Onkel Bräsig - Jungle World

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# 2006/16 Inland
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Onkel Bräsig
Von Georg Seeßlen
Warum Kurt Beck demnächst Kanzler werden will. Anmerkungen zum
Amtswechsel in der SPD von georg seesslen
Na schön, man soll es nicht übertreiben mit der »Krankheit als Metapher«. Es ist aber
wohl selten jemandem gelungen, ein politisch-moralisches Desaster so konsequent in
körperliche Symptome umzusetzen wie Matthias Platzeck. Alle politisch bedeutenden
Organe sind gleichsam betroffen. In seiner diagnostischen Offenbarung verabsäumte
Platzeck nicht, neben allerlei Hörstürzen und Herzbeschwerden auch den
Nervenzusammenbruch zu erwähnen. Und was dafür verantwortlich war. Nämlich sein
»Rennen gegen die Wand«. Wer oder was mochte diese Wand sein, gegen die ein SPDParteivorsitzender bis zur physischen Auslöschung rennen muss?
Ich jedenfalls habe sie mir sofort als Kurt Beck vorgestellt; nicht einmal so sehr als Person
Kurt Beck, sondern vielmehr als eine allgemeine, dreiste Kurt-Beckhaftigkeit von etwas,
das man nicht mehr eine Partei, sondern allenfalls ein Syndrom, ein Phänomen, eine
Darstellung nennen sollte. Matthias Platzecks Krankheit bestand offenkundig darin,
typisch Ossi, dass er diese SPD mit einer real existierenden Partei verwechselte. Das ist
so, als wollte jemand die Maschinen in einer Fabrik reparieren, die es gar nicht mehr gibt.
So etwas macht natürlich krank. Die Gesunden wissen das, sie sehen aus wie Kurt Beck.
Was ist eine Partei? Eine mehr oder weniger hie­rarchische, mehr oder weniger
demokratische und mehr oder weniger mafiose Organisation (was brauchen wir eine
Basis, wenn wir eine Werbeagentur haben?), die aus einem politischen Milieu, aus einer
politischen Stimmung oder einfach aus politischer Dummheit Macht akkumuliert, um sie
in den »richtigen« Leuten zu bündeln, die sie unter einem gewissen »Programm« und aus
einer gewissen Geschichte heraus in einer gewissen Sprache materiell und körperlich
realisieren sollen.
Man könnte also sagen, die Fabrik produziert ihre Markt-Images, die wiederum die Fabrik
imaginieren. Das sagt sich so leicht. Das Machtgeflecht einer »Partei« im gegenwärtigen
Zustand unserer Republik ist gleichzeitig so fundamental wie eine Kindergartengruppe
und so kompliziert wie eine Aktiengesellschaft. Man kann dieses System weder »denken«
noch »empfinden«; und die einzige Möglichkeit, bei dem Versuch, es doch zu tun, nicht
verrückt zu werden, besteht darin, so vollständig Teil des Systems zu werden, dass ein
Bewusstsein im traditionellen Sinn gar nicht mehr vorkommen kann. Ich und Partei
müssen verschmelzen, so oder so.
Politikerinnen und Politiker ticken nicht viel anders als du und ich, sie wollen’s zu etwas
bringen, sie wollen wer sein und was gelten, mehr als der andere, und ja, mein Gott, ein
bisschen ans Geld darf man auch denken. Was sie allerdings von uns unterscheidet, ist,
dass sie durch ihre Parteien gegangen sind, und die Parteien durch sie. Nicht das Wählen
bestimmt das Gesicht unserer Macht, sondern diese Formung der zu Wählenden durch
ihre Parteien, durch die Machtfabrik, die keine mehr ist.
Die moderne Parteiengeschichte zeichnete sich aus durch eine Spaltung von tatsächlicher
und dargestellter Macht, und paradoxerweise stand immer dann, wenn ein Politiker
sowohl in der Partei als auch in den Regierungen die Macht besaß, nicht etwa politisches
Handeln auf der Agenda, sondern im Gegenteil vollendeter Stillstand. Denn genau in
dieser Balance erschöpfte sich die Macht auch und führte zu ihrem größten Selbstgenuss.
