister, hat volle Freiheit in der interpretatorischen Gestaltung; die ersten 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 26 Geigen haben in der Regel die Aufgabe die äußerste Kontur des musikalischen Geschehens zu tragen, während die zweiten Geigen, wie Bratschen, eher den Zwischenraum füllen. Der Volksliedforscher Ernst Klusen unterscheidet zum Beispiel in Bezug auf Mills (Mills 1969) drei soziale Ordnungen nach dem Kriterium „ihrer emotionalen Beziehungen“ (Klusen 1989, S. 172). Schulklassen (neben Arbeitsgruppen und militärischen Einheiten) zählt der Autor zu „bürokratischen Gruppen“ (ebd.), die leistungs–, regel– und konformitätsorientiert sind. „Idealistische Gruppen“ (ebd.) zeichnen sich durch ein Nacheifern des Führers und „demokratische“ durch ein geringes Autoritätsgefälle aus (vgl. ebd.). So sind nach Klusen zum Beispiel Chorvereine mit dem Zweck eines erfolgreichen Auftritts idealistische Gruppen, da es aufgrund der Leistungsorientierung eine starke Hierarchie zwischen dem Dirigenten und der Gruppe gibt (vgl. ebd.). Die Analyse der sozialen Ordnung der Praktiken bezieht sich also erstens auf Differenzen zu anderen sozialen Ordnungen wie der Pause und zweitens auf Differenzen zu außerschulischen musikbezogenen sozialen Ordnungen wie die in einem Chorverein, einem Sinfonieorchester oder einer Rockband. In der zweiten Differenz geht es um die Herstellung und Bearbeitung einer Lücke „zwischen den Vermittlungsbemühungen einerseits und andererseits dem, was an Aneignungsprozessen auf Schülerseite sich vollzieht“ (Kolbe et al. 2008a, S. 133–134). Es ist dabei zu fragen, wie sich Schüler und Lehrer in der Interaktion als sich etwas Aneignende bzw. etwas Vermittelnde zeigen, indem sie sich gegenseitig und sich selbst Rollen und Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunikation zuweisen. Der Vorteil dieses Zugriffs auf das Lernen liegt darin, dass selbst das Arbeiten eines einzelnen Schülers kein von Vermittlungsbemühungen losgelöster Prozess ist, sondern immer ein Ergebnis aus beiden. Die Vermittlungsbemühungen sind anhand des Settings inklusive der Aufgabenstellung sichtbar. In der Musikpädagogik werden die schulischen Vermittlungsbemühungen vor dem Hintergrund der außerschulischen 'selbstsozialisatorischen' Aneignungen der Schüler diskutiert. Insbesondere soll durch die 'Neuen Medien' „im Kontext der sog. »musikalischen Selbstsozialisation« das schulische Monopol auf musikbezogene Wissens– und Kompetenzvermittlung ohnehin schon lange unterhöhlt“ sein (Vogt 2001, S. 69). In der Musikpsychologie stehen die Untersuchungen des alltäglichen musikalischen Verhaltens vor dem Hintergrund der Annahme, dass Musik einer der wichtigsten Bestandteile des Alltags ist. So haben zum Beispiel John A. Sloboda, S. A. O'Neill und A. Ivaldi festgestellt, dass Musik bei fast der Hälfte aller Anrufe, die mit einem Pager alle zwei Stunden ausgelöst wurden, in die Tätigkeiten der Versuchspersonen involviert war (Sloboda, O'Neill 2005, S. 420). Trotz der pessimistischen Einschätzung der Wirkung des Musikunterrichts durch die Musikpädagogik und der Ergebnisse der Musikpsychologie, die darauf hinweisen, dass Musik 2 Praxistheoretische Grundlegung eines Konzepts für eine Lernkultur im Fach Musik 27 außerhalb der Schule eine enorme Rolle spielt, finden im Musikunterricht Aneignungsprozesse statt. Die Bearbeitung dieser Differenz ist insbesondere beim Musizieren vor dem Hintergrund der organisierten außerschulischen Lernprozesse, wie im Instrumentalunterricht, zu begreifen: Vermittlung als Vormachen und Aneignung als Nachmachen – ein Prozess, der sich durch Wiederholung, Scheitern, Verbesserung und Anwendung auszeichnet. Bei der dritten Differenz zwischen relevantem und nicht relevantem Schulwissen geht es „um verschiedene Weisen der Festlegung dessen, was als legitimiertes Wissen gilt.“ (Kolbe et al. 2008a, S. 133–134) Dabei wird gefragt welche Wissensbestände auf welche Art und Weise in der Form von know–how als eines Könnens und eines praktischen Verstehens sowie know–that schulisch durchgesetzt werden, um auf dieser Grundlage Formen von übersubjektiven Wissenskonstruktionen zu rekonstruieren. So kann z. B. ein Ergebnis solcher Rekonstruktion sein, dass innerhalb einer Lerngruppe das relevante Wissen stets durch den Pädagogen (auch körperlich) gezeigt wird. In der vorliegenden Arbeit soll schrittweise gefragt werden, welches interpretative, methodische und evaluative Wissen, wie es im Kapitel 2.3.6.1 dargestellt wurde, den Praktiken zugrundeliegt, was also für den Teilnehmer der Praktik relevant ist. Bezüglich des methodischen Wissens wird zum Beispiel gefragt, was die Schüler können, was sie leisten, wenn sie an einer Praktik des gemeinschaftlichen Gesangs teilnehmen. Es geht also um die Suche nach Mustern, nach denen eine Wissensform zum schulischen Inhalt wird. Im zweiten Schritt soll gefragt werden, welches Wissen auf welche Art und Weise als schulisch relevant markiert wird. Das ist eine Frage nach der Wissensobjektivierung, als Form des Festhaltens des Wissens zur Erinnerung. 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 28 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik Eine empirische Untersuchung der Lernkultur hat konkrete Ansprüche an die Methode: Es muss möglich sein, detailliert den Lernprozess als Zusammenspiel der Subjekte mit den Artefakten zu erkennen. Dafür gibt es bereits das methodische Design der videoethnographische Rekonstruktion (vgl. Kolbe et al. 2008a, S. 135 ff.). Die Ethnographie selbst ist eine qualitative, hypothesengenerierende und deskriptive Methode (vgl. Bohnsack et al. 2003, S. 48–49), die auf das Verstehen fremder Kultur zielt. Sie eignet sich deshalb dazu, die Lernkultur des Musikunterrichts, der heute als eine empirische „Black Box“ (Lehmann-Wermser et al. 2008) gilt, zu untersuchen. Der zweite Vorzug der Ethnographie besteht darin einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Menschen tatsächlich tun. Damit wird der Anspruch erfüllt Praktiken als beobachtbare körperliche Verhaltensweisen zu erkennen. Die Videoethnographie erhöht im Gegensatz zur teilnehmenden Beobachtung die Auflösung der Beobachtung und ermöglicht durch das wiederholte und sich auch immer verändernde Schauen die Sinnstruktur einer Szene zu rekonstruieren. Zu komplex sind soziale Situationen, um sie 'mit einem Blick' erfassen zu können. Gleichzeitig entsteht die Möglichkeit Prozesse zu beobachten, die während des Filmens nicht registriert werden und erst beim Anschauen des Videomaterials auffallen21 (vgl. Kolbe et al. 2008a, S. 135). So kann hier auf das empirische Material zurückgegriffen werden, welches unter einer etwas anderen Fragestellung entstanden ist. Zwar soll im methodischen Vorgehen an die im Forschungsprojekt LUGS entwickelte videographische Rekonstruktion von Lernkultur angeschlossen werden (vgl. ebd. S. 135 ff.). Allerdings ist die Reichweite der Aussagen durch die Einschränkung auf eine Lerngruppe in einem Schulfach deutlich eingegrenzt, während sich das empirische Material im Forschungsprojekt über zwölf heterogene Schulen in drei Bundesländern erstreckt. Ob es sich bei diesem Fall um einen 'Exoten' oder eine an deutschen Grundschulen übliche Lernkultur handelt, kann und soll hier nicht beantwortet werden. Das Ergebnis des Verstehensprozesses zielt stattdessen auf eine Einordnung von Elementen - die Lernkulturhypothesen und das Musikverständnis - in einen Strukturzusammenhang. 21 So sind Schüler, die etwas Inoffizielles aufführen, erst am Videoschnittplatz aufgefallen. 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 29 3.1 Datenerhebung: Videographie Mit der Kamera ethnographisch das Feld zu erfassen bedeutet nicht die Realität abzubilden, sondern eine andere Realität zu schaffen. Es bedeutet nicht eine Totalität abzubilden, sondern ihren Ausschnitt. Mit anderen Worten: Die Realität wird auf einen Ausschnitt reduziert. Das empirische Material ist ein Ergebnis einer subjektiven Beobachtung mit der Kamera. Im Feld ist der Forscher ein Teil der Situation und gefragt ist sein Verstehen der Situation. Während das Material der ersten Aufnahme durch die Situation strukturiert ist, verengt sich der Blick des Kameraethnographen im Laufe des Forschungsprozesses auf konkrete Fragen und damit konkrete Ausschnitte. So hatte die erste Aufnahme einen explorativen Charakter. Während zwei stationäre Kameras die Schüler und die Lehrerin im Fokus hatten, wurde versucht mit einer flexibel eingesetzten Kamera einzelne Schüler zu beobachten. Die weiteren drei Aufnahmen fokussierten dagegen durchgehend einzelne Schüler. Grundsätzlich kann man entweder einen Ort, eine Person bzw. Personengruppe oder eine Situation fokussieren. Im hier untersuchten Fall fallen Ort und Personen zusammen, so dass entschieden werden muss, ob man mit der Kamera an einem Ort bleibt (zum Beispiel am Tisch von zwei Schülern) oder ganz bestimmte Situationen filmt. Elisabeth Mohn hat zum Beispiel die Hände der sich meldenden Schüler fokussiert und konnte so die Bandbreite dieser für den Frontalunterricht zentralen Geste zeigen (vgl. Mohn, Amann 2006). Das durchgehende Filmen der einzelnen Schüler hatte den Vorteil, dass der Frontalunterricht durch Bewegungen des Forschers im Raum nicht gestört wurde. Eine Möglichkeit bestimmte Situationen einzufangen ergab sich während der Aufnahmen nicht. Das lag daran, dass eine intensive Interpretationsarbeit zwischen den Aufnahmeterminen nicht stattfinden und so keine Befremdungsstrategie entwickelt werden konnte, so dass es beim Blick auf einen 'ganz normalen' Frontalunterricht blieb: Eine agierende Lehrerin im Tafelbereich und nahezu reglos sitzende Schüler. Breidenstein schreibt im Zusammenhang über seine Erforschung der Langeweile über eine „quasi natürliche[...] Orientierung des Ethnographen an Aktionen, Aktivitäten und 'Berichtenswertem'“ (Breidenstein 2006, S. 70), die in diesem Setting nicht zum Zuge kommen konnte. Allerdings konnte ein Fokus in der Auswertung des inhaltlich unfokussierten Materials entwickelt werden22, wie anschließend dargestellt wird. Eine Anmerkung ist der Einsatz des Krawattenmikrofons während einer Aufnahme wert. Den beiden mit zwei Kameras gefilmten Schülerinnen wurde nach Absprache das Mikrofon am Kragen angebracht, so dass möglich wurde die leisesten Gespräche oder Kommentare zu 22 Vgl. Wagner-Willi 2005, S. 257: Die Autorin räumt ein, dass eine Szene erst in der Videoanalyse aufgefallen ist. 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 30 verstehen. Entgegen der anfänglichen Annahme, dass der auditive Raum für den eigenständigen Zugang gesperrt ist, hat sich gezeigt, dass sich die Schüler eigene Aneignungsräume schaffen: So hat zum Beispiel eine Schülerin während einer längeren Arbeitsanweisung ein Arbeitsblatt, auf dem Klänge von Uhren mit sprachlicher Imitation abgebildet waren, für sich selbst als Lernoption eröffnet, um die Zeitverhältnisse der tickenden Uhren als körperlich unterstützter Gesang nachzuvollziehen. 3.2 Datenauswertung: Schriftliche Transformation der Videobilder und Schnitt Die Auswertung beginnt mit der Erstellung eines szenischen Verlaufs (vgl. Anhang 8.1) als einer Bestimmung von Szenen und ihren Abschnitten. Erstellt wird der Verlauf auf der Grundlage eines Rohmaterials, also eines ungeschnittenen Videos in der Länge der tatsächlichen Aufnahme. Dem thematischen Verlauf ähnlich, in dem die Themenreihenfolge herausgearbeitet wird, werden die Szenen des Videomaterials benannt und kurz beschrieben. Den Punkt des Szenenwechsels bestimmen die Akteure, so dass die Länge einer Szene variabel ist. So können zum Beispiel zwei Schülerinnen 20 Minuten lang still arbeiten. Ein Szenenwechsel kann dadurch entstehen, dass sich eine der Schülerinnen meldet, eine Lehrerin an den Tisch kommt und sich mit der Schülerin unterhält. Der Bezugspunkt für einen Szenenwechsel ist also eine Kontinuität der Handlung – hier die Stillarbeit. Gleichzeitig bestimmt der Forscher die Handlungslogik, die von der Forschungsfrage abhängt. So wurden zunächst szenische Verläufe erstellt, die sich am Hauptgeschehen des Frontalunterrichts orientiert haben: Hat die Lehrerin das Thema gewechselt, wurde an derselben Stelle ein Szenenwechsel bestimmt. Im Gegensatz dazu waren die Szenenwechsel des seriellen Schnitts vom individuellen Verhalten des Schülers abhängig. Hat ein Schüler seine eigene musikalische 'Performance' beendet, wurde damit auch das Szenenende gesetzt. In der Arbeit am Schnittplatz wird das Datenmaterial aufgrund einer Fragestellung reduziert. Nachdem beim wiederholten Schauen einige Szenen aufgefallen sind, in denen Schüler sich auf ihre eigene Art mit dem Gegenstand des Unterrichts auseinandersetzen, wurde die Suche nach solchen Szenen begonnen, um erstens die Bandbreite der Praktiken zu erfassen und zweitens diese Praktiken als für das Setting typisch auszuzeichnen. Über alle Aufnahmen hinweg wurden diese Szenen zu einem Film zusammengestellt, der die Grundlage für weitere Auswahl bildete. 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 31 Für den Film „Musikpraxis der Schüler“ ist ein Szenenindex (vgl. Szenenindex im Anhang 8.2) erstellt worden, um eine schnelle Navigation zu ermöglichen und sich einen ersten Eindruck über die Bandbreite der Praktiken zu verschaffen, so dass der Index einen Teil des Erkenntnisprozesses darstellt. Für jede Szene wurde ein 'charakteristisches' Standbild ausgewählt, das den Ausdruck der Szene am besten repräsentiert. Neben dem Szenentitel und den Angaben über die Herkunft der Szene wurde eine kurze Beschreibung angefertigt. Auf der Grundlage des Indexes wurde schließlich eine Szene für eine Interpretation ausgewählt. Von den für eine Interpretation ausgesuchten Szenen wurden szenische Beschreibungen (vgl. Anhang 8.3) erstellt. Es sind sehr detaillierte Beschreibungen von sozialen Situationen auch „Protokolle des genauen Schauens“ (Reh, Rabenstein 21.01.2008). Das in Text transformierte Videomaterial entsteht im Prozess der Beobachtung, der Deskription bzw. Transkription. Jede Körperbewegung, Mimik und Gestik wird beschrieben und in einer weiteren Spalte jedes Wort transkribiert. Formulierungen, wie 'es scheint, als ob' oder 'es erinnert an', sind wichtige Bestandteile der Beschreibungen, die die Assoziationen des Schauens festhalten. Hier ein Beispiel: „Der Schüler hebt die im 90°–Winkel geknickten Ellenbogen in die Höhe der Schultern. Seine Unterarme hängen herunter. Die Finger sind gespreizt. Sein Kopf ist etwas nach vorne gebeugt, sein Rücken etwas krumm. Diese Haltung erinnert an ein Monster.“ Die verbalen Äußerungen werden nach folgenden drei Regeln transkribiert: 1. Alle Wörter werden klein geschrieben. 2. Es wird auf Satzzeichen verzichtet. 3. Ein Punkt bedeutet eine Sekunde Pause. Durch den Verzicht auf Satzzeichen soll vermieden werden, dass die Sinnstruktur schon während der Transkription rekonstruiert wird. Neben der szenischen Beschreibung, werden in der Darstellung der Ergebnisse Fallgeschichten als ein Resultat der Interpretation 'erzählt'. Im Gegensatz zu einer szenischen Beschreibung stellt die Fallgeschichte den sequentiell erfolgten Sinnaufbau dar – welche Handlung folgt auf die nächste. Gleichzeitig ermöglicht die Fallgeschichte dem Leser einen Einstieg in die Interpretation. 3.3 Datenanalyse: Heuristik und Induktion Im Mittelpunkt der Rekonstruktion der Lernkultur steht die Arbeit mit einer Heuristik, die im Sinne eines „sensitizing concept“ (Blumer 1954) einzuordnen ist. Sie besteht aus Fragen, 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 32 die das Verstehen des sozialen Geschehens auslösen sollen. Im Forschungsprojekt LUGS wurde dafür eine Matrix entwickelt. Eine Dimension bilden die „konstitutionstheoretischen Annahmen der sozialen Praxis“ (Kolbe et al. 2008a, S. 136) ab: Körper, Interaktion, Artefakte, Raum/Zeit. Die zweite Dimension bilden die „objekttheoretischen Annahmen zur den Dimensionen der Bearbeitung von Differenzen in pädagogischen Praktiken“ (ebd.) ab: Differenz zwischen der sozialen Ordnung der pädagogischen Angebote und anderen sozialen Ordnungen, zwischen der Vermittlung und Aneignung sowie zwischen schulisch anerkanntem/relevantem und nicht anerkanntem/nicht relevantem Wissen. Aus den musikpädagogischen und musikwissenschaftlichen Annahmen zum Gegenstand Musik ergeben sich für die Matrix des Forschungsprojekts veränderte oder sie ergänzende Fragen (vgl. Tabelle 1, Tabelle 2, Tabelle 3). Konstitution der Körpersubjekte/ Formung der Körper Sinnstrukturiertheit der Interaktion Umgang/Gestaltung mit – musikalischen Produkten, – musikproduzierenden Artefakten (z. B. Musikinstrumente), – mit musikbezogenen Symbolen (z. B. Notenschrift) und – mit musikbezogenen Verhaltensweisen Gestaltung von/ Umgang mit Raum und Zeit Differenz von sozialer Ordnung der pädagogischen Angebote und anderer sozialer Ordnungen Wo und wie dürfen sich Personen ausbreiten? Wer darf welche Körperhaltung einnehmen? Welche Differenzen gibt es unter den Schülern? (Geschlechterdifferenzen; Leistung; Asymmetrien; Aktivität/Passivität) Wer und wie strukturiert die Interaktion?23 Wer darf zu wem Kontakt aufnehmen? Wer löst Kontakte aus? Werden Geräusche oder Klänge genutzt, um die Interaktion zu strukturieren? Gibt es einen Führer? Wie ist das Verhältnis zwischen dem Führer und der Gruppe? Wer bestimmt wie den Umgang mit mus. Objekten? Wer darf wie mit Artefakten, Symbolen und Verhaltensweisen umgehen? Wer darf wie den auditiven Raum füllen? Tabelle 1: Soziale Ordnung 23 Fachspezifische Fragen sind kursiv markiert. 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik Konstitution der Körpersubjekte/ Formung der Körper Sinnstrukturiertheit der Interaktion 33 Vermittlung und Aneignung Welche individuellen (körperlichen) Handlungsformen des Aneignens und Vermittelns sind beobachtbar? Mit welcher Mimik, Gestik zeigen sich die Schüler als einen mus. Gegenstand Aneignende? Als was und wie adressieren sich die sich etwas Aneignenden und die etwas Vermittelnden? Welche Ansprüche stellen sie sich gegenseitig? Welche Handlungsspielräume eröffnen die wechselseitigen Rollenzuschreibungen? Wie fest sind Rollenzuschreibungen hier? Umgang/Gestaltung mit – musikalischen Produkten, – musikproduzierenden Artefakten (z. B. Musikinstrumente), – mit musikbezogenen Symbolen (z. B. Notenschrift) und – mit musikbezogenen Verhaltensweisen Welche mus. Objekte stehen zur Verfügung? Welche Gestaltungsmöglichkeiten bieten die mus. Objekte? Gestaltung von/ Umgang mit Raum und Zeit Welche individuellen und kollektiven Lernzeiträume werden eröffnet? Wie wird individuelles und kollektives Lernen synchronisiert bzw. entkoppelt? Tabelle 2: Aneignung und Vermittlung 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik Wissensformen methodisches Wissen Konstitution der Körpersubjekte/ Formung der Körper Was können die Schüler körperlich? Sinnstrukturiertheit der Interaktion Was können die Schüler, wenn sie an der Interaktion teilnehmen? Umgang/Gestaltung mit – mus. Produkten, – musikproduzierenden Artefakten (z. B. Musikinstrumente), – mit musikbezogenen Symbolen (z. B. Notenschrift) und – mit musikbezogenen Verhaltensweisen Was können die Schüler, wenn sie mit den mus. Objekten umgehen? interpretatives Wissen Als was verstehen die Akteure im körperlichen Vollzug das musikalische Objekt? Als was verstehen die Akteure in der Interaktion das musikalische Objekt? evaluatives Wissen 34 Anerkanntes/ nicht anerkanntes Wissen Welches Wissen wird davon, auf welche Art und Weise schulisch anerkannt?(gilt für alle Felder) Welcher Wert wird körperlich dem mus. Objekt zugeschrieben? Welcher Wert wird in der Interaktion dem mus. Objekt zugeschrieben? Was können die Gestaltung von/ Schüler, wenn sie Umgang mit Raum sich im Raum und in und Zeit der Zeit bewegen? Tabelle 3: Wissensformen und ihre Anerkennung Zunächst erfährt die dritte Ebene eine Eingrenzung. Es sollen insbesondere musikspezifische Objekte der Welt in den Blick geraten. Unabhängig davon, ob es sich um eine Triangel oder einen Bleistift handelt, wird ein Artefakt dann zu einem musikspezifischen, wenn er von den schulischen Akteuren musikspezifisch benutzt wird. Für die Untersuchung des Musikverständnisses wurde die dritte Differenzbearbeitung (anerkanntes Wissen) des Forschungsprojekts überarbeitet, indem die praxistheoretische Annahme, dass eine Praktik durch emotional–motivationales, methodisches und interpretatives Wissen zusammengehalten wird, als Frage in die Heuristik aufgenommen wurde (vgl. Reckwitz 2003, S. 289) Es soll demnach zunächst gefragt werden, welches Wissen der Praktik zugrunde liegt und welches Wissen auf welche Art schulisch relevant wird. Indem bestimmtes Wissen anerkannt und anderes ausgeschlossen oder nicht anerkannt 3 Videoethnographie, ethnographische Rekonstruktion und Objektive Hermeneutik 35 wird, kommt das allgemeine und fallspezifische Fach zum Ausdruck: Das Malen als ein Know–How wird im Allgemeinen im Musikunterricht als irrelevant behandelt, während das Tanzen nur in ganz bestimmten Fällen des Musikunterrichts als relevant gelten kann. Zu den einzelnen Szenen werden nach den drei Differenzen geordnet Lernkulturhypothesen formuliert, um die Rekonstruktion mit der Beschreibung von Praxen und ihren Praktiken, im Fall des Musikunterrichts von schulischen Musikpraxen und ihnen zugrundeliegendes Musikverständnis, abzuschließen. Die Lernkulturhypothesen zu den einzelnen Differenzen werden mittels Abduktion gebildet: Die Fragen der Heuristik, aber auch die szenischen Beschreibungen führen zu einer Beobachtung oder Wahrnehmung einer überraschenden Tatsache. Dass z. B. der Schüler Florian etwas Eigenes aufführt, hat Zweifel an der Richtigkeit der Annahme aufkommen lassen, dass die Schüler ausschließlich die Anweisungen der Lehrer befolgen (vgl. Kapitel 4.7). Unterstellt wurde die Regel, dass die schulrelevante Aufführung des Lernens nur ganz bestimmtes Wissen erfordert, das wiederum nur ganz bestimmte Körperteile besetzt, so dass erstens die unbesetzten Körperteile und Bewegungen zur individuellen Verfügung der Schüler stehen und zweitens sich Lernräume ergeben, in denen eine andere, schulisch irrelevante Auseinandersetzung mit dem Gegenstand stattfindet. Die Lernkulturhypothese und der Gegenstandsbegriff erklären dann die Regel und führen direkt zu einer These. Um den Musikbegriff des fragend-entwickelnden Unterrichts (Kapitel 4.6.1) zu rekonstruieren wurde außerdem die Methode der Objektiven Hermeneutik herangezogen. Diese methodische 'Ergänzung' wurde nötig, um zu zeigen, dass sich ein ganz bestimmtes Musikverständnis im sequentiellen Ablauf des fragend-entwickelnden Unterrichts ebenso, wie in der Rekonstruktion der Wissensordnung zeigt. Gemäß den Interpretationsregeln wurde ein für diese Lerngruppe typischer Gesprächsausschnitt in Sequenzen eingeteilt. Zu jeder Sequenz wurden gedankenexperimentelle Lesarten und Anschlußoptionen expliziert (vgl. Bohnsack et al. 2003, S. 123–128; Wernet 2000; Bohnsack 2003, S. 73–78). 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 36 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts Die Kepler–Grundschule24, an der die Erhebungen durchgeführt wurden, liegt in einem 1500 Einwohner großen Dorf in der Nähe von Berlin 25. Das Schulgebäude ist von großen Weideflächen umgeben und vermittelt dadurch auf einen Besucher aus Berlin einen idyllischen Eindruck. Die krähenden Hühner und schnatternde Gänse vom Nachbargrundstück verstärken den Eindruck einer stressfreien dörflichen Atmosphäre. Das Schulgebäude aus den 80er Jahren ist ein vierstöckiger Plattenbau mit grauen Wänden und steht im großen Kontrast zu den meist freundlich wirkenden Einfamilienhäusern des Dorfes. Die frisch renovierte Schule wirkt etwas kahl: Die Flure sind frei von Artefakten mit Ausnahme einiger Pinnwände. Einige Räume, wie zum Beispiel das Hausaufgabenzimmer, sind vollkommen ungeschmückt. Die Räume, die mit Fensterpflanzen und von Kindern gemalten Bildern geschmückt sind, wirken trotzdem – wahrscheinlich aufgrund einer perfekten Ordnung – unbenutzt. Es fällt besonders die Aufstellung der Regale in der Schulbibliothek auf: Die Bibliothek befindet sich in einem rechteckigen Raum mit einer großen runden Couch in der Mitte. Alle Regale stehen parallel zu den Wänden, so dass die Aufsichtsperson von ihrem Tisch aus alle Besucher beobachten bzw. kontrollieren kann. Kontrolle scheint an der Kepler–GS eine große Rolle zu spielen. So wurde zum Beispiel für die Anwesenheitskontrolle der Schüler in den AGs, die am Nachmittag stattfinden, das Amt des Lehrers–vom–Dienst eingerichtet, das von allen Lehrern der Schule unbezahlt ausgeübt wird. Der Lehrer–vom–Dienst geht durch alle Räume, in denen AGs stattfinden und überprüft die Anwesenheit der Schüler. Fehlt ein Schüler, werden umgehend die Eltern telefonisch benachrichtigt. Die Kepler–GS ist seit dem Schuljahr 2004/2005 eine ein– bis zweizügige Ganztagsgrundschule im additiven Modell. Am Vormittag findet bis 12:10 Unterricht statt. Zusätzlich können die Eltern ihre Kinder für ein Schuljahr für den Besuch einer oder mehrerer AGs anmelden, die am Nachmittag von den Lehrern der Schule oder Kooperationspartnern angeboten werden. Der 45–Minuten–Takt wird durch kurze Pausen und eine große Frühstück– und Mittagspause unterbrochen. 24 25 Alle Namen der Personen und Orte sind anonymisiert. Vgl. Rabenstein, Kerstin; Lahr, Evelyn (2006): Schulporträt der Kepler–Grundschule. Ganztagsgrundschule im offenen Modell seit dem Schuljahr 2004/05. unveröffentlichtes internes Papier erstellt im Rahmen des Forschungsprojekts "Lernkultur und Unterrichtsentwicklung an Ganztagsschulen". Technische Universität Berlin. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 37 Musik wird auf dem Schullogo der Schule in Form von frei schwebenden oder in einem System gebundenen Noten und eines Streichinstruments präsentiert (o. V. 21.04.2008). Das Logo als Vier–Felder–Kreis beinhaltet außerdem je ein Bild des Schulgebäudes, eines Computers und eines Bücherregals. Das Musikfeld hat die Überschrift „CHOR/TANZ“ und verweist auf die Tanz–AG und den Chor als Angebote des Ganztagsbetriebs. Zwar ist die Kepler–GS keine musikbetonte Schule, allerdings ist im Rahmen von Schulfesten, wie der Einschulung oder Weihnachtsfeier, eine ausgeprägte Pflege der schulischen Musikkultur zu beobachten, die sich an ausgedehnten und vielfältigen Programmen zeigt, an denen für alle Schüler eine Möglichkeit der Beteiligung eröffnet wird. Neben dem üblichen Musikunterricht am Vormittag können die Schüler wahlweise an fünf musikbezogenen Angeboten teilnehmen: An der Chor–AG, der Gitarren–AG und der Tanz–AG, jeweils geleitet von einer schulinternen Lehrerin, sowie am Melodika/Akkordeon– Unterricht, die von einer externen Instrumentallehrerin angeboten werden. Im Forschungsprojekt LUGS wird die Lernkultur im Musikunterricht der Klasse 2/3b am Vormittag und im Chor bzw. der Chor–AG26 untersucht. Motiviert ist die Frage erstens durch die programmatische Erwartung, an den Ganztagsschulen den Unterricht mit außerunterrichlichen Angeboten zu verzahnen, und zweitens dadurch, dass die Verzahnung Bestandteil des Schulprogramms ist: „Eine sinnvolle Ergänzung zum Fach Musik bietet der Schulchor. [...] Verbindungen [zwischen der Kunst–AG] zum Fach Kunst und zum Arbeitslehreunterricht werden hergestellt.“ In der vorliegenden Arbeit soll der Musikunterricht als ein Schulfach untersucht werden. Dadurch ist der Forschungsprozess zunächst frei von Erwartungen in Form von hinsichtlich der Verzahnung gelenkten Fragen. Sollte es eine Form der Verzahnung als Rückwirkung des Angebots am Nachmittag auf den Unterricht am Vormittag geben, dann wäre sie in den Musikpraktiken sichtbar. Zu denken ist hierbei zum Beispiel an leistungsmäßige Hierarchisierungen der Schüler. Schüler, die Chormitglieder sind, könnten durch ihre Leistungen außerhalb des Unterrichts im Unterricht auffallen. Es wird jedoch zu zeigen sein, wie der Musikunterricht entgegen der programmatischen Erwartungen von zusätzlichen Angeboten unberührt geblieben ist und wie sich die Lernkultur des Unterrichts als die einer allgemeinbildenden Schule und nicht einer Ganztagsschule zeigt. 26 Obwohl der Chor ein Teil der AG–Struktur ist, bezeichnen die schulischen Akteure dieses Angebot häufig nur als „Chor“. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 38 4.1 Zugang zum Feld Der formale Zugang zum Feld wurde im Forschungsprojekt LUGS hergestellt. Auf Empfehlungen der jeweiligen Bildungsministerien wurden Schulen in drei Bundesländern (Berlin, Brandenburg und Rheinland–Pfalz) über das Forschungsprojekt informiert, die sich dann um eine Teilnahme bewerben konnten. Die Kepler–GS hat sich nach einer Anfrage des Ministeriums bereit erklärt am Projekt teilzunehmen. Der Kontakt mit der Schulleiterin wurde über Dr. Kerstin Rabenstein und mit der Musiklehrerin Frau Stein über die Schulleiterin hergestellt. Im Zeitraum März bis November 2007 wurden vier Unterrichtsstunden in der Klasse 2/3b aufgenommen, die das empirische Material der vorliegenden Untersuchung bilden. Das Verhältnis zu Frau Stein schien unproblematisch zu sein – sie öffnete ohne Widersprüche den Zugang zu ihrem Musikunterricht für die Kamera, der, wie üblich, hinter einer verschlossenen Tür stattfindet. Gleichzeitig war das Verhältnis distanziert, was sich besonders in der Eröffnungsrede vor der ersten Aufnahme zeigte (vgl. Anhang 8.3.1). Frau Stein hat die Klasse aufgefordert „einen ganz normalen“ Unterricht zu machen. Die Schüler sollten „die Kameras vergessen“, indem sie nicht hinschauen sollten. Eine Gelegenheit, über das Forschungsvorhaben mit den Schülern zu sprechen und so ihr Vertrauen zu gewinnen, ergab sich nicht. Allerdings war Frau Stein selbst auf die Forschungsfrage neugierig, die sie während eines Umbaus der Aufnahmetechnik gestellt hat. Trotz dieses distanzierten Anfangs wurde im nächsten Schuljahr eine weitere Aufnahme gemacht, auf die eine Rückmeldung der ersten Ergebnisse unter anderem zum Vergleich der Lernkultur im Chor und im Unterricht folgte. Eine Bemerkung des Forschertandems27 bezüglich der Rolle der Lehrerin im Unterricht und Chor war für Frau Stein der Auslöser für einen Vertrauensbruch, da sie davon ausgegangen war, dass ausschließlich die Schüler untersucht werden würden. Gleichzeitig wurden die Ergebnisse als ein Plädoyer für offenen Unterricht interpretiert, so dass Frau Stein in einem langen Gespräch am Ende des zweiten Aufnahmetages erzählte, dass sie sich extra für die Aufnahme sehr lange vorbereitet habe, um eine Gruppenarbeit möglich zu machen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Aufnahmen für die Lehrerin trotz vertrauensbildender Maßnahmen eine Sondersituation geblieben sind. Das distanzierte Verhältnis zwischen der Lehrerin auf der Bühne, den Schülern im Publikum und dem Tandem führte dazu, dass die Kamera in den ersten drei Aufnahmen trotz eines flexiblen Stativs vom Rand des Klassenzimmers aus gefilmt hat. In der vierten Aufnahme war es möglich zwei Schüler aus 27 Dr. Kerstin Rabenstein, E. L. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 39 der Nähe zu beobachten und ihnen ein Krawattenmikrofon anzuheften, da sie bereits durch das Filmen in anderen Settings mit der Technik vertraut waren. Trotzdem blieb die Kamera ein Fremdkörper, der möglichst ausgeblendet werden sollte, um den ungestörten Verlauf des Unterrichts zu sichern. Die Aushandlung zwischen Nähe und Distanz fiel zu Gunsten eines durch Fragezeichen geprägten Verhältnisses aus. Die Rolle der Forscherin war die einer Wissenschaftlerin, die für Frau Stein potentiell gefährlich war, was besonders gut an der Herstellung einer Normalität in der ersten Aufnahme und einer zeitlich ausgedehnten Vorbereitung des aufgenommenen Unterrichts („bis in die Nacht hinein“ – so Frau Stein) vor der dritten Aufnahme deutlich wurde. Trotz dieser aus der ethnographischen Sicht ungünstigen Bedingungen im Feld (vgl. Meier 2008) hat die Kamera eine nicht völlig andere Lernkultur eingefangen. Im Fokus standen die Schüler, die sicher nicht in der Lage waren für eine Aufnahme ein gänzlich anderes Lernen aufzuführen. Das bedeutet, dass die Aufnahmen zwar nicht eine Normalität des Alltags aber eine Normalität des Lernens durch den gewählten Fokus abbilden28. 4.2 Videographie Die Filme entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts unter der Frage des Vergleichs der Lernkultur des Musikunterrichts und des Chors. Die erste Aufnahme hatte einen explorativen Charakter. Der Blick durch zwei statische Kameras sollte einen ersten Eindruck von dem Geschehen in der Klasse verschaffen. Eine weitere flexibel eingesetzte Kamera beobachtete einzelne Schüler. Die nächsten drei Aufnahmen hatten einzelne Schüler im Fokus. Dabei wurden in der dritten Aufnahme Schüler ausgesucht, die gleichzeitig Chormitglieder waren und in der vierten die Schüler, die sonst kein weiteres außerunterrichtliches Musikangebot wahrgenommen haben. Diese Entscheidung wurde durch die Annahme eines Einflusses der Chormitgliedschaft auf die Praktiken im Unterricht begründet. Obwohl das vorliegende Material unter einer anderen Fragestellung entstanden ist, lässt es trotzdem Zugänge für Beobachtungen der Teilnahme der Schüler an der schulischen Musikpraxis zu. Besonders die ersten beiden Aufnahmen, in denen die Kamera auf der Suche nach Auffälligkeiten ist, bieten viele Szenen an, in denen Schüler im Klassenkollektiv musizieren bzw. sich körperlich mit Musik auseinandersetzen. 28 Damit sei nicht gemeint, dass die Aufnahme die Realität abbildet. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 40 Bevor die Begründung für eine Auswahl von Szenen und ihre Interpretationen vorgestellt wird, soll eine Interpretation einer Szene des Unterrichtsanfangs, die im Forschungsprojekt entstanden ist, rezipiert, aber auch ergänzt werden. Diese 'Anfangsszene' soll zeigen, wie der Schülerkörper im Sinne eines kognitiv ausgerichteten Lernens schulisch kultiviert wird. 4.3 Videointerpretation der Szene „Kopf auf die Bank“ – Vorbereitung der Schülerkörper auf kognitives Lernen Die Szene29 „Kopf auf die Bank“ (vgl. Szenische Beschreibung Anhang 8.3.1) stammt aus der ersten Aufnahme vom März 2007. Nachdem die Lehrerin mit einem „so“ den Anfang der Stunde markiert hat und ca. eine halbe Minute lang in der Form eines Vortrags die Klasse über den Umgang mit der Technik aufgeklärt hat, läutet sie eine 'Entspannungsphase' ein: Im Raum herrscht absolute Stille. Tobi und Sarah sitzen nebeneinander an einem Tisch und schauen konzentriert nach vorne (in die Richtung der Tafel). Sie wirken dadurch, dass bei beiden Schülern die Unterarme parallel zum Oberkörper liegen, sehr brav. Die Lehrerin sagt: so. und damit ihr euch ein bisschen beruhigt und vielleicht die kameras vergesst weil ihr jetzt aus dem sportunterricht kommt hören wir jetzt erstmal ein bisschen entspannungsmusik. Kaum hat die Lehrerin den Satz zu Ende gesprochen, schon haben beide Schüler routiniert ihre Köpfe auf die Unterarme gelegt. Die anschließende Aufforderung der Lehrerin „kopf auf die bank“ erscheint als überflüssig, da die Körper der meisten Schüler bereits auf dem Weg in die halb liegenden Haltung sind. Ab jetzt ist in der Klasse nur ein Husten in der Zeit, in der die Lehrerin den CD– Player einschaltet, zu hören. Dass Gespräche mit Tischnachbarn untersagt sind, scheint selbstverständlich. Sarah legt sogar ihren Kopf auf die rechte Gesichtshälfte drauf, so dass sie Tobi, der rechts neben ihr sitzt, nicht sehen kann. Da in der Klasse nichts weiter passiert, können die Schüler beruhigt ihre Augen schließen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen etwas entgeht. Nach ein paar Sekunden erklingt eine leise, monotone Musik, die an Hintergrundmusik erinnert, die zum Beispiel auf CDs mit autogenem Training zu hören ist. Nach dreieinhalb Minuten wird die Musik leise, bis sie völlig ausklingt. In dieser Zeit haben sich Tobi und Sarah fast nicht bewegt. Die Schwierigkeit, die Lernkultur in der Klasse 2b zu beschreiben, kumuliert in dieser Szene, in der das erste Mal der Forscher den Musikunterricht kennenlernt: Über drei Minuten lang passiert nichts. Niemand spricht oder zeigt/schreibt etwas, wie es üblicherweise im Frontalunterricht zu sehen ist. Die Situation ähnelt eher einer Klassenarbeit, wenn man von den vergrabenen Gesichtern und der Musik absieht. Die Erwartung, im Musikunterricht musizierende Schüler zu sehen, wird nicht erfüllt. Stattdessen wird der Forscher mit diesem 29 Diese Szene wurde bereits im Forschungsprojekt interpretiert. (vgl. Rabenstein, Kerstin; Lahr, Evelyn (2007): Hypothesen zur Lernkultur an der Keplerschule: Musikunterricht und Chor–AG im Vergleich. Technische Universität Berlin.) Diese Interpretation wurde hier überarbeitet und ergänzt. Außerdem wurde die Szene in ihrem sequentiellem Aufbau erzählt. (vgl. S. 40) 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 41 Einstieg überrascht und ist statt mit gekonnten Bewegungen mit gekonnter Vermeidung von Bewegungen und Interaktionen konfrontiert. Das, was mit den Schülern passiert, ob sie vielleicht „ihre Gedanken wandern lassen“30, bleibt für die Forschung unzugänglich. Was sich jedoch beschreiben lässt, ist die Praktik der Stilllegung der Schülerkörper. Auf der Ebene der sozialen Ordnung haben wir es mit der Lehrerin als autoritärer Gruppenführerin zu tun, die Anweisungen verbal vermittelt, und einer Gruppe, der Klasse, die diese (in dieser Szene) non–verbal ausführt. Das Verhältnis unter den Schülern lässt sich als Isolation im Kollektiv beschreiben: Das Kollektive ist das gleichzeitige und gleichartige Verhalten, das durch an alle gerichtete Anweisungen ausgelöst wird. Die Isolation entsteht durch den Verzicht auf Interaktion. Die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung wird bearbeitet, indem das Zeigen als Anweisung und als Vorspielen langsamer Musik Aneignung eröffnet erstens als im Kollektiv (nahezu) homogene Bearbeitung der körperlichen Haltung und zweitens als individuelle Bearbeitung der mentalen Haltung. Die Schüler können lernen sich im Kollektiv durch externe musikalische Beeinflussung mit sich selbst mental zu beschäftigen. Für Außenstehende ist der 'geistige Raum' unzugänglich, so dass jeder Schüler im Geist völlig frei mit der monotonen, leisen Musik umgehen kann: Er kann die Gedanken wandern lassen 31 oder einschlafen. Allerdings ist diese Musikart durch ihre Verwendung in 'Entspannungspraktiken' mit der Bedeutung der Beruhigung des Geistes in Verbindung mit oder als Folge der Beruhigung des Körpers belegt32. Dadurch werden andere Bedeutungszuschreibungen – zumindest im Abendland – unwahrscheinlich. Die Form, die die Bearbeitung der pädagogischen Differenz hier annimmt, ist die Herstellung einer körperlich– mentalen Haltung in kollektiver körperlicher Gleichschaltung und mentaler Selbstbestimmung. Das schulisch relevante Wissen ist das Können einer bestimmten körperlichen Haltung als Verzicht darauf die Umwelt zu verändern, damit einhergehend Verzicht auf jegliche Interaktion mit anderen Akteuren und das Einnehmen einer suggestiven geistigen Einstellung sich selbst gegenüber. In der Interaktion wird die Körperhaltung bereits durch das Signal „Entspannungsmusik“ zum Wissensinhalt und muss vom Schülerkollektiv zeitgleich aufgeführt werden. Das relevanten Wissen – die Beruhigung – muss der Lehrerin kollektiv 30 31 32 Reh, S (2007): Forschungsgruppentreffen. Reh, S (2007): Forschungsgruppentreffen. Titel, wie „Asian Spirit“, „Traumhafte Stunden am Meer“ oder „Wellness Musik“ (vgl. http://www.vtm–stein.de/hoerproben_musik_1.htm) in Verknüpfung mit Bildern von unberührter Natur, die zum Teil 'romantisiert' sind (Ein Liebespaar vor einem Sonnenuntergang), seien Beispiele für Artefakte, den diese Bedeutungen zugeschrieben werden. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 42 körperlich vorgeführt werden. Dabei können alle Schüler potentiell diese Art von Beruhigung aufführen. Über die Wissensquelle kann nur spekuliert werden: Entweder ist es im Modus einer in der 'Geschichte dieses Musikunterrichts' bereits ausgesprochenen Anweisung und/oder im Modus der außerschulischen Erfahrung mit Entspannungs– oder Meditationspraxen verfügbar. Das heißt, dass entweder die Schüler in einer anderen Musikstunde angewiesen wurden zum Beispiel die Augen zu schließen, nicht mit den Mitschülern zu sprechen und vielleicht an 'etwas Schönes' zu denken oder sie haben außerhalb der Schule Menschen beobachtet, die in Verbindung mit solcher 'Entspannungsmusik' ihre Augen schließen und sich nicht bewegen. Schüler, die entweder in der Stunde, in der dieses Können vermittelt wurde, nicht anwesend waren oder Entspannungspraxen nicht kennen, haben die Möglichkeit sich die körperliche Haltung von den Mitschülern abzugucken. In dieser Szene werden zentrale Bestandteile der Lernkultur des Musikunterrichts sichtbar: Erstens wird der Unterricht durch Praktiken des Gebens und Befolgens von Anweisungen strukturiert, die sich zwischen der Lehrerin und dem Klassenkollektiv konfliktfrei abspielen. Die Lehreranweisung und eigene außerschulische Erfahrungen sind dabei Wissensquellen. Zweitens findet der Unterricht vor dem Hintergrund des Schemas der körperlichen Passivität und mentaler Herausforderung (im Sinne des Aufmerkens) statt. Der Verzicht auf körperliche Arbeit, also die Aufführung des passiven Körpers, wird als Voraussetzung für einen auf eine bestimmte Auswahl an kognitiven Fähigkeiten ausgerichteten Unterricht verstanden: Aufmerksamkeit und Erinnerung. Der Verzicht auf die Interaktion unter den Schülern macht die Konzentration auf das Geschehen an der Tafel möglich und sichert durch die Hoheit der Lehrerin über den auditiven Raum das akustische Verständnis des Gesprochenen. Die Praktik der Stilllegung der Schülerkörper hat die Funktion der Herstellung von Voraussetzungen, die einen störungsfreien Ablauf eines Frontalunterrichts sichern. Nicht zufällig verweist die Lehrerin in der Initiierung der 'Entspannungsphase' auf den der Musikstunde vorangegangenen Sportunterricht33, der in der Aktivierung der Körper eine potentielle Gefahr für die Ordnung des Frontalunterrichts darstellt. Den einen Frontalunterricht gibt es nicht. Breidenstein schreibt über diese dominierende Sozialform: „Frontaler Unterricht kann langweilig, einschläfernd und monoton oder kann gut gemacht sein: unterhaltsam, spannend, geradezu mitreißend.“ (Breidenstein 2006, S. 95) Die Szene aus dem Unterrichtsanfang zeigt, wie in der Praktik der Stilllegung der Schülerkörper eine außerschulische Musikpraxis der Funktionalisierung von sphärisch–monotoner Musik als 33 Vgl. Szenische Beschreibung der Szene „Kopf auf die Bank“ 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 43 eine bestimmte Kultivierung des Körpers und des Geistes in den schulischen Frontalunterricht integriert wird. Solch ein Einstieg in den Musikunterricht lässt eher eine Fortsetzung der Monotonie als einen spannungsreichen Kontrast erwarten. Die Frage, die sich hier stellt, lautet, welche Musikpraxis in solch einem Unterricht entstehen kann. Was für ein Begriff von Musik wird von der Schule einerseits und von den Schülern andererseits aufgeführt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Musik im Alltag durch Austausch ästhetischer Urteile und Manifestierung ästhetischer Einstellungen geprägt ist? Musikpraxis ist immer Teilnahme an (ästhetischen) Sinnkonkurrenzen (vgl. Heimann 1987, S. 5). Sobald es zu einer Interaktion von mindestens zwei Personen kommt, geht es immer „um eine möglichst wirksame Beeinflussung, um rastlose Suche nach identischen Bewusstseinsinhalten einerseits und um sozialen Konsens in den Werturteilen (aufgrund der gegebenen „Interessen“) andererseits.“ (ebd., S. 9) Solche Prozesse sind in Unterrichtsgesprächen durchaus denkbar. Der Lehrer als auch jeder Schüler hat die Möglichkeit an eine thematisierte Bedeutungszuschreibung anzuschließen oder sie abzulehnen. Im Frontalunterricht ist das individuelle Vorantreiben des Geschehens nicht vorgesehen, wenn man den Frontalunterricht als eine Sozialform versteht, die ausschließlich den Lehrervortrag und den fragend–entwickelnden Unterricht als Arbeitsformen zulässt (vgl. Aschersleben 1974, S. 126). Allerdings kann der fragend–entwickelnde Unterricht durchaus Aushandlungen von Bedeutungsdifferenzen zulassen. Die Untersuchung der schulischen Musiklernpraxis hängt also mit der Kultur des Lehrens zusammen, die sich zum Beispiel in einer bestimmten Ausprägung der Sozialform zeigt. Im Folgenden sollen zwei weitere Szenen, die anschließend interpretiert werden, kurz vorgestellt und ihre Auswahl begründet werden. 4.4 Auswahl der Szenen Die Interpretation der Szene „Kopf auf die Bank“ wirft einige Fragen auf: Welcher Musikbegriff, neben dem im Sinne des Therapieparadigmas, wird außerdem verhandelt? Wird das Schema der stillgelegten Körper und des herausgeforderten Geistes fortgeführt? Welche Fähigkeiten, neben der der Vermeidung von Bewegungen und welches Wissen sind schulisch relevant? Um diese Fragen zu beantworten, wurde eine Szene ausgewählt, die für den Musikunterricht der Klasse 2b typisch ist: Die Schüler lernen ein Lied kennen, indem sie es Zeile für Zeile nachsingen. Unterbrochen wird dieser Lernprozess durch den fragend– 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 44 entwickelnden Unterricht: Die Schüler müssen zum Lied– oder zum Liedtext Fragen der Lehrerin beantworten. Im Fall der Szene „Fällt euch da was auf“ singt die Lehrerin einen Liedausschnitt vor und fragt die Schüler, was ihnen aufgefallen ist. Die Interpretation des Gesprächs zeigt erstens typische Merkmale des fragend–entwickelnden Unterrichts, wie die Verborgenheit der Antwort in der Frage, durch die der Schüler selbst zur Erkenntnis gelangen soll, und zweitens einen Begriff von Musik als ein durch Unterordnung des Subjekts gegenüber dem musikalischen Objekt geprägtes Verhältnis. Die Interpretation des Films, auf dem vier Schüler zu sehen sind, zeigt des weiteren, wie der Raum der Begrenzungen (keine Schüler–Schüler–Interaktion, der auditive Raum bleibt den Schülern eigentlich verschlossen, Regungslosigkeit) von Schülern als schulisch legitim aufgeführt wird. Nach der Interpretation der Szenen „Kopf auf die Bank“ und „Fällt euch da was auf“ stellte sich die Frage, ob die Schüler tatsächlich immer regungslos sitzen, auf die Bühne der Lehrerin ausgerichtet sind und nur durch Anweisungen der Lehrerin (körperlich) aktiviert werden. Der Beobachtungsauftrag für eine Arbeit am Schnittplatz war es also, Szenen zu einem Film zusammenzustellen, die Schüler zeigen, die sich musikbezogen eigenständig verhalten. Als Ergebnis liegt ein ca. 16 Minuten langer Film mit 26 Szenen vor (vgl. Anhang 8.2), in denen Schüler durch eine zum Teil äußerst expressive, im Kontext der Lernkultur dieser Klasse ungewöhnliche, körperliche ‚Performance’ auffallen. Im Gegensatz zu Untersuchungen des Geschehens auf der Hinterbühne (Zinnecker 1978) oder Neben– Kommunikationen (Baurmann et al. 1981a), die aus der Sicht der Schule als Störungen des Unterrichts gedeutet werden, offenbaren diese Szenen ein individuelles musikalisches Verhalten zum musikalischen Geschehen des 'roten Fadens', das nicht sanktioniert wird. Die Musik des Unterrichts wird zum Anlass für eigene musikgenuine Actio bzw. die Schüler setzen sich musikspezifisch zum Musikunterricht ins Verhältnis. Gemeinsam ist diesen Szenen ihre körperliche Offenheit: Es handelt sich nicht um diskrete Praktiken, die nicht für die Augen der Lehrerin bestimmt sind, sondern um eine offene, durchaus für die Lehrerin und die Klasse einsehbare musikalische Actio. Diese Musikpraktiken sind also ‚inoffiziell’ im Sinne von nicht amtlich und nicht „auf die pädagogische Gestaltung des Unterrichts“ bezogen (vgl. Baurmann et al. 1981b, S. 4) und gleichzeitig für die Anwesenden inklusive der Kamera öffentlich. Es sei an dieser Stelle betont, dass es nicht darum ging, nach Szenen zu suchen, die die Existenz der Schülerkultur als Gegenwelt zur Schule 'beweisen' (vgl. Breidenstein 2006, S. 15), das heißt die potentiellen Störungen und Abweichungen als Ausdruck der Kritik an der Schule zu feiern. Stattdessen ging es um die Frage, wie Schüler mit dem musikalischen 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 45 Angebot der Schule, mit ihrem musikalischen Sinnsystem in den Musikpraktiken umgehen und wie sie dabei ihre eigenen Bedeutungszuschreibungen 'platzieren'. Dieser Zugang zu der Lernkultur erschien leichter zu sein als der über die Beobachtung der schulkonformen Bewegungsroutinen. Aus der Serie von 26 Szenen wurde schließlich die Szene „Florian musiziert“ für eine detaillierte Interpretation ausgewählt, weil die Qualität der Aufnahme für den erforderlichen Detaillierungsgrad ausreichend war und in dieser Szene den Schülern durch den Einsatz von Instrumenten und durch eine teilweise aufgelöste frontale Sitzordnung andere Lernoptionen, als im fragend–entwickelnden Unterricht geöffnet wurden. Diese Szene zeigt eine Differenz zwischen einem offiziellen auf Reproduktion ausgerichteten und einem inoffiziellen auf das Verstehen ausgerichteten Lernen. Eine Beschreibung des Klassenraums soll der Interpretation der beiden Szenen vorangestellt werden, da die Konstitution der Körpersubjekte, die Interaktionsstruktur und der Umgang mit Artefakten durch den Raum bereits maßgeblich bestimmt werden. 4.5 Raum, Artefakte und Körper Abbildung 2: Klassenzimmer der Klasse 2b – Tafelbereich Der Musikunterricht findet im Klassenzimmer der Klasse 2b statt. In Reihen aufgestellte Tische mit jeweils zwei Stühlen, die nach vorne ausgerichtet sind, eine große Tafel und bunte Dekoration sind Merkmale eines 'typischen' Klassenraums einer Grundschule. Ein Waschbecken, ein größerer Tisch im Tafelbereich, an den Tischen befestigte Scout–Taschen und die an den Rändern der Tische liegende Federtaschen lassen keinen Zweifel mehr an der 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 46 zugehörigen Institution und der Funktion dieses Ortes übrig: Hier findet institutionell organisiertes Lernen von Grundschülern statt. Nur die große Anzahl an Leitzordnern, die ein Regal füllen, das an der hinteren Wand steht, erinnert eher an ein Büro. Auf das Fach Musikunterricht deutet mit der Ausnahme eines CD–Players, der auf dem Lehrertisch steht, nichts hin. Während der CD–Player ein Artefakt eines Sprachunterrichts sein kann, verweist eine Gitarre, die die Lehrerin im Laufe der ersten Aufnahme zur Begleitung eines Liedes spielt, auf einen Musikunterricht. Abbildung 3: Klassenzimmer der Klasse 2b Wenn sich die in einer Untersuchung zur Situation des Musikunterrichts von 1982 (Schaffrath et al. 1982) ermittelten Zahlen bis heute nicht gravierend verändern haben, ist das räumlich–mediale Bild, das hier präsentiert wird, nicht ungewöhnlich: Die Befragung der Musiklehrer ergab, dass 42% der Volksschulen keinen Musikfachraum hatten (vgl. ebd., S. 51) und die Nutzungsintensität von musikspezifischen Medien „in hohem Maße vom Vorhandensein eines Fachraums34“ (ebd., S. 69) abhinge. Was bedeutet es aber für die Untersuchung der Lernkultur, wenn die Schüler in einem Musikunterricht an frontal aufgestellten Tischen sitzen und wenn der Einsatz von musikspezifischen Artefakten an diese Raumsituation angepasst werden muss? Die Anordnung der Tische und Stühle weist jedem einzelnen Schülerkörper einen klar definierten Platz im Raum: Einen Stuhl, einen schmalen Bereich hinter dem Stuhl und neben dem Tisch sowie eine Tischhälfte. Die Platzzuweisung ist der eines Orchesters ähnlich: Jeder Musiker hat einen von seinem Instrument abhängigen Platz mit einem Stuhl und einem 34 Erstaunlich ist, dass obwohl die Kepler–GS über einen Raum mit einem Klavier und einem großen Instrumentenschrank verfügt, dieser für den Musikunterricht nicht genutzt wird. Außerdem ist dieser Raum sehr breit, so dass neben den frontal aufgestellten Tischen ein Stuhlkreis aufgebaut werden kann. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 47 Notenpult. Chorsänger müssen sich dagegen bei ihrem Auftritt auf die Bühne den Platz in Relation zu anderen Sängern als Gruppe einrichten. In allen drei Settings sind die Blicke nach vorne gebündelt: Der Dirigent bzw. der Lehrer steht im visuellen Zentrum. Nur die Tische, die neben der Tafel großräumig den Klassenraum 'besetzen', scheinen in der außerschulischen Musikwelt keine Entsprechung zu finden, da Musiker normalerweise keine Tische brauchen (es sei, dass das Instrument auf diesem abgestellt wird). Im Zusammenhang mit Musikpraxen und vor allem Situationen, in denen Partituren studiert werden, bekommt der Tisch eine Funktion: Ob es nur der Dirigent ist, der beim Studieren Zeichen in die Partitur einträgt, oder der Musikhörer, der sich Musik über eine Arbeit mit Partituren aneignet. Es handelt sich um kognitive Aneignungsformen, in denen der Körper stillgelegt wird. Das für das Musizieren unpassende Mobiliar formt also die Körper in ihrer Position, Haltung und Bewegungsmöglichkeit. Nicht das Mobiliar wird der Lernsituation angepasst, sondern die Körper dem Mobiliar. Zusammen mit der Tafel ist also der Unterricht in solchen Räumen eher auf das Lernen über visuelle Symbole ausgerichtet, wie die folgenden für die Lernkultur der Klasse 2/3b typischen Standbilder verdeutlichen (vgl. Abbildungen 5.3 und 4.5). Abbildung 4: Musikbezogenes Lernen über mus. Symbole Abbildung 5: Musikbezogenes Lernen über Text Während in Situationen des symbolisch–visuellen Lernens das Mobiliar der Klasse 2/3b seinem Zweck optimal angepasst ist, müssen sich die Körper bei ihrer Aktivierung an die Situation anpassen, indem sie versuchen den freien Platz optimal auszunutzen. Die Abbildung 5.5 stammt aus einer Stunde, in der die Schüler wie ein Elefant tanzen sollten. Hinter ihren Stühlen stampfen sie auf der Stelle und bewegen ihre hängenden Rüssel an Stuhllehnen vorbei. Der Tanz als Bewegung im Raum wurde um diese Dimension verkürzt. Mit erleichterten Seufzern begleitet die Klasse ihre Rückkehr auf die Stühle. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 48 Abbildung 6: Der Elefantentanz Der hier untersuchte Unterricht findet also in einer für das kognitive Lernen bzw. Aneignung von Orientierungswissen günstigen Umgebung statt. In der Ausnutzung des physikalischen Raums kann sich das Lernen widerstandslos 'auf der Stelle' abspielen. Für die Differenz der sozialen Ordnung bedeutet der statische physikalische Raum mit einer seltenen Neupositionierung der Körper, dass es eine Basisordnung gibt, die manchmal für unterschiedliche Zwecke, wie der Arbeit des Lehrers mit einem Schüler an der Tafel, für einen Augenblick verlassen wird. Die Basisordnung zeichnet sich durch ein Klassenkollektiv aus, das gegenüber einer Lehrerin sitzt. 4.6 Videointerpretation der Szene „Fällt euch da was auf“ – Kognitive Haltung und 'hochkulturelle' körperlich–soziale Ordnung Die Szene „Fällt euch das was auf“ (vgl. Szenische Beschreibung Anhang 8.3.2) stammt aus der zweiten Aufnahme, in der die Klasse das Volkslied „Hejo! spann’ den Wagen an“ (19.°Jh.) singt. Die Sequenz aus der gesamten Szene, die nachfolgend interpretiert werden soll, ist für das Lernen in dieser Lerngruppe typisch: Die Schüler sitzen an ihren Tischen, verzichten auf Interaktion mit den Mitschülern, ihre Körper sind nach vorne ausgerichtet, die Lehrerin bewegt sich im Tafelbereich, zeigt auf etwas und stellt dazu Fragen. Das Gezeigte ist selbst– oder fremdproduzierte Musik und die Schüler sollen in der Rolle der Zuhörer etwas heraushören. Die meisten Schüler melden sich nach dem musikalischen Vortrag, einer von ihnen wird rangenommen und seine Antwort als richtig oder falsch markiert. Man könnte auch sagen, dass hier ein 'ganz normaler' Frontalunterricht aufgeführt wird. Durch den hohen Sprachanteil eignet sich besonders gut die Methode der Objektiven Hermeneutik, um zu 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 49 zeigen, welches Verständnis von Musik die Akteure hervorbringen und wie eine sich anbahnende methodische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand abgebrochen wird. Dieser Weg führt direkt zu ersten Hypothesen der Lernkultur der Klasse 2/3b: Erstens ist eine mentale Einstellung gegenüber der Musikwelt schulisch relevant und damit der Gegenstand der Bearbeitung der pädagogischen Differenz. Zweitens ist Musik eine für individuelle Entscheidungen geschlossene Ausführungsvorschrift. Die Rekonstruktion mit der Hilfe der Lernkultur–Heuristik zeigt, wie innerhalb der sozialen Ordnung des Frontalunterrichts routiniert und pflichterfüllend eine körperlich–soziale Ordnung einer „Hochkultur“ (Schulze 2005) mit integrierter körperlicher Aneingungsweise aufgeführt wird. 4.6.1 Der 'rote Faden' des fragend–entwickelnden Unterrichts Das Interaktionsprotokoll lautet wie folgt: (Lehrerin singt auf einem hohen Ton zwei Mal den Text „hol die gold’nen garben“) L: fällt euch da was auf .... Tina, Sarah und Tobi melden sich. L: tina T: dass man da hoch singen muss L: jaa . (Tobi und Sarah melden sich nochmal) xx (L. singt. Tina schaut ihre Nachbarin fragend an.) Sx: dass es nur ein ton ist L: es ist immer der eine und derselbe ton . das ist ganz schön schwierig so was zu singen Das Thema der Frage „fällt euch da was auf“ ist die Auffälligkeit. Der Fragende erkundigt sich bei einer Gruppe implizit über ihr Sinnsystem, vor dessen Hintergrund sie eine Sache betrachten. Wird einer Person zum Beispiel eine Spinne gezeigt und gefragt, was ihr auffällt, kann sie entweder antworten, dass sie für europäische Verhältnisse besonders groß sei oder dass ihr ein Bein fehle. Im ersten Fall bezieht sich der Antwortende auf das geographische Vorkommen und im zweiten Fall auf die Anatomie des Tieres. Die Adressaten haben jedoch auch die Möglichkeit die Frage zu verneinen. Am Beispiel der Spinne würde es heißen, dass die Antwortenden weder wissen, dass es in Europa eher kleinere Spinnen gibt, noch dass Spinnen stets eine gerade Anzahl an Beinen haben. Im dritten Fall könnte den Antwortenden zwar etwas aufgefallen sein, wie zum Beispiel eine besondere Hässlichkeit oder Schönheit des Tieres, sie könnten dies jedoch nicht äußern (oder nur inoffiziell), weil sie durch einen spezifischen sozialen Kontext ihre Antwort als grundsätzlich sinnfremd einstufen würden. Würde zum Beispiel das Gespräch über die Spinne im Biologieunterricht gestellt werden, wäre eine Antwort auf der ästhetischen Ebene sinnfremd. Die Antwortenden haben also die 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 50 Möglichkeit die Frage mit einem „nein“ oder Schweigen zu verneinen oder mit einer positiven Antwort („ja, mir ist etwas aufgefallen“) zum einen ihr Sinnsystem und zum anderen ein konkretes Wissen zu offenbaren. Bevor der Fragende sich bei den Adressaten nach der Auffälligkeit erkundigt, ist ihm selbst bereits etwas aufgefallen. Indem er die Anderen fragt, ihnen gewissermaßen seine Antwort vorenthält, kann er zwei Ziele verfolgen: Er möchte sich der Angemessenheit seines Sinnsystems versichern und/oder die anderen sollen den Prozess der Erkenntnis selbst erleben. Er möchte ihnen also die Emotionen, wie Spaß oder Erstaunen, nicht vorenthalten, indem er ihnen die Auffälligkeit nicht als eine 'bloße' Information vermittelt. Ist das Ziel, bei den Adressaten eine ganz bestimmte Erkenntnis auszulösen, muss ein Kontext vorliegen, der die Entscheidung vor einem bestimmten Sinnsystem nahelegt oder zulässt. Geht es dem Fragenden am Beispiel der Spinne um das fehlende Bein, kann er sich zum Beispiel in dem Sinne auf den Kontext, der das richtige Sinnsystem nahelegt, beziehen, indem das Gespräch, an dem der Adressat beteiligt war, Häutung zum Thema hatte. Fehlt ein Kontext in der Form eines Themas, ist den Adressaten jede Assoziation erlaubt. Die Menge an Assoziationen vergrößert sich, je unklarer der soziale Kontext ist. Hinzuzufügen ist, dass der Sprecher seine Frage an ein Kollektiv richtet und damit eine soziale Ordnung bestimmt – eine Einzelperson und ein unbestimmter Rest, den er durch seine Frage bündelt. Das Kontextwissen, dass es sich um eine Lehrerin handelt, ist bezüglich der sozialen Ordnung aufschlussreich, da hier die Struktur des Klassengesprächs zementiert wird: Die Lehrerin stellt Fragen an die ganze Klasse. Jeder Schüler muss sich mit der Frage auseinandersetzen, auch wenn das Ergebnis eine Verweigerung oder Schweigen ist. Das Kontextwissen, dass es sich um einen Musikunterricht handelt, ist bezüglich des durch Unterrichtsfächer nahegelegten und immer wieder hervorgebrachten Sinnsystems zentral. Mit dem Fach Musik sind im Allgemeinen die Türen für emotionale und ästhetische Antworten, wie methodische und interpretative, geöffnet. Im speziellen Fall eines Musikunterrichts ist die Menge an möglichen Antworten durch eine dominante Zugangsweise zum Gegenstand beschränkt. Handelt es sich um einen Unterricht, der zum Beispiel (nicht nur) bei Einführungen von Liedern die ästhetische Ebene der Schüler anspricht, gilt eine Antwort, wie zum Beispiel „mir ist aufgefallen, dass sie jetzt schöner gesungen haben“, nicht als sinnfremd im Sinne der fachlichen Sinndominanz. Die nächste Kontextstufe ist die Musikstunde, in der die Schüler zunächst das Volkslied „Bruder Jakob“ im Kanon gesungen haben, um danach einen neuen Kanon „Hejo, spann’ den 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 51 Wagen an“ zu lernen. Das Gezeigte ist der Schluss des Liedes, den die Lehrerin der Klasse vorgesungen hat: Auf einem Ton wird zwei Mal im selben Rhythmus der Text „hol’ die gold’nen garben“ vorgetragen. Die Frage ist im Kontext eines wiederholten Singens des Liedes gestellt worden. Stück für Stück singt die Lehrerin den Schülern das Lied vor, Stück für Stück singt die Klasse das Lied nach. Zwar scheint das Thema des Anfangs der Stunde das Kanonsingen zu sein, allerdings stellt es für die Bearbeitung der Frage nach der Auffälligkeit des Schlusses keine Anknüpfungsmöglichkeit dar, so dass die Frage für jede musikbezogene Assoziation freigegeben ist. Dabei sind methodische, analytische und interpretatorische Assoziationen möglich: Analytisch gesehen könnte man auf der elementaren Ebene feststellen, dass es sich um eine Wiederholung der Tonhöhe handelt oder – bezüglich der Struktur – dass die Musik mit dem Text 'zusammengeht', indem zwei Mal derselbe Rhythmus benutzt wird. Bezüglich der Gesangsmethode könnten die Schüler etwas zu der Körperhaltung der Lehrerin sagen, wenn sie sehr stark einatmet, um zu demonstrieren, dass man für hohe Töne besonders viel Luftdruck braucht. Würden die Schüler etwas zur Vortragsart sagen – „sie haben eintönig gesungen“ – würden sie auf der interpretatorischen Ebene assoziieren. Nach ein paar Sekunden Pause ruft der Sprecher den Vornamen einer Person auf, die sich gemeldet hat. Dies zeigt auf eine Situation, in der der Sprecher dazu befugt ist Rederecht zu vergeben. Da der Sprecher den Namen der Person kennt, kann die Frage zum Beispiel nicht während einer Museumsführung fallen, denn dort würde der Sprecher eher „Bitte“ sagen, wenn sich in einer größeren Besuchergruppe der Zwang zu melden ergibt. Insgesamt ist es also eine Situation, in der eine Einzelperson gegenüber einer Gruppe steht, die Einzelperson bereits etwas an einer Sache erkannt hat, auf die Sache zeigt, woraufhin die Gruppe frei assoziieren kann und die Assoziationen durch eine Vergabe des Rederechts formuliert werden können. Die Lehrerin hat etwas in dem Schluss des Liedes erkannt, sie singt diese Stelle den Schülern vor und leitet durch die Frage nach Auffälligkeiten eine Phase für musikbezogene freie Assoziationen ein. Die Sammlung der Assoziationen leitet sie durch die Vergabe von Rederechten. Tina äußert, nachdem ihr Rederecht eingeräumt wurde, eine freie Assoziation auf der analytischen Ebene: dass man da hoch singen muss. Sie expliziert das Hochsingen als eine Vorschrift, also etwas, zu dem die Allgemeinheit (man) im praktischen Vorgehen gezwungen wird. Wenn zum Beispiel ein Fahrlehrer seinen Schülern ein Video einer Kreuzung mit einem grünen Pfeil zeigen und fragen würde „Was ist euch aufgefallen?“ und ein Fahrschüler antworten würde „dass man da anhalten muss“, würde er eine Verkehrsregel beschreiben, an die sich jeder in dieser Situation, unabhängig von seiner Meinung oder seinem Wunsch es 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 52 anders zu machen, halten muss. Auf der Verhaltensebene würde es heißen, dass jeder Fahrer zwar physikalisch die Möglichkeit hätte durchzufahren, jedoch damit eine Regel verletzen würde. Tina offenbart damit ihr Verständnis von Musik als einer objektiven Ausführungsvorschrift, die es in je spezifischer Situation trotz der Existenz anderer Möglichkeiten aufgrund subjektiver Einstellungen stets zu reproduzieren gilt. Die Schülerin hat damit im Sinnsystem des Faches geantwortet und den ersten Hinweis auf eine Dominanz eines analytischen Zugangs zu Musik als für Subjekte unhintergehbare Ausführungsvorschrift geliefert. Nachdem eine mögliche Assoziation formuliert wurde, ist zu erwarten, dass die Lehrerin entweder Tinas Beitrag reflektiert und/oder diesen als erste Assoziation markiert und sie somit in die zu erwartende Sammlung hinzufügt, um anschließend einen anderen Schüler dranzunehmen. Sie könnte den Zwangscharakter der Schule deutlich werden lassen und einen Schüler direkt ansprechen, was jedoch unwahrscheinlich wäre, da sich (zumindest im Bildausschnitt sichtbar) zwei weitere Schüler gemeldet haben und unter Umständen eine andere Antwort anbieten können. Tatsächlich geht die Lehrerin auf Tinas Assoziation folgendermaßen ein: L: jaaa . (Tobi und Sarah melden sich nochmal) xx (L. singt die Stelle nochmal während Tina ihre Nachbarin fragend anschaut.) Die als unter dem Zeichen des freien Assoziierens gestellte Frage ist also eine Pseudofrage, in der sich die Lehrerin nach den möglichen Sinnsystemen der Schüler erkundigt. Implizit lautet die Frage: „Ratet mal, was mir aufgefallen ist“. Das langgezogene „jaaa“ bestätigt auf der einen Seite Tinas Sinnsystem und entwertet es auf der anderen Seite als nicht sinnkongruent. Da eine Thematisierung fehlt, bleibt nur ein für die Schüler verstecktes Sinnsystem übrig, das zu einem 'Herumraten' führt. Tobi und Sarah haben sich nach der Abwertung von Tinas Antwort sofort nochmal gemeldet und zeigen damit, dass sie eine Alternative haben, die sie jedoch nicht äußern dürfen, weil die Lehrerin wiederholt die Stelle vorsingt. Es gäbe nur einen plausiblen Grund, warum die anderen Schüler nicht drangenommen werden: Die Lehrerin singt es Tina nochmal vor, um ihr eine zweite Chance zu geben auf eine andere Idee zu kommen. Es ist zwar nicht verständlich, welche zwei Wörter die Lehrerin vor der Wiederholung sagt, allerdings ist an dieser Stelle zentral, dass der Lehrervortrag trotz weiterer Meldungen wiederholt wird und anschließend ein anderer Schüler (und nicht Tina) eine weitere Antwort formuliert: Sx: dass es nur ein ton ist. Die Meldungen von Tobi und Sarah wurden also ignoriert. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 53 Während Tina zwar auf der analytischen Ebene argumentiert hat, gleichzeitig jedoch das ausführende Subjekt integriert hat, bleibt Sx ausschließlich auf der analytischen Ebene und betrachtet den Schluss des Liedes vor dem Hintergrund dessen, dass Musik normalerweise aus einem Wechsel von Tonhöhen besteht und diese Stelle 'aus einer Tonhöhe' besteht. Musik wird hier als ein Objekt verstanden, das sich mit physikalischen Parametern beschreiben lässt. Die Lehrerin paraphrasiert die Aussage des Schülers und bestätigt damit, dass es das Ziel der Frage war zu formulieren, was sie selbst im Sinn hatte. Es stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese Sequenz zu Eröffnungen und Schließungen von Lernoptionen steht. In der Fortsetzung des analytischen Zugangs wäre die Einführung der Tonwiederholung (darüber hinaus des Begriffs der Prime) als Begriff und wahrnehmbares Phänomen logisch. Die Lehrerin setzt jedoch auf der methodischen Ebene fort: L: das ist ganz schön schwierig so was zu singen. Wenn ein Sprecher eine Aussage auf diese Weise beginnt (das ist ganz schön schwierig), dann drückt er damit immer aus, dass man im Allgemeinen diese Schwierigkeit nicht erwarten würde. Zum Beispiel: Ein Bewohner von Neapel erzählt im Zusammenhang seines Umzugs in ein 10 km landeinwärts liegendes Dorf, dass es ganz schön schwierig ist sich dort zu akklimatisieren, weil die Temperaturen am Wasser deutlich niedriger seien. Nicht nur der Sprecher selbst, der tatsächlich mit dieser Schwierigkeit zu tun hatte, sondern auch die Allgemeinheit erwartet keine Probleme mit der Akklimatisierung, wenn man nur 10 km weiter wegzieht. Konfrontiert man diese Lesart mit dem Kontext, so erscheint es plausibel zu äußern, dass eine Tonwiederholung ganz schön schwierig zu singen ist, da die Gefahr besteht, dass man „fällt“, also es nicht schafft die Tonhöhe zu halten. Es ist außerdem plausibel den Schülern als Vertretern der Allgemeinheit zu unterstellen, dass sie davon ausgehen, dass das Singen auf einer einzigen Tonhöhe leicht ist. Außerdem ist diese analytische Phase plausibel, in der die Schüler ihre Rolle als Reproduzenten für einen Moment abbrechen, eine Zuhörerrolle und dann eine Rezipientenrolle35 einnehmen. Prekär ist jedoch an dieser Stelle, dass die Vermittlung bei einer kognitiven Haltung stehen bleibt, weder ein Know–That, noch ein Know–How vermittelt wird und die Sequenz mit einer weiteren Wiederholung fortgesetzt wird. Diese Sequenz lässt sich unter dem Vorzeichen der Aufmerksamkeitsfokussierung auf ein musikalisches, im Allgemeinen unterschätztes Phänomen verstehen. Mit anderen Worten: Die Schüler sollen beim Singen dieser Stelle aufpassen. Nach dieser Vorarbeit wäre eine kognitive und/oder methodische Auseinandersetzung mit dem Phänomen zu erwarten: Die 35 Musikrezeption bedeutet hier kommunikative Aneignung eines Musikstückes. (vgl. Wikipedia „Rezeption“) 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 54 Schüler könnten erfahren, dass die Tonhöhe fallen kann und dass sie dieses potentielle Problem mit Stützen lösen könnten (vgl. Schmid36). Stattdessen singt die Klasse immer wieder das Lied oder Ausschnitte ohne die Möglichkeit zu haben sich etwas an dem Phänomen anzueignen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es sich hier um einen routinisierten fragend– entwickelnden Unterricht handelt. Die Lehrperson weiß etwas, weil ein musikalisches Phänomen (das Singen einer Tonwiederholung) in ihrem Sinnsystem ein bestimmtes Problem aufgeworfen hat. Dann erkundigt sie sich nach den 'Problemen', die die Schüler erkennen. Dabei müssen die Schüler in diesem Fall insoweit kontextfrei assoziieren, was ein Widerspruch in sich ist, als sich erstens das Problem praktisch nicht gestellt hat, obwohl die Klasse vor dieser Sequenz gesungen hat, und zweitens zum Thema der Tonwiederholung weder methodische noch theoretische Bezüge in dieser Stunde herstellbar wären. Der Spielraum für Antworten wird also nicht durch einen bestimmten Kontext eingeschränkt. Stattdessen versuchen die Schüler die richtige Antwort zu treffen. Dabei muss angemerkt werden, dass eine Antwort grundsätzlich einen Probecharakter hat bzw. jede Antwort immer eine Rückfrage ist (vgl. Vogt 1998) – „Meinten Sie das?“ – so dass Unsicherheit Bestandteil jeder Antwort ist. In der Bearbeitung dieser Unsicherheit wird nicht nur das Schulfach allgemein, sondern auch das Schulfach der Klasse 2/3b sichtbar. In den Antworten zeigt sich hier die Sinnsystemdominanz im Verständnis von Musik als einer generalisierten Ausführungsvorschrift und Musizieren als ihre konkrete Umsetzung. Zentral ist an dieser Szene, was im fragend–entwickelnden Unterricht als schulisch relevant erarbeitet wird, nämlich die Aufmerksamkeitsfokussierung auf ein musikalisches Phänomen. Prekär erscheint dies unter der Frage nach Eröffnungen oder Schließungen von Lernmöglichkeiten in einem Prozess der Liedaneignung. Ein Beispiel aus der Stimmbildungsdidaktik zeigt, welche Möglichkeit des gesangstechnischen Lernens potentiell eröffnet werden könnte. An ihrem Nicht–Ergreifen zeigt sich, dass Vermittlung von Know– How nicht relevant ist und der Unterricht ausschließlich im Sinne der Allgemeinbildung und nicht (Gesangs–)Ausbildung verstanden wird. Aneignung im Sinne der Allgemeinbildung bedeutet in diesem Fall Aneignung von kognitivem Wissen (die Schüler wissen, dass im Allgemeinen angenommen wird, dass das Singen der Tonwiederholung einfach sei) und Einnehmen einer kognitiven Haltung (die Aufmerksamkeit der Schüler ist auf die Tonwiederholung gerichtet). Das kognitive Wissen ist ein Urteil („das ist ganz schön 36 Literatur ohne Jahresangabe. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 55 schwierig“), welches als Faktenwissen (das ist so) über ein methodisches Phänomen (Schwierigkeit eine Tonwiederholung zu singen) vermittelt wird. 4.6.2 Schüler im fragend–entwickelnden Unterricht Tobi sitzt neben Leoni am zweiten Tisch der Wandreihe. Hinter ihm sind Sarah und Tina zu sehen. Tobi hat eine Körperhaltung eingenommen, die eher Ruhe und kognitive Arbeit als körperliche Aktivitäten in den nächsten Minuten vermuten lassen. Auch die in der Ecke des Tisches gestapelten Sachen verstärken diesen Eindruck. Sein ausdruckloses Gesicht wirkt, als ob der Schüler keine besonderen Vorkommnisse erwarten würde. Dann sagt Lehrerin „jetzt bitte zuhören jetzt kommt eine stelle die hat etwas besonderes passt mal auf was ist das besondere bei der stelle“. Tobi lässt den Blick von links nach rechts schweifen bis er schließlich mit einem zu der Lehrerin geneigten Kopf und leicht offenem Mund seine Zuhörerhaltung einnimmt. Ein offener Mund kann zum Beispiel in einem Zusammenspiel mit vergrößerten Augen ein Erstaunen ausdrücken. Tobis Gesicht ist jedoch völlig ausdruckslos, so dass der offene Mund eher auf Entspannung schließen lässt. Während die Lehrerin „hol die gol’dnen garben hol die gol’dnen garben“ singt, schaut Tobi sie an und drückt dabei – trotz der entspannten Haltung – eine auf den Gesang gerichtete Konzentration aus. Sein Körper ist währenddessen vollkommen erstarrt. Allerdings ist das Erstarren nicht Folge zum Beispiel eines unerwarteten Ereignisses, sondern der Zuhörerhaltung. Die von Tobi aufgeführte Praktik des Zuhörens ist eine die Klangquelle anvisierende und eine fast hypnotisierende Variante. Selbst das Blinzeln unterlässt der Schüler. Bei der Wiederholung steigt Tobi in den Vortrag der Lehrerin ein: Seine Zunge bewegt sich synchron zu ihrem Gesang, ohne die Formung der Laute mit den Lippen. Da Halsanspannungen sichtbar sind, muss der Schüler (sehr leise) Laute produzieren. (Ob er sie nur spricht oder singt, lässt sich daraus nicht schließen.) Tobi vereinbart zwei Rollen: Nach außen ist er ein Zuschauer und Zuhörer, nach innen, aus größerer Entfernung nicht erkennbar, ein Sänger/Sprecher. Als Sänger/Sprecher hat er sich selbst die Möglichkeit eröffnet das Dargestellte am eigenen Körper zu erfahren. Im Hintergrund sind einige Schüler zu hören, die ganz leise mitsingen. Dadurch, dass Tobis Gesang nicht sichtbar ist, drohen ihm keine Sanktionen. Sofort nach dem Vortrag meldet sich Tobi – erst als „Pflichtübung“ (Breidenstein 2006, S. 99), dann als „dringendes Bedürfnis“ (ebd.). Zunächst stützt Tobi seinen Arm ab, doch dann muss er seine Bewerbung verstärken, indem er den Arm ein wenig schwenkt und den Kopf, weiterhin die Lehrerin anvisierend, neigt, als ob er „ich, ich“ sagen würde. Das Ziel dieser Meldepraktik ist es auf sich aufmerksam zu machen und sich so gegen die 'Mitbewerber' durchzusetzen. Allerdings übertreibt Tobi nicht allzu sehr. Es gäbe sicherlich noch deutlichere Formen, wie das Schnipsen oder ein wiederholtes „ä, ä“, die viel eindringlicher wirken. Eine Chance dranzukommen ist angesichts der in dieser Klasse auffällig vielen Bewerber sehr gering, so dass Tobi, nachdem Tina drangenommen wurde, völlig unberührt bleibt. Er ist dann alles andere als ein enttäuschter Verlierer. Das Bewerbungsverfahren wird fortgesetzt nachdem Tinas Antwort als das 'Nicht– Gemeinte' markiert wurde. Wieder meldet sich Tobi. Diesmal neigt er beim Melden den Kopf nach rechts, als ob er etwas gelangweilt das Geschehen beobachten würde. Während bis hierher der fragend–entwickelnde Unterricht von Tobi souverän aufgeführt wurde, wird jetzt die Situation unklar. Während sich Tobi und Sarah melden, fängt die Lehrerin erneut mit dem Singen derselben Stelle an und spricht damit die Schüler wider als Zuhörer an, eine Rolle, die Tobi diesmal nicht übernimmt. Während die Lehrerin 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 56 singt, sinkt Tobis Arm sehr langsam hinter den Kopf, seinen Oberkörper lässt der Schüler locker nach hinten lehnen und fängt an mit der freien Hand an der Seite des Brustkorbs zu reiben, dabei entdeckt er den Reliefaufdruck seines T–Shirts. Als nach dem Vortrag ein anderer Schüler drangenommen wird, widmet sich Tobi völlig dem Aufdruck, während der Arm fast bis zum Ende der Sequenz in einer geknickten Haltung hinter Tobis Kopf hängen bleibt und wie ein verlassenes Haus wirkt. Dem Spiel am Reliefaufdruck schenkt er so viel Aufmerksamkeit, dass der sich halb meldende Arm in Vergessenheit gerät. Bezüglich der Bearbeitung der Differenz der sozialen Ordnung wird an dieser Szene deutlich, wie die Schüler die soziale Ordnung eines musikalischen Vortrags aufrechterhalten. Im Gegensatz zu einem Rockkonzert, bei dem das Publikum laut mitsingt und damit zum Mitproduzenten des klanglichen Ergebnisses wird, bleibt die Lehrerin eine Solokünstlerin. Mit G. Schulze gesprochen, wird hier der Körpermodus der „hochkulturelle[n] Alltagsästhetik“ (Schulze 2005, S. 143) aufgeführt. Der Autor beschreibt hier das Genussschema – einen „psychophysische[n] Zustand positiver Valenz“ (ebd., S. 105) der Hochkultur: „Hochkulturelle Alltagsästhetik ist geprägt von einer Zurücknahme des Körpers. Konzentriertes Zuhören, stilles Betrachten, versunkenes Dasitzen – fast immer befindet sich der Organismus im Ruhezustand. Heftigere körperliche Reaktionen wie Klatschen, Pfeifen, Bravo– oder Buhrufe sind nur im Anschluß an die Darbietung üblich, nicht mittendrin [...]