Wohin begeben wir uns, wenn wir im Konzertsaal sitzen? 2 Weltinnenraum Musik Wohin begeben wir uns, wenn wir im Konzertsaal sitzen? Ein Essay von Jan Reichow Sprecher/in: Doris Wolters, Hubertus Geertzen, der Autor Technik: Manuel Braun (SWR Studio Freiburg) Redaktion: Lydia Jeschke Autor Die Frage scheint einfach: Wohin begeben wir uns, wenn wir im Konzertsaal sitzen? Zunächst einmal: wir befinden uns in einem geschlossenen Raum, der größte Teil der Außenwelt wird ausgesperrt, vor allem akustisch, wir wollen nur die gezielt im Raum erzeugten Klänge hören; wir können die ungezielt im Raum vorhandenen oder unzulänglich abgedämpften Geräusche der anderen Hörwilligen nicht ausschließen, bestenfalls in Kauf nehmen oder ÜBER-hören. Doch wäre es ein Kurzschluss zu sagen: ideal bzw. der Musik wirklich adäquat wäre es, sie – wie einst Bayernkönig Ludwig - allein in einem publikumsfreien, also völlig ruhiggestellten Raum zu hören. Ebenso könnte es ein Irrtum sein, das einsame Lauschen mit Kopfhörern für den adäquaten Weg zu halten, wie konzentriert es auch immer geschieht. Spricht eine Beethoven-Symphonie nicht überzeugender zu einer aufgeschlossenen Menge als zu einem Eremiten? Kluge Menschen empfehlen uns sogar die völlige Eliminierung äußerer Klangquellen zugunsten des inneren Ohres, und zwar durchaus nicht aus esoterischen Gründen, die etwa nahelegen, der Welthintergrund schwinge bereits so überwältigend, dass ein einziger, intensiv vorgestellter Ton genüge, die Fülle der kosmischen Harmonie wahrzunehmen. Da hätte ein gläubiger Musiker allerdings viel Übezeit gespart. Nein, kein Esoteriker war es, der das Exerzitium des inneren Ohres empfahl, sondern immer wieder Theodor W. Adorno, der konkret komponierende und klavierspielende Denker, von dem das Wort „adäquates Hören“ stammt, der das stumme Lesen von Musik und die bloße Imagination des realen Klanges empfahl! Das innere Ohr als maßgebliche Instanz, nicht nur zur Übung, sondern 3 als Indiz und Ausweis musikalischen Expertentums, der plumpen Realität des Klangs immer [zwei Ohrenlängen] voraus. Gerade Adorno hat aber auch mit Eifer Komponisten verteidigt, die sich nachweisbar irrten und in der Realität nicht mehr präzise wahrnahmen, was sie in der Idealität so genau gehört hatten. Sprecher (...) zudem ist der Orchesterklang eines komplexen Werks für den, der es zum ersten Mal vernimmt, auch für den Komponisten, so überraschend, durch Intensität so verschieden selbst von der exaktesten Imagination, daß Hörfehler, wenn sie unterlaufen, wenig besagen. Die Zuverlässigkeit des äußeren Gehörs muß mit der Genauigkeit der inwendigen Vorstellung keineswegs harmonieren. (Adorno S. 11692 f) Autor Ob es nun stimmt oder nicht: man erzählt, der alte Joseph Haydn habe eine Aufführung seiner „Schöpfung“ erlebt und sei beim Hören der Stelle „Und es ward Licht“ in Ohnmacht gefallen. Wir können aber sicher sein, dass er beim Niederschreiben der Stelle völlig klaren Verstandes blieb, obwohl er die C-durKlangwirkung präzise imaginierte. Kein Wunder, - selbst Leute, denen Adorno jedes Expertentum abspräche, würden sich z.B. bei der bloßen Vorstellung eines immensen Donnerschlags oder eines explodierenden Klangkörpers keineswegs schützend die Ohren zuhalten. Imagination ist jedoch zweifellos eine evolutionäre Errungenschaft, die gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist: Die Fähigkeit, abwesende Dinge – sagen wir: Feinde, Beutetiere oder Trampelpfade im Wald - plastisch vor das innere Auge zu rufen, sie probeweise zu einzuschätzen, bedeutete eine evolutionsgeschichtliche Wende im Gehirn des Menschen. Möglicherweise hatte sich alle Kommunikation bis dahin nur auf unmittelbar sichtbare oder hörbare Dinge bezogen. Aber die Loslösung ist nachweislich datierbar, zumindest einzukreisen: sie liegt vor den Höhlenzeichnungen von Lascaux, die möglicherweise zur gleichen Epoche wie die Sprachentwicklung des Menschen gehören. Die Fähigkeit, abwesende Dinge durch Lautgebilde, durch Benennung, herbeizuzaubern, eine Imago ins Auge zu fassen, sie zum Gegenstand der Betrachtung und des Planens machen zu können, muss einen ungeheuren Schub ausgelöst haben. Mit einer Gesellschaft, die imstande war, verschiedene Möglichkeiten imaginativ durchzuspielen, zu reflektieren, begann der moderne Mensch. Die Philosophin Susanne K. Langer hat diesen Übergang zum symbolischen Denken suggestiv beschrieben: 4 Sprecherin „...die Idee, etwas mit einem Namen zu belegen, ist der fruchtbarste Gedanke aller Zeiten; sein Einfluß mag durchaus imstande gewesen sein, das gesamte Leben und Fühlen der Gattung binnen weniger Generationen zu verwandeln. (...) Kaum war der erste Funken geschlagen, so war auch das Licht der Vernunft entzündet; ein Zeitalter phänomenaler Neuerungen, Veränderungen, vielleicht sogar zerebraler Entwicklungen hatte begonnen, als aus der nichtigen Affenkreatur, die er gewesen, der Mensch hervorging. Sobald es sprechende Menschen auf der Erde gab, hätte es der äußersten Isolation bedurft, um einen Stamm vom Sprechen auszuschließen.