Die Krankheit der tausend Gesichter Multiple Sklerose ist eine heimtückische Krankheit, sie kommt aus dem Nichts und galt bis vor gar nicht langer Zeit noch als unbehandelbar. Inzwischen ist die Medizin weiter, dennoch: Fehldiagnosen sind an der Tagesordnung Als Regine V. im Alter von 22 Jahren die Straße entlang ging, konnte sie plötzlich nicht mehr erkennen, ob die Menschen, die ihr entgegen kamen, Männer oder Frauen waren. Der Augenarzt stellte einen entzündeten Sehnerv fest und verschrieb eine Brille. Regine gewöhnte sich an ihre schlechten Augen, arbeitete weiter als Gärtnerin und fragte sich hin- und wieder, warum der entzündete Nerv nicht heilte. Irgendwann verblasste auch dieser Gedanke. In Berlin fiel die Mauer, sie lernte ihren Mann kennen, heiratete ihn. „Es ging alles so schnell damals“, sagt die 43-Jährige heute. Dann wurde ihre Blase schwach, als nächstes die Beine taub. Sie ging von Arzt zu Arzt. Der fünfte, ein Neurologe, stellte schließlich fest: „Sie haben multiple Sklerose.“ Fünf Jahre war Regine da schon krank. 122000 Deutsche leben mit dieser Autoimmunerkrankung, 2500 Deutsche erkranken jedes Jahr neu. Multiple Sklerose ist die häufigste chronischentzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems in Europa, eine echte Zivilisationskrankheit. Gerade in Ländern, in denen die Industrialisierung rasch voranschreitet, wie China oder Indonesien, steigt die Zahl der Betroffenen dramatisch. Über die Ursache der Krankheit gibt es bislang nur Vermutungen: „Das Leben wird immer hygienischer, das Immunsystem muss sich kaum noch gegen Angriffe von außen wehren und sucht sich den Feind im eigenen Körper“, sagt Judith Haas, Chefärztin des größten Zentrums für Multiple Sklerose in Deutschland, im Jüdischen Krankenhaus Berlin. Bei der multiplen Sklerose nagt das körpereigene Abwehrsystem die Schutzhüllen der Nervenfasern an und zerstört sie. Die Folge: Die Nerven übertragen die Informationen, die das Gehirn sendet, nicht mehr richtig. Wie bei allen Autoimmunerkrankungen sind vor allem Frauen betroffen, drei Viertel aller MSPatienten sind weiblich. Ursache ist das stärkere Immunsystem des weiblichen Körpers. Auch Vitamin D, das sich durch Sonnenlicht im Körper bildet, spielt eine Rolle beim Ausbruch der Krankheit, vermuten Experten. Fest steht: Je weniger in einem Land die Sonne scheint, desto mehr Menschen leiden dort unter multipler Sklerose. In Kanada kommen auf 100.000 Einwohner 240 MS-Patienten, in Brasilien nur 18. Eine weitere Tatsache bestätigt diese Vermutung: „In Saudi Arabien sind 90 Prozent der Betroffenen weiblich. Weil die Frauen verschleiert sind, bekommt ihre Haut weniger Sonne“, sagt Haas. Kaum etwas stellt die Medizin vor größere Rätsel als Autoimmunerkrankungen. Noch immer gilt multiple Sklerose als unheilbar. Bis Mitte der 90er Jahre galt sie gar noch als unbehandelbar. Heute lässt sich ihr Verlauf mit Medikamenten immerhin mildern, vorhersagen aber lässt er sich nicht. Wegen des unterschiedlichen Verlaufs, die die multiple Sklerose bei jedem Patienten nimmt, nennt man sie auch die Krankheit der 1000 Gesichter. „Jeder hat seine eigene. Es gibt keine doppelt“, sagt Regine V. Bei fast allen Betroffenen beginnt die Krankheit schubförmig. Diese Schübe setzen meist im Alter von 20 bis 40 Jahren ein. Die Betroffenen können plötzlich nicht mehr richtig gehen oder sehen, oft werden auch Arme oder Beine taub. Die Krankheit lauert fortan im Hinterhalt. Manchmal flammen die Schübe im Abstand weniger Wochen auf, dann wieder viele Jahre nicht. Aber: „Bei 90 Prozent der Betroffenen geht die Krankheit irgendwann in eine andauernde, fortschreitende Behinderung über“, so Professorin Haas. Im Alter von 30 Jahren ging Regine V. in Rente. Ihre linke Körperhälfte hatte sie im Stich gelassen. „Ich konnte nicht mehr lange laufen, irgendwann das linke Bein gar nicht mehr bewegen.