. Tränen, Seufzen, laute Heiterkeitsausbrüche, Erröten, Mitsingen und andere körperliche Formen des Mitgehens verstoßen gegen den Kodex vergeistigter Empfangshaltung des kunstgenießenden Publikmus.“ (ebd., S. 143) Einige Schüler singen zwar mit, jedoch mit dem Ziel, so leise wie möglich zu singen, so dass die Aufführung nicht gestört wird. Auch Tobi identifiziert sich mit dem hochkulturellen Körpermodus, indem er seinen Gesang tarnt und sich zusätzlich auf diese Weise vor potentieller Sanktion schützt. Die erwartete Rolle des Zuhörers nach dem Hochkulturschema stellt er äußerlich überzeugend dar: Er sitzt regungslos und schaut ohne zu blinzeln nach vorne (sein Kopf ist nach links in die Richtung der Lehrerin geneigt). Ob sich die Schüler tatsächlich in dem Zustand einer Versenkung oder eines Ergriffenseins (vgl. ebd.) befinden, lässt sich nicht beantworten. Jedoch lässt sich eine körperliche Aufführung des hochkulturellen Genussschemas beobachten. Seine Regeln des köperlichen Ruhezustands oder des Verzichts auf körperliche Formen des Mitgehens, die hier zumindest weitgehend eingehalten werden, überschneiden sich mit den Regeln des Frontalunterrichts. Die Differenz zwischen Aneignung und Vermittlung wird in drei Formen bearbeitet: 1. als musikrezeptive Aufgabe. Für das Zeigen ist hier die Lehrerin verantwortlich, die etwas musikalisch vorträgt. 2. als Beobachtung der Bewertung einer Schülerantwort und 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 57 3. als ein Versuch die richtige Antwort zu formulieren. Das Zeigen ist in der Lehrerbewertung verankert. Den als Zuhörern (am Anfang des musikalischen Vortrags) adressierten Schülern wird Aneignung im hochkulturellen Körpermodus eröffnet. Sie können umherschauen, können dabei versuchen mit ihren Tischnachbarn visuell zu kommunizieren und wirken eher als Hörer. Oder sie können die Lehrerin regungslos anvisieren (wie Tobi) und wirken als Zuhörer, an die ein Anspruch einer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand erhoben wurde37. Dieser hegemoniale Anspruch an Schüler als Zuhörer als einzige Möglichkeit der Aneignung erfährt jedoch seine Ablehnung in der Form der körperlichen Bearbeitung der pädagogischen Differenz38. Das Mitsingen und Mitsprechen sind Aktivitäten, die nicht zu der erwarteten Zuhörerrolle des hochkulturellen Körpermodus dazugehören. Der praktische Mitvollzug gehört nach G. Schulzes alltagsästhetischen Schemata zum Spannungsschema: „Im schönen Erlebnis des Spannungsschemas spielt der Körper eine zentrale Rolle.“ (ebd., S. 154) Allerdings trifft hier die expressive, als ein Ausagieren verstandene Körperlichkeit in der Disco oder im Pop–Konzert nicht zu. Es wäre übertrieben zu sagen, dass Tobi seine Emotionen in Handlung umsetzt, wenn er kaum sichtbar mitsingt. Vielleicht würde er es gerne; vielleicht ist es auch das gängige Bild der Erwachsenen von Kindern, die sich vor allem die Welt körperlich aneignen. Beobachten lässt sich, dass körperliche Aneignungsweise als schulisch illegitim aufgeführt wird, sonst bräuchte man sie nicht zu tarnen. Man kann auch sagen, dass der hochkulturelle Körpermodus als einzige Lernoption von den Schülern in Frage gestellt wird, in der Form der reduzierten Lautstärke des 'Mitgesangs'. Dadurch wird der hegemoniale Anspruch legitim mit der Folge, dass sie keine Sanktionen befürchten müssen. Nach dem Vortrag haben die Schüler die Möglichkeit sich direkt als Bittsteller eines Antwortenden zu zeigen – so meldet sich Tobi direkt nach dem letzten Ton des Vortrags – oder sich als Wartende bzw. Abwartende darzustellen. Alle Schüler sind grundsätzlich Befragte mit dem an sie gestellten Anspruch einer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Eine als für einen Versuch wertvoll angenommene Auseinandersetzung und die 'Lust' zu antworten werden in der Form der Meldung signalisiert. Antwortet ein Schüler, stellt er zugleich die Frage „Habe ich den Vortrag dem Gegenstand angemessenen und im richtigen Sinn gehört?“. 37 38 Tobi ist am Anfang angespannt. Erst bei der Wiederholung lehnt er sich nach hinten zurück. Tobi singt oder spricht mit. Gleichzeitig sind im Hintergrund einige Schüler zu hören, die mitsingen. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 58 In diesem fragend–entwickelnden Unterricht wird den Schülern Aneignung als Zu– Kenntnisnahme von binär bewerteten (eigen– oder fremdentwickelten) Antwortversuchen eröffnet. Die pädagogische Differenz hat die Form des Musirezipierens im Angewiesensein auf bewertete Antworten. Das schulisch relevante Wissen, angezeigt im musikalischen Vortrag, muss im Prozess des Zuhörens erkannt werden. Für jeden einzelnen Schüler ist es in der eigenen musikalischen Assoziationsfähigkeit verfügbar. Potentiell müssen alle Schüler das Wissen nach dem Vortrag 'im Kopf' haben. Anschließend muss es als ausdrucksvolles Meldesignal für einen verbalen Beitrag körperlich angezeigt werden. Dabei dürfen nur wenige Schüler ihre Idee klassenöffentlich verbalisieren. Für die Schüler, die sich zwar gemeldet haben aber nicht drangekommen sind, und für diejenigen, die keine Idee haben, existiert das Wissen im Modus einer öffentlich verbalisierten und bewerteten Idee eines anderen Schülers. Insgesamt zeigt sich das Wissen im Modus einer eigens entwickelten, eigens oder fremd verbalisierten und bewerteten Idee. Während die Interpretation der ersten Szene, in der der Unterricht eröffnet wird, gezeigt hat, dass die Schüler auf kognitives Lernen vorbereitet werden, konnte die Interpretation dieser Szene zeigen, wie kognitives Lernen in einer hochkulturellen sozialen Ordnung mit getarnter individueller Integration der körperlichen Aneignungsweise aufgeführt wird. Das schulisch relevante Wissen muss schnell assoziiert und verbalisiert werden. Der Körper zeigt sich dabei als ausdrucksvoller Bewerber um Rederecht. Das individuell Assoziierte erscheint als eine Idee, die sich in Nähe und Distanz zum schulischen Sinnsystem befindet. 4.7 Videointerpretation der Szene „Florian musiziert“ – Musikalische Sprachlosigkeit und individueller Sinnstiftungsprozess Der Film „Florian musiziert“ (vgl. Szenische Beschreibung Anhang 8.3.3) stammt aus einer Unterrichtsstunde, in der die Klasse zum Volkslied „Als ich einmal reiste“ (19. Jh.) auf Orff–Instrumenten spielt. Singen und Spielen gehören im brandenburgischen Lehrplan zum Themenfeld „Musik erfinden, wiedergeben und gestalten“ der Jahrgangsstufe 1 und 2 (vgl. o. V. 2004, S. 28). Dass das Orff–Instrumentarium Eingang in den Musikunterricht finden konnte, ist ein Ergebnis einer antiintellektualistischen Einstellung der „Musischen Bildung“ in den 20er Jahren, die im eigenen Musizieren gemeinschaftsstiftende Ziele verankerte. Im Sinne der Reformpädagogik richtete sich die Musische Bildung gegen schulische Missstände 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 59 wie autoritäres Lehrerverhalten oder technischer Drill (vgl. Weber 1997, S. 4). Das Orff– Instrumentarium selbst ist ein Teil des Orff–Schulwerks, eines „musikpädagogische[n] Konzept[s], das zu einem Elementaren Musizieren anregen möchte“ (Carl Orff-Stiftung), wobei „Sprache, Tanz und Musik gleichwertige Ausdrucksformen“ (ebd.) seien. Aktuell wird in der Musikpädagogik das instrumentale Musikmachen sehr unterschiedlich begründet. Insgesamt gebe es, so Jürgen Vogt, drei Begründungsdiskurse, von denen zwei jedoch unvollständig seien (vgl. Vogt 2004, S. 2): In der Begründung des Musikmachens durch seine außermusikalischen Wirkungen (Wirkungsdiskurs), wie zum Beispiel Steigerung der Intelligenzentwicklung, würde beispielsweise die Methode des instrumentalen Musizierens fehlen. Im Wissensdiskurs wird Musizieren dagegen damit begründet, dass „musikwissenschaftliches Wissen [...] auf dem Weg des musikalischen Tuns vermittelt“ (ebd., S. 7) wird. Das Problem sei hier, dass zwar der Lernprozess beschrieben wird, aber seine Ziele und Inhalte völlig ausgeblendet werden (vgl. ebd., S. 8). Großen Zuspruch von Vogt erfährt der Praxis–Diskurs, der im Rückgriff auf Aristoteles zwischen „herstellendem [technischem] Handeln“ und „sittlich gutem Handeln“ unterscheidet. J. Vogt transformiert diese moralische Komponente in eine kulturelle: Musikalische Praxis entsteht, wenn die Akteure sich ihrer Musikkultur nach „musikalisch „richtig““ (ebd., S. 13-14) [ihrem Sinnsystem entsprechend] verhalten und es für alle Beteiligten gut sei, so der Autor . Die Fähigkeit sich dem Kontext angemessen musikalisch zu verhalten nennt Vogt „Phrónesis“(vgl. ebd.) (praktische Klugheit). Sie sei das Ziel des Musikmachens. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie das musikalisch sprachlose Angebot der Schule von einem Schüler in einem individuellen Sinnstiftungsprozess auf die Ebene des ästhetisch– rationalen Handelns im Sinne einer individuellen Aufmerksamkeit auf die musikalische Ordnung der Musik 'zum Sprechen gebracht wird'. Die Phrónesis, die sich in der Praktik der körperlichen Reflexion des musikalischen Angebots zeigt, setzt hier auf einer elementaren Ebene des Metrums an. Während J. Vogt mit musikalischem Kontext den sozialen musikalischen Rahmen, wie z. B. eine Schulabschlussfeier, meint, zeigt sich hier die Phrónesis als Fähigkeit im Sinne der inneren Zeitstruktur der Musik gemäß zu handeln. Der Film „Florian musiziert“ gliedert sich in fünf Sequenzen (zwischen der ersten und zweiten Sequenz ist ein Schnitt): 1. Die Lehrerin erklärt, wann und was die Triangel spielen soll. Zu diesem Zeitpunkt haben bereits drei Schüler zum Gesang der Klasse auf Klangstäben gespielt. Die Klangstabspieler stehen vor einer Regalreihe, die vor der hinteren Wand steht, so dass 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 60 sie in die Richtung der Tafel schauen können und die Lehrerin, die neben ihrem Schreibtisch steht, ihr Spiel und den Rest der Klasse beobachten kann. (1 min 2 s)39 2. Drei Schüler – Florian, Jenny und Sarah – spielen neben den Klangstabspielern stehend auf Triangeln. Florian schafft es dadurch, dass er Jennys Spiel hört und ihre Triangel beobachtet, den Anschluss an die Gruppe zu finden. (12 s) 3. Florian bewegt sich rhythmisch zu seinem eigenen Spiel. Er ist von den drei Trianglisten der einzige, der richtig spielt. (13 s) 4. Florian reagiert auf die Einführung der Trommel, indem er einen Arm mit dem Triangelstab in der Hand im Rhythmus der Trommel in die Luft ausstreckt. Am Ende rückt der Stab ins Zentrum des Interesses und wird im nächsten Abschnitt als ein Zauberstab entdeckt. (8 s) 5. Die Einführung der Trommel ist zu Ende. Florian spricht den Refrain des Liedes – rau–di–de–ra – die Silben etwas länger ziehend. Den Arm mit dem Stab in der Hand streckt er nach vorne aus und malt damit nebeneinader liegende Halbkreise in der Luft. Die Geste wirkt so, als ob er die sinnfreien Silben zu einem Zauberspruch transformieren würde und den Triangelstab zu einem Zauberstab. (7 s) 6. Die Lehrerin sanktioniert Florians 'Zauberei'. (2 s) Im Folgenden soll zunächst die erste Sequenz in der Form eines Transkirpts der Sprache vorgestellt werden. Sie enthält die für das Verständnis der Szene erforderliche Aufgabenstellung, um die Geschichte des Films als eine Geschichte einer Aufgabenbewältigung durch einen Sinnstiftungsprozess plausibel zu machen. Es sei an dieser Stelle betont, dass das didaktisch–methodische Vorgehen der Lehrerin, sei es noch so problematisch, die Rekonstruktion der Fachlernkultur nicht tangieren wird. Die darauffolgende Darstellung der Interpretationen der Sequenzen zwei bis fünf sind jeweils gleich gegliedert. Zunächst wird die 'Fall–Geschichte' als Ergebnis der Interpretation erzählt, gefolgt von Thesen zu den drei bzw. zwei40 Differenzbezügen. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einer These zur Gesamtinterpretation des Films. 4.7.1 Sequenz 1 – Die Aufgabenstellung Der Film beginnt mit einer Aufgabenstellung, die die Lehrerin mündlich formuliert und den Part der Triangel vorspielt: L: so jetzt kommt dazu . pschschsch . die ... triangel .. (Sx: triangel) . die triangel die spielt etwas längere töne und zwar macht die .. in der zeit wo die klanghölzer vier töne 39 40 Länge der Sequenz ist in Minuten und Sekunden angegeben. Die soziale Ordnung bleibt in allen Sequenzen unverändert. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 61 spielen bei rumel macht die nur zwei . bei dumel genauso .. ru–mel–du–mel ru–mel– du–mel (beim zweiten Mal klatscht die L.) wir klatschen mal und . Klasse, L.: ru–mel–du–mel L: und mit der triangel hört sich das so an .. pschschschsch damit die kinder auch immer ganz ordentlich mitmachen L. singt und spielt dazu auf der Triangel: ru–mel–du–mel rau–di–de–ra L: ist etwas langsamer vom tempo ja L. singt und spielt dazu auf der Triangel: ru–mel–du–mel rau–di–de–ra Für die Rekonstruktion der Praktik der körperlichen Reflexion des musikalischen Geschehens ist an der Aufgabenstellung die Adressierung der Lernenden, der Schüler als körperlose Hörer zentral. Mit einem langen „pschschsch“ wird dafür gesorgt, dass die Lehrerin von allen akustisch verstanden wird und alle Schüler aufmerksam zuhören, denn jeder von ihnen kann potentiell den Part der Triangel klanglich umsetzen (müssen). Die Fähigkeit, die von ihnen verlangt wird, ist die der Aufmerksamkeit und Erinnerung, denn sie müssen sich das Verhältnis der Schläge der Triangel zu den Klanghölzern merken. Für einen Augenblick wird die Klasse körperlich aktiviert und soll das mündlich Vermittelte klatschen, um dann sofort wieder deaktiviert zu werden. Im zweiten Teil spielt die Lehrerin den Part der Triangel kommentierend („ist etwas langsamer vom tempo ja“) vor. 4.7.2 Sequenz 2 – Florian erledigt die Aufgabe Florian steht spielbereit: Er hält seine Triangel und den Stab so, dass er sofort spielen könnte. Er schaut zwar auf die Triangel, so dass scheinbar seine Aufmerksamkeit dem musikalischen Geschehen gilt, allerdings ist er gerade mit sich selbst beschäftigt: Seine Lippen sind auseinandergezogen, als ob er widerwillig lachen würde. Er scheint mit etwas unzufrieden zu sein. Als die Lehrerin das gemeinsame Musizieren mit einem „uuund“ initiiert, hebt Florian zwar den Stab etwas an und schaut nach vorne, spielt dann aber nicht, während Jenny, die neben ihm steht, entsprechend dem Skript den ersten Schlag setzt. Trotz der spielbereiten Körperhaltung ist Florian noch mit seiner Unzufriedenheit beschäftigt, für die es aus der Sicht der Schule keinen Platz gibt. Seine Nachbarin Jenny wird jetzt zu seinem Orientierungspunkt: Kurz nachdem er den verpassten Schlag gehört hat, schaut er in ihre Richtung. Siegessicher setzt er dann als Einziger auf die zweite Silbe einen Schlag. Trotz dieser beiden Fehler gibt Florian nicht auf. Nach dem Motto 'nur die Ruhe bewahren' wartet er weiterhin äußerst konzentriert die nächsten beiden Silben ab. Jenny und Sarah, die ebenfalls auf einer Triangel spielen, haben in dieser Zeit auf „du“ richtig gespielt. Jetzt kann sich Florian (im zweiten Takt „rau–di–de–ra“) mit ihrem Spiel synchronisieren. Jennys Triangel beobachtend, setzt er pünktlich auf „rau“ und „ra“ seine Schläge. Das Warten und dann das Beobachten hat sich also für Florian gelohnt: Es ist ihm gelungen innerhalb eines Taktes („ru–mel–du– mel“) mit zwei Fehlschlägen und Geduld den Einstieg in die Gruppe zu finden. Als die Sequenz („ru–mel–du–mel–rau–di–de–ra“) wiederholt wird, braucht er Jenny nicht mehr. Abwechselnd auf die Triangel und die Lehrerin konzentriert setzt er nach dem eben erkannten Muster pünktlich die Schläge, während Jenny und Sarah fast durchgehend falsch spielen, wodurch sich Florian jedoch überhaupt nicht verwirren lässt. Die Aufgabe ist für ihn erfolgreich erledigt. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 62 Zu der Differenzbearbeitung der Ebene der sozialen Ordnung lässt sich Folgendes als diesen Abschnitt übergreifend formulieren: Die soziale Ordnung ist eine durch die Verteilung der Stimmen konstante musikalisch–soziale Ordnung. Die Körper sind derart im Raum positioniert, dass sich eine Gruppe von Instrumentalisten und Sängern ausmachen lässt. Die Instrumentalisten stehen nach Instrumenten geordnet (Triangel und Klangstäbe) an der hinteren Wandreihe. Ihre höherwertige bzw. besondere Position gegenüber den Sängern entsteht dadurch, dass sie die Basisordnung – Sitzen an frontal aufgestellten Tischen – verlassen dürfen. Verstärkt wird ihre Sonderposition dadurch, dass sie auf Instrumenten spielen dürfen (eine seltene Situation in dieser Lerngruppe). Sie bilden also auf der Ebene der Körperpositionierung und der Artefakte eine musikalisch-soziale Einheit. Die Sänger sind nicht als eine weitere Einheit, sondern eher als Rest der Klasse zu bezeichnen. Während die Instrumentalisten spielen dürfen, müssen die Sänger in ihrer Schülerrolle bleiben. Sie bilden eine zerstreute Einheit: zerstreut, weil sie als Musiker an Tischen sitzen, die eigentlich für andere Tätigkeiten genutzt werden, wodurch sich der Eindruck einer minderwertigeren Rolle verstärkt. Auf der Ebene der musikalischen Interaktion ist die Lehrerin, die das Geschehen steuert, der Hauptorientierungspunkt. Die grundlegende Ordnung ist die der Klasse gegenüber der Lehrerin. In der zweiten Sequenz ist auch für Florian die Lehrerin ein Orientierungspunkt, um die musikalische Ordnung herzustellen. Allerdings bezieht er sich – körperlich deutlich sichtbar an der Zuwendung zu Jenny – auf seine Instrumentengruppe. Die körperliche Nähe erleichtert enorm diese Art des körperlich-visuellen Bezugs. An seinem Verhalten wird die musikalische Einheit in der Interaktion sichtbar. Nachdem der einheitsstiftende Prozess abgeschlossen ist, Florian also zeitlich zusammen mit Jenny und Sarah spielen kann und diese Ordnung garantiert ist, kommt es zu einem Entkopplungsprozess. Ohne die gerade hergestellte und damit bestätigte Ordnung zu stören oder zu verweigern, stellt sich bei Florian ein Prozess einer partiellen Individualisierung ein, der sich auf den Ebenen der Aneignung und Wissensordnung herausbildet. Da Einheitsstiftung auf der Ebene der Interaktion schulisch irrelevant ist, kann die partielle Entkopplung stattfinden ohne sanktioniert zu werden oder den Ablauf zu gefährden. Die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung wird auf folgende Art und Weise bearbeitet: Das Zeigen wird aufgrund eines eigenen praktischen Scheiterns einer anderen Schülerin aus der eigenen Einheit zugeschrieben. Man kann auch sagen: Florian macht Jennys Triangelspiel zum Gezeigten und Jenny zu einer Zeigenden. Die Form, die die Bearbeitung der pädagogischen Differenz hier annimmt, ist die des individuell veranstalteten 'Abguckens' 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 63 als wiederholte Abfolge von praktischem Versuch und Bewertung mit dem Ziel der richtigen (als zeitlich synchron zum Gesang der Klasse) Ausführung des musikalischen Drehbuchs in Abstimmung mit der eigenen Instrumentengruppe. Ob gewollt oder ungewollt ist Jenny diejenige, die an einer vormachenden Form des Zeigens teilnimmt, weil sich diese Gelegenheit – im Sinne von situativ und nicht zufällig (vgl. Prange 2005, S. 130) – ergeben hat. Sie wird zu einer Zeigenden bestimmt, weil sie sich entsprechend dem musikalischen Drehbuch verhält. Dass Florian auf die Lösung des Problems gerichtet ist, ist das Ergebnis der Differenz zwischen seinem Spiel und dem der Triangelgruppe. Die Intention, dass die gleichen Instrumente das Gleiche spielen, ist im musikalischen Drehbuch angelegt. Sowohl Jenny und Sarah als auch Florian zeigen in ihrem Verhalten auf das Drehbuch, das durch jede Ausführung aktualisiert wird und auch aktualisiert werden muss. Die hier aufgeführte Praktik des Abguckens erfährt in der Praxis des kollektiven Musikmachens im Vergleich zum schulisch 'üblichen' Abgucken eine Besonderheit. Erstens: Da die Ausführenden immer gleichzeitig die Vorführenden sind, ist die abzuguckende Sache immer öffentlich. Das Abgucken in einem fremden, für die eigenen Augen nicht (immer) bestimmten Bereich ist hier nicht möglich. Zweitens: Da Jenny und Florian in diesem Beispiel identisch spielen müssen, hat Jenny nicht die Möglichkeit zu sagen, dass Florian sie nicht nachmachen soll. Mit anderen Worten ist das Abgucken beim Musikmachen immer legitim. Die zweite Sequenz ist also ein Beispiel eines gelungenen Lernprozesses. Innerhalb kürzester Zeit kann Florian durch die Praktik des legitimen Abguckens richtig mitspielen. Die zentrale Voraussetzung dafür ist die musikalisch begründete Positionierung der Körper im Raum, die in den vier Aufnahmen insgesamt ein Mal arrangiert wurde. An das schulisch relevante Wissen muss man sich entweder erinnern oder es durch Beobachtung und Zuhören von anderen praktisch nachahmen, um ein Musikprodukt erzeugen zu können. Wie die Schüler sich das Wissen bei Problemen besorgen, ist aus der Sicht der Schule irrelevant. Das relevante Wissen ist erstens als Erinnerung an die Vorführung der Lehrerin verfügbar: Das musikalische Drehbuch wird einmal kommentierend schrittweise vorgemacht – erst macht die Lehrerin vor, was die Klangstäbe zu spielen haben, dann die Triangeln (Sequenz 1), nachdem die Klangstäbe geübt haben. Zweitens ist das Wissen in der klanglich körperlichen Aktualisierung bei anderen Schülern hör– und sichtbar. Das Verhalten der Schüler durch die Lehrerin und durch die Schüler selbst wird an dem praktisch richtig umgesetzten musikalischen Drehbuch gemessen. Das bedeutet, dass die Schule (Spiel)regeln festlegt: Welches Instrument muss wann (auf welche Silbe) einen Ton produzieren. Das musikalische Schema sind also binär bewertete Definitionen des Zeitpunkts 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 64 einzelner Töne, mit einer gesungenen sinnfreien Silbenfolge als Bezugssystem für das Setzen der Töne. Prekär ist daran die Beliebigkeit der Inhalte: Ob die Schüler ru–mel–du–mel oder tra–la–la–la singen, ob die Triangel im Grundschlag oder, wie in diesem Beispiel, im halben Grundschlag spielt, ist jederzeit austauschbar, ohne dass dabei ein Sinn verloren geht. Die Qualität der Klänge (wie Lautstärke– oder Tempodynamik) spielt ebenfalls keine Rolle. Das hat zur Folge, dass der musikalische Ausdruck als ein kollektiver Gestaltungsraum jedem einzelnen Schüler überlassen ist. Die Rekonstruktion des nächsten hier anschließenden Abschnitts soll zeigen, wie Florian, nachdem er jetzt die schulische Aufgabe erledigt hat, durch Körperbewegungen im Drehbuch einen Sinn sucht. 