“ (Langer S.144) Autor Unversehens fügt sich auch die Musik in diese frühmenschliche oder wie man sagt: auf eine Epoche „vor Adam“ bezogene Vision: Sprecherin „Ein von einem Prä-Adamiten geäußertes Wort muß eine verworrene, individuelle Vorstellung in einem anderen hervorgerufen haben; wenn aber das Wort nicht bloß das Reizmoment für diese Vorstellung, sondern für den Hörer wie den Sprecher an den nämlichen Gegenstand gebunden ist, so hat es für beide eine gemeinsame Bedeutung. Der Hörer, indem er seinen eigenen Gedanken über den Gegenstand denkt, mag sich bemüßigt fühlen, das Wort ebenfalls zu sagen. Die beiden Geschöpfe werden einander ansehen mit dem Licht des Einverständnisses in den Augen, sie mögen ein paar weitere Wörter sagen und weitere Gegenstände erfreut ins Auge fassen. Vielleicht reichen sie einander die Hände und singen zusammen Wörter. Kein Zweifel, daß eine solche erstaunliche ‚Übung’ sehr schnell Nachahmer gefunden haben muß.“ (Langer a.a.O. S. 136) Autor Was Susanne K. Langer 1942 schrieb, deckt sich erstaunlich mit den Darstellungen heutiger Evolutionsbiologen, die „den Großen Sprung“ des Menschen vor 40.000 Jahren beschreiben; vor allem die „Neuerung im Gebrauch der ‚Sprachsoftware’,“ wie Richard Dawkins formuliert. Sprecher „Vielleicht war es ein neuer Kunstgriff der Grammatik wie der Konditionalsatz, der mit einem Schlag die Möglichkeit eröffnete, Überlegungen nach dem Prinzip ‚was wäre, wenn’ anzustellen. (...) Vielleicht kam irgendein vergessenes Genie auf die Idee, dass man Wörter auch als Platzhalter für Ideen verwenden kann, die gerade nicht gegenwärtig sind. (...) Vielleicht war auch die darstellende Kunst, die in den archäologischen Funden vor dem Großen Sprung so gut wie nicht vorhanden ist, die Brücke zu einer begrifflichen Sprache. Vielleicht lernten die Menschen, Büffel zu zeichnen, bevor sie über Büffel sprechen konnten, die nicht unmittelbar zu sehen waren.“ (Dawkins S. 63) 5 Autor Und selbst von der flüchtigsten aller Künste gibt es nun Zeugnisse, Musikinstrumente, beispielsweise Flöten aus Knochen. Die Philosophin Susanne K. Langer hatte sicherlich nicht unrecht zu vermuten: Sie sangen! Ob sie auch leise vor sich hin summten oder sogar in der Lage waren, sich stumm an Tonfolgen zu erinnern, die sie im Innern weiterklingen hörten, von denen sie womöglich gar besessen waren, - wir wissen es nicht, aber es ist leicht vorstellbar. Solche von der greif- und sichtbaren Welt abgelösten Formeln gewinnen eine eigene Macht. Musik 1) „Barjo aela“ - „Segen“. Musik der Hamar aus Süd-Äthiopien Beschwörungsformeln - Vorsänger und antwortende Gemeinschaft Autor Was hat Adorno mit dem Großen Sprung vor 40.000 Jahren zu tun? Es ist die Neigung, die vielleicht schon damals angelegt wurde, die bloße Imagination eines Klangs für edler zu halten als seine krude Realität, - auf die Gefahr hin, ein zähes idealistisches (oder auch nur esoterisches) Missverständnis zu befestigen, dass diese Welt der Imagination die reine und wahre sei (heute würde man vielleicht von „Parallelwelt“ sprechen). Und dass die Musik, als die am wenigsten stoffgebundene Kunst, dort ihre Heimat habe und dorthin zurück oder hinauf geleite. Wie Schubert (mit den Worten des Freundes Schober) sagt: „in eine beßre Welt entrückt“... Was Beethoven meint, „wenn der Geist zu ihm spricht“, oder wenn er sagt: Sprecherin „Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht (...)“ Autor so im Dedikationsbrief zur Klavier-Sonate op. 109. Er notierte auch: Sprecherin „Höheres giebt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten!“ 6 Autor Und ein Blick nach Indien sei gestattet, - der Sänger Pandit Jasraj (und zahlreiche Aussagen indischer Musiker ließen sich anfügen) sieht uns mit der Musik auf dem richtigen Wege: O-Ton Pandit Jasraj, Interview 4.5.1993 Indian music gives you something...some kind of things... we feel, music is the shortest path to reach god. Autor Der aus Wien stammende Musikästhetiker Viktor Zuckerkandl, dessen Leben in etwa parallel zu dem Adornos verlief, - beide emigrierten 1938 bzw. 39 in die USA, beide hatten dort Kontakt zu Thomas Mann, und doch kommt der eine im Werk des anderen an keiner Stelle vor -, Zuckerkandl veröffentlichte 1963 das Buch „Die Wirklichkeit der Musik“, und es gibt wohl kein zweites musikästhetisches Werk, in dem das Phänomen des Raumes – neben dem Phänomen der Zeit - einen so breiten Raum einnimmt. Wohlgemerkt: es ist nicht vom physikalischen Raum die Rede – wenn wir z.B. an eine Abhandlung wie die über „Beethovens Konzerträume“ denken – , auch nicht allgemein von Raumakustik (MGG), sondern von dem, was in Hugo Riemanns Ästhetik im Jahre 1900 mit genau 3 Sätzen behandelt wird: Sprecher „...die gänzliche Ausscheidung aller räumlichen Vorstellungen ist doch auch der scheinbar absolut zeitlichen Kunst, der Musik, nicht möglich. Ich verweise einstweilen nur auf die ganz entschieden den Raumvorstellungen zum mindesten verwandten Begriffe des Hinauf und Herunter der einfachen Melodie, des Zusammen und Auseinander der Polyphonie, der weiten und engen Lage der Harmonie, überhaupt des O b e n und U n t e n. Selbst eine dritte Dimension ist der Musik nicht fremd; das Vordringen und Zurückgehen sind auch ohne Hereinziehung von sekundären Associationen und absichtlicher Charakteristik der Musik u n e n t b e h r l i c h e ästhetische Werte.