109 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren 9.1 Einleitung Ätiopathogenese. Amino- und Organoazidopathien werden durch autosomal rezessiv vererbte Enzymdefekte im Abbau der Aminosäuren verursacht. Unterschiedliche Karbonsäuren (Aminosäuren und ninhydrinnegative organische Säuren) stauen sich an und wirken oft neurotoxisch oder auch hepatotoxisch. Die klinische Symptomatik wird bestimmt durch: Q Ausmaß und Dauer der Proteinzufuhr bzw. des endogenen Proteinabbaus (im Rahmen eines Gewebekatabolismus, z. B. bei Operationen, interkurrenten Infekten, Nahrungsverweigerung, Erbrechen, oder auch bei Eiweißexzessen), Q durch den Schweregrad des Enzymdefekts und Q die spezifische Toxizität der Metaboliten. erfolgreich praktiziert, sodass jetzt zunehmend früh diagnostizierte und erfolgreich behandelte junge Erwachsene, zunächst mit Phenylketonurie, aus ihrer bisherigen Betreuung in pädiatrischen Zentren in die „Erwachsenmedizin“ wechseln müssen. 2002 wurde der Untersuchungsumfang des Neugeborenenscreenings mit der Tandemmassenspektroskopie auf mehr als 20 ebenfalls behandelbare genetische Erkrankungen, unterschiedliche Aminoazidopathien, Organoazidopathien sowie Fettsäurenoxidations- und Carnitinstoffwechseldefekte, erweitert (Schulze et al. 2003). 9.2 Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämien Definition Einteilung. Die allenthalben übliche Unterteilung spiegelt primär die historische Entwicklung der klinisch-chemischen Analytik wieder: Q Aminosäuren waren seit den späten 40er-Jahren durch die Ninhydrinreaktion gut nachzuweisen, was zur Entdeckung der Aminoazidopathien führte. Durch den Einsatz gaschromatographischer Methoden, insbesondere in Kombination mit massenspektrometrischer Detektion, wurden Verbindungen ohne Aminogruppe empfindlich nachweisbar, eindeutig identifizierbar und quantifizierbar. Q Seit den 70er-Jahren konnten bei vielen Erkrankungen pathognomonisch erhöhte organische Säuren nachgewiesen werden. Diese Erkrankungen werden als Organoazidopathien bezeichnet. Sie zeigen meist zusätzlich diagnostische Erhöhungen spezifischer Acylcarnitine, die sich in allen Körperflüssigkeiten mit der Tandemmassenspektroskopie gut nachweisen lassen. Neugeborenenscreening. Bei Amino- und Organoazidopathien sind betroffene Kinder bei Geburt unauffällig, allerdings oft nur für wenige Tage. Da sich bleibende Schäden nur verhindern lassen, wenn die Behandlung noch vor den ersten Symptomen einsetzt, ergab sich die Notwendigkeit zur Untersuchung aller Kinder gleich nach der Geburt – also ein Screening aller Neugeborenen. In den 60er-Jahren wurde durch die Initiativen des Pädiaters Horst Bickel in der Bundesrepublik Deutschland und des klinischen Genetikers Alwin Knapp in der ehemaligen DDR das Neugeborenenscreening auf die wichtigste Aminoazidopathie, die Phenylketonurie, flächendeckend eingeführt (Hoffmann u. Machill 1994). Seit über 30 Jahren wird in den deutschsprachigen Ländern das Neugeborenenscreening Die Phenylketonurie (PKU) ist mit einer Inzidenz von ca. 1 : 10 000 die häufigste genetische Krankheit des Aminosäurenstoffwechsels. Ursache ist ein autosomal rezessiv vererbter Defekt des Enzyms Phenylalaninhydroxylase. Infolge des Enzymblocks kommt es zu einer exzessiven Erhöhung der Aminosäure Phenylalanin im Körper (Hyperphenylalaninämie). Ohne Behandlung entsteht eine schwere Entwicklungsstörung des Gehirns mit den Leitsymptomen geistige Behinderung, Mikrozephalie, Epilepsie und erethischem, aber auch ängstlich zurückgezogenem Verhalten. Aufgrund des flächendeckenden Neugeborenenscreenings