4.7.3 Sequenz 3 – Florians Phrónesis Körperlich weiterhin spielbereit schaut Florian auf die ausklingende letzte Silbe (ra) in die Richtung eines Mitschülers Ben, der schräg rechts von Florian am letzten Tisch der Wandreihe der Klasse sitzt (im Bild nicht mehr zu sehen). Was Ben genau gemacht hat, weiß die Kamera nicht. Allerdings muss es für Florian positiv gewesen sein, denn er lacht herzlich in seine Richtung schauend, ohne seine Spielhaltung aufzugeben. Die Lehrerin initiiert währenddessen die Wiederholung „ein bisschen schneller und“. Obwohl Florian gerade mit Ben 'flirtet', setzt er völlig souverän und pünktlich die Schläge im ersten Takt („ru–mel–du–mel“). Im zweiten Takt („rau–di–de–ra“) schaut er wieder mit einem völlig sicheren Blick nach vorne. Jetzt steht ein überzeugender Musiker auf der Bühne, der ganz genau weiß, was er tut. Seine Aufführung kann mit der Wiederholung beginnen. Dass Florian seine Triangelschläge richtig setzt, wird zur Nebensache, zu einer Selbstverständlichkeit, so wie das Schülersein zu Nebensache wird. Er entwickelt mit seinem nach vorne gerichteten, den Zuschauer vereinnahmenden Blick eine Art 'Wipp–Tanz': Zunächst lässt er im Takt der Musik den Körper etwas herabsenken, bis er schließlich anfängt zu wippen: Er geht auf die Triangelschläge in die Knie und lässt auf die Pausen der Triangel den Körper in dieser Stellung abfedern, um sich dann wieder aufzurichten und mit der Wiederholung der Bewegung anzusetzen. Es ist ein Spiel des Körpers mit der Schwerkraft und der Elastizität: Nachdem der Körper der Schwerkraft nachgegeben hat, ist er bestrebt diese rückgängig zu machen. Die Triangelschläge werden nicht mehr 'einfach' gesetzt, sondern bekommen in diesem Spiel den Sinn der 'Vertonung' des Nachgebens: So, wie der Triangelschlag durch eine Beschleunigung des Stabes entsteht, so erreicht zeitlich synchron dazu der Körper beim Nachgeben den Umkehrpunkt des Kräftespiels. Der völlig starre Blick nach vorne lässt diese Aufführung 'cool', lässig, selbstbewusst und kontrolliert wirken. Verstärkt wird dieser Ausdruck dadurch, dass Florian von den falsch gesetzten Tönen seiner Mitschüler völlig unberührt bleibt. Die Form der Bearbeitung der pädagogischen Differenz ist die der Ausführung des musikalischen Drehbuchs als individuelle Interpretation des Rhythmus, die sich als körperlich dargestelltes Kräftespiel zeigt, das dadurch möglich wird, dass der Körper als 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 65 Erkenntnisinstrument schulisch unbesetzt ist. Im Gegensatz zu Jenny und Sarah, die das Triangelspiel als ein Verhältnis zwischen Silben und Schlägen umsetzen und dabei ab der ersten Wiederholung scheitern, entwickelt Florian einen individuellen Weg einer stabilen Ausführung des musikalischen Drehbuchs, indem er die zeitliche Struktur des musikalischen Drehbuchs liest41 (vgl. ebd., S. 117). Das schulisch relevante Wissen ist, wie schon im ersten Abschnitt, im Modus der zeitlich etwas zurückliegenden Vorführung der Lehrerin verfügbar und muss im Rahmen einer Aufführung bzw. Präsentation als klangliches Ergebnis körperlich produziert werden: Die Schüler müssen sich daran erinnern, dass die Triangel auf die Silben ru, du, rau und da zu schlagen ist (jeden zweiten Grundschlag), und bei kollektiver Aktivierung, die durch die Lehrerin erfolgt, ihr Spiel zu dem Gesang der Klasse synchronisieren. Das Spielen im Metrum ist eine Tätigkeit, deren Voraussetzung ein körperliches Empfinden ist. Selbst professionelle Musiker tippen bei Liveauftritten den Grundschlag mit dem Fuß mit. Kommt ein Betonungsmuster hinzu, entsteht ein Metrum. Die Schüler müssen also an der Initiierung der Lehrerin („uuuund“) das Tempo des Grundschlags fühlen, um jeden zweiten Schlag betonen zu können. Während die Silben fast durchgehend im Grundschlag gesungen werden, wird die Triangel mit ihrem zarten Klang das Instrument, das im Gesang liegende Betonungsstruktur hervorhebt. Fühlen die Schüler das Metrum nicht, was mit mechanischer Ausführung einhergeht, kann das Spiel jederzeit scheitern. Florian wählt im Gegensatz zum Tippen des Grundschlags mit dem Fuß eine andere Variante der rhythmischen Körperlichkeit: Er zeigt in der Form eines Wippens auf das binäre Metrum des Liedes. Auf betonte Schläge geht er in die Knie, auf unbetonte lässt er den Körper in dieser Stellung etwas abfedern. Die scheinbare bloße Verdopplung des Metrums – Triangelschläge und Wippen – schließt die Lücke zwischen dem produzierten Klang und dem Körpersubjekt, so dass die Klangfolge einen rhythmischen Sinn erhält. Im Allgemeinen wird Teilnehmern solcher Praktiken Musikalität als persönliche Eigenschaft zugeschrieben. Die ersten Eindrücke, die Florians Spiel auslösen, wie lebendig oder musikalisch im Gegensatz zu mechanischer Produktion, lassen sich durch diese rhythmische Sinnstiftung erklären. 4.7.4 Sequenz 4 – Florians Phrónesis II Als die Klasse die letzte Silbe des Refrains singt, bleibt Florian für einen Moment fast regungslos in der gesenkten Haltung. Dann sagt die Lehrerin: ja und jetzt kommt noch die Trommel. Jetzt löst Florian seine Anspannung und markiert sie mit einem leisen 41 Damit ist nicht gemeint, dass Musik ein stabiles Gebilde sei, das die Bedeutungen in sich trägt, sondern dass das Lesen kulturabhängig ist und die Bedeutungen in jeder Praktik mit dem Potential einer Modifikation aktualisiert werden. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 66 Triangelschlag. Erst jetzt ist für ihn die Vorführung zu Ende. Die Lehrerin setzt mit ihrer Erklärung fort, „und die macht nur bei“, während Florian zu Jenny schaut, die jedoch seinen Kontaktversuch nicht erwidert. Dann schaut er in die Richtung der Lehrerin und sagt etwas so laut, dass es selbst die Kamera hören kann. Die Gefahr der Sanktion ist gerade sehr gering, da viele Schüler zu hören sind, die der Lehrerin laut zu verstehen geben wollen, dass sie gerne auf der Trommel spielen möchten. Dann schaut Florian lächelnd kurz zu Jenny, die seinen Blick weiterhin nicht erwidert. Die Lehrerin hat jetzt angefangen den zweiten Teil des Refrains (rau–di–de–ra) zu sprechen und dazu auf der Trommel zu spielen. Florian sagt nochmal etwas und nutzt so die Gunst der Stunde aus, um schließlich auf die letzte Silbe (ra) den Arm, der den Triangelstab hält, in eine einsatzbereite Position zu bewegen: Er hat den Stab angehoben, so dass er ihn jetzt senkrecht in Gesichtshöhe hält. Jetzt muss er nur den Arm nach vorne ausstrecken, um auf die erste Silbe der Wiederholung (rau) mit der Lehrerin synchron einen imaginären Schlag zu produzieren. Dabei zieht er seine Augenbrauen zusammen, verleiht so seinem imaginären Schlag Verbissenheit und Ehrgeiz und stellt ein Bein etwas zu Seite, was ihm Stabilität zu verleihen scheint. Auf den unbetonten Schlag zieht er den Arm wieder zurück, um auf den nächsten Schlag (ra) wieder den Arm kraftvoll auszustrecken. Die Form der Bearbeitung der pädagogischen Differenz ist die einer selbstbestimmten körperlich aufgeführten Interpretation des musikalischen Drehbuchs noch während seiner Einführung. Adressiert werden die Schüler von der Lehrerin als Zuhörer, die ihrer – den musikalischen Ablauf repräsentierenden – sprachlichen Erklärung aufmerksam folgen sollen. Florian scheint diese Rolle nur teilweise anzunehmen, was sich an seinen Kontaktversuchen mit Jenny zeigt. Man könnte sagen, dass der Schüler unaufmerksam und zappelig ist, und stark vermuten, dass er den Part der Trommel nicht erfasst hat. Doch dann, noch bevor die Lehrerin mit der Wiederholung angesetzt hat, bereitet er seinen Körper so vor, dass er den Part der Trommel in ihrer zeitlichen Struktur und Lautstärke körperlich darstellen kann. Rückwirkend lässt sich also sagen, dass er das von der Lehrerin vorgeführte Drehbuchpuzzle erfasst hat und es 'gelesen' hat (vgl. ebd.). Mit Prange gesprochen, muss der Lernende etwas mitbringen, um das Gezeigte/den Text verstehen zu können (vgl. ebd.). Florian muss also ein gewisses musikalisches 'Vorwissen' haben, um die musikalische Zeitstruktur, Dynamik und den Ausdruck in eine sinnvolle bzw. verstehbare Aufführung zu überführen. Sein auf den ersten Eindruck lustig wirkendes Verhalten ist damit nicht einfach nur 'Quatsch', sondern eine eigensinnige Aneignungsweise des musikalischen Textes, die möglich wird, weil erstens der Schüler steht und im Umkreis einer Armlänge Platz vorhanden ist, zweitens der Körper mit Ausnahme der die Triangel haltenden Hand schulisch unbesetzt ist und drittens die Klasse etwas unruhig ist (viele Schüler sagen „ä, ä, ä“, um zu signalisieren, dass sie gerne auf der Trommel spielen möchten). 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 67 Das musikalische Wissen, das im musikalischen Drehbuch angezeigt wird, wird von Florian vor einem imaginären Publikum aufgeführt. Die Lehrerin, die sich für den Rest der Klasse, selbst in einer Präsentationsrolle befindet, wird in Florians Aufführung zu einem 'Partner', der im Hintergrund den akustischen Raum gestaltet, während Florian in Koproduktion mit ihr sein Verständnis der Musik als gekonnte Körperbewegungen aufführt. Das musikalische Wissen ist für ihn akustisch und für das imaginäre Publikum akustisch und visuell verfügbar. Das Medium des Sinnstiftungsprozesses ist dasselbe wie bereits in der vorangegangenen Sequenz: Ein musikalisch bewegter Körper. Während in der dritten Sequenz sich der Sinnstiftungsprozess auf die musikalische Zeitstruktur der Triangel bezog, ist er in dieser Sequenz differenzierter. Der Schlag in die Luft überdimensioniert den Lautstärke– und Ausdrucksunterschied zu den zarten Triangeltönen. Die zusammengezogenen Augenbrauen verstärken die ungeheure Kraft der Trommel als eines Instruments, das zum Beispiel in der türkischen Geschichte im Krieg die Moral der Feinde niederschlagen sollte. Obwohl Florian immer noch der Trianglist ist, integriert er vor und für sich selbst auf diesen drei Ebenen die neu hinzukommende Stimme. Man kann auch sagen, dass er sie für sich selbst erfahrbar macht. 4.7.5 These zur Gesamtinterpretation Insgesamt lässt sich an dieser Stelle Folgendes feststellen: In der Lernkultur der Klasse 2b gibt es erstens punktuelle Praktiken, die eine Differenz zwischen der Art und Weise der Vermittlung der Lehrerin und der der Aneignung der Schüler zum Vorschein bringen. Der Körper als Erkenntnissubjekt wird von der Lehrerin ausgeklammert und gleichzeitig von einzelnen Schülern integriert. Intendiert wird auf der Seite der Schule eine kognitive Aneignung von partiellen Strukturen der Musik. In dieser Szene sollen die Schüler als an Tischen sitzende Zuhörer den Part der Triangel als im Metrum spielendes Instrument erkennen und, sich daran erinnernd, ihn innerhalb eines Präsentationsrahmens ausführen. Dabei besteht eine Differenz zwischen quantisierendem Anspruch – der expliziten Zielsetzung des zeitgenauen Spiels – und der Umsetzung (vgl. S. 78 – Triangeltranskript "Als ich einmal reiste"). Zweitens: Die Musik als ein Arrangement aus einem vertonten Text und einem Spiel auf Instrumenten ist austauschbar. Warum die Triangel auf jeden zweiten Schlag und nicht zum Beispiel im Grundschlag spielt, wie Sarah nach der Aufforderung schneller zu spielen umgesetzt hat, wird weder expliziert noch erschließt es sich für die Akteure. 4 Untersuchung der Lernkultur des Musikunterrichts 68 Wie lässt sich das doppelte Lernen Florians als die Differenz zwischen dem offiziellen und inoffiziellen Lernen bestimmen? Ertragreich für diese Bestimmung ist der Begriff der praktischen Rationalität (vgl. Kapitel 2.3.6.2, S. 23): Das Lehren und Lernen orientiere sich an der Forderung und Förderung der „rein praktische[n] Beherrschung“ (Heimann 1987, S. 3). Konkret bedeutet es, dass der Lehrer ein Musikstück mehrmals vorträgt und die Schüler es richtig nachsingen (vgl. ebd. S. 4). Während also Florian zunächst die rein praktische Herausforderung - die Triangel zum richtigen Zeitpunkt nachahmend zu setzen – bewältigt, folgt er anschließend einer anderen Rationalität. In der Folge wird in seinem Verhalten eine andere Qualität von Wissen rekonstruiert: Das als Phrónesis bezeichnete interpretative Wissen um den Rhythmus und die Lautstärke sowie emotionales Wissen um die Wirkung der Trommel als Ausdruck von Kraft und (militärischer) Stärke. Nach Hermann Kaisers Beschreibung macht der Schüler eine ästhetische Erfahrung: „Eine ästhetische Erfahrung machen heißt also, ein Wissen über die Struktur und Organisation eines ästhetischen Sachverhalts (eine Musik, ein Bild, eine Skulptur o. ä.) und gleichzeitig über die Qualität der wechselseitigen Beziehung zwischen mir und diesem bestimmten ästhetischen Sachverhalt hervorbringen und aufbewahren.“ (Kaiser 1993, S. 171) An einer anderen Stelle schreibt der Autor, dass dieses Wissen im Wahrnehmungsprozess gewonnen wird, indem man vergleicht, vereint, trennt - also Klänge und Geräusche ordnet (vgl. Kaiser 1996a). Demnach folgt Florian einer ästhetischen Rationalität. Ästhetische Rationalität sei hier eine Logik des (Lern-)Prozesses, die sich am aktiven Deutungsprozess orientiert (vgl. Stutz 2005, S. 7–8). Der Deutungsprozess lässt sich als Praxis der Auslegung von Musik in Musik42 verstehen, der nicht auf eindeutige begriffliche Fixierungen, sondern auf Reflexion zielt: „Reflexion kann als ein Nachdenken über sich und über ein Anderes verstanden werden, als 'Thematisierung', als Auslegen." (ebd., S. 248) Dabei ist bei Otto die ästhetische Erfahrung eine „Voraussetzung für die Aktivierung der ästhetischen Rationalität“ (Stutz 2005, S. 7). Im Gegensatz zu Handlungserkenntnis ermöglichenden praktischen Rationalität sei die sinnlich-emotionale Erkenntnis der 'Ertrag' ästhetischer Rationalität. 42 Bei Otto/Otto heißt es: «Praxis der Auslegung in Bildern und von Bildern»Otto, Otto 1987. Auf die Konjunktion soll hier bewusst verzichtet werden, da Florian tatsächlich beim Musikmachen parallel die Musik 'auslegt'. 5 Praktische versus ästhetische Rationalität 69 5 Praktische versus ästhetische Rationalität Die Lernkultur des Musikunterrichts der Klasse 2/3b wird durch das als nicht hinterfragbar konstant begriffene Musikweltverständnis bestimmt. Die Konstante Musik wird als reproduzierbar und auf der körperlichen und mentalen Ebene als ordnungsstiftend aufgefasst und die Subjekte folgen dabei offiziell einer instrumentellen und praktischen43 sowie inoffiziell einer ästhetischen Rationalität. Die Lernkultur setzt sich aus folgenden Praxen zusammen: (1) Praxis der Herstellung der körperlich–mentalen Haltung (des Frontalunterrichts)44, (2) Praxis der Musikrezeption als fragend-entwickelnder Unterricht45 und (3) der Reproduktionspraxis als Ausführung musikalischer Drehbücher46. (1) Die Praxis der Herstellung der körperlich–mentalen Haltung des Frontalunterrichts besteht aus Praktiken der Stilllegung der Schülerkörper, der Aufmerksamkeitsfokussierung und des Gebens und Befolgens von Anweisungen. Gekonnte Vermeidung von Bewegungen, Verzicht auf Interaktionen mit Mitschülern, Aufmerksamkeit und Erinnerung sind schulrelevantes prozedurales Wissen. Die Maxime des Lernens ist also die Veränderung der kognitiven Haltung durch körperliche Bewegungsarmut und die Vermeidung der Veränderung der (Um–)Welt. Die dabei eingesetzte ordnungsstiftende Musik ist eine beliebige Entspannungsmusik. Die Beliebigkeit resultiert aus der erzieherischen Wirkung, denn die Musik dieser Praxis wird nicht nach ihren kulturellen Aspekten, wie z. B. geschichtlichem oder sozialem Zusammenhang, sondern ausschließlich nach ihrer Wirkung ausgewählt47, so dass die Wahl einer instrumentellen Rationalität folgt. (2) Die Praxis der Musikrezeption als fragend-entwickelnder Unterricht besteht aus Praktiken des kontemplativ aufgeführten Zuhörens, der Integration der individuellen körperlich getarnten Aneignungsweise, des Sich–Meldens sowie des mäeutischen Fragestellens und Fragebeantwortens. Auch hier ist Vermeidung von Körperbewegungen, Interaktion und Geräuschen bzw. Klängen relevantes prozedurales Wissen. Die Praktik des Sich–Meldens erfordert das prozedurale Wissen der körperlichen Ausdrucksformen (Melden als Pflicht oder „dringendes Bedürfnis“ Breidenstein 2006, S. 99) und das interpretative Wissen des richtigen Zeitpunkts der Meldung. Um eine Frage beantworten zu können, muss man das interpretative 43 44 45 46 47 Vgl. Kapitel 2.3.6.2, S. 23 Vgl. Kapitel 4.3, S. 40 Vgl. Kapitel 4.6, S. 48 Vgl. Kapitel 4.7, S. 58 Dabei ist nicht zu leugnen, dass der Markt der Entspannungsmusik einen Pool an ganzen CD–Reihen bereits anbietet und die Auswahl dadurch nicht uferlos ist. 5 Praktische versus ästhetische Rationalität 70 Deutungswissen des schulischen Sinnsystems haben. In der Praktik des Zuhörens wird der hochkulturelle Körpermodus aktualisiert: Zurücknahme der Körpers, Konzentration, Stille und Versunkenheit. In der Rezeptionspraxis wird ein Verständnis von Musik als eine generalisierte Ausführungsvorschrift und von Musizieren als einer konkreten Umsetzung verhandelt. Daneben kommt hier das Schema der Schule als allgemeinbildende in Abgrenzung zu ausbildenden Institutionen zum Ausdruck: Beim konsequenten Verzicht auf Vermittlung des musikalisch–methodischen Wissens zeigt sich der Musikunterricht als allgemeinbildend. (3) Die Reproduktionspraxis als Ausführung musikalischer Drehbücher besteht aus den Praktiken des Zuhörens mit integrierter Bewegung, der Teilnahme an der kollektiven Aktivierung, der Stiftung musikalischer Einheiten als zeitliche Synchronisierung und schließlich der körperlich–interpretativen Entdeckung des Rhythmus, des Ausdrucks und der Lautstärke. Die Praktik des Zuhörens erfordert Aufmerksamkeit und Erinnerung. Die Praktik des Zuhörens mit integrierter Bewegung, die als musikbezogene Bewegung verstanden werden kann, und die Praktik der körperlich–interpretativen Entdeckung des Rhythmus, Ausdrucks und der Lautstärke erfordern musikalische Phrónesis48 als methodisches Wissen um adäquate Körperbewegungen und interpretatives Wissen um zeitlich–performative Struktur der Musik und der je konkreten sozialen Situation49. Die Praktik der Teilnahme an der kollektiven Aktivierung erfordert das interpretative Wissen um das Aktivierungssymbol und um das 'Ablesen' des Tempos. Die Praktik der Stiftung musikalischer Einheiten als zeitliche Synchronisierung erfordert Erinnerung (an das Drehbuch50) sowie musikalische Phrónesis als 'musikalisches Abgucken', also einer Fähigkeit jemanden zum Zeigenden zu machen. Das Musikbegriffsschema der musikalischen Ausführungsvorschrift erfährt hier eine Konkretisierung: Musik bedeutet hier zeitlich synchrone Ausführung eines beliebigen musikalischen Drehbuchs. Während die Wahl des Stückes selbst eher auf das Volkslied des 19. Jahrhunderts begrenzt ist, ist die Ausführungsvorschrift, welches Instrument, welchen Rhythmus spielt, auf die praktische Rationalität ausgerichtet; das heißt, dass sie der Förderung rein praktischer Beherrschung dienen soll (vgl. Heimann 1987, S. 3). Gleichzeitig folgen einzelne Schüler einer ästhetischen Rationalität. Der Schüler zeigt sich auf dieser inoffiziellen Seite als sinnlich–emotionales Erkenntnissubjekt. 48 49 50 Der Begriff der Musikalität (oder teilweise gleichbedeutend gebraucht der mus. Kompetenz) soll hier aufgrund seiner zeit– und kulturgebundenheit vermieden werden. Vgl. Scharf 2003, S. 132–133 Florian muss die musikalische Situation gleichzeitig als Unterrichtssituation verstehen und den Spannungsbogen zwischen der selbstbestimmten Musiker– und Schülerrolle ziehen. Wer spielt, welches Instrument und welches Instrument spielt was. 5 Praktische versus ästhetische Rationalität 71 Das relevante und offizielle Wissen wird in der Lehreranweisung, der Lehrerbewertung oder im Lehrervortrag angezeigt. Inoffiziell – im Schülerverhalten beobachtbar – wird das Wissen dagegen im musikbezogenen Verhalten anderer Schüler, im Schülerkörper oder in der Musik selbst angezeigt. Die Schule eröffnet Aneignung vor allem als Kenntnisnahme im hochkulturellen Körpermodus. Der hochkulturelle Körpermodus in Verbindung mit mentaler Selbstbesinnung oder -beschäftigung wird in der Unterrichtseröffnung selbst zum Lerngegenstand. Zur Kenntnis nehmen kann der Schüler ein musikalisches Drehbuch oder einen bewerteten Antwortversuch. Daneben wird in der Reproduktionspraxis Aneignung als kollektive Einübung von Tondauern eröffnet. Inoffiziell findet dagegen individuelle Aneignung als Abgucken, getarnter Mitvollzug sowie Nachempfinden des Rhythmus, der Lautstärke und des Klangs statt. Das schulrelevante Wissen muss (vor allem) kollektiv oder vor dem Kollektiv vorgeführt51, assoziiert sowie verbalisiert werden. Neben der Vorführung als Wissensobjektivierung gibt es die inoffizielle Objektivierung als Aufführung und Abgucken. 51 Der Unterschied zwischen einer Vorführung und Aufführung soll hier im Zwang bzw. in der Freiwilligkeit und damit zusammenhängend der Adressierung bestehen: In der Vorführung präsentiert der Schüler der Lehrerin seinen Lösungsvorschlag, in der Hoffnung so nah wie möglich an die schulische Erwartung heranzukommen. In der Aufführung präsentiert der Schüler einem freiwilligen oder imaginären Publikum eine Interpretation, in der Hoffnung dabei nicht sanktioniert zu werden. 6 Schluss 72 6 Schluss In dieser Arbeit wurde das Lernen im Musikunterricht aus praxistheoretischer Perspektive untersucht. Gemäß der Annahme des bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffs, dass der Mensch in einer Bedeutungswelt handelt, wurde die Lernkultur als Herstellung und Bearbeitung von Differenzen der unterschiedlichen Verwendung von sinnhaften Unterscheidungen durch Subjekte in Musikpraxen und ihren pädagogischen Musikpraktiken definiert. Im Sinne des Zusammentreffens von Unterrichtsforschung und didaktischer Forschung wurde gefragt, wie die pädagogischen Differenzen bearbeitet werden und welches Gegenstandskonstrukt ihrer Bearbeitung vorliegt. Ein Blick in die musikpädagogische Diskussion hat gezeigt, wie der Gegenstand vor einem impliziten Hintergrund oder einer expliziten Grundlage philosophisch oder normativ bestimmt wird: Musik als (Nicht-)Kunstobjekt einer bestimmten Kultur oder Musik als Prozess mit einem bestimmten reflektierten und immer wieder neu generierten kulturellen Kontext. Mit der Erkenntnis einer dort kontingenten Bestimmung des theoretischen Musikbegriffs wurde in der empirischen Untersuchung der Fachlernkultur der Musikbegriff nicht heuristisch, sondern als Ergebnis der Rekonstruktion gefasst – als Gegenstandskonstrukt: Musik als nicht hinterfragbare und für das Subjekt nicht hintergehbare generalisierte Ausführungsvorschrift und Musizieren als ihre je konkrete Umsetzung sowie Musik im Sinne des Therapieparadigmas als den Geist und Körper (wieder) ordnend. Die Rezeption der musikpädagogischen Literatur hat darüber hinaus zu einer Modifikation der im Forschungsprojekt LUGS entwickelten Heuristik geführt. Der Bereich der Artefakte wurde um den Bereich der Musikobjekte und der Raumbegriff um seine auditive Dimension erweitert. Im Mittelpunkt der Modifikation stand der Versuch die drei Wissensarten52 einzeln zu untersuchen und erst im Nachhinein zu fragen, welches Wissen auf welche Weise als schulisch relevant markiert wird. Hierbei ergaben sich bei der Auswertung Probleme. Um zum Beispiel die Frage nach dem interpretativen und evaluativen Wissen beantworten zu können, bedarf es eines konkreteren Beobachtungsauftrags, der sich in Fragen ausdrückt, wie zum Beispiel: „Wie ist der Körper räumlich gerichtet? (zu sich selbst; zu einer Gruppe usw.)“. Mit anderen Worten: Es ist nicht gelungen Fragen zu entwickeln, anhand derer das interpretative Wissen hätte effektiv rekonstruiert werden können53. Aufgrund dieser Schwierigkeit wurde im Laufe der Rekonstruktion das methodische Vorgehen insoweit 52 53 Methodisches, interpretatives und motivationales Wissen. Am°Beispiel°der°Praktik°des°Lesens°wäre°das°interpretative°Wissen°„Verwendung°der°Lektüre°zum °moralischen°Exempel“°Reckwitz 2003, S. 293. 6 Schluss 73 verändert, als zunächst Beobachtungen zu den einzelnen konstitutionstheoretischen Annahmen der sozialen Praxis notiert wurden, um sie anschließend bezüglich der Fragen der Bearbeitung der Differenzen und der Wissensformen zu interpretieren. Wenn zum Beispiel auf der Ebene des Körpersubjekts die Beobachtung notiert wurde, dass ein Schüler das Üben des Parts eines anderen Schülers pantomimisch für sich selbst mitmacht (obwohl ihm selbst noch kein Instrument und Rhythmus zugeordnet wurden), wurde das als Verständnis des musikalischen Objekts (des musikalischen Drehbuchs) als einer praktischen Herausforderung, die sich antizipierend im Sinne der potentiellen realen praktischen Umsetzung bewältigen lässt, interpretiert. Insgesamt hat sich gezeigt, dass eine Heuristik im Laufe der Analyse immer weiter entwickelt werden muss. Eine andere Möglichkeit ihrer Entwicklung stellt ein Test dar, der an ein paar Szenen vor der eigentlichen Auswertung durchgeführt werden kann, um den Abstraktionsgrad der Fragen zu minimieren. Auch Beschreibungen und Auswertungen der Körperbewegungen, die in der Praxistheorie einen Teil der Materialität der Praktiken darstellen, sind noch nicht am Ende ihrer Entwicklung. Für ihre Weiterentwicklung würde sich die Tanztheorie von Rudolf von Laban anbieten. Neben der Choreutik, dem Beschreibungsinstrument der Bewegungsform im Raum, scheint Labans Eukinetik, die auf das Bedeutungsangebot der Bewegungselemente zielt (vgl. von Laban 1981, 1991; Boenisch 1997) für eine Sensibilisierung der Beschreibung und Interpretation der bewegten Lernkörper ertragreich zu sein. Dynamische Bewegungsqualitäten werden durch vier Bewegungsfaktoren bestimmt: Fluss, Raum, Körperschwere und Zeit. Jedem Bewegungsfaktor hat Laban eine zweipolige Skala und eine innere Einstellung zugeordnet. Der Faktor Raum ist zum Beispiel auf der Skala flexibel-direkt abgebildet und zeigt auf die Aufmerksamkeit der die Bewegung vollziehenden Person54 (vgl. Boenisch 1997). Der Ertrag der Skalen würde in der Fokussierung der Beschreibung nicht nur auf direkte, also auffallende Gesten und Bewegungen liegen, wie zum Beispiel das Ausstrecken des Armes in die Luft mit einem Triangelstab in der Hand55, sondern ebenso auf indirekte, suchende oder 'wartende' Bewegungen, die ebenso zum schulischen Repertoire der Bewegungsqualitäten dazugehören. 54 55 „Eine Geste kann sich direkt auf ein Objekt im Raum beziehen, auf etwas deuten und den Eindruck erwecken, sie werde im vollständigen Bewußtsein der eigenen Position im Raum wie auch der Beschaffenheit der Umgebung ausgeführt. Diese Bewegung ist durch eine gleichströmige, zielgerichtete unilaterale Muskelfunktion gekennzeichnet. Eine Bewegung kann aber auch ohne jeden Bezug auf die Umgebung oder ein räumliches Ziel ausgeführt sein, die Bewegungsrichtung ändert sich ständig und es sind eine ganze Reihe von Muskeln an der Bewegung beteiligt.