“ (Riemann, S. 11) Musik 2) Felix Mendelssohn Bartholdy: Oktett op.20 Allegro moderato, ma con fuoco Bewegung im Raum und „dritte Dimension“. 0:45 Autor Das Oben und Unten, das Hinauf und Hinab, nichts leuchtet unmittelbarer ein; die Frage ist nur: bilden wir eine Analogie zum äußeren Raum mit seinen 7 Kräfteverhältnissen oder spielen sich die Ereignisse ab (und auf) in einem musikalischen Raum eigener Gesetzmäßigkeit? Der Dirigent Sergio Celibidache sagte in seinen Mainzer Vorlesungen: Sprecher „Die Räumlichkeit von Musik entfalte(t) sich im Menschen durch den wahrgenommenen Klang – nicht als physikalisch nachweisbarer Raum, sondern als psychologischer Raum der Vorstellungskraft.“ (Helmut Rösing MGG Sachteil 6 / 1559) Autor Und d i e s e r besondere Raum? Ist er nun nachweisbar oder nicht? Die Musikpsychologie wählt eine Ausdrucksweise, die ein Türchen offenhält: Sprecherin „Die kognitive Strukturierung akustischer Informationen verbindet sich oft mit einer Übersetzung in visuell anschauliche Eindrücke. Unabhängig von den physikalischen Gegebenheiten des Raumes, in dem wir die Schallquelle lokalisieren, stellt sich das Erlebnis eines Tonraumes ein. Akustische Ereignisse bewegen sich in ihm auf und ab oder auch nach vorwärts.“ (de la Motte S. 307) Autor „...stellt sich das Erlebnis eines Tonraumes ein“ – so hieß es: ist er nun vorhanden oder halluzinieren wir ihn? (vgl. Zuckerkandls Titel: „Wirklichkeit der Musik“) Und wenn wir „akustische Informationen kognitiv strukturieren“, - verbinden wir sie tatsächlich mit einer Übersetzung in visuell anschauliche Eindrücke? Handelt es sich um eine „Übersetzung“ oder nicht vielmehr um eine unmittelbare Partizipation an der Bewegung im Tonraum? Helga de la Motte, aus deren Handbuch der Musikpsychologie wir eben zitiert haben, fügt später noch einen anderen Aspekt hinzu: Sprecherin „Ebenso wie der imaginierte musikalische Raum weniger starr fixiert ist als der visuelle Anschauungsraum, ebenso wenig eindeutig fixierbar sind die Kräfte, die wir als in ihm waltend empfinden. Da die unmittelbaren Erlebnisse, die sich mit Bewegungseindrücken verbinden, um gedankliche Konstruktionen ergänzt werden, die aus tonsystemlichem Wissen abgeleitet werden, sind durchaus verschiedene Kraftempfindungen denkbar. Die energetischen Verhältnisse hängen davon ab, welche Musik wir uns in den Raum hineindenken.“ (de la Motte a.a.O. S.308 f 8 Autor Das ist schön gesagt und erinnert an das, was Zuckerkandl schreibt, am Ende seines Buches, das die Wirklichkeit der Musik behandelt, aber kaum irgendwo eine bestimmte Musik, sagen wir von Beethoven oder Strawinsky, die „wir uns in den [musikalischen] Raum hineindenken“. In seiner abschließenden Reflexion jedoch können wir leicht erkennen, worin er anders denkt, auch anders als Adorno und der von ihm geprägte musikalische Zeitgeist von ehedem. Stichwort: Tonsystem. Zuckerkandl fragt: Sprecher „Haben wir von Musik gesprochen?“ Autor und antwortet: Sprecher „Ja und nein. Gesprochen haben wir von den Kräften, die sich in Tönen und Tonsystemen offenbaren und deren Wirklichkeit Musik möglich macht. Der Mensch hat diese Kräfte nicht geschaffen; er entdeckt sie. Tonsysteme sind Entdeckungen im Reiche des Hörbaren, nicht Erfindungen. Wir haben von der Musik gesprochen, die das Ohr des Menschen entdeckt, wie sein Auge die großen Erscheinungen des Himmels und der Erde entdeckt; von dem NaturPhänomen Musik. Von der Ton-Kunst, dem von Menschen Geschaffenen, von der Offenbarung menschlicher Kräfte in Tönen haben wir nicht gesprochen. Natur kennt keine Unterschiede des Ranges. Kunst kann gar nicht anders als Rangunterschiede setzen. Weil wir vorwiegend von der Natur der Töne gesprochen haben, gilt fast alles, was wir gesagt haben, von Tönen ohne Unterschied des Ranges, von dem ordinärsten Gassenhauer und Schmachtfetzen ebenso wie von dem seltensten Meisterwerk.“ (Zuckerkandl S. 349) Autor Zuckerkandl weiß sehr wohl, dass in den Kulturen der Welt viele Tonsysteme nebeneinander bestehen. Und man könnte in der Tat darüber streiten, ob irgendwo in der Welt jemals ein Tonsystem wirklich entdeckt oder vielmehr doch - mehr oder weniger - erfunden wurde. Jedenfalls sind die Versuche mancher Komponisten, ihr System sozusagen in der Natur selbst zu verankern, wie es z.B. Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz versucht hat, mehr als zweifelhaft. Wenn jedoch John Cage die Fenster öffnet und auf die Geräusche des Tages verweist, als sei dies bereits die Musik, die der wirklich Lauschende nur als solche wahrnehmen müsse, so darf man heute, nach intensiver Öffnung der Ohren, ebenfalls prinzipielle Zweifel anmelden. KlangKunst leistet nicht dasselbe wie Ton-Kunst, - womit ihr eine besondere Leistung keineswegs abgesprochen sei. 9 Was verloren geht, ist der musikalische Raum. Nicht der physikalische Raum. Worin aber liegt nun der Unterschied? Das ist gar nicht so leicht zu erfassen, obwohl das Problem unmittelbar vor Ohren liegt. Musik 3a) Tuva: Trabende Pferdeherde, wiehernde Einzeltiere, vorbeistürmend, geht über in Musik 3b) Vancouver Landscape 1973 (Huse) mit Lastwagen-Hupen und Schiffs-Sirenen Autor Meist wird das Richtungshören (auch) im Saal überschätzt. Es hat jedenfalls nichts zu tun mit dem räumlichen Hören, von dem hier die Rede sein soll, es hat mehr mit Geräuschen zu tun, bei denen es lebenswichtig sein kann, sie im physischen Raum zu lokalisieren. Eine „Art sehen mit den Ohren“, so nennt es Zuckerkandl (a.a.O. S.263), und er fragt: Sprecher „Ist der ‚äußere Raum’, mit dem der Ton uns in Kontakt bringt, der gleiche, den Auge und Hand uns erschlossen haben?“ „Das Auge und deutlicher noch die Hand trifft auf ein Ding, hier ist eine Grenze im Raum gezogen, ein Teil des Raumes ist gegen einen anderen Teil oder den übrigen Raum abgegrenzt, ein Da von einem Dort unterschieden. Dem Ohre dagegen, dem Töne hörenden Ohre, sind solche Erfahrungen fremd. Das Ohr trifft nicht auf ein Ding – das ist es eben, daß wir nicht tönendes Ding hören, sondern Ton -, trifft nirgends im Raum auf eine Grenze. Töne sind nicht wie Dinge ‚da’ oder ‚dort’, jeder Ton ist überall.“ (Zuckerkandl a.a.O. S.260) Autor Der Mann im Publikum, der fortwährend seiner Nachbarin ins Ohr zischelt, sitzt wahrscheinlich genau 2 Reihen vor Ihnen und 2 Plätze seitwärts; der lang gehaltene Oboenton jedoch, mit dem der nächste Satz beginnt, ist überall im Raum, obwohl Sie natürlich genau wissen, an welcher Stelle des Orchester seine Quelle sitzt. Sprecher „Die Raumerfahrung von Auge und Hand ist ursprünglich eine Erfahrung von Orten und Ortsunterschieden; und der Raum, den wir sehen und greifen, in dem wir ferner uns bewegen und der schließlich unserer Wissenschaft vom Raume, der Geometrie, als Ausgangspunkt dient, ist folgerichtig als Inbegriff aller Orte definiert worden. Das Ohr dagegen kennt Raum nur als eine ungeschiedene 10 Ganzheit; von Orten und Ortsunterschieden weiß es nichts. Der Raum, den wir hören, ist ortloser Raum.“ (Zuckerkandl a.a.O. S.261) Autor Wie ist das zu verstehen? Wir sehen z.B., dass die Dame, die Oboe spielt, eine dunkelgrüne Seidenbluse trägt. Die Farbe ist dort, sie begegnet uns dort im Raume, an einer bestimmten Stelle des Raumes. Der Ton jedoch, der dort erzeugt wird, begegnet uns aus dem ganzen Raume, er erreicht uns von außen, kommt von außen her; er ist nicht „dahinten“, wie die Farbe der Bluse. Wir neigen dazu, diese beiden Raumvorstellungen gedanklich zu vermischen, um so reizvoller ist es, sie begrifflich klar zu scheiden: Zuckerkandl sieht den entscheidenden Schritt vom Seh- in den Hörraum wie einen Übergang aus einem statischen in ein fließendes Medium. Er zitiert den ungarischen Psychologen Géza Révész: Sprecher „Trifft uns bei geschlossenen Augen und in unbewegtem Zustand ein Ton oder Tonkomplex, so scheint es uns, als ob der uns umgebende Raum plötzlich von Leben erfüllt würde. Es ist, als ob der Raum, in welchem wir uns befinden, aus seiner Unbestimmtheit (infolge des Schließens der Augen und der bewegungslosen Haltung), aus seiner Potentialität herausträte und durch den Schall gleichsam eine Richtungsbestimmtheit und eine gewisse Ausdehnung bekäme. Evident ist, daß der durch den Schall lebendig gewordene Raum außerhalb unser sich befindet...“ (Révész bei Zuckerkandl a.a.O. S.262) Autor ‚Der durch den Schall lebendig gewordene Raum’, - wiederholt Zuckerkandl mit Emphase: man könne es geradezu so sagen, dass nicht der Ton sich im Raum ereigne, - es sei zunächst vielmehr der Raum, der durch den Ton zum Ereignis werde. Jedenfalls wenn man den Unterschied von Seh- und Hörraum auf die Spitze treiben wolle. Sprecher „Wir sehen – und greifen – einen Raum, in dem Dinge sich bewegen; die Aussage, daß der Raum selbst sich bewege, ist für Auge und Hand sinnlos. Nicht so für das Ohr. Wir hören einen Raum, der selbst in einer Art von Bewegung ist; wir hören – um eine andere wissenschaftliche Formel zu benützen – fließenden Raum.“ (Zuckerkandl a.a.O. S.262, der zitierte Begriff wiederum von Révész) Autor Was nichts zu tun hat mit der - immerhin möglichen - Statik der Musik oder dem Grad ihrer dynamischen Bewegung. 11 Musik 4) Monteverdi: Madrigal “Hor che'l ciel e la terra” ...absolute Ruhe (vor dem Sturm) 1:07 Autor Wir haben gehört vom ortlosen Raum der Musik und vom fließenden Raum, den das Ohr erfährt. Der Raum hat also eine Richtung, die Zuckerkandl mit den Worten „Von...her“ kennzeichnet, was nicht bedeutet „von da oder dort her“ sondern „von allseits aus der Tiefe her“, womit nicht eine Richtung im Raum, sondern eine, nein, die Richtung des Raumes gemeint ist. Sprecher „Das Raumerlebnis des Hörenden ist ein Erlebnis von allseits einströmendem Raum.