wird heute frühzeitig eine phenylalaninarme diätetische Behandlung der Patienten erreicht und die Patienten entwickeln sich weitgehend normal. In Einzelfällen wurden spät auftretende neurologische Störungen beobachtet. Epidemiologie Die Inzidenz der PKU-Formen Typ I und II (Tabelle 9.2) beträgt weltweit durchschnittlich 1 : 12 000 Neugeborene mit einer Spannbreite von 1 : 1 000 000 in Finnland bis zu 1 : 2500 in der Türkei (Beaudet et al. 2001). Die Inzidenz für Typ III beträgt 1 : 22.200, für die BH4-Kofaktordefekte 1 : 1 000 000 (Blau et al. 2001). In Deutschland beträgt die Inzidenz der Hyperphenylalaninämien 1 : 6630; Typ I oder Typ II 78,7 %, Typ III 21,0 %, BH4-Kofaktordefekte 0,3 % (Hoffmann u. Machill 1994). Daten des statistischen Bundesamtes erlauben es, die Prävalenz der PKU in Deutschland abzuschätzen. Über die Inzidenz der Tetrahydrobiopterin-(BH4-)responsiven Form der auf einem Hydroxylase-Mangel beruhenden Phenylketonurie ist bislang wenig bekannt. Muntau et al. (2002) schätzen, dass bei über 80 % der Patienten mit PKU Typ II eine Behandlung mit BH4 erfolgreich sein könnte. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. G. F. Hoffmann, P. Burgard, J. Pietz 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Aus der Inzidenz und dem Erbgang lässt sich für Deutschland eine Heterozygotenprävalenz von 1 : 40 schätzen. Derzeit leben in Deutschland ca. 6300 behandlungsbedürftige Personen, die vor (d. h. in der Regel ohne rechtzeitige Indikationsstellung) und ca. 3400 Personen, die nach Einführung des Screenings geboren wurden. Pathophysiologie und Genetik Genetik Die von Følling (1934) erstmals beschriebene PKU ist durch einen autosomal rezessiv vererbten Defekt des Enzyms Phenylalaninhydroxylase (Enzym Kommission 1.14.16.1) verursacht (Abb. 9.1). Die Phenylalaninhydroxylase (PAH) ist auf dem langen Arm von Chromosom 12 kodiert. Derzeit sind rund 477 verschiedene Mutationen bekannt (PAH Locus Knowledgebase: http://www.pahdb.mcgill.ca). Phenylalaninanreicherung, Tyrosinverarmung Die in der Leber exprimierte PAH katalysiert die Umwandlung der essenziellen Aminosäure Phenylalanin zu Tyrosin. Die Residualaktivität und die daraus resultierende für die Therapie bedeutsame Phenylalanintoleranz ist mit unterschiedlichen Mutationen korreliert (Guldberg et al. 1998). Bei der klassischen PKU ist Phenylalanin im Blut und in Körpergeweben postnatal exzessiv erhöht. Parallel entwickelt sich ein relativer Tyrosinmangel. Tyrosin ist bei Menschen mit PKU eine semiessenzielle Aminosäure. Abb. 9.1 Stoffwechsel von Phenylalanin und Tyrosin; BH4 = Tetrahydrobiopterin, Kofaktor der PAH, NTBC = 2-(2-Nitro-4-Trifluoromethylbenzoyl)-1,3-Cyclohexadion. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 110 9.2 Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämien Obwohl die molekularen Grundlagen der PKU mittlerweile gut aufgeklärt sind, sind die pathophysiologischen Mechanismen, die zur Hirnfunktionsstörung und Schädigung führen, weitgehend ungeklärt. Dies betrifft sowohl die strukturell-morphologische Schädigung des Gehirns bei unbehandelten oder ungenügend behandelten Patienten, die möglichen Langzeiteffekte erhöhter Phenylalaninspiegel (nach Diätbeendigung) auf das bei früh behandelten Patienten weitgehend normal entwickelte Gehirn wie auch den aktuell „toxischen“ Einfluss erhöhter Phenylalaninspiegel auf die Hirnfunktion. Störung der Proteinbiosynthese. Als eine wichtige Ursache der gestörten Gehirnentwicklung bei der unbehandelten PKU wird eine Störung der Proteinbiosynthese angenommen. Dem Gehirn