“ (ebd.) Vgl. Kapitel 4.7, S. 58 ff. 6 Schluss 74 Die Verknüpfung von Musikunterricht mit den ganztagsspezifischen Angeboten, wie ein Schulchor oder Instrumentalunterricht, konnte empirisch nicht nachgewiesen werden. Bereits Beobachtungen während der videographischen Erhebungen haben ergeben, dass der Musikunterricht am Vormittag völlig unabhängig vom Geschehen am Nachmittag stattfindet. Dass die Praxis der Herstellung der körperlich-mentalen Ordnung in einen regulären Unterricht integriert wird, zeigt eher darauf, dass die schulischen Akteure bereit sind dem Musikunterricht eine freizeitpädagogisch-therapeutische Rolle zuzuweisen, die zum Beispiel im Deutschunterricht dieser Lerngruppe nicht beobachtet werden konnte und weniger auf eine Öffnung des Vormittags gegenüber ganztagsspezifischen Notwendigkeiten. Angesichts des strukturellen Zusammenhangs zwischen der Lernkultur und der Fachkultur – und dies sei die zentrale Erkenntnis der vorliegenden Arbeit – kann ein Plädoyer für eine theoretische Integration des Gegenstandskonstrukts in das Konzept der Lernkultur mit einer empirischen Konsequenz ausgesprochen werden. Bei Annahme einer Abhängigkeit der Lernkultur vom Gegenstandskonstrukt, den die Schule und die Lehrenden präferieren, können Hypothesen zur Einschränkung der Lernoptionen aufgestellt werden. Eine Fachkultur, die Musik als konstantes Objekt konstruiert, also als eine Kunstform, deren Modifikation einigen wenigen Protagonisten zusteht, wird wahrscheinlich keine gestalterischen Lernmöglichkeiten eröffnen, sondern die Lernenden in Empfangsbereitschaft versetzen und/oder sie auf Reproduktionsprozesse ausrichten. Es hat sich gezeigt, dass diese praktisch rationalisierte Lernkultur vom Aktivierungsgrad der Schüler unabhängig ist. Ob die Schüler Musik machen oder rezipieren ist für die Erfüllung des Anspruchs des ästhetischen Lernens als einer zweckfreien und wertbezogenen Tätigkeit nicht maßgeblich. Es lässt sich dabei nicht bestimmen, ob das Lernen vom Gegenstandskonstrukt abhängt oder umgekehrt, ob also das Gegenstandskonstrukt das Ergebnis der Lernkultur ist. Unabhängig von der Richtung der Abhängigkeit lässt sich jedoch empirisch feststellen, dass offiziell Musik als Schallereignis und Schallerzeuger gegenüber den Schülern in ihrer Bedeutung fixiert ist. Zu den Schallereignissen gibt es jeweils nur eine einzige Bedeutung, wie zum Beispiel der Kontrabass-Walzer von Camille Saint-Saëns, der für einen Elefanten steht56. Ein berühmtes Beispiel für kompositorisch gesetzte semantische Bedeutungen stellt die Programmmusik „Peter und der Wolf“ von Sergej Prokofjew dar. Im Grundschulunterricht werden diese Bedeutungen, wie der Großvater, zu einem Zeichen, dem Fagott, vermittelt. Solche semantischen Fixierungen, wenn sie nicht durch Gegenbeispiele als Besonderheit dieses 56 Vgl. Film auf der DVD „Musikpraxis der Schüler“ Szene 3 und 4 6 Schluss 75 Stückes dargestellt werden, werden damit ins Allgemeine gehoben und die Schüler erfahren eine „symbolische Schädigung“ (Schneider 1993, S. 5). Während am Beispiel des Elefanten-Walzers Bedeutungen programmatisch gesetzt wurden, hat die Lehrerin die Bedeutung des Refrains des Liedes „Als ich einmal reiste“ hegemonial fixiert. Da das Klassenarrangement in seiner Bedeutung unverständlich geblieben ist, entsteht das Problem der äußerlicher Beliebigkeit des Arrangements. Daneben ist ebenfalls der Gebrauch der Schallerzeuger fixiert, wie zum Beispiel die Trommel als mit einem ganz bestimmten Schlägel auf eine ganz bestimmte Art und Weise geschlagenes Instrument. Schließlich konnten Fixierungen in Praktiken, deren Teilnehmer sich weitgehend gebrauchskonform verhalten haben, beobachtet werden. Ob es die 'Entspannungsmusik' ist, die gemäß der Musikindustrie zum Entspannen benutzt wird, oder ein Klassenarrangement eines Volksliedes, das gemäß einer leichten Spielbarkeit für eine Schulklasse arrangiert wurde und von den Schülern gespielt werden muss, das Lernen in dieser Grundschulklasse wird durch Kenntnisnahme von fixierten Bedeutungen und Gebrauchsweisen bestimmt. So, wie man lernt, dass man sich auf eine Parkbank hinsetzen kann, eine Brücke überqueren kann oder aus einer Tasse trinkt, lernen die Schüler, dass man sich zu monotoner Musik von der visuellen Umwelt abschottet und 'entspannt'. Dabei wird von ihnen die Fähigkeit verlangt den Körper und Geist vollkommen dem Gebrauchswert unterzuordnen. So, wie man von Kindern verlangt sich in der U-Bahn mit dem Gesäß auf die Bank zu setzen, so sollen die Schüler 'richtig' auf die Triangel oder Trommel schlagen und nicht etwa den Triangelstab als Schwert benutzen. Dass die Einschränkung auf ausschließlich gebrauchskonformes Verhalten zu Schwierigkeiten beim Problemlösen führt, zeigt die Kognitionspsychologie. J. R. Anderson hat die Wirkung solcher Prozesse „funktionale Fixiertheit“ genannt: "Weitere Gebrauchswerte werden aus der Interaktion mit dem Gegenstand soweit ausgeblendet, daß erst durch gezieltes Kreativitätstraining wieder ein flexibles Verhalten ihm gegenüber möglich wird." (Posner, Schmauks 2004, S. 17) Das würde bedeuten, dass die Grundschule vor einem Problem steht: Auf der einen Seite muss sie den Kindern „Konventionen des Objektgebrauchs“ (ebd.) vermitteln – sie müssen lernen, dass kulturelle Güter wie eine Gitarre kein Gegenstand sind, den man z. B. schwimmen lassen kann. Gleichzeitig wird damit gemäß der „funktionalen Fixiertheit“ erreicht, dass die Schüler laut der These von Anderson nicht in der Lage sind quer zu den Konventionen zu denken, eine Fähigkeit, die laut TIMSS bei deutschen Schülern unzureichend ausgebildet ist (vgl. Klieme, Baumert 2001). 6 Schluss Folgt 76 man der deutschsprachigen musikpädagogischen Diskussion, soll der Musikunterricht ästhetisches Lernen ermöglichen. Exploration als Freude an der Innovation, Repetition als Wiedererkennung von Strukturen, Imitation als kreative Nachahmung und Symbolbildung als Sinnfindung seien dabei ästhetische Verhaltensweisen (vgl. Daucher 1990, S. 21ff.), für die jedoch Freiheit und nicht Zwang in der Form der und semantischen Fixierung vorausgesetzt wird (ebd., S. 26). H. Kaiser hat das Problem der ästhetischen Praxis und der erforderlichen Freiheit vor dem Hintergrund der Schulkritik diskutiert: Für die Institution Schule sei der Zwang und für ästhetische Praxis Freiheit konstitutiv (vgl. Kaiser 2005, S. 73 ff.). Frei sei der Teilnehmer der ästhetischen Praxis insoweit, als sein Tun „ganz wesentlich immer an dem Geregelten, Erprobten, Genormten und allseits Anerkannten vorbei“ (ebd., S. 75) gerichtet ist. Auch wenn der Autor an dieser Stelle unter ästhetischer Praxis künstlerisches Schaffen meint – eine Aufgabe, die die Schule wahrscheinlich überfordern würde – spricht er ein zentrales Problem des Musikunterrichts als einer schulischen Veranstaltung an, die der Zweckrationalität folgt, wie Arno Combe und Werner Helsper in ihrer rekonstruktiven Untersuchung des Unterrichts zusammenfassen: "Auffällig ist nun in den rekonstruierten Fällen, in welch hohem Maße Unterrichtsabläufe und erzieherische Interaktionen von einem Modell kalkulierten zweckrationalen Handelns und Planens bestimmt sind. Für eine stärkere Betrachtung einer moralischen und ästhetisch-kreativen hermeneutischen - Komponente scheint im Rahmen der sachlichen Kooperation des Unterrichts, angesichts eines vermeintlich vorausberechenbaren Plan-Solls, nur in seltenen Fällen Raum.“ (Combe, Helsper 1994, S. 212) An der im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehenden Szene „Florian musiziert57“ konnte gezeigt werden, dass die Schule darüber hinaus einer praktischen Rationalität folgt, die ausschließlich auf der 'Hinterbühne' zu ästhetischen Verhaltensweisen geführt hat. Es soll an dieser Stelle nicht im Namen einer Idee, der Idee der Subjektivität – konkret der ästhetischen Praxis – gegenüber einer zweckrationalen Einrichtung argumentiert werden. Stattdessen soll die Ausdehnung der Ansprüche an das schulische Lernen, bei jetziger Professionalisierung, in Frage gestellt werden. Wenn man annimmt, dass pädagogische Praktiken, wie sie hier inoffiziell von einzelnen Schülern aufgeführt wurden, musikalisches Verstehen als ästhetisches Lernen ermöglichen, so muss gefragt werden, ob die Schule als eine Institution, die laut den Ergebnissen von A. Combe und W. Helsper und der vorliegenden Arbeit Zweckrationalität und praktische Rationalität präferiert, der ästhetischen (und moralischen) Rationalität folgen kann. Kann die Schule der Komplexität dieser Praktiken gerecht werden? Grundsätzlich werden die Schüler der Schule immer mehr und etwas anderes anbieten, wovon nur ein Teil schulrelevant ist. Es 57 Vgl. Kapitel 4.7, S. 58 ff. 6 Schluss 77 werden sich immer einzelne Schüler finden, die über die Sache hinausgehen oder sogar über die Anforderungen hinauswachsen, allerdings muss dieses nicht schulrelevante, aber der Institution inhärente Lernen Unterrichtsentwicklung darstellen. nicht unbedingt einen Indikator für die richtige 7 Anhang A: Verzeichnisse 78 7 Anhang A: Verzeichnisse 7.1 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Musikunterrichtbezogene Objekte......................................................................20 Abbildung 2: Klassenzimmer der Klasse 2b – Tafelbereich.....................................................45 Abbildung 3: Klassenzimmer der Klasse 2b.............................................................................46 Abbildung 4: Musikbezogenes Lernen über mus. Symbole.....................................................47 Abbildung 5: Musikbezogenes Lernen über Text.....................................................................47 Abbildung 6: Der Elefantentanz...............................................................................................48 Abbildung 7: Triangeltranskript "Als ich einmal reiste"..........................................................79 7.2 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Soziale Ordnung.......................................................................................................32 Tabelle 2: Aneignung und Vermittlung....................................................................................33 Tabelle 3: Wissensformen und ihre Anerkennung....................................................................34 8 Anhang B: Empirisches Material 8 Anhang B: Empirisches Material Abbildung 7: Triangeltranskript "Als ich einmal reiste" 79 8 Anhang B: Empirisches Material 80 8.1 Szenische Verläufe 8.1.1 Erste Aufnahme: 20. März 2007 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Der Anfang Die Schüler kommen ungeordnet herein. Die Lehrerin mahnt sie an nichts anzufassen und gibt die Anweisung den Musikhefter auf den Tisch zu legen. Ein Schüler wird angewiesen die Tafel abzuwischen. Viele Schüler trinken noch etwas. Die Lehrerin kommt in den Klassenraum zurück und schreibt etwas an die Tafel (während sie fragt: hat denn jeder ein musikbuch) Langsam ordnet sich die Klasse: Fast alle Schüler sitzen auf ihren Plätzen. Nur noch vereinzelte Schüler bewegen sich durch den Klassenraum. Dann spricht die Lehrerin die noch „wuselnde“ Klasse an und heftet dann Bilder an die linke Seite der Tafel. Der Unterricht 1. Die Lehrerin eröffnet den Unterricht (00:07:42:09 - 00:08:18:14) L: „so meine lieben . jetzt beruhigen wir uns erstmal . wir sitzen ordentlich an unseren plätzen.“ Alle Gespräche unter den Schülern verstummen. Alle Schüler sind mit dem Körper nach vorne gerichtet. Es folgen Anweisungen bezüglich der Technik: Die Schüler sollen nichts anfassen und die Kameras vergessen. L: „und wir machen ganz normalen musikunterricht, so, wie wir das normalerweise machen xx fertig .ja .und wir gucken jetzt da gar nicht hin . so.“ 2. „Entspannung“ (00:08:18:14 - 00:14:02:20) 1. Einleitende Worte der Lehrerin Die Schüler werden aufgefordert den Kopf auf den Tisch zu legen: L: „und damit ihr euch ein bisschen beruhigt und die kameras vergesst, weil ihr jetzt aus dem sportunterricht kommt, hören wir erstmal ein bisschen entspannungsmusik (unv.) kopf auf die bank.“ Alle Schüler legen daraufhin ihren Kopf auf die Bank. Sodann legt die Lehrerin eine CD in den Player ein. 2. „Entspannungsmusik“ Die Lehrerin sitzt an ihrem Schreibtisch. Aus dem Player ist ruhige Musik zu hören, während die Schüler an ihrem Plätzen sitzen und ihre Köpfe zwischen ihre Arme gelegt haben. Immer wieder sind kleine Bewegungen in der Klasse sichtbar. 3. Die Musik klingt aus. Ein Mädchen hebt ihren Kopf und die Lehrerin fordert die Schüler auf liegen zu bleiben. 4. Aufweckspiel Die Lehrerin flüstert den Namen eines Schülers, der sich aufrichtet und den Namen des nächsten eines Schülers flüstert. Das wird so lange wiederholt, bis alle Schüler aufgerufen wurden. Die meisten Schüler verfolgen die „Weckspur“: Sie hören den aufgerufenen Namen und schauen dann den aufgerufenen Schüler solange an bis dieser sich aufgerichtet hat und den nächsten Namen geflüstert hat. Als der letzte Schüler „geweckt“ wird, beendet die Lehrerin das Spiel mit den Worten „alle aufgewacht .sehr schön.“ Übergang (00:14:02:20 - 00:14:13:24) Einige Schüler rücken ihren Stuhl an den Tisch. Alle schauen nach vorne. Lehrerin flüsternd: „XXX schön enstpannt xxx. Jetzt können wir uns unseren aufgaben widmen.“ Das Lied von der kleinen Schwalbe (00:14:13:24 - 00:32:48:2) Die Lehrerin leitet das Lied, weiterhin flüsternd, mit ein paar Worten ein. Dann schlagen die Schüler ihre Musikhefter auf. Die Lehrerin fängt an Gitarre zu spielen und erzählt, dass sie ein paar Adjektive hören möchte, die die Musik beschreiben. Dann singen alle die erste Strophe des Liedes. Nach dem Ende des Liedes fordert die Lehrerin die Schüler auf ein paar „Begriffe“ zu finden, um sodann die erste Strophe noch mal zu singen. Nacheinander werden die nächsten Strophen vorgelesen und dann gesungen. Danach werden die Schüler aufgefordert ihren Hefter in die Hand zu nehmen und sich neben ihre Tische aufzustellen. Abschließend wird der Textinhalt besprochen. Übergang (00:32:48:22 - 00:33:05:02) Der Elefant (00:33:05:02 - 00:50:08:02) Der Inhalt der vorangegangenen Stunde wird wiederholt und die Schüler bekommen die Aufgabe Adjektive zu Musik finden. Sie hören das Musikstück „Der Elefant“ von C. Saint-Saëns, um danach passende Adjektive zu finden. Die zweite Aufgabe wird gestellt: Die Schüler sollen sagen, welches Tier die Musik darstellt. Nach ein paar Antwortversuchen löst die Lehrerin das Rätsel auf. 8 Anhang B: Empirisches Material 81 Dann sollen sich die Schüler wie ein Elefant zur Musik bewegen. Nach dieser Übung schreiben sie einen Satz über die Musik in ihre Hefter ab, währen das Stück nochmals vorgespielt wird. Als die meisten Schüler fertig mit dem Abschreiben sind, stellt die Lehrerin die Frage nach der Instrumentierung. Während die Musik nochmal vorgespielt wird, kommentiert die Lehrerin die Instrumentierung. Einige Schüler melden sich bereits und werden auch zwischendurch dran genommen. Am Schluss sollen die Schüler etwas im Buch nachschauen. 8. Abschluss (00:50:08:02 - 00:51:11:03) Nachdem die Lehrerin die Stunde mit einer Ankündigung (eigentlich) abgeschlossen hatte, meldet sich ein Mädchen mit der Anmerkung „lukas vater spielt kontrabass“, die dazu führt, dass die anderen Schüler über ihre Begegnung im Kindergarten mit dem genannten Vater berichten. 9. Organisatorische Anweisungen (00:50:47:06 – 00:51:11:03) 10. Ende (00:51:11:03 - 00:53:42:07) Die Schüler bringen ihre Hefter und Bücher in das hintere Regal. 8.1.2 Zweite Aufnahme: 25. September 2007 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Der Anfang (00:00:00 - 00:07:22:01) Einige Schüler trinken, einige warten. Die meisten sitzen jedoch an ihren Plätzen. Unterrichtseröffnung: Kopf auf die Bank (00:07:22:01 - 00:13:22:02) Während sich noch einige Schüler unterhalten, sagt die Lehrerin: „so alles dann vom platz was jetzt nicht für musikunterricht wichtig ist . alles wegräumen . machen wir ne kurze entspannung legen mal den kopf auf die bank und dann geht’s los .. erstmal kopf auf die bank legen tina pschschsch beruhigen leoni .. leg mal den kopf auf die bank“ Einige Schüler legen ihre Köpfe auf die Bank, einige noch nicht. Die Lehrerin ermahnt eine Schülerin. Dann sagt die Lehrerin dass sich alle beruhigen sollen, da es schon die sechste Stunde wäre, was sehr anstrengend sei. Nach ein paar Sekunden erklingt langsame monotone Musik. Als die Musik wieder nach ein paar Minuten ausklingt, kündigt die Lehrerin das „Namensspiel“ an: Es wird ein Name eines Schülers geflüstert, der sich aufrichten darf und den nächsten Schüler 'aufweckt'. Die Lehrerin beendet das Spiel, nachdem alle Schüler aufgerufen wurden mit einem „ok“. Sprechvers: „Wer hat die Kekse geklaut“ (00:13:22:02 - 00:19:13:14) Die Lehrerin flüstert: „stellt euch leise auf euren platz“, woraufhin alle Schüler aufstehen und sich neben ihre Tisch stellen. Dann scheint die Lehrerin auf einen Schüler sauer zu sein, der so kurz nach dem Unterrichtsbeginn auf die Toilette muss. Mit einem „geh“ erlaubt ihm die Lehrerin zu gehen. Nachdem der Schüler den Raum verlassen hat, beginnt das Spiel: Die Lehrerin spielt durchgehende Schläge auf der Trommel und spricht zu den Schlägen: „jenny hat die kekse aus der dose geklaut“. Direkt im Anschluss antwortet der aufgerufene Schüler: „wer ich“ Die Lehrerin wieder: „ja du“. Der Schüler: „niemals“. Die Lehrerin: „wer dann“. Dieses 'rhythmische' Gespräch wird immer weiter fortgesetzt, indem sich die Schüler gegenseitig 'beschuldigen', bis jeder an der Reihe war. Rückgabe des Musiktests (00:19:13:14 - 00:21:53:07) Die Lehrerin sagt, dass der Musiktest gut ausgefallen wäre und teilt den Schülern ihre Tests aus. Lied: „Bruder Jakob“ (00:21:53:07 - 00:23:19:20) Nach einem „so“ fängt die Lehrerin an das Lied „Bruder Jakob“ zu singen. Dann singt die Klasse immer wieder das Lied einstimmig und dann schließlich im Kanon. Lied: „Hejo, spann’ den Wagen an“ (00:23:19:20 – 00:30:48:01) Die Lehrerin kündigt an, dass die Klasse jetzt ein neues Lied lernen wird und singt das Lied „Hejo, spann’ den Wagen an“ vor. Dann bespricht die Lehrerin den Text mit der Klasse, um anschließend das Lied Stück für Stück zu singen. Dann werden die Schüler aufgefordert nicht mehr mitzusingen, sondern zuzuhören und zu sagen, was am Schluss der Liedes besonders wäre. Nachdem die richtige Antwort gesagt wurde, übt die Klasse das Lied immer wieder. Lied: „Als ich einmal reiste“ (00:30:48:01 - 00:46:21:07) Die Schüler werden aufgefordert ihr Musikbuch aufzuschlagen, um das Lied „Als ich einmal reiste“ zu singen. Die Lehrerin kündigt an, dass sie ein paar Instrumente mitgebracht hat, um das Lied zu begleiten, um „das ganze ein bisschen aufgelockerter zu gestalten“. a. Singen des Liedes mit Gitarrenbegleitung. b. Die Lehrerin sagt, was die Klangstäbe spielen sollen. Dann werden drei Schüler ausgesucht, die sich vor das hintere Regal mit den Klangstäben hinstellen, um ihren Rhythmus zu üben, während die Klasse wartet. c. Die Lehrerin sagt zu den Klangstabspielern, nachdem sie mehrmals gespielt haben, „so ungefähr“ und macht vor, was die Triangel spielen soll. Dann werden wieder drei andere Schüler ausgesucht, die auf der Triangel spielen. Sie stehen neben den Klangstabspielern. d. Die Instrumentalisten üben immer wieder ihre Stimme. 8 Anhang B: Empirisches Material 82 e. 8. Das letzte Instrument ist die Trommel. Die Lehrerin macht erneut vor, was die Trommel spielen soll. Dann bekommen zwei Schülerinnen das Instrument und stellen sich zu den anderen Instrumentalisten dazu. f. Nachdem die Instrumentalisten ein Mal zum Refrain gespielt haben, singt die Klasse das ganze Lied und wird von ihnen begleitet. g. Am Schluss werden die Instrumente an Schüler überreicht, die bis jetzt gesungen haben, um das Lied wieder zu singen und dazu zu spielen. h. Die Schüler tragen die Instrumente nach vorne zu der Lehrerin. Schluss (00:46:21:07 - 00:47:02:08) Die Lehrerin kündigt an, dass die Schüler in der nächsten Stunde ein neues Herbstlied lernen werden. Dann räumen die Schüler ihre Musikbücher und -hefter weg. 8.1.3 Dritte Aufnahme: 30. Oktober 2007 1. 2. 3. 4. Herstellung von Ordnung (00:00:00:00 - 00:00:35:04 ) Die Lehrerin gibt Anweisungen bezüglich der Sitzordnung und der Materialien. Die Schüler holen entsprechende Materialien aus ihren Taschen heraus und legen sie auf die Tische. Wahrnehmungsspiel (00:00:35:04 – 00:03:44:01) Die Lehrerin bittet erstmal alle um Ruhe und den Kopf auf die Bank zu legen. Alle sollen tief einund ausatmen und ihre Sinne abschalten. In der Klasse wird es sehr leise. Nur das Umblättern der Lehrerin ist zu hören. Dann werden die Schüler gefragt, wie oft die Lehrerin eine Seite umgeschlagen hat. Die Schüler melden sich und sagen eine Zahl auf: 11, 10, 12, 15. Die Lehrerin bittet die Schüler die Zahlen, die bereits gesagt wurden nicht zu wiederholen. Dann lässt sie für vier Zahlen die Schüler abstimmen. Nach jeder Zahl, zählt die Lehrerin die Anzahl der Meldungen. Am Ende sagt die Lehrerin die Lösung. Einer der Schüler jubelt halb leise, halb laut: „ja!“. Carl lächelt unfreiwillig. Lied „In der Küche tickt die Uhr“ (00:03:44:01 – 00:21:50:02) Die Lehrerin erzählt, dass sie ein neues Lied mitgebracht hätte, worauf ein ganz leises Jubeln zu hören ist. Sie knüpft das Lied an den Vortag an, in dem sie sich mit „verschiedenen HalloweenThemen“ beschäftigt. Das neue Lied würde auch dazu passen, sagt sie. Dann begleitet sie ihren Gesang auf der Gitarre, während die Schüler ganz leise zuhören. Sie fragt die Klasse, welche Stimmung das Lied vermitteln würde, worauf sich die Schüler melden. Ein Schüler wird gefragt, was mit ihm sei. Er erzählt, dass ihm ein Stück von seiner Uhr abgebrochen wäre. Die Schüler werden aufgefordert über Situationen zu berichten, in denen sie Angst gehabt hätten. Die Lehrerin teilt die kopierten Liedtexte und Noten aus. Dabei fragt sie eine Schülerin, die sich am Anfang der Stunde in die Hose gemacht hat, ob noch jemand angerufen werden soll. Carl liest den Text der ersten Strophe vor. Während des Vorlesens schauen fast alle auf ihre Blätter. Anschließend erzählen sie, was in dieser Strophe Angst auslöst. Der Wechsel zwischen Lesen und der Nennung der Ursache für die Angst wird für alle Strophen fortgesetzt. Die Lehrerin lobt die Art des Vorlesens der Schüler und kündigt ihr eigenes Vorsingen an. Dabei klopft sie mit als sie die letzten beiden Zeilen vorsingt. Die Schüler werden dann aufgefordert den Grundschlag mit den Fingerkuppen mitzuklopfen, jedoch nicht mitzusingen. Sie fordert die Schüler auf zuzuhören, jedoch nicht mit zu klopfen. Pamina fragt, was die Kreuze auf der Kopie bedeuten würden, worauf die Lehrerin die Antwort auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. Dann fordert sie die Schüler auf mitzusingen. Immer wieder singt die Lehrerin Ausschnitte vor, die die Schüler nachsingen. Dann holt sie eine Holzblocktrommel aus einem Regal und kündigt an, dass das Ticken der Uhr mitgespielt wird. Auf dem Rückweg zu ihren Schreibtisch spielt sie den Grundschlag, den sie als Ticken der Uhr bezeichnet, mit. Sie klopft in der ersten Strophe den Grundschlag, während alle mitsingen. In den nächsten Strophen darf jedes Mal ein anderes Kind auf der Holzblocktrommel spielen. Die Lehrerin erklärt, dass man an der Stelle der Kreuze auf einem Glockenspiel spielen kann. Dann singt sie und begleitet sich auf einem Glockenspiel. Anschließend dürfen bei jeder Strophe immer andere Schüler spielen. Gruppenarbeit: Schüler üben das Lied „In der Küche tickt die Uhr“ (00:21:50:02 – 00:36:32:21) Die Lehrerin erklärt, dass die Schüler das Lied in kleineren Gruppen üben sollen. Die Schüler sollen geheimnisvoll singen und dürfen sich gruslige Geräusche, die sie zwischen den Strophen oder nach dem Lied machen, ausdenken. Innerhalb der Gruppe sollen sich die Schüler beim Spielen auf den Instrumenten abwechseln. Dann teilt sie die Klasse in drei Gruppen ein. Eine Gruppe bleibt im Klassenraum. Jede Gruppe bekommt ein Glockenspiel und eine Holzblocktrommel. Während einzelne Schüler den Raum verlassen, macht Carl einige darauf aufmerksam, dass sie ihre Kopie mitnehmen sollten. Er bleibt an seinem Platz sitzen, während die Lehrerin den Raum verlässt. Carls 8 Anhang B: Empirisches Material 5. 