“ (Zuckerkandl a.a.O. S.273) Autor Das ist nicht leicht zu verstehen, - immer wieder wurden die Grenzen des Auges und des Ohres gegeneinander abgesteckt, auch bei Adorno, meist mit Nachsicht gegenüber dem archaisch-unbedarften Ohr, das sich ja nicht einmal verschließen kann. Die Ohren-Ehrenrettung durch den Esoteriker Berendt war gar keine, sondern nur ein Täuschungsmanöver zum Nachteil der visuellen Klarheit. Mit beiden darf man Zuckerkandl nicht verwechseln: Wenn die Erschließung des Raumes durch das Ohr mit einem „von...her“ gekennzeichnet werden kann, so kann man vom Auge sagen, dass es die Raumtiefe in Richtung „von mir weg“ erlebt. Es denkt in Distanzen und in Distanzierung. Sprecher „Das Auge erschließt mir den Raum, indem es mich von ihm ausschließt. Das Ohr hingegen erschließt mir den Raum, indem es mich an ihm teilhaben läßt. Die Tiefe, die ich höre, ist Ferne nicht im Sinn von Ent-fernung, ist nicht ein Fern-Sein, sondern ein Von-ferne-Kommen. Wohl kann ich mich denkend und träumend hinausversetzen in die Ferne, die ich sehe oder die jenseits meiner Sicht liegt; die Ferne, die ich höre, kommt gleichsam aus eigenem Antrieb zu mir her, strömt in mich ein. Wo das Auge die strenge Grenze zieht, die Außen von Innen, Welt von Ich scheidet, schlägt das Ohr die Brücke.“ Autor Und dann kommt irgendwann der Satz, gewissermaßen der Lehrsatz für ein Regelwerk des Hörens, mit dem – nebenbei - auch das Gerede von der Musik als reiner Zeitkunst in die Schranken gewiesen wird: 12 Sprecher Für das Sehen sind es zwei Pole (Welt und Ich), für das Hören ist es der Strom. Das Raumerlebnis des Auges ist ein Distanzerlebnis, das Raumerlebnis des Ohres ist ein Partizipationserlebnis. (Zuckerkandl a.a.O. S.274) Autor Partizipation klingt verdächtig nach Mystik, nach Lévy-Bruhls prälogischer, mystischer Teilnahme, nach „wildem Denken“ usw.; es hat aber allenfalls mit Robert Musils tagheller Mystik zu tun, die allein schon darin liegt, dass wir dem Erlebnis des Hörens auf einer nicht alltäglichen Ebene begegnen. Das ist von niemandem klarer gesehen worden als von Victor Zuckerkandl: Sprecher Es gibt einen Raum, den kein Auge sieht und keine Hand greift, den keine Geometrie mißt und in dem keine Körper sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten befinden – und der darum doch nicht „leer“ ist; anders gesagt: auch dort, wo nichts zu sehen, nichts zu greifen, nichts zu messen ist, wo keine Körper sich von Ort zu Ort bewegen, ist noch Raum – nicht leerer Raum, erfüllter, „lebendig gewordener“ Raum, der Raum, den die Töne uns erschließen. Weit davon entfernt, in Sachen des Raumes stumm zu sein, gibt die Musik uns vielmehr zu verstehen, daß wir von Auge und Hand, von Geometrie, Geographie, Astronomie, Physik nicht alles erfahren, was über Raum zu sagen ist. Der volle Begriff von Raum muß die Erfahrung des Ohres, das Zeugnis der Musik, einschließen. (Zuckerkandl a.a.O. S.274 f) Musik 5) Japan Shakuhachi-Flöte „Kokû“ Anfangsattacke, Atem, zwei Töne 0:54 Autor Die weitere Arbeit besteht nun darin, sorgfältig die „Ordnung des Hörraums“ zu erkunden. Wohlgemerkt, nicht die Ordnung bestimmter Hörwerke, den Organismus eines indischen Ragas, einer Beethoven-Sonate oder einer BachFuge, obwohl die Betrachtung einer Ordnung des Hörraums auch all dies in ein neues Licht rückt. Wir lassen es hier außer acht, ebenso die Frage, in welchem Maße der Hörraum unserer Musik von der Notenschrift geprägt ist, während wesentliche Bereiche etwa der afrikanischen Musik nicht ohne Kenntnis der Bewegungsmuster zugänglich sind. Es geht um elementare Dinge: Der Dreiklang z.B., oder die Oktave und das, was sie aussagen, gehören zu den bemerkenswertesten Phänomenen des Hörraumes, 13 selbst wenn sie in keiner menschlichen Musikkultur eine wesentliche Rolle spielen würden. Die Oktave behielte den Wert einer Oktave, auch wenn niemand mehr davon Gebrauch machen würde, so wie die Farbe Rot ihren Farbwert im Lichtspektrum behält, auch wenn die meisten Säugetiere (außer den Primaten) ihn gar nicht wahrnehmen können. Der (Dur-)Dreiklang steht an bevorzugter Stelle der Obertonreihe, auch wenn unser System vielleicht kompliziertere, entferntere Verhältnisse in den Mittelpunkt des Denkens gerückt hat. Zu beachten wäre jedoch, ob unsere Überlegungen nicht auch für Dreiklänge wie B-E-A oder C-Gis-H gelten, die den Ausgangspunkt für Schönbergs „Moses und Aron“ bilden. Für Zuckerkandl liegt im Dreiklang ein Beweis, dass räumliche Ordnung – dem verbreiteten Vorurteil entgegen – nicht allein im Nebeneinander zu fassen ist, obwohl dies im physikalisch-geometrischen Raum die Regel ist. Vergleichen Sie nacheinander gespielte Töne mit nebeneinanderliegenden Farben, Blau und Gelb zum Beispiel: so bald man sie am gleichen Ort übereinanderlegt, erzeugen die beiden Farben eine neue, nämlich Grün, in der die beiden anderen für das Auge spurlos aufgegangen sind; die Töne aber ergeben – als Ergebnis ihres Zusammenklingens – nicht einen Mischton, etwa einen Ton in der Mitte zwischen den sich verbindenden, sondern sie bilden einen qualitativ anderen Zusammenklang, etwas Neues, Ganzes, in dem sie jedoch nicht spurlos untergehen, sondern in ihrer Besonderheit hörbar bleiben. So wie in einem Quadrat die vier Geraden, aus deren Zusammensetzung es gebildet wird, erhalten bleiben, ohne dass an der Integrität der einen geometrischen Figur zu rütteln wäre. Das gleiche gilt für ein Dreieck, - der Physiker Ernst Mach stellte die scharfsinnige Frage, die wie eine Nonsens-Frage klingt: „Warum bilden drei Töne einen Dreiklang und nicht ein Dreieck?