stehen weniger essenzielle Aminosäuren zur Verfügung, weil deren Einstrom über die Blut-Hirn-Schranke gehemmt wird. Der Influx der großen neutralen Aminosäuren vom Blut in das Gehirngewebe erfolgt durch ein im Kapillarendothel lokalisiertes, Na-unabhängiges Transportersystem. Die großen neutralen Aminosäuren konkurrieren kompetitiv um diesen Transporter. Da Phenylalanin die höchste Affinität aufweist, verursachen Erhöhungen der Plasmakonzentration von Phenylalanin Erniedrigungen der anderen Aminosäuren im Gehirngewebe. Die Fluxraten einiger Aminosäuren gehen bereits bei Plasma-Phenylalaninkonzentrationen ≥ 500 μmol/l dramatisch zurück. Die resultierende Störung der Proteinsynthese wurde tierexperimentell und in vitro belegt (Hughes u. Johnson 1978), wobei sich die Effekte bei zusätzlicher Zufuhr der anderen Aminosäuren selbst unter gleich bleibend hohen Konzentrationen von Phenylalanin fast vollständig zurückbildeten. Störung der Neurotransmittersynthese. Zu den über das gemeinsame L-Transportersystem an der Blut-HirnSchranke in das Gehirn transportierten großen neutralen Aminosäuren zählen die Neurotransmittervorläufer Tyrosin und Tryptophan. Zusätzlich hemmen Phenylalanin und auch der Phenylalaninmetabolit Phenylbrenztraubensäure konzentrationsabhängig enzymatische Reaktionen bei der Bildung von Dopamin und Serotonin. Unbehandelte Patienten haben im Liquor entsprechend verminderte Konzentrationen der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin sowie deren Abbauprodukte (McKean 1972). Eine Störung der Neurotransmittersynthese wird im Rahmen der Dopaminmangelhypothese (Butler et al. 1981) vor allem für neuropsychologisch fassbare Defizite verantwortlich gemacht (Güttler u. Lou 1986, Welsch et al. 1990, Diamond 1994). bilisierung des Myelins beteiligt sind, führt deren verminderte Bildung zu einer Destabilisierung und zu einem erhöhten Myelinumsatz. Als Nettoeffekt resultiert eine Hypo- bzw. Dysmyelinisierung. Immunhistochemische Studien belegten, dass bei erhöhtem Phenylalanin myelinisierende Oligodendrozyten den Phänotyp nichtmyelinisierender Oligodendrozyten annehmen (Dyer et al. 1996). Neuropathologie Der häufigste grobmorphologische Befund der Gehirne unbehandelter PKU-Patienten ist eine ausgeprägte Reduktion des Hirngewichts, die Ursache der klinisch beobachteten Mikrozephalie. Veränderungen an der weißen Substanz. Dem liegt vor allem eine Reduktion der weißen Substanz mit Vakuolisierungen und gliöser Umwandlung bis zur fast vollständigen Rarefizierung zugrunde (Malamud 1966, Crome u. Stern 1972). Es besteht ein verändertes Lipidmuster, insbesondere eine Reduktion von Proteolipiden und Cerebrosiden. Zusätzlich zu diesen diffusen Störungen der Gehirnbinnenstruktur werden fokale Veränderungen nachgewiesen, die aber meist nicht auf die Grundkrankheit, sondern auf iktale Schädigungen bezogen werden. Zusätzlich beobachten mehrere Autoren bei einzelnen, in der Regel älteren Patienten, eine symmetrische Demyelinisierung des Marklagers der Hemisphären und des Kleinhirns. Bei Patienten, die an einer spastischen Paraparese litten, wurde zusätzlich eine spinale Degeneration der Pyramidenbahn zusammen mit anderen fokalen Degenerationsherden beschrieben. Unklar ist, warum die Myelinisierung peripherer Nerven verhältnismäßig wenig beeinträchtigt ist. Veränderungen an der grauen Substanz. Neben den Veränderungen der weißen Hirnsubstanz werden eher diskrete, entwicklungsbezogene Veränderungen in der kortikalen grauen Substanz beschrieben. Reduziertes Zellwachstum mit insgesamt verminderter Axonaussprossung