“ Erst brauchte sie einen Stock zum Gehen, bald einen Rollstuhl, um sich fortzubewegen. Seit drei Jahren lenkt sie ihn mit dem Kinn – eines der wenigen Körperteile, die sie noch bewusst steuern kann. Dafür konnte sie eines Tages aus heiterem Himmel wieder gut sehen. Bis heute kann niemand die Krankheit heilen, doch Therapien begünstigen ihren Verlauf. Idealerweise beginnen sie mit dem ersten Schub. „Dann ist meist auch mit multipler Sklerose ein Leben fast ohne Einschränkungen möglich“, sagt Ärztin Haas. Auch die Lebenserwartung der meisten MS-Patienten sei bei guter Therapie genauso hoch wie die gesunder Menschen. Die Ärzte unterscheiden die Behandlung der akuten Schübe und die langfristige Therapie. Sie hat das Ziel, die Schwere und Häufigkeit der Schübe ebenso zu verringern wie das Ausmaß der fortschreitenden Behinderung. Medikamente, die das Immunsystem regulieren, helfen dabei, ebenso wie gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung. Ausdauer-Sportarten wie Nordic Walking oder Radfahren beugen der schnellen Erschöpfung, unter der MS-Patienten leiden, vor. Aber: „Die Behandlung der MS beginnt in Deutschland im Schnitt drei bis vier Jahre zu spät“, sagt Haas. Noch immer werde die Krankheit von den Ärzten nicht rechtzeitig erkannt. Oft genug aber, wird sie auch von den Betroffenen verdrängt, nicht selten über Jahre. Emanuel B. war zehn Jahre krank, ohne es zu wissen. Er war Anfang 20, arbeitete auf dem Bau, als seine Arme, Beine oder der Kiefer hin- und wieder taub wurden. Beunruhigt hat ihn das nicht. „Gerade im Winter friert Dir auf dem Bau öfter mal was ein“, sagt der 37-Jährige. Plötzlich aber verlor er das Gleichgewicht, dann wurde er blind, bald darauf stumm. Er hatte die Kontrolle über seine Kiefer verloren. Beim Arzt stand die Diagnose schnell. Emanuel B. ignorierte sie. Zwei Wochen nach dem Schub waren die Symptome wieder abgeklungen. Er fühlte sich gesund, wie die meisten MS-Kranken zwischen zwei Schüben, ging weiter arbeiten – bis zur nächsten Attacke auf seine Nerven, drei Jahre später. Nur eine Konsequenz hatte die Diagnose sofort: „Ich habe mich von meiner Freundin getrennt. Ich wollte nicht auf jemanden angewiesen sein. Und wollte auch ihr Leben nicht beinträchtigen.“ Vielleicht aber wollte er sich auch eine Enttäuschung ersparen, in dem er sie vorweg nimmt. Nicht wenige Beziehungen zerbrechen an dieser Krankheit, die bei fast jedem zweiten Betroffenen Depressionen nach sich zieht. Zwei von drei Patienten denken laut einer US-Studie regelmäßig an Selbstmord. Die multiple Sklerose legt sich als vage Bedrohung wie ein Schatten auf ihr Leben. Niemand weiß: Was bringt der nächste Schub? Werd ich blind? Oder taub? Kann ich nicht mehr sprechen oder die Beine bewegen? Ein psychischer Druck, dem schwer standzuhalten ist. Auch für die Angehörigen. „Meine Familie geht mit der Diagnose viel schlechter um als ich“, sagt Emanuel Z. Seit er mit Anfang 30 in Rente ging, behandele sie ihn wie ein rohes Ei. Dabei will er weiter wie ein normaler Mensch wahrgenommen werden. „Das geht einem Blinden so, einem Tauben und uns auch.