“ Und Zuckerkandl, dessen Zwischenüberlegungen wir hier allerdings auslassen, antwortet: Sprecher Drei Töne bilden einen Dreiklang und nicht ein Dreieck, weil sie nicht drei bestimmte Orte im Raum, sondern drei bestimmte Zustände im Raum (oder sollen wir sagen: des Raumes?) bezeichnen. (Zuckerkandl a.a.O. S.285) Autor Zugleich erinnert er an die bereits entwickelte Vorstellung von Raum als einem ortlos-fließenden Raum, der eher als Zuständlichkeit denn als Ensemble von Orten zu denken ist, und er sieht nun Sehraum und Hörraum deutlich voneinander geschieden, und zwar in den folgenden Begriffs-Paaren: 14 Sprecher Ortsmannigfaltigkeit und Zustandsmannigfaltigkeit, Nebeneinander und Ineinander, Ortsbeziehung und Richtungsbeziehung, dynamische Beziehung; Ordnung nach Orten und Lagen, die wir sehen und greifen, Ordnung gerichteter Spannungszustände, dynamische Ordnung, die wie hören; Dreiecke und Dreiklänge, Geometrie und Musik. (Zuckerkandl a.a.O. S.286) Musik 6) J.S.Bach: Violine Solosonate I Adagio, erste + letzte Zeile 0:34 Autor Der Dreiklang und - die Tonleiter in tausend Gestalten als Herz unserer Musik: merkwürdigerweise ergibt sich erst aus der Betrachtung der Tonleiter, ob aufoder absteigend, das tiefe Erstaunen über das „Wunder der Oktave“ (August Halm), das schließlich zu einer Theorie oder, sagen wir, zum Problem der Perspektive innerhalb der Struktur des Hörraums führt (Zuckerkandl S.306ff). Sprecher Bewegen wir uns entlang der Tonleiter, so nimmt die Schwingungszahl und mit ihr die Tonhöhe von Ton zu Ton immer nur zu (oder immer nur ab); dennoch stehen wir mit dem 8. Ton wieder am Ausgangspunkt. Rückkehr als zwangsläufiges Ergebnis eines stetigen Sich-Entfernens, eines stetig sich vergrößernden Abstandes: das ist der im Zusammenhang der Natur einzig dastehende Vorgang. Wir haben als körperlich-räumliches Gleichnis die Bewegung im Kreise ausgeführt, die immer in sich zurückläuft. (Zuckerkandl a.a.O. S.303) Autor Schließlich – nach ausführlichen, in jedem Detail bedenkenswerten Reflexionen – kommt Zuckerkandl beiläufig wieder zu dem Punkt, von dem wir ausgegangen sind: Sollten wir den physischen-physikalischen Raum ignorieren, vielleicht sogar die Augen schließen, um der Musik in die Koordinaten ihres Raumes zu folgen? Er zitiert das Verdikt Strawinskys: Sprecher „Ich habe immer einen Abscheu davor gehabt, Musik mit geschlossenen Augen, ohne aktive Teilnahme des Gesichtssinnes zu hören. Um die Musik in ihrer ganzen Fülle zu erfassen, ist es notwendig und wesentlich, die Gesten und Bewegungen der verschiedenen Teile des Körpers zu sehen, die sie hervorbringen.“ 15 Autor Das klingt fast afrikanisch. In der Tat würde ein Essay über afrikanische Musik ganz andere Schwerpunkte setzen müssen. Hier verlassen wir allerdings ohnehin Zuckerkandls Thema der „Wirklichkeit der Musik“ in ihrem bloß tönenden Sinn und müssen uns mit konkreten Werken ebenso wie mit denen, die sie praktisch ins Werk setzen, befassen. Wir verfehlen afrikanische Musik, wenn wir sie nicht als ein System von Bewegungsmustern erkennen. Der Afrikanist und Musikethnologe Gerhard Kubik sagt: Sprecherin „In der Aufführungspraxis afrikanischer Musik hören und sehen die Umstehenden die „Musik“ gleichzeitig. Sie vollziehen die Motionen nach, entweder innerlich (bewegungsloses Dabeisein, aber innerliches Mitschwingen) oder durch nach außen gerichtete motorische Partizipation. Die Einführung von Schallplatte und Rundfunk in Afrika, wie auch schon früher der alten Spieluhren, bedeutete einen radikalen Bruch. (...Fernsehen...) Für einen Außenstehenden ist es unmöglich, durch Anhören von Tonmaterial allein zu einem interkulturell richtigen Verstehen zu gelangen.“ (Kubik S.175f) Autor Aber wir sprechen hier nicht von den verschiedenen Ausdrucksformen der menschlichen Musikalität, ihren Bindungen und Bedingungen: Über Jahrhunderte war es im Westen der Sprachcharakter und die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik (Schmitz), neben der reinen Struktur der Musik also der rhetorische Aufbau, die Logik, die Grammatik, zugleich rühmte man ihr expressives Vermögen, das jedoch zunehmend jenseits oder oberhalb der Sprache angesiedelt schien; sie näherte sich metaphysischen Vorstellungen, ohne dass sich ihre Strukturen vom alten Modell des Organismus und letztlich des konsistenten, allwissend verständigen Subjektes lösen musste. Musik hatte etwas Besonderes zu bedeuten, und der hörende Mensch versuchte es sich hörend anzuverwandeln, sich ihm hörend anzuverwandeln. Heute haben wir unser Spektrum erweitert, verändert, nachdem wir beobachtet haben, wie gerade Komponisten wie Strawinsky die Position des klassischromantischen Subjekts aushebelten, wie in der seriellen Musik subjektlose, mit rationalem Kalkül erstellte Klanggebilde favorisiert wurden. Oder dass eine „ich-freie“ Gemeinschaftsmusik wie die des Gamelan auf Bali sich zwanglos mit der Schichtenlehre Heinrich