83 Gruppe singt die erste Strophe, während Charlotte auf dem Glockenspiel Borduntöne spielt. Aus dem Hintergrund hört man die Holzblocktrommel. Charlotte stellt sich dann mit einem Glockenspiel neben Carls Tisch, schlägt mit den Schlegeln wie ein Schlagzeuger ein paar Mal in der Luft. Dann sagt eine Schülerin „jetzt“, woraufhin die Schüler die erste Strophe singen. Anschließend geht Charlotte zu der Gruppe hin, die am Tisch vor Carl sitzt und übergibt das Glockenspiel. Die Lehrerin kommt herein und fragt die Forscherin, ob Carl aufstehen dürfe, worauf diese „ja“ sagt, „das ist doch schnurlos“. Carl stellt sich zu der Gruppe dazu. Die Lehrerin legt eine Federtasche auf einen Nachbartisch mit der Begründung, dass dann etwas herunterfallen würde, stellt fest, dass sie bei der Organisation der Gruppenarbeit überflüssig ist und verlässt den Raum. Die Gruppe setzt ein paar Mal mit dem Spielen an. Maria, die auf dem Glockenspiel spielen soll, setzt aus, worauf auch die Gruppe zu singen aufhört. Charlotte erklärt Maria, wann sie spielen soll. Die Gruppe fängt wieder an. Maria setzt wieder nach zwei Schlägen aus. Während die Gruppe weiter singt, stöhnt Charlotte ein Mal und erklärt Maria, bei welchen Worten sie die Töne anschlagen soll. Beim letzten Schlag setzt Maria wieder ein. Dann erklärt erneut Charlotte Maria, bei welchen Worten sie das Glockenspiel anschlagen muss. Gleichzeitig erklärt Pamina, wie man das Glockenspiel anschlagen muss, damit die Töne länger klingen. Maria holt einen Stift und unterstreicht die Worte, bei denen sie spielen muss. Beim nächsten Versuch, stellt sie fest, dass sie immer falsche Töne spielt. Die Instrumente werden wieder getauscht. Charlotte erklärt Tina, bei welchen Worten sie auf dem Glockenspiel spielen soll. Die Schüler geben dann die Instrumenten weiter. Pamina fragt, wie man „dieses Ding“ spielen würde. Charlotte erklärt Pamina, wann sie zu spielen hätte und Maria legt ihr ihre eigene Kopie vor, in der die Wörter der zweiten Strophe unterstrichen sind, worauf Pamina sagt, dass das „der falsche Text“ wäre. Carl fängt währenddessen an die vierte Strophe zu singen, woraufhin die Gruppe einsteigt. Währenddessen kommt die Lehrerin herein und singt auf „na na“ die letzte Zeile mit und stellt sich Carl und Charlotte umarmend zu der Gruppe dazu. Sie erklärt, dass ab der zweiten Strophe keine Kreuze mehr stehen würden, und dass die Schüler immer bis vier zählen sollen. Dann singt sie die Melodie auf „eins zwei drei vier“ und klatscht jedes Mal auf die Eins. Sie fragt dann die Gruppe, wo sie genau wären und schlägt vor mit ihnen gemeinsam die vierte Strophe zu „machen“: Die Schüler singen und spielen, während die Lehrerin auf die Eins mit den Armen größere Luftbewegungen macht. Während die Schüler die letzte Zeile singen, sagt die Lehrerin „jetzt war es perfekt“. Den Raum verlassend sagt sie „nicht so schnell singen“. Die Schüler geben ihre Instrumente weiter. Carl fragt, ob man die Holzblocktrommel „so“ anfassen würde, indem er sie von unten hält. Charlotte stimmt zu, nimmt die Holzblocktrommel und zeigt noch mal die richtige Spielweise. Dann üben die Schüler die nächste Strophe. Als sie fertig sind, klimpert Charlotte etwas auf dem Glockenspiel. Dann werden die Instrumente weitergegeben. Pamina überprüft, ob alle bereits auf der Holzblocktrommel gespielt haben. Nachdem sie sich dessen versichert hat, darf Maria darauf spielen. Die Gruppe übt weiter. Charlotte spielt ein paar Mal einen lauten Schlag auf die Holzblocktrommel, worauf einige „au“ schreien. Sie bekommt das Glockenspiel und setzt sich mit dem Instrument an den Tisch. Als Carl anfängt die vierte Strophe zu singen, protestiert Charlotte mit den Worten „eh wir müssen mitmachen du x“. Die Schülerin kommentiert die letzte Ausführung mit den Worten „irgendwie so“. Dann legt sie das Glockenspiel in den Schrank, während ein Schüler aus einer anderen Gruppe hereinkommt. Nach und nach füllt sich den Klassenraum wieder. Maria nimmt die Holzblocktrommel aus Paminas Hand und legt sie weg. Carl setzt sich wieder mit der Kopie in der Hand an seinen Platz und wartet. Die Lehrerin kommt herein und gibt Anweisungen: Die Schüler sollen sich kurz hinsetzen. Carl heftet die Kopie in seinem Hefter ab. Abschluss der Stunde (00:36:32:21 - 00:37:44:24 ) Die meisten Schüler sitzen an ihren Plätzen. Einige heften die Kopie ab. Die Lehrerin fragt, wo sich ein Glockenspiel befinden würde, kündigt an, dass die Gruppen in zwei Tagen das Lied vorführen werden würden und stellt fest, dass die Gruppen ‚nichts mit den Geräuschen gemacht hätten’. 8.1.4 Vierte Aufnahme: 12. November 2007 1. Der Anfang Einige Schüler sitzen an ihren Plätzen und unterhalten sich, einige sind noch außerhalb des Klassenraums. Die Lehrerin legt auf jeden Platz einen Zettel hin. Dann sagt sie „so . dann würd ich sagen sind alle wieder da“, ermahnt eine Schülerin und fordert die Schüler auf die ausgeteilten Zettel in das Hausaufgabenheft zu stecken. Sie klärt die Klasse über den Inhalt des Zettel auf, sorgt dann dafür, dass ausschließlich 'Musiksachen' auf den Tisch liegen. 8 Anhang B: Empirisches Material 2. 84 Der Unterricht beginnt: 'eine kleine Stilleübung' (00:07:00:06 - 00:10:33:15) Die Lehrerin kündigt „eine kleine stilleübung“ an. Die Schüler sollen den Kopf auf die Bank legen und sich nach einer gefüllten Minute wieder aufrichten. Nach und nach richten sich die Schüler auf. Dann sagt die Lehrerin, welcher Schüler wie lange von einer Minute entfernt war. 3. Gespräch über das Zählen von Sekunden ohne eine Uhr (00:10:33:15 - 00:13:02:18) Die Schüler probieren zu antworten, wie man Sekunden zählen kann, ohne eine Uhr zu haben. 4. Uhren und Grundschlag (00:13:02:18 - 00:18:53:23) Die Lehrerin lobt die Schüler, dass sie gerade versucht haben den Grundschlag von schnellen und langsamen Uhren 'nachzuvollziehen'. Dann schauen die Schüler in ihre Hefter in eine Kopie über Uhren. Die Klasse wird nach den abgebildeten Notennamen und ihrer Anzahl der Grundschläge abgefragt. Nach jedem richtig benannten Notennamen klatschen die Schüler ein paar Mal und zählen dazu. 5. Den Uhrenladen klatschen (00:18:53:23 - 00:20:23:21) Die Klasse wird in drei Gruppen aufgeteilt und jeder Gruppe ein Notenwert zugeordnet. Dann klatschen die Gruppen nacheinander ihre Noten, um anschließend alle drei Notenwerte gleichzeitig zu klatschen. 6. Besprechung der Achtelnote (00:20:23:21 - 00:21:29:13) Die Schüler raten, wie die Note, die neben einem Wecker abgebildet ist heißt und wie viele Grundschläge sie hat. 7. Singen des Uhrenkanons (00:21:29:13 - 00:23:48:02) Die Klasse singt den auf der Kopie abgebildeten Uhrenkanon „Große Uhren“. Dann muss die Klasse unter dem Tisch auf den Oberschenkel im Grundschlag patschen und dazu singen. Diese Übung wird im schnelleren Tempo wiederholt. 8. Rhythmusbausteine: Zuordnung von Zahlen zu Notensymbolen (00:23:48:02 - 00:34:39:22) Die Schüler versuchen zu beantworten, welche Zahl unter welche Note notiert werden muss. (An der Tafel sind sechs 4/4-Takte geschrieben.) Sie versuchen den notierten Rhythmus zu klatschen und ein Schüler schreibt die Zahlen an der Tafel. 9. Vorbereitung der Gruppenarbeit (00:34:39:22 - 00:37:37:08) Die Lehrerin erklärt der Klasse, dass sie in Gruppen ein Arbeitsblatt lösen sollen: Sie sollen unter die Noten die entsprechenden Grundschlag-Zahlen notieren und zählend den Rhythmus klatschen. Dann werden die Schüler in Gruppen eingeteilt (pro Gruppe sind es zwei bis drei Schüler), außerdem wird ihnen ein Raum zugeordnet. Nach und nach verlassen die Gruppen den Klassenraum. 10. Gruppenarbeit Kamera 1 (00:37:37:08 - 00:46:09:18) Die Schüler befinden sich in einem Garderobenraum. Das Arbeitsblatt liegt auf einer großen Kiste und die drei Schüler stehen davor. Sie versuchen gemeinsam die Rhythmen zu klatschen und die entsprechenden Zahlen zu notieren. 11. Übergang: Die Schüler gehen zurück in den Klassenraum (00:46:09:18 - 00:46:32:07) 12. Abschluss: Einsammeln der Blätter und Markierung der nicht ausreichenden Leistung der Schüler (00:46:32:07 - 00:48:09:19) Die Lehrerin sammelt die bearbeiteten Blätter ein und sagt, dass viele Schüler die Hausaufgabe, die Notenwerte und ihre Anzahl der Grundschläge zu lernen, nicht gemacht hätten. Dann bekommen die Schüler dieselbe Hausaufgabe nochmal auf. 8 Anhang B: Empirisches Material 85 8.2 Szenenindex zum Film „Musikpraxis der Schüler“ Szene 1 – „Lauras Wiegelied“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:26:18:18 1:46 Musizieren Beschreibung: Laura steht vor einem Stuhl, der an einen Tisch herangeschoben ist. Ihre Füße stehen leicht auseinander. Sie hält in Brusthöhe in beiden Händen ein Buch fest, das nach außen umgeschlagen ist, so dass die Schülerin nur die linke Seite sehen kann. Sie schaut konzentriert in das Buch. Die Lehrerin spielt Gitarre und singt das Lied von der kleinen Schwalbe (sie sitzt dabei an ihrem Schreibtisch – in dieser Sequenz nicht mehr zu sehen). Die ganze Klasse singt mit. Nach einem kurzen Blick nach rechts fängt Laura mit dem Gesang an. Währenddessen schwingt sie sich langsam in den halbtaktiken Rhythmus ein, indem sie das Gewicht langsam von einem Bein auf das andere verlagert. Zwischendurch blickt sie nach rechts. Nach ca. 20 Sekunden ist ihre Bewegung zu Musik synchron. Szene 2 – „Paulina macht mit“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:37:21:23 00:13 Musizieren Beschreibung: Paulina steht vor einem Regal, das sich an der hinteren Wand befindet. Ihre Arme hängen locker runter. Sie hält in beiden Händen jeweils einen Klangstab fest. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet, wo die Lehrerin an ihrem Schreibtisch steht. Kurz bevor die Lehrerin mit ihrer Darbietung anfängt, bewegt Paulina bereits ihre hängenden Arme, so dass sie etwas von den Oberschenkeln seitlich abprallen. Die Schülerin beginnt ihre Lippen synchron mit dem Gesang der Lehrerin zu bewegen und synchronisiert nach zwei Schlägen das Schaukeln der Arme mit dem Rhythmus der Musik. Szene 3 – „Heikes körperlich-rhythmische Inszenierung“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:36:54:04 1:11 Musik hören Beschreibung: Heike kippelt auf ihrem Stuhl. Es erklingt das Stück L’Elephant von Camille Saint-Saëns. Dann setzt sich die Schülerin nach vorne ausgerichtet hin und legt ihre Arme auf dem Tisch ab. Im Laufe der Stückes entwickelt sie eine Bewegungsform, die an Schritte erinnert: Mit ihren Händen schreitet sie auf dem Tisch zu Musik voran. 8 Anhang B: Empirisches Material 86 Szene 4 – „Max und die stampfende Musik“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:37:09:20 1:31 Musik hören Beschreibung: Es erklingt das Stück L’Elephant von Camille Saint-Saëns. Am Anfang spielt das Klavier kurze Akkorde, zu den eine Stimme „stampf, zwei, drei“ sagt. Max zieht dazu für einen Augenblick die Augenbraunen zusammen, als ob er selbst derjenige wäre, der übertrieben, wie ein Elefant stampft. Der Schüler bezieht sich auf die auf der CD hinzugefügte männliche Stimme, die die anfänglichen Akkorde unmissverständlich als gestampfte Schritte interpretiert. Ähnlich, wie Heike, verlässt er dabei nicht die Zuhörerhaltung. Im Unterschied zu Heikes brav parallel zur Tischkante gelegten Oberarmen, hat Max seinen Kopf auf die Hände abgestützt. Er hat also eine Haltung eingenommen, die nicht darauf verweist, dass er in den nächsten Augenblicken aktiv wird. In den nächsten Sekunden entwickelt sich die Bewegung von Max zu einem klaren Bezug auf den Grundschlag. Sein Körper gewinnt etwas an Spannung und er löst sich etwas aus seiner abgestützten Haltung. Seine immer noch senkrecht stehenden Unterarme nutzt er, um seine Kopfbewegung zu bündeln und um mit dem Gesicht im Takt die Hände abwechselnd zu berühren. Zwischendurch träumt Max, seine Aufmerksamkeit gleitet ab, was sich darin manifestiert, dass er sich nicht mehr im Rhythmus der Musik, sondern in seinem eigenen bewegt. (Körperhaltung und Mimik sind unfokussiert.) Dann gibt es ein Geräusch in der Klasse, welches Max aus seinem tranceartigen Zustand herausholt. Fast sofort orientiert er sich wieder an der Musik. Er scheint in dieser Phase die Adjektive an der Tafel zu lesen, was sich in seinem Blick, seiner Abkehr vom musikalischen Geschehen und der Lippenbewegung manifestiert. Hat er die Aufgabe gelöst? Dann verliert sich sein Blick in der Unendlichkeit. Szene 5 – „Leoni schnipst lässig“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:10:43:22 0:11 (Musizieren) Beschreibung: Leoni bewegt ihren Oberkörper und schnipst, während die Lehrerin vormacht, was ein Instrument spielen soll. Durch das Schnipsen mit den Fingern erscheint ihre Bewegung ‚cool’ und lässig. Szene 6 – „Anjas Klangstabpantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:36:34:17 0:15 (Musizieren) Beschreibung: Anja ist mit dem Spielen der Klangstäbe offensichtlich nicht an der Reihe. Sie stellt jedoch pantomimisch das Spielen auf diesem Instrument rhythmisch dar. 8 Anhang B: Empirisches Material 87 Szene 7 – „Vincents Pantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt Dauer: Musikalisches Lernfeld: 30.10.07 00:21:08:10 00:14 Musizieren Beschreibung: Vincent sitzt alleine am letzten Tisch der Fensterreihe. Seine Beine sind geknickt, so dass sich die Unterschenkel auf dem Stuhl befinden. Sein Kinn ruht auf der linken Hand, die sich auf dem Tisch abstützt. Der rechte Unterarm liegt auf dem Tisch. Die Finger sind zu einer Faust geballt, so als ob Vincent einen Stab halten würde. Der Schüler schaut nach vorne. Die Klasse singt ein Lied und Vincent stellt pantomimisch zwei Schläge dar. Gleichzeitig verlässt er die Haltung eines gelangweilten Zuhörers nicht. Szene 8 – „Vincents Bleistiftrhythmus und Klavierpantomime“ Aufnahmedatum: 0.03.07 Zeitpunkt: 00:48:40:19 Dauer: 00:22 Musikalisches Lernfeld: Musik hören Beschreibung: Vincent klopf den Rhythmus der erklingenden Musik auf einen Bleistift, der sich in seinem Mund befindet, spannt sich an, schließt die Augen. Was ist das für eine Geste? Wenn man es synchronisieren würde, dann würde man „yeah“ schreien. Das Kopfnicken erinnert an die Rock- und Metallszene. Das Augenschliessen ist ein In-sich-gehen und gleichzeitig aus sich gehen. Kurze Zeit später bewegt er die Hände, wie ein Monster oder eine Krake rhythmisch. Es sieht aus, als ob er ein Monster Klavier spielt. Der ganze Oberkörper ist im Einsatz. Es sieht etwas nach einem übertrieben Klavierspiel aus. Das Kopfnicken ist hier sehr stark. Erhört aber dann abrupt auf und schließt sich der gleichförmigen Tätigkeit der Klasse an: etwas auszupacken. Dann antwortet Schülerin: „Kontrabass“. Daraufhin stellt Vincent das andere Instrument dar: das Klavier, ohne sich dafür zu melden, da die Aufgabe gelöst zu sein scheint. Szene 9 – „Heikes Überzeichnung“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:22:34:10 00:17 Musizieren Beschreibung: Heike überzeichnet etwas: Sie bricht aus der Starre des Lesens aus und kehrt nach diesem Einwurf genauso schnell in die Starre zurück. Ist es ein Ausbruch oder ein Kommentar? An wen ist diese Geste adressiert? Die Schülerin dreht sich nach rechts. Es ist eine schauspielerische Geste. Hat etwas Hysterisches. Eine Aufladung des Unterrichtsinhalts? 8 Anhang B: Empirisches Material 88 Szene 10 – „Florians Parodie und Karikatur“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:20:35:20 00:46 (Musizieren) Beschreibung: Florian sitzt an seinem Tisch. Seine Hände liegen auf den Oberschenkeln, sein Stuhl ist so weit am Tisch, dass sein Brustkorb fast die Tischkante berührt. Er schaut etwas nach links. Sein Brustkobr bewegt sich rhythmisch, er scheint einzelne Silben in derselben Frequenz zu singen. Dann beugt er sich nach vorne und schaut in das vor ihm liegende Buch. Nach einem kurzen Blick hoch zu der Lehrerin, die immer wieder am rechten Rand des Bildes auftaucht, und Richtung Tafel, wandert sein Blick zwischen der Lehrerin und der Klasse. Als er gerade nach hinten schaut, öffnet er plötzlich drei Mal den Mund, als ob er mitsingen würde und legt den Kopf auf seine linke Gesichtshälfte. In dieser Zeit stampft er rhythmisch mit den Füßen. (Für einen Augenblick verdeckt die Lehrerin das Bild.) Als Florian wieder zu sehen ist, sitzt er wieder aufrecht und öffnet rhythmisch den Mund ganz weit auf, aber nicht um zu schreien oder ganz besonders laut zu singen. Nach der fünften Silbe zieht er dazu synchron die Schultern hoch. Er schaut bei insgesamt zwölf Silben mal auf den Boden, mal in die Klasse. Dann dreht er sich auf dem Stuhl etwas nach rechts, so dass er seinen linken Ellenbogen auf den Tisch abstützen kann. Sein Gesicht ruht jetzt auf der Hand. Der andere Arm hängt locker hinter der Stuhllehne. Florian setzt sein Mundspiel fort: Er öffnet wieder ein paar Mal den Mund ganz weit auf. Sein Mund bewegt sich wie der eines Fisches, der nach Luft schnappt. Szene 11 – „Vincents Überzeichnung“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 30.10.07 00:21:40:08 00:09 Musizieren Beschreibung: Vincent überzeichnet körperlich und mimisch das Ende eines Liedes. Szene 12 – „Bewegungen im Klassenraum“ 12a – „Heikes rhythmisches Bewegen“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:47:08:12 00:17 Musik hören Beschreibung: Heike horcht auf, als die Musik von der CD erklingt und bewegt sich kurz rhythmisch dazu. 8 Anhang B: Empirisches Material 89 12b – „Florian lässt rhythmisch das Lasso schwingen“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:47:08:12 00:13 Musik hören Beschreibung: Florian meldet sich und nutzt den neu eroberten Luftraum, um ihn rhythmisch zu füllen. Er kreist im Rhythmus der Musik mit der Hand über dem Kopf. 12c – „Vincents Bewegung zur Musik“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:47:08:12 00:15 Musik hören Beschreibung: Vincent meldet sich und bewegt sich gleichzeitig rhythmisch zu der Musik. 12d – „Florians Klavierpantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:47:08:12 00:28 Musik hören Beschreibung: Die Lehrerin spielt der Klasse Musik vor und fragt, um welche Instrumente die Schüler erkennen können. Fast alle Schüler melden sich, indem sie ihre Arme weit nach oben ausstrecken und dabei immer wieder „y, y“ von sich geben. Auch Florian meldet sich. Als Vincent dran genommen wird, lässt Florian seinen Arm senken und dreht sich um, um Vincent anzuschauen. Nach seiner Antwort, dreht er sich wieder nach vorne und schaut die Lehrerin kurz an, die sagt: „Hört mal alle, ob ihr das Klavier hört. Nimm dein Finger wieder runter.“ Währenddessen senkt er den Blick und legt die Hände, die bis sich bis dahin unter den Tisch befanden, auf den Tisch. Er fängt an pantomimisch auf dem Klavier zu spielen: Er wippt im Takt der Musik mit dem gesamten Oberkörper und hebt dazu einzelne Finger an. Seine Hände bleiben dicht über dem Tisch liegen. Wie ein routinisierter Pianist, dreht er sich für einen Moment zu Vincent um, ohne sein rhythmisches Spiel zu unterbrechen. Nachdem er sich wieder nach vorne gedreht hat, schaut er kurz die Lehrerin an, lässt den Blick nach links über seine Mitschüler schweifen, schaut wieder nach vorne und unterbricht schließlich seine Darbietung. 8 Anhang B: Empirisches Material 90 Szene 13 – „Leonis Veralberung auf der Trommel“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:43:29:21 00:11 (Musizieren) Beschreibung: Leoni steht vor dem Regal der hinteren Wand des Klassenzimmers. In der rechten Hand hält sie eine große Trommel, die in Oberschenkelhöhe hängt und in der linken einen Schlägel, der locker runterhängt. Sie singt mit der Klasse das Volkslied „Als ich einmal reiste“. Als alle singen „in unser altes Dorf hinein“, hebt Leoni die Trommel und den Schlägel in die Bauchhöhe, lässt zwei Mal im Rhythmus der Musik den weichen Schlägel geräuschlos auf das Fell auftippen und grinst etwas nach links schauend. Als die Klasse „da schaut meine Mutter aus ihrem Fensterlein“ singt, schaut Leoni weiterhin grinsend auf die Trommel und lässt den Schlägel auf dem Fell kreisen. Gleichzeitig neigt sie den Kopf Richtung Schulter und öffnet den Mund langsam und grinsend auf. Ihr Blick ist auf jemanden oder etwas gerichtet, das sich links neben der Kamera befindet. Ihre Pose wirkt frech-mädchenhaft – so als ob sie gleich jemanden die Zunge rausstrecken würde. Szene 14 – „Leoni war zu laut“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:37:51:10 00:07 Musizieren Beschreibung: Leoni klopft laut auf den letzten Schlag des Liedes, spannt sich dann an, als ob sie zu laut gespielt hätte, als ob ihr das peinlich wäre. 8 Anhang B: Empirisches Material 91 Szene 15 – „Florian musiziert“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:39:41:04 00:38 Musizieren Beschreibung: Florian steht vor dem Regal, das an der hinteren Wand steht. Er hält in einer Hand eine Triangel – sein Ellenbogen ist geknickt, so dass die Triangel in Bauchhöhe hängt. Mit der anderen Hand hält er den Stab der Triangel fest – sein Ellenbogen ist geknickt und der Stab zeigt in senkrechter Stellung Richtung Kinn. Der Schüler schaut leicht schräg nach vorne. Nach einem kurzen Blick nach links, schaut er wieder nach schräg vorne und sagt etwas. Dann blickt er wieder nach rechts, um nach einem Blick in die Kamera rechts an ihr zu bleiben. Die Vorstellung beginnt: Er hebt den Stab an, so dass er sich in Gesichtshöhe befindet, schaut dabei wieder nach schräg vorne, um dann plötzlich den Arm nach vorne auszustrecken, so dass der Stab, wie eine Verlängerung des Armes wirkt. Er zieht dabei die Augenbrauen zusammen, so als ob er Gefahr ausdrücken würde. Dann zieht er wieder den Arm und die Schulter nach hinten, so als ob er ausholen würde und streckt den Arm sodann schräg nach oben aus. Er scheint dabei etwas zu sagen. Das dritte Mal dreht er den Oberkörper beim Ausholen nach rechts und nickt dabei zwei Mal mit dem Kopf. Dann verwandelt den Schlägel in ein Schwert und streckt seinen Arm im Takt aus. Dabei zieht er den Refrain etwas länger, als ob er es veralbern würde. Szene 16 – „Leoni macht Quatsch“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:37:27:00 00:07 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Leoni macht Quatsch: Sie haut pantomimisch auf die Trommel, dann auf ihre Nase. 8 Anhang B: Empirisches Material 92 Szene 17 – „Leonis Klangstabpantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:34:56:19 01:00 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Leoni sitzt an ihrem Tisch. Ihr Oberkörper ist an der Rückenlehne angelehnt, der Stuhl ist so weit an den Tisch herangeschoben, dass ihre Brustkorb fast die Tischkante berührt, ihre Hände befinden sich unter dem Tisch und sie schaut in das vor ihr liegende Buch. Die Lehrerin sagt: „folgende instrumente wollen wir zum begleiten dieser . dieses kehrreims nehmen“. Leoni schaut währenddessen in das Buch und bewegt ihre Lippen, als ob sie singen oder sprechen würde. Weiterhin die Lippen bewegend, schaut sie in die Kamera, dann wieder in das Buch und dann wieder schräg nach links vorne als die Lehrerin sagt: „und zwar einmal die klanghölzer ..“. Leoni schaut dabei interessiert nach vorne, zieht dann ihre zusammengepresste Lippen nach links und dreht den Kopf etwas nach rechts, während die Lehrerin weiter erzählt: „die sollen ganz kurze noten bei diesem kehrreim .. spielen . und zwar nur bei rumel dumel.“ Kurz bevor die Lehrerin „ganz kurze noten“ sagt, holt Leoni ihre Hände hervor. Während sie ihre Ellenbogen auf den Tisch abstützt, schlägt sie ein Mal die Außenseite der Finger der rechten Hand gegen die Innenseite der Finger der linken Hand. Wenn sie diese Geste mehrmals wiederholt hätte, dann würde es aussehen, als ob jemand zeigen würde, dass etwas schneller passieren muss. Beim zweiten Mal schlägt sie mit den Fingern der rechten Hand auf die linke Handfläche: Diesmal ist der Zeigefinger leicht ausgestreckt und die Hand krumm, als ob sie an Spannung verloren hätte. Die Schülerin setzt die Folge von 'Aufschlägen' in den nächsten knapp 15 Sekunden fort. Ihre Hände sind schlapp und der 'Aufschlag' ist jedes Mal anders, so als ob die Schülerin diese Aktivität vergessen hätte. Sie schaut dabei konzentriert nach vorne und verfolgt die Erklärung der Aufgabenstellung der Lehrerin. Erst als die Lehrerin anfängt den Refrain zu singen, erstarrt die Schülerin. Nachdem die Lehrerin „vier Stück“ gesagt hat und nach einem Klangstabpaar greift (nur im Hintergrund zu hören), 'erwacht' Leoni aus der Starre, schlägt zwei Mal eine Hand gegen die andere, unterbricht die Folge, als sie mitbekommt, dass Instrumente herausgeholt werden und meldet sich mit einem weit ausgestrecktem Arm nach vorne schauend. Nachdem die Lehrerin mit einer langen Pause den Satz fortsetzt („hintereinander weg“), lässt Leoni den Arm herunter und schaut konzentriert nach vorne. Die Lehrerin singt dann den Refrain zwei Mal und spielt auf den Klangstäben dazu. Als sie danach ihre Darbietung verbalisiert („nur bei rumel dumel (unv.)“), 'erwacht' Leoni aus der Starre und spielt weiterhin nach vorne schauend an ihrer Augenbraue. Ein weiteres Mal singt die Lehrerin den Refrain und spielt dazu auf den Klangstäben. Bei der Wiederholung dreht Leoni den Kopf etwas nach rechts, schaut in die Kamera, klopft mit dem Zeigefinger der linken Hand im Rhythmus der Klangstäbe immer abwechselnd auf den Zeigefinger der rechten Hand und das untere Stück des Daumens und bewegt die Lippen so, als ob sie mitsingen würde. Als die Klangstäbe auf 'rau di de ra' aussetzen, setzt Leoni diese Bewegungsfolge fort, als ob sie durch den Blick in die Kamera die Lehrerin vergessen hätte. Genau auf den letzte Schlag ('ra') blickt sie ihren Tischnachbar an. Szene 18 – „Antons Spielandeutung und Veralberung“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 25.09.07 00:31:14:00 00:19 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Anton veralbert etwas: Er tut so, als ob er auf seinen Klangstäben spielen würde, deutet das Spiel nur an und bewegt sich dazu wippend. 8 Anhang B: Empirisches Material 93 Szene 19 – „Vincent gibt der Schwerkraft nach (Pantomime)“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:40:32:16 00:22 im Rahmen von Musik hören Beschreibung: Vincent macht den schwerfälligen Elefanten nach. Er bewegt sich großräumig und übertrieben langsam von rechts nach links. Szene 20 – „Marias Elefant (Pantomime)“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:40:11:23 00:16 im Rahmen von Musik hören Beschreibung: Maria macht den schwerfälligen Elefanten nach. Sie schlägt mit den Ellenbogen abwechselnd auf den Tisch, ohne ihre ‚brave’ Sitzhaltung zu verlassen und bewegt dazu synchron den Oberkörper hin und her. Szene 21 – „Heikes plumpe Elefantenpantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:38:40:08 00:22 im Rahmen von Musik hören Beschreibung: Heike macht den Elefanten nach. Sie lässt (äußerst gekonnt) die Ellenbogen auf den Tisch aufsetzen, was (wirklich) plump aussieht. 