und Synapsenbildung wurde in neuropathologischen Untersuchungen an unbehandelten PKU-Patienten nachgewiesen und wird als wichtiges Substrat der bleibenden geistigen Behinderung gewertet (Kornguth et al. 1992). Die Neuronenzahl scheint im Vergleich zu der sehr ausgeprägten Arborisierungsstörung eher diskret und diffus reduziert zu sein (Crome u. Stern 1972). Neuropathologische Befunde zu frühzeitig behandelten Patienten mit PKU liegen nicht vor. Klinik Unbehandelte Phenylketonurie Erhöhter Myelinumsatz. Erhöhte Phenylalaninspiegel führen zu einem erhöhten Umsatz von Myelin und Myelinproteinen (Hommes et al. 1982). Als Ursache wurde von Hommes und Matsuo (1987) die direkte Hemmung eines in den Oligodendrozyten lokalisierten Enzymsystems, einer ATPSulfurylase, nachgewiesen. Da Zerebrosulfatide an der Sta- Neugeborene Kinder mit PKU erscheinen unauffällig. Als erstes klinisches Symptom der unbehandelten PKU fällt der durch Phenylessigsäure verursachte „mäuseartige“ Geruch auf. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Hirnfunktionsstörung 111 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Tabelle 9.1 Vergleich der Symptome bei unbehandelter und früh behandelter Phenylketonurie (PKU) Konstitutionelle Auffälligkeiten Mentale Entwicklung Neurologische Symptome Unbehandelte PKU % Früh behandelte PKU hypopigmentierte, helle Haut, blondes Haar, blaue Skleren „mäusekotartiger“ Geruch 80 – 100 keine neurodermatitisartige Ekzeme 25 nach Diätbeendigung bei Erwachsenen schwere Intelligenzminderung, IQ überwiegend < 40, im Erwachsenenalter meist Heimunterbringung 98 Intelligenz in Abhängigkeit von Diätbeginn und Strenge der Diät in der Kindheit normal bis leicht erniedrigt (–0,5 bis –1 SD) % 10 Schulprobleme und Konzentrationsstörungen 20 Mikrozephalie 70 – 90 Steigerung von Muskeltonus und Muskeleigenreflexen, Klonus 70 lebhafte bis gesteigerte Muskeleigenreflexe <5 choreiforme und hyperkinetische Bewegungsstörungen 10 „Clumsiness“, Koodinationsstörungen 5 – 10 Hypotonie 10 Ataxie 0–5 Tremor 30 geringer feinschlägiger Tremor 10 – 20 Optikusatrophie 5 Epilepsie, bei Erwachsenen meist Grand Mal 20 im mittleren Erwachsenenalter progrediente neurologische Störung mit vollständigem mentalem Abbau, spastischer Di- oder Tetraparese, Athetose 5 in Einzelfällen beschriebene neurologische Störungen mit mentalem Abbau, Pyramidenbahnläsion < 0,1 schwere erethische Verhaltensstörung mit Aggressivität, Autismus, Neigung zur Selbstverletzung, Angststörungen 50 – 90 Depressivität, emotionale und Persönlichkeitsstörungen (wohl nicht auf „biologische“ Ursachen zu beziehen) 10 – 20 ZNS-Symptome. Ohne Behandlung führt die PKU rasch zu einer schweren Entwicklungsstörung des Gehirns mit Mikrozephalie (Tab. 9.1). Ab etwa dem 3. Lebensmonat wird ein Stillstand der psychomotorischen Entwicklung beobachtet. Dazu können, ebenfalls schon im Säuglingsalter, epileptische Anfälle kommen, oft in Form der BNS-Epilepsie, die zu Beginn des Erwachsenenalters spontan sistieren können. Im Kindesalter weisen fast alle unbehandelten Patienten pathologische EEG-Veränderungen auf. Es dominieren epileptiforme Potenziale und eine Verlangsamung der Grundaktivität. Ab dem Jugendalter zeigen sich meist erethisches, aggressives und autistisch erscheinendes Verhalten sowie ausgeprägte Stereotypien. Bei der Mehrzahl der jugendlichen und erwachsenen Patienten resultiert eine irreversible schwere geistige Behinderung mit Intelligenzquotienten unter 40. Motorisches System. Schon beim Säugling können – eher unspezifische – Symptome wie Hyperexzitabilität