Schenkers verbinden lässt, bis in die Differenzierung ihres fremden Tonsatzes als Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund, eine Theorie, die bisher geradezu essentiell mit unserer klassischromantischen Tonalität verbunden schien. (Tenzer S. 140f und S.354f)) 16 Musik 7) Bali: Gong Kebyar „Oleg Tambulilingan“ Orchester, geschichtet 0:49 Autor In der Begegnung mit anderen Musiksystemen wären die Zeit- und Raumbegriffe, die wir in der westlichen Klassik erfahren, zweifellos noch zu überdenken. Eins aber können wir festhalten, gerade nach Strawinskys despektierlichen Worten über die geschlossenen Augen: dass der musikalische Raum sich nur in der Aufmerksamkeit entfaltet, in der Öffnung, in der Teilnahme, - von „Partizipation“ war die Rede -, die Haltung der kritischen Distanz passt nicht zur Musik: Sie kann bei der Auswahl dessen, was man an sich heranlässt, eine Rolle spielen, umgekehrt kann sie auch dafür sorgen, dass die Musik zu einem angenehmen Hintergrundgeräusch absinkt, zur klingenden Tapete. Sobald ich mich ihr aber zuwende, ist der zusätzliche, verborgene Aspekt des Raumes da, der nicht deckungsgleich ist mit dem physikalischen Raum, aber auch keinesfalls als dessen Gegensatz aufgefasst werden kann, im Sinne einer anderen oder gar besseren Welt. Immateriell ist sie allerdings, - aber: Sprecher „der Wirklichkeitsabstand zwischen Materiellem und Immateriellem ebnet sich ein, das Feld ihres Zusammenkommens heißt ‚Kraft’“, (Zuckerkandl a.a.O. S.348) Autor sagt Zuckerkandl und warnt davor, dies als einen Rückfall in vorwissenschaftliches Denken misszuverstehen. Sprecher Der musikalische Begriff der Außenwelt – die von immateriellen Kräften durchwirkte Natur, Rein-Dynamisches, das das Physische übergreift, ortloser Raum, nicht vergehende Zeit, Begegnung mit der Welt nach der Weise von Partizipation, verschwimmende Grenze von innen und außen, Ich und Welt – all das sieht gewiß dem Weltbilde des primitiven, des prähistorischen Menschen, dem Bilde einer magisch erlebten Welt ähnlicher als einer wissenschaftlich durchdachten. Warum aber sollte damit nicht eher etwas zurückgewonnen als aufgegeben sein? (Zuckerkandl a.a.O. S.349) Autor Mit Regression haben seine Überlegungen zur Wirklichkeit nichts zu tun; davon ist Zuckerkandl mit Recht überzeugt, und er weiß sich in Übereinstimmung mit der avancierten Wissenschaft. 17 Sprecher „...die Bemühung der fortgeschrittensten unter den Denkern unserer Zeit geht eben darum, Erkenntnisse, wie wir sie der Musik abgelesen haben, von anderen Quellen her zu gewinnen. (...) Aber was sonst mit Mühe und Beschwer, auf unsicheren und oft fragwürdigen Wegen der Spekulation zugänglich gemacht werden muß, daher immer dem Zweifel, dem Widerspruch, der Ablehnung ausgesetzt bleibt, das bringt die Musik uns offen entgegen. In ihr wird Erscheinung, was andere Erscheinungen verbergen; das Innerste der Welt ist in ihr nach außen gekehrt.“ (Zuckerkandl a.a.O. S.325) Autor Wie schon erwähnt, haben diese Gedankengänge nichts mit mystischer Schwärmerei zu tun; wir haben das Wort von der „taghellen Mystik“ des Dichters Robert Musil in Erinnerung gerufen, der sich ebenfalls in einem vergleichbaren Grenzbereich bewegte. Und diese Einsichten lagen in der Luft: Rainer Maria Rilke, der in seinen späten Jahren durchaus kein Jenseitiges als gedankliche Zuflucht gelten ließ, er war es, der den Begriff „Weltinnenraum“ prägte, einen Begriff, der sich mühelos mit Zuckerkandls Verschränkung des Außen mit dem Innen zur Deckung bringen lässt. Anders als bei Musil gibt es aber bei Rilke auch eine ahnungsvolle Beziehung zur Musik, in der er Kräfte wahrnimmt, wie sie Zuckerkandl am Beispiel des Magnetismus erläutert hat. Sprecherin Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert. Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ... Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen, baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus. (Rilke S.513 „Alles Erworbne bedroht die Maschine“) Autor Zuckerkandl dagegen sagt: Sprecher "Musik ereignet sich dort, wo die Sonne auf- und untergeht, wo Vögel vorüberfliegen, wo ein Ruf laut wird: außen, außer mir, nicht in mir." 18 Autor Der Raum, in dem sie wirklich Gestalt annimmt, ist für ihn nicht in erster Linie der Aufführungsraum, noch weniger aber das verborgene Innere des Menschen. Die beiden Welten, die der Körper und die der Töne, die Welt des physischen und des rein dynamischen Geschehens, ruhen in Wirklichkeit auf den gleichen Grundlagen. Die Wand, die von den Tönen durchstoßen wird, trennt also nicht zwei Welten, das heißt zwei Stufen der Realität, sondern zwei gleich reale, einander durchdringende Seinsweisen ein und derselben Welt, der Welt nämlich, die unseren Sinnen begegnet. Sprecher "Man braucht sozusagen nicht den Ort zu wechseln, um von einer in die andere zu kommen. Die Töne bringen ans Licht, was die Körper verstellen." Autor Musik als unerhörte Erkenntnisquelle! In einem der jüngsten Bücher zur Philosophie der Musik, in dem es allerdings in erster Linie um musikalische Werke, nicht um deren klangliche