8 Anhang B: Empirisches Material 94 Szene 22 – „Vincents Instrumentenpantomime“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 20.03.07 00:49:28:14 00:52 im Rahmen von Musik hören Beschreibung: Vincent sitzt auf seinen Knien auf einen an den Tisch herangeschobenen Stuhl. Seine Hände liegen auf dem Buch, das auf dem Tisch liegt. Er schaut dort hinein. Plötzlich hebt er den linken Ellenbogen bis zur Kopfhöhe an, die linke Hand bis zur Brusthöhe und zieht dann beiden Ellebogen an sich heran, so als ob er mit voller Kraft über Saiten einer Gitarre zupfen würde. Dabei kann man sich eine klassische Gitarre nur schwer vorstellen. Diese Geste erinnert eher an einen E-Gitarren-Spieler. Ganz besonders, weil Vincent dabei sein Gesicht verzieht. Nach dem 'lauten Schlag' kommen ein paar leisere: Vincent 'zupft' ein paar Mal über alle Saiten der Luftgitarre. Szene 23 – „Vincents Krake“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 30.10.07 00:16:18:07 00:24 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Vincent stellt etwas mit seinen ausgebreiteten Armen dar. Szene 24 – „Vincent schlägt übertrieben in die Luft“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 30.10.07 00:18:18:18 00:19 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Vincent schlägt übertrieben auf etwas in der Luft. Szene 25 – „Vincents grusliges Geräusch“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 30.10.07 00:22:36:13 00:17 im Rahmen von Musizieren Beschreibung: Vincent verzieht sein Gesicht, wie ein Monster und macht dazu ein grusliges Geräusch. (Hat er die Aufgabe gerade gelöst?) 8 Anhang B: Empirisches Material 95 Szene 26 – „Paminas Uhren“ Aufnahmedatum: Zeitpunkt: Dauer: Musikalisches Lernfeld: 12.11.07 00:20:00:01 00:33 Musik hören Beschreibung: Pamina und Laura sitzen nebeneinander an einem Tisch. Zwischen ihnen liegt ein aufgeklappter Schnellhefter. Beide Mädchen haben gerade nichts zu tun und überbrücken diese Zeit unterschiedlich: Laura knabbert an ihrem Finger. Die Lehrerin, die gerade eine Aufgabe formuliert, muss sich Lauras Aufmerksamkeit mit der Kamera und ihren Finger teilen. Pamina dagegen konzentriert sich auf den Inhalt des Hefters, den sie mit der Rede der Lehrerin zu synchronisieren versucht. Zunächst rückt sie ihn penibel so hin und her, bis er absolut gerade (parallel zur Tischkante) auf dem Tisch liegt. Auf der einen Seite versucht sie dafür zu sorgen, dass Laura ebenfalls in den Hefter reinschauen kann, auf der andere Seite liegt dieser deutlich auf Paminas Seite. Währenddessen hört man die Lehrerin aus dem Hintergrund: „sehr schön jetzt sind wir machen wir es wie in einem uhrenladen denn in einem uhrenladen hängen ja ganz viele unterschiedliche großen uhren.“ Als sie anfängt Uhrengeräusche auf der Laut- und Rhythmusbene nachzumachen - „und die einen machen eben ticke-tacke-ticke-tacke und die anderen machen dong, dong, dong“ - nickt Pamina weiterhin in den Hefter schauend synchron zum zweiten und dritten 'dong' mit dem Kopf. Mit dieser Bewegung und dem Blick in den Hefter schafft sie eine Verbindung zwischen der Vorführung der Lehrerin und der symbolischen Abbildung der Uhren mit notierten sprachlichen Imitationen. Als die Lehrerin anfängt die Klasse in Gruppen aufzuteilen, lehnt sich Pamina zurück und schaut nach oben in ihre Richtung. Als die Lehrerin Pamians Gruppe halbe Noten zuweist und sich dabei verhaspelt - L: „ihr klatscht die halbe note die mit ga ä mit“ Sx: „zwei“ L: „zwei grundschlägen“- nickt, das 'Angesprochen-Sein' reflektierend, Pamina mit dem Kopf: Erst zustimmend, bevor sich die Lehrerin verhaspelt, so als ob sie das Schema erkannt hätte und ein 'genau' signalisieren wollen würde. Als sich die Lehrerin verhaspelt, senkt Pamina den Kopf so stark, dass ihr Kinn den Brustkorb berührt; ihr Blick ist dabei gesenkt. Es wirkt, als ob sie die Verhaspelung der Lehrerin körperlich ausdrücken würde. Sie richtet sich erst wieder auf, als die Lehrerin 'endlich' die richtige Zuordnung der Anzahl der Schläge zu der Note ausgesprochen hat. Jetzt ist alles klar: Als nächstes wird der letzten Gruppe ein Notenwert zugeordnet. Da Paminas Aufgabe klar ist und die Lehrerin nicht mehr interessant ist und sich gerade mit der dritten Gruppe beschäftigt, kann sich Pamina auf die bevorstehende Präsentation vorbereiten: Sie holt tief Luft und singt wieder in den Hefter schauend ein langes „diiiii-ing“. Dabei markiert sie mit dem Oberkörper das „ing“. 8 Anhang B: Empirisches Material 96 8.3 Szenische Beschreibungen 8.3.1 Erste Aufnahme: 20. März 2007; Unterrichtseröffnung: „Kopf auf die Bank“ Zeit Lehrerin, Tobi und Marvi Lehrerin - Transkript mm:ss 1. Beruhigung 1 07:20 Die Lehrerin steht rechts neben ihrem Tisch mit angewinkelten Armen und hält mit beiden Händen eine CD. Tobis Ellenbogen sind auf dem Tisch abgestützt. Die Unterarme hält er senkrecht zum Tisch, die Hände in Gesichtshöhe. Er streift mit dem linken kleinen Finger seine Nase. Marvi schaut währenddessen in die Kamera und krempelt die Ärmel ihres Sweatshirts hoch, während die Lehrerin zu sprechen beginnt: Sie geht einen Schritt nach hinten, legt mit der rechten Hand die CD auf ihren Tisch. Währenddessen zeigt Tobi mit dem rechten Zeigefinger auf den vor ihm liegendem USB-Stick. Dann legt die Lehrerin die Hände auf die Hüften, schaut dabei in den linken Teil der Klasse und sagt: Tobi schaut dabei erst nach vorne Richtung seiner vorderen Nachbarin, dann in die Kamera und holt dabei tief Luft, um zu husten. Marvi legt währenddessen die Unterarme übereinander auf den Tisch und schaut weit nach links, Richtung Lehrerin, die immer noch mit den Händen auf den Hüften steht und die Klasse anschaut. Dann hustet Tobi nach vorne links, Richtung Lehrerin schauend und stützt seinen Kopf auf die Fäuste. Die Lehrerin schaut über die Klasse von links nach rechts und sagt: so meine lieben jetzt beruhigen wir uns erst einmal ihr sitzt ordentlich auf unseren plätzen Daraufhin schaut Tobi nach unten, lässt das Gesicht zwischen seinen Armen versinken und den Blick hin und her Richtung Lehrerin schweifen, die ihren Vortrag fortsetzt: alles Marvi schaut währenddessen nach unten auf den Tisch. Tobi löst seine Position, indem er seine Unterarme auf den Tisch legt. Seine linke Hand liegt dann auf der rechten. Die Lehrerin schaut wieder nach rechts mit den Worten: was bei euch auf den plätzen liegt Tobi richtet sich daraufhin kurz auf, indem er den Rücken gerade macht, um ihn dann sofort zu entspannen während Marvi auf ihre Unterlippe dann auf die Oberlippe beißt, die Zunge ein wenig rausstreckt und dabei den Kopf wieder nach links dreht. Tobi klopf dabei mit dem linken Zeigefinger auf den rechten Unterarm zu Lehrerin schauend, die sagt: (unv.) gerätschaften oder so Dann dreht Tobi den Kopf nach rechts, Richtung Wand, gähnt, dreht den Kopf immer noch gähnend nach links, Richtung Lehrerin, während Marvi ebenfalls Richtung 8 Anhang B: Empirisches Material 07:56 Lehrerin schaut, dann kurz auf den Boden und wieder zu Lehrerin. Nach diesen Worten dreht Marvi den Kopf noch weiter nach links, dann ruckartig etwas nach rechts und beißt sich etwas auf die Unterlippe. Tobi schaut weiterhin nach vorne zu Lehrerin, die wieder nach links schaut und sagt: Währendessen beißt Marvi weiter auf die Unterlippe und streckt ruckartig den Rücken. Dann dreht Tobi schnell den Kopf kurz nach links, dann wieder zurück Richtung Lehrerin, die mit der rechten Hand nach vorne und dann nach links auf die Kameras zeigt. Marvi schaut wieder nach vorne Richtung der Lehrerin, die sich an der Nase anfasst den linken Unterarm in die Hüfthöhe beim Wort ‚vergessen’ senkt. Daraufhin nicken beiden Schüler synchron mit dem Kopf. Die Lehrerin senkt nochmals den Unterarm auf die Silbe '-ken' (von gucken,), während die beiden Schüler wieder in ihre Richtung schauen. Dann senkt die Lehrerin bei jeder Anfangssilbe den Unterarm. Tobi schaut dann geradeaus nach vorne mit einem Blick ins Unendliche und lehnt sich währenddessen etwas zurück, während Marvi den Kopf ganz nach links dreht und in dieser Position bleibt. Die Lehrerin bewegt weiterhin bei jeder Anfangssilbe die flache Hand nach links, nickt bei 'machen würden' und schaut dabei wieder rechts. Tobi schaut wieder etwas nach links zu Lehrerin und dann in die Kamera, während Marvi ebenfalls den Kopf etwas nach rechts Richtung Lehrerin dreht, die bei dem Wort 'hin', nachdem sie in ihrer Halshöhe eine kleine Schleife mit ihrer Hand gemalt hat, die linke Hand senkrecht zum Körper fallen lässt. 2. Beruhigung 2 Die Lehrerin steht hinter der rechten Ecke ihres Schreibtisches. Die rechte Hand ist an der Hüfte abgestützt, der linke Arm im 90°-Winkel dicht an ihrem Körper, ihre Finger bis auf den Daumen ausgestreckt. Sie schaut etwas nach links in den hinteren Teil der Klasse und sagt: Ihre linke Hand zeigt schräg nach oben und fällt auf die zweite Silbe von ‚be-ruhigt’ in die Hüfthöhe. Tobi schaut sie währenddessen an und hält dabei die linke Hand mit der rechten fest. Die Lehrerin hebt dann die linke Hand beim Wort ‚vergesst’ in die Brusthöhe und dann zurück in die Hüfthöhe. Marvi beißt sich weiterhin Richtung Lehrerin schauend auf die Unterlippe, die ihre betonende Geste auf das Wort ‚sport’, dann auf ‚ent-spannungsmusik’ und ‚kopf’ wiederholt. Marvi senkt daraufhin den Kopf ein wenig, legt den rechten Unterarm vor den linken und senkt währenddessen weiter den Kopf, Tobi legt währenddessen die linke Hand auf die rechte, 97 ihr fasst xx nicht an ihr versucht möglichst kameras zu vergessen und gar nicht mehr hinzugucken und wir machen ganz normalen musikunterricht so wie wir das jetzt normalerweise machen würden fertig ja und wir gucken jetzt da gar nicht hin so. und damit ihr euch ein bisschen beruhigt und vielleicht die kameras vergesst weil ihr jetzt aus dem sportunterrricht kommt hören wir jetzt erstmal ein bisschen entspannungsmusik (unv.) kopf auf die bank 8 Anhang B: Empirisches Material 08:14 08:39 dann den Kopf darauf und bleibt so liegen. Die Lehrerin hebt ihre linke Hand bis in die Gesichtshöhe hoch und „malt“ einen kurzen Regenbogen in die Luft und sagt etwas. Sie hält dann die Hand nach hinten geknickt, so dass ihre Handfläche vollständig zu sehen ist und lächelt. Marvi hebt währenddessen den Kopf ein wenig und legt dabei den linken Ellenbogen vor den rechten. Bei dem Wort 'Kopf' und 'Bank' senkt sie den Arm, schaut in den linken Teil der Klasse, löst diese Stellung, indem sie sich Richtung CD-Player, der direkt vor ihr auf ihrem Tisch liegt, wendet. Währenddessen knickt Marvi den rechten Ellenbogen, so dass die rechte Hand auf der rechten Schulter liegt und bleibt in dieser Position liegen. Die Lehrerin greift dann kurz nach der CD-Hülle, die hinter dem CD-Player (vor ihr) liegt, holt aus dem Gerät eine CD heraus, legt sie weit rechts daneben, greift wieder die vor ihr liegende CD, legt sie in den CDPlayer, macht die CD-Player-Klappe zu, greift nach der vor ihr liegenden leeren CD-Hülle, legt sie sie auf die Mitte des Tisches, schiebt einen kleinen Stapel etwas nach rechts, gleicht die Kanten eines weiteren Stapels aus, beugt sich weit nach vorne, so dass sie den CD-Player von vorne sehen kann, drückt auf mehrere Knöpfe, richtet sich wieder auf, fasst währenddessen mit der rechten Hand den CD-Player, legt die linke Hand an die Hüfte an und schaut etwas nach links auf die Schüler. Sie greift kurz nach etwas, dass sich rechts von ihr, vor ihrem Tisch befindet und legt die rechte Hand wieder auf den CD-Player. Tobi rollt dann den Kopf nach links, so dass seine Stirn auf dem linken Unterarm liegt, rollt den Kopf wieder zurück nach rechts und bleibt so liegen. Die Lehrerin greift mit beiden Händen nach dem CDPlayer-Kabel, welches sich vor dem Tisch befand, legt es auf den Tisch, setzt sich auf den Stuhl, fasst sich mit beiden Händen an der Nase, lässt die Hände vor dem Tisch verschwinden, schaut nach rechts Richtung Kamera 2, schaut auf den CD-Player, dann auf den Tisch, nimmt ein Buch in die rechte Hand und legt es wieder hin. Währenddessen hebt Marvi den Kopf, legt den rechten Unterarm auf den linken, dann mit der linken Gesichtshälfte den Kopf darauf und bleibt so lächelnd liegen. Die Lehrerin lässt die rechte Hand vor dem Tisch verschwinden, schaut auf den linken Teil der Klasse, lässt den Blick wandert nach rechts dann kurz auf den Tisch wandern, dann wieder auf den linken Teil der Klasse, bleibt dort, wandert wieder etwas nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts und dann zurück nach links. 98 (unv.) ja jetzt kopf auf die bank so (Es erklingt eine langsame Musik.) 8 Anhang B: Empirisches Material 99 Tobi rollt den Kopf nach links, so dass die Stirn auf dem linken Handgelenk liegt und rollt ihn kurz darauf wieder zurück. Sie schaut auf die Uhr an ihrem Handgelenk, Lässt dann den Blick über die Klasse schweifen. Nach kurzer Zeit legt sie die rechte Hand an den CDPlayer an, stützt mit der rechten Hand den Kopf, streicht mit der Hand über den CD-Player, schaut währenddessen kurz nach unten, auf ihren Tisch, schaut dann nach links, dann nach rechts aus dem Fenster raus. 11:46 Der bis jetzt auf dem Tisch abgestützte linke Ellenbogen der Lehrerin bleibt dort und ihre linke Hand, die sich am Kinn befand, wird mit einem geknicktem Handgelenk beim Wort 'bank' nach links gedreht. Aus dieser Position heraus 'klopft' sie auf die Wörter 'kopf' und 'bank' einmal links dann ganz rechts mit der Hand in der Luft. Das Handgelenkt legt sie danach wieder ans Kinn. (Die Musik wird leiser, bis sie völlig ausklingt.) lasst mal den kopf auf der bank lasst mal den kopf auf der bank 8 Anhang B: Empirisches Material 100 8.3.2 Zweite Aufnahme: 25. September 2007: „Fällt euch da was auf“ Beschreibung Transkript Die Kamera steht in einem Klassenraum direkt vor dem linken Flügel der großen Tafel und hat Tobi im Fokus. Neben Tobi ist zum Teil Leoni zu sehen. In der zweiten Reihe sitzen Olivia (links) und Tina (rechts). Hinter den beiden Schülerinnen sitzen Carl und Ben. Tobis, Olivias und Leonis Unterarme liegen parallel zur Tischkante. Dadurch wirken sie sehr brav. Sie schauen alle in die Richtung der Lehrerin. Nur Tinas Arme sind unter dem Tisch und sie schaut in die Kamera. Unterbrechung Die Lehrerin hat gerade mit der Klasse die ersten beiden Zeilen des Liedes gesungen. Als sie den Gesang mit den Worten L: jetzt bitte zuhören jetzt kommt eine stelle die hat etwas besonderes passt mal auf was ist das besondere bei der stelle unterbricht, hören alle Schüler sofort zu singen auf: Tina öffnet nur noch einmal den Mund, als ob sie weiter singen wollen würde. Tobi, der bis jetzt die Lehrerin angeschaut hat, schaut während der Ansage etwas hin und her. Auch Olivia und Tina senken dann ihre Blicke. L. singt die dritte Zeile L: ♪ hol die gold’nen garben Die Lehrerin singt die dritte Zeile auf einem Ton. Im Sx: garben Hintergrund sind wenige Schüler zu hören, die mitsingen. Tobi schaut währenddessen die Lehrerin regungslos an. Sein Mund ist geöffnet und er scheint den Text mitzusprechen. Auffälligkeiten L: fällt euch da was auf Die Lehrerin fragt: Tobi meldet sich gleichzeitig, als ob er schon wusste, dass jetzt eine Aufforderung zum Antworten kommt. Dann meldet sich auch Olivia. Tinas Antwort Nach zwei Sekunden nimmt die Lehrerin Tina dran: Synchron lassen Olivia und Tobi den Arm runter. Tina antwortet währenddessen: Während die Lehrerin Tinas Antwort zustimmt, melden sich Olivia und kurz danach Tobi noch mal. L: tina T: dass man da hoch singen muss L: jaa dann noch mal Bild 8 Anhang B: Empirisches Material 101 L. singt die dritte Zeile Die Lehrerin singt noch mal die dritte Zeile auf einem L: ♪ hol die gold’nen garben Ton. Sx: ♪ hol die gold’nen garben Im Hintergrund hört man einige Schüler, die mitsingen und im zweiten Takt die Melodie fallen lassen. Tobi meldet sich währenddessen. Er lässt seinen Arm immer weiter hinter seinem Kopf verschwinden. Leoni schaut abwechselnd die Lehrerin und die Klasse an. Sie scheint ganz leise mitzusingen. Olivia stützt mit dem linken Arm den Rechten, mit dem sie in ihrer Stirnhöhe zunächst den Zeigefinder hochhält, dann die Hand hin und her bewegt, als ob sie dirigieren würde und ihn schließlich in der zweiten Hälfte des zweiten Taktes auf den Tisch abstützt und kurz mit ihrer Tischnachbarin Tina einen Blick wechselt, die bis jetzt fast regungslos die Lehrerin angeschaut hat. Richtige Antwort Eine Schülerin sagt: Pausenfrei sagt die Lehrerin daraufhin: Dritte Zeile Die Klasse singt mit der L. die dritte Zeile. Tobi und Tina steigen in der zweiten Hälfte des zweiten Taktes ein. Tobi schaut dabei die Lehrerin an. Tina schaut abwechselnd die Lehrerin an und in die Kamera. Leoni scheint von Anfang an mitzusingen. Sie wird dann ab der zweiten Hälfe des ersten Taktes lauter. Im Hintergrund hört man einige Schüler, die die Melodie fallen lassen. Sx: dass es nur ein ton ist L: es ist immer der eine und derselbe ton das ist ganz schön schwierig so was zu singen L: ♪ hol die gold’nen garben (2x) Sx: ♪ hol die gold’nen garben (2x) Aufforderung zum Wiederholen Die Lehrerin fordert nahtlos die Schüler zum wiederholten L: gleich noch mal Singen der dritten Zeile auf. Singen der dritten Zeile Die Klasse singt mit der L. die dritte Zeile. Tobi schaut die Lehrerin an und singt mit. Diesmal singen alle vier Schüler von Anfang an mit. Aufforderung zum Wiederholen Die L. singt nahtlos das erste Wort des Liedes: Im Hintergrund hört man, wie einige Schüler auf die zweite Silbe einsteigen. Während Tobi zuhört, singen Leoni und Tina auf die zweite Silbe mit. Dann sagt die Lehrerin nahtlos: Daraufhin hören alle Schüler zu singen auf. L: und ♪ hol die gold’nen garben (2x) L: ♪ hejo Sx: ♪ hejo L: und zusammen noch mal 8 Anhang B: Empirisches Material 102 Singen des Liedes Die ganze Klasse singt mit der Lehrerin das ganze Lied. Olivia, die sich kurz zu Carl umgedreht hat, ist beim Beginn sofort bereit zu singen – sie hat den Mund ganz weit aufgemacht. L, Klasse: ♪ hejo, spann' den wagen an, sieh der wind treibt regen über’s land, hol die gold’nen garben, hol die gold’nen garben Aufforderung zum Wiederholen Während die Klasse die letzte Silbe singt, sagt die Lehrerin energisch: L: noch mal Singen des Liedes Nahtlos sind die Klasse mit der Lehrerin das ganze Lied noch mal. Tobi schaut dabei auf den Boden. Falsche Melodie Die Lehrerin sagt nahtlos an den letzten Ton: Letzte Zeile Die Lehrerin singt den Schülern die letzte Zeile vor. Im Hintergrund sind einige Schüler zu hören, die in der zweiten Hälfte des ersten Taktes einsteigen. Textkorrektur Die Lehrerin sagt direkt nach dem Singen der dritten Zeile: L, Klasse: ♪ hejo, spann’ den wagen an, sieh der wind treibt regen über’s land, hol die gold’nen garben, hol die gold’nen garben L: einige von euch singen das so runter so is lass mal den ton oben L: ♪ hol die L: ja ich weiß dass man’s so auch singen kann es ist aber schwieriger und deswegen wollt ihr erstmal mit dem ton oben singen L: ♪ hol die gold’nen garben L: ja (fragend) und sieh (betont) der wind treibt regen über’s land 8 Anhang B: Empirisches Material 103 8.3.3 Zweite Aufnahme: 25. September 2007; „Florian musiziert“ Beschreibung Transkript Die Kamera steht mit dem Rücken zur Tafel, so dass sie drei Schüler im Fokus hat, die vor den Regalen der hinteren Wand in einer Reihe stehen. Sie halten Triangeln in den Händen fest. Links steht Florian. Er hält seine Triangel in der linken Hand in Bauchhöhe fest und schaut schräg nach rechts. Sein Stab befindet sich in einer spielbereiten Haltung, indem er durch die Triangel durchgesteckt ist, so dass Florian sofort einen Ton produzieren könnte. Seine Lippen sind etwas auseinadergezogen, als ob er widerwillig lachen würde. Er scheint von etwas enttäuscht zu sein. Die Lehrerin, die vor der Tafel (hinter der Kamera) steht, sagt etwas langgezogen. Noch während des langen „uuund“ senkt Florian den Blick und hebt den Stab etwas an, als ob er für noch mehr Platz sorgen würde, um auf den unteren Schenkel des Dreiecks zu schlagen. L: „uuund“ Dann entspannt er sein Gesicht, so dass der Mund leicht geöffnet ist. Er schaut nach links vorne und fängt an mit der Klasse zu singen. Kl: ru- Bild 8 Anhang B: Empirisches Material 104 Kurz nach dem Anfang der ersten Silbe (rum) dreht er energisch Kl: -m den Kopf schräg nach links in die Richtung von Jenny, die gerade die Triangel angeschlagen hat (23) und setzt seinen ersten Schlag auf die zweite Silbe (mel) mit dem Blick auf die Triangel. Kl: mel singt mit der Klasse du-mel ohne zu spielen (26), Kl: du-mel 8 Anhang B: Empirisches Material 105 Die Klasse singt den zweiten Teil der Silbenkombination: „raudi-de-ra“. Florian setzt auf die erste Silbe einen Schlag und schaut wieder nach links zu Jenny, ohne seinen Kopf zu bewegen, als ob er sich versichern würde, dass er richtig gespielt hat (27). Kl: rau-di-de Er bleibt bis zum Ende des zweiten Teils in dieser Haltung und setzt so noch einen Schlag auf die letzte Silbe ra. ra Dann schaut er geradeaus hoch (28) und setzt mit der Wiederholung fort: Auf ru-mel setzt er weiterhin singend einen Schlag, Kl: ru-mel auf du-mel, rau den zweiten und den dritten, während er den Blick Kl: du-mel, rau wieder senkt (28a), 8 Anhang B: Empirisches Material 106 Dann schaut er wieder nach vorne um schließlich auf die letzt Silbe ra den letzten Schlag zu setzen und den Blick wieder auf die Triangel zu senken. Kl: di-de-ra Kurz bevor die letzte Silbe ausgeklungen ist, landet Florians Blick Kl: a schließlich bei seinem rechts von ihm sitzenden Mitschüler (30). Die Lehrerin initiiert unmittelbar nach dem letzten Schlag mit den Worten L: „ihr müsst ein eine Wiederholung. bisschen Florian setzt ohne den Blick von seinem Mitschüler abzuwenden schneller . und“ mit dem ersten Schlag an und lacht dabei (30). Kl: ru 8 Anhang B: Empirisches Material 107 Weiterhin lächelnd schaut er kurz nach vorne (31) Kl: mel, du dann wieder sich sein Lächeln verkneifend zu seinem Mitschüler ohne das Spiel zu unterbrechen (33). Kl: mel Dann holt Florian Luft ein, so dass sich sein Oberkörper etwas nach oben ausstreckt. Gleichzeitig lässt sein Lächeln etwas nach. Auf den nächsten Schlag (rau) senkt sich sein Körper etwas, indem die Knie etwas geknickt werden. Der Blick wandert wieder nach vorne. Auf die Silbe ra lässt er weiter nach vorne schauend den Körper etwas senken, ohne zu spielen. Kl: rau di-de Kl: ra 8 Anhang B: Empirisches Material 108 Die Wiederholung beginnt: Florian lässt auf die erste Silbe den Kl: ru-mel Körper senken und auf die zweite in der gesenkten Stellung den Körper abfedern. Dabei schaut er auf den ersten Schlag zu seinem Mitschüler nach rechts an (36) Und wieder geht Florian auf die erste Silbe, zu der er auch einen Schlag setzt, in die Knie und federt auf die zweite Silbe ab. Kl: du-mel Mit einem kontrollierten Blick nach vorne wiederholt er das Kl: rau-di-dedoppelte Wippen. Auf die letzte Silbe setzt er keinen Schlag mehr, sonder bleibt in ra der gesenkten Haltung, federt ein letztes Mal ab und bleibt für einen Augenblick in dieser Haltung, als ob er die Luft angehalten hätten. Die Lehrerin sagt: L: ja und jetzt kommt 8 Anhang B: Empirisches Material 109 Weiterhin in der gesenkten Körerhaltung schaut Florian wieder nach rechts und setzt einen Schlag auf die Triangel, während die Lehrerin sagt: L: noch Während die Lehrerin L: die trommel sagt, löst sich Florian aus der Anspannung, indem er sich wieder aufrichtet, den Stab aus der Triangel zieht und den linken Ellenbogen senken lässt. Sein Blick bleibt dabei nach vorne ausgerichtet. Während die Lehrerin sagt dreht Florian den Kopf nach links. Es sieht so aus, als ob er Jenny anschauen würde. L: und die macht nur bei 8 Anhang B: Empirisches Material 110 Florian schaut die Lehrerin an und sagt etwas. L: rauFlorian dreht den Kopf zu Jenny und scheint etwas zu sagen. Florian dreht den Kopf von links nach rechts, so dass er schließlich links nach der Kamera vorbei schaut. L: di-de- Auf die letzte Silbe hebt er den Stab an. L: ra 8 Anhang B: Empirisches Material 111 Dann schaut er in die Richtung der Lehrerin und streckt den Zeigefinger so aus, dass er parallel zum Stab liegt. Kurz bevor die Lehrerin rau-de-de-ra wiederholt, streckt er die Finger nacheinander aus und sein Gesicht entspannt sich. Die Lehrerin setzt mit der Wiederholung fort: L: rau Florian streckt mit der Lehrerin synchron den Arm, der den Stab hält, nach vorne aus, zieht dabei die Augenbrauen zusammen und spricht die Silbe mit. Die Lehrerin spiricht die unbetonten Silben: Währenddessen zieht Florian den Arm zurück. L: di-de Die Lehrerin betont mit der Trommel die letzte Silbe: L: ra 8 Anhang B: Empirisches Material 112 Florian streckt dazu synchron wieder den Arm nach schräg oben aus. L: nur zwei mal 8 Anhang B: Empirisches Material 8.4 Inhalt der DVD Videos: 1-Kopf auf die Bank.mpg 2-Fällt euch da was auf-mpg 3-Florian musiziert.mpg 4-Musikpraxis der Schüler.mpg Texte: Magisterarbeit-Lernkultur im Musikunterricht.pdf 113 9 Literaturverzeichnis 114 9 Literaturverzeichnis Alperson, Philip (1991): What Should One Expect from a Philosophy of Music Education. In: Journal of Aesthetic Education, H. 25, 3, S. 215–242. Aschersleben, Karl (1974): Einführung in die Unterrichtsmethodik. Stuttgart u.a.: Kohlhammer (UrbanTaschenbücher, 181). Baurmann, Jürgen; Cherubim, Dieter; Rehbock, Helmut (Hg.) (1981a): Neben-Kommunikationen. Beobachtungen und Analysen zum nichtoffiziellen Schülerverhalten innerhalb und ausserhalb des Unterrichts. 1. Aufl. Braunschweig: Westermann. Baurmann, Jürgen; Cherubim, Dieter; Rehbock, Helmut (1981b): Vorwort. In: Baurmann, Jürgen; Cherubim, Dieter; Rehbock, Helmut (Hg.): Neben-Kommunikationen. 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