“ Aus diesem Grund hat Regine V. ihrer Familie zunächst verschwiegen, wie krank sie ist. „Es hätte mir ja keiner helfen können.“ Der Mann von Katrin Z. wurde vor der Hochzeit von ihrer Mutter gewarnt. „Er sollte wissen, worauf er sich einlässt“, sagt die 53-Jährige. Sie selbst wollte 15 Jahre lang von ihrer Krankheit nichts wissen. Sie war 18, hatte gerade das Abitur bestanden und ihr erstes Kind zur Welt gebracht, als sie plötzlich auf einem Auge blind wurde. Drei Monate lag sie im Krankenhaus, auf der neurologischen Station. In den Broschüren, die dort auslagen, las viel über multiple Sklerose und dachte: „Wenn mir jemand sagen würde, dass ich diese Krankheit habe, ich würde mich umbringen.“ Die Ärzte verschonten sie mit der Diagnose. In den 80er Jahren keine Seltenheit. „Da es keine Therapie für MS gab, hat man den Betroffenen die Wahrheit oft erspart“, sagt Ärztin Haas. Nur ihre Eltern kannten den Namen ihrer Krankheit. Katrin Z. sagten die Ärzte nur, sie solle lieber keine Kinder mehr bekommen. Diesen Rat schlug sie in den Wind, lebte stattdessen ein Leben im Zeitraffer, studierte Jura, bekam kurz nach dem Diplom das zweite Kind, heiratete, arbeitete drei Jahren als Justitiarin, bekam das dritte Kind. Mit 35 ging sie in Rente, mit 36 wurde sie das erste Mal Großmutter. Sie ist froh, dass sie erst bei ihrer Berentung erfuhr, an welcher Krankheit sie leidet. „Vielleicht hätte ich sonst mehr Angst gehabt, weniger mein Leben gelebt.“ Heute weiß sie, dass sie auch aus medizinischer Sicht das einzig Richtige getan hat. „Eine Schwangerschaft ist die beste Therapie“, sagt Ärztin Haas. Auch wenn im Wochenbett dann oft ein heftiger Schub einsetze. Wie damals bei Katrin Z. Ebenso wirksam wie eine Schwangerschaft sei die Anti-Baby-Pille. „Hormone können den Ausbruch der Krankheit auf Jahre nach hinten verschieben“, sagt MS-Expertin Haas. So unterschiedlich die Krankheit verläuft, so sehr ähneln sich die Hoffnungen der Patienten. Kann man die MS schon bald stoppen, vielleicht sogar heilen? Die Wissenschaftler erzielen erste Erfolge. Mit neuen Medikamenten wie Tysabri können sie die schubförmige MS schon heute stoppen. Auch Cannabis sei eine „fantastische Substanz, um den Krankheitsverlauf zu mildern“, so Haas. Seit 2007 erstmals in Deutschland eine Frau legal Cannabis nehmen durfte, um ihre Krankheit – multiple Sklerose – zu lindern, bekommen viele MS-Patienten den Cannabis-Wirkstoff THC aus der Apotheke. Allerdings: Diese Medikamente kosten rund 200 Euro im Monat. „Wer sich das nicht leisten kann, sollte abends einen Joint rauchen“, so Professorin Haas. Der helfe gegen Spastik, Zittern und Schmerzen. Erfolgreich experimentieren Fachleute auch mit monoklonalen Antikörpern und Stammzellen. Sie helfen dabei, die angegriffenen Nerven zu heilen. Schon in wenigen Jahren werden laut Ärztin Haas viele Patienten von diesen Fortschritten profitieren. Fest steht: „Wer seine Krankheit annimmt, bei dem verläuft sie milder“, so Haas. Dabei helfen Psychotherapien und Selbsthilfe-Gruppen, wie sie die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft organisiert. Regine V., Katrin Z. und Emanuel B. treffen sich regelmäßig in Berlin-Prenzlauer Berg. Von allen in der Gruppe setzt Regine V. die Krankheit körperlich am meisten zu. Die 43-Jährige nimmt es gelassen. „Ich kann nicht mehr rennen, also lass ich mir Zeit.“ Man müsse sich nur besser organisieren. Falls sie den Rollstuhl eines Tages nicht mehr mit dem Kinn steuern könne, dann eben mit der Zunge oder den Augen. „Die Möglichkeiten sind vielfältig.“