Rahmenbedingungen geht, lese ich mit Verwunderung die Schlussbemerkung über den Nachvollzug musikalischer Werke, über den Sinn des zweckfreien Spiels und die Freude am Gelingen dieses Nachvollzuges. Da öffnet sich plötzlich der Blick über die Musik hinaus: Hat sich eine solche Haltung, „die Bereitschaft zu diesen Nachvollzügen“, einmal etabliert, - so heißt es da -, so muß sie nicht an die Gegenstände (Musikstücke) gebunden bleiben, an denen sie sich entwickelt hat. Wir zitieren wörtlich: Sprecher „Es besteht vielmehr die Möglichkeit, daß eine solche Haltung die Wahrnehmung anderer Gegenstände strukturiert, indem sie sie spezifischen Regieanweisungen unterstellt. Insofern also gelingende Nachvollzüge Modelle für andere Wahrnehmungen darstellen können, ist es möglich, daß musikalische Erfahrungen unsere Sicht auf die Welt verändern.“ (Vogel S. 365) Autor So steht es da, am Ende des Buches „Musikalischer Sinn“, herausgegeben von Alexander Becker und Matthias Vogel. Erfahrungen, die sich verbal weit hinauswagen, wenn auch nicht so weit wie die Verse des Dichters: Sprecherin Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. 19 Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. Geliebter, der ich wurde: an mir ruht der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus. (Rainer Maria Rilke: „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“) Autor Um zum Anfang dieser Sendung zurückzukehren: Es bleibt eine kulturell wesentliche Erfahrung, wenn 100 oder sogar 1000 Menschen um uns herum mehr oder weniger stillhalten, - allesamt der Musik zugewandt, alle bereit, deren Raum, der Äußeres und Inneres umfasst, entstehen zu lassen, - und diese Situation begünstigt ein adäquates Hören vielleicht mehr als die quasi private, absolut störungsfreie Annäherung unterm Kopfhörer, der die Außenwelt vollkommen auszuschließen scheint, -scheinbar zugunsten der absoluten Konzentration, während man in Wahrheit jetzt mit der zusätzlichen Arbeit belastet ist, das Außen mitdenken zu müssen, das Orchester und den physikalischen Raum zu imaginieren. Die Ideologie, dass die nach innen gekehrte Denkhaltung die einzig richtige sei, ist so falsch wie die, der nichts geheuer erscheint, als was sich greifen und präzise beschreiben lässt. Mit Worten gelingt es sehr unbestimmt, was die Musik mit wenigen Tönen zu umreißen vermag: Sprecherin Er gedachte der Stunde in jenem anderen südlichen Garten, da ein Vogelruf draußen und in seinem Innern übereinstimmend da war, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins blieb. Damals schloß er die Augen, um in einer so großmütigen Erfahrung durch den Kontur seines Leibes nicht beirrt zu sein, und es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über, daß er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen. Auch fiel ihm wieder ein, wieviel er darauf gab, in ähnlicher Haltung an einen Zaun gelehnt, des gestirnten Himmels durch das milde Gezweig eines Ölbaums hindurch gewahr zu werden, wie gesichthaft in dieser Maske der Weltraum ihm gegenüber war oder wie, wenn er solches lange genug ertrug, alles in der klaren Lösung seines Herzens so vollkommen aufging, daß der Geschmack der Schöpfung in seinem Wesen war. (Rilke Brief aus Muzot 1913) Musik 8) Japan Shakuhachi-Flöte „Shika-no-tone“ “Distant calls of deer” 3:55 20 Musikliste: Musik 1) „Segen“ Musik der Hamar aus Süd-Äthiopien (Aufnahme Ivo Strecker) „Nyabole“ Hamar – Southern Ethiopie Museum Collection 1:05 Aeke gadi/Gesänge der Vorfahren; Barjo aela/Segen Museum Collection Berlin WERGO SM 1707 2 (LC 06356) Musik 2) Felix Mendelssohn Bartholdy Oktett op.20 Anfang Academy of St.Martin-in-the-Fields DECCA 421 637-2 (LC0171) 0:45 Musik 3a) Trabende Pferdeherde I Tr. 9 stürmt vorbei 0:35 / übergehend in 3b) Musik 3b) Vancouver Landscape mit Lastwagen-Hupen und Schiffs- Sirenen 3a) Tuvan Roundup 0:35 “Tuva, Among the Spirits: Sound Music and Nature in Sakha and Tuva” Smithsonian Folkways SFW 40452 3b) World Soundscape Project 1973 “The Vancouver Soundscape“ 0:45 “Eine Klanglandschaft aus Hörnern von Zügen, Schiffen und Gebäuden” (Peter Huse) aus: Klang Wege Kassel 1995 ISBN 3-89117-085-8 Musik 4) Monteverdi: Madrigal “Hor che'l ciel e la terra” Claudio Monteverdi: Madrigal „Hor che’l ciel e la terra e’l vento tace” aus: Madrigali guerrieri et amorosi (1638) Taverner Consort and Players, Andrew Parrott EMI CDC 7 54333 2 (LC6646) 1:07 Musik 5) Shakuhachi „Kokû“ Der leere Himmel (trad./ohne) 0:54 JAPAN Tajima Tadashi, Master of Shakuhachi „Kokû” (“The empty sky”) World Network 32.378 (LC 6759) 21 Musik 6) J.S.Bach Violine Solosonate I Adagio erste + letzte Zeile Rachel Podger, Baroque Violin CHANNEL Classics CCS SEL 2498 (LC4481) Musik 7) CD II 1 Bali Gong Kebyar „Oleg Tambulilingan“ (trad./ohne) Gong Kebyar GUNUNG SARI de Peliatan Bali „Les grands gong kebyar des années soixante“ Jacques Brunet OCORA C650057/58 harmonia mundi (LC7045) Musik 8) Japan Shakuhachi-Flöte „Shika-no-tone“ (trad./ohne) JAPAN Tajima Tadashi, Master of Shakuhachi „Shika-no-tone“ - “Distant calls of deer” World Network 32.378 (LC 6759) 0:34 0:49 3:55