Umgekehrt aber führte die Aufsplitterung in mehrere Machtzentren nicht etwa zu
Neubesinnung oder Rekonstruktion, sondern einfach dazu, dass deren Subjekte so lange
traktiert wurden, bis sie physisch, moralisch oder politisch vernichtet waren. Es gewann
immer derjenige oder diejenige, welche die Dialektik zwischen Kindergartengruppe und
Aktiengesellschaft am besten aushielt und verkörperte.
So wurden jeweils ganz spezifische Politikertypen produziert und auf den immer enger
werdenden Markt geworfen, wo sich Gegensatzpaare wie »ein bisschen mehr links« oder
»ein bisschen mehr rechts«, ein »bisschen neoliberal« oder »ganz und gar neoliberal«,
oder »alt« und »noch älter« gegenüberstanden. Bislang. Mitt­lerweile scheint auch dies zu
anstrengend, für die Wähler wie für die Gewählten. Es werden also neue Gegensatzpaare
aufgetan, Stehen / Sitzen, Mutti / Vati, oder schließlich, ganz wie im Fernsehen, lässt man
uns nur die Wahl zwischen Hysterie und Langeweile. Die Sehnsucht nach Langeweile
scheint derzeit unbändig.
Die Partei also ist das wachsende politische System mit immer weniger politischem Inhalt.
Alle diese Elemente, Milieu, Programm, Geschichte oder Argument, haben sich mehr oder
weniger vollständig fiktionalisiert, nur die Macht ist wirklich geblieben. Halt, nein!
Natürlich auch »die Sprache«. Als Machtklumpen einer Volkspartei muss man natürlich
die Sprache des Volkes sprechen. Die Sprache von Marianne und Michael. Es hat doch
auch keinen Sinn, die Leute in einer Sprache zu belügen, die sie gar nicht verstehen. Aber
ist denn eine Lüge in meiner Sprache überhaupt noch eine Lüge, und wo wäre das
Subjekt, das es besser wüsste? Es ist unsinnig zu behaupten, die Politiker würden das
Volk belügen, es kommt vielmehr darauf an, eine Sprache zu entwickeln, in der die
Wähler und die Gewählten dieselben Bilder entwickeln. In Kosmos und Familie.
Natürlich funktioniert das nur wie Fernsehen, und es funktioniert nur durch das
Fernsehen. Neulich, ein paar Tage vor dem Amtswechsel, war Kurt Beck zu Gast bei
einem fränkischen Kabarettisten, der sich den Namen Erwin Pelzig gegeben hat und der
seine Gegenüber durch eine besonders dröge erscheinende Impertinenz ganz leicht aus
der Spur zu bringen versucht. Kann man machen.
Aber nicht mit Kurt Beck. Dieser Typus des Politikers reagiert nicht mehr, er ist. Er greift
weder an, noch verteidigt er sich, er spricht weder, noch hört er zu. Man weiß nicht
einmal, ob er ganz da ist, jedenfalls ist er auch nicht ganz weg. Er ist einer, der auch live
nur seine Hits reproduziert. Er ist immer bei der Wahl einer Kartoffelkönigin. Er ist unser
aller Leberwurstkönig. So einer ist die einzig vorstellbare Alternative zur derzeitigen
Herrschaft. Der grotesken Herrschaft des alten Mädchens und des Parteisoldaten, die im
Volk von Lummerland, quatsch, von Deutschland, so denkbar gut ankommt und der nun
das erste Opfer gebracht wird. Platzeck, der Gedrängte und Überforderte, der so bewegt
ist, dass er sich in den letzten Jahren mehrfach ein neues Image geben lassen musste, ist
mehr noch Opfer des schon wieder nächsten Politik-Verständnisses. Platzeck war
disloziert. Er und sein Körper waren fremd in Berlin und vor allem in der eigenen Partei.
Einer wie Beck, der trägt seine Heimat mit sich herum, der ist nicht gefährdet. Angela
Merkel musste noch kommen, Kurt Beck ist immer schon da.
Angela Merkel, das alte Mädchen aus dem Osten, war von Beginn an ortlos. Sie konnte
nur ganz Lumm… ganz Deutschland bekommen oder gar nichts, sie war ja nirgends
daheim außer in sich selbst. Daher war sie auch, was das anbelangt, so perfekt für die
neue Harmonisierung ohne Inhalt. Kurt Beck ist die genaue Umkehrung: Wo Angela
Merkel nirgendwo ganz bei sich ist, da ist er es überall, wo sie zu Ordnung und Harmonie
mahnt, da behauptet er, es habe ohnehin nie daran gefehlt, wo Angela Merkel dienen will,
da will Beck mitfeiern.
Den eifrigen Jungen haben wir weggeschickt vom Fest des alten Mädchens. Seinen Platz
nimmt Kurt Beck ein, der Onkel. Nein, nicht dieser Onkel, den wir kaum ertragen, der
schlechte Witze sammelt, vom Krieg erzählt, noch einen Schnaps verlangt und die
Mädchen begrapscht, auch nicht der Lieblingsonkel, mit dem man was anstellen kann und
der dir genau das Geschenk mitgebracht hat, an das deine Eltern nie gedacht hätten. Es
ist der dazwischen, der es sich gleich gemütlich macht, der mit niemandem Streit
bekommt, über den man hinwegsehen könnte, würde er nicht die Kunst beherrschen,
irgendwie immer da zu sein, eigentlich im Weg, aber bei seiner verbindlichen Art würde
man das nie so sagen. Wenn dieser Onkel redet, ist es wie ein freundliches
Grundrauschen, es ist so vollständig ohne Inhalt, dass es die Aufmerksamkeitsschwelle
unterläuft, wenn tatsächlich einmal eine Bedeutung darin steckt.
Er hat das Tafelsilber der Familie verhökert, wirft die Gesundheitsvorsorge hinterher – weil
einfach niemand schaut, was er wirklich macht. Niemand möchte ein Gespräch mit ihm
führen, aber alle sind froh, wenn er das peinliche Schweigen mit seinem selbstgefälligen
Gemurmel füllt. Es ist Onkel Bräsig, der gute. Wenn Onkel Bräsig da ist, dann wird das
Familienfest nicht zur Katastrophe, dann ist auch das alte Mädchen zufrieden, es bleibt ihr
ja nichts anderes übrig. Onkel Bräsig, man sieht es ihm vielleicht nicht an, macht alles,
was sie machen würde. Nur schneller. Und gemeiner.
Als »volksnah und gemütlich« bezeichnete ihn das österreichische Radio. Und als einen
»nicht nur vom Äußeren standfesteren Sozialdemokraten«. So was kommt eben aus einer
politischen Kultur, in der die Hysteriker das Sagen haben. Onkel Bräsig, das stand schon
vor dem Zusammenbruch Platzecks fest und nach der Wahl sowieso, würde genauso zäh
und unaufgeregt, nein, noch zäher und noch unaufgeregter nach der Macht streben, wie
das alte Mädchen sie sich erobert hatte. Man hat ja Zeit. Denn was schief gehen kann,
geht schief, und dann ist der dicke Langweiler die Erlösung.
Das Entscheidende ist diese beleibte Theorie-, um nicht zu sagen Gedankenlosigkeit, die
ankommt in der Zeit, in der das alte Mädchen und der Parteisoldat für Ruhe im Land
gesorgt haben. Wenn alle zufrieden scheinen, dann kann man wohl keinen Spielverderber
aufs Feld schicken, dann muss man einen nehmen, der noch viel zufriedener ist.
»Ideologische Argumentationen kann er nicht ertragen«, heißt es in der Berliner
Morgenpost, »Parteilinken wie Grünen begegnet er skeptisch.« Er selber beschreibt sich
als »nah bei den Leuten«, und seine öffentlichen Auftritte haben meistens mit
irgendwelchen Festen zu tun. Beim »Miteinander« ist er da, nicht beim Gegeneinander.
Wo »keine Ideologie« draufsteht, da ist das fundamentalste Einverständnis drin. Wo
»keine Argumentation« draufsteht, da ist kritiklose Gemütlichkeit die erste Bürgerpflicht.
Direkt aus dem Volksparteienstadel: die politikfreie Politik! Endlich auch kann die SPD
richtig feiern. Weil unter Onkel Bräsig garantiert keine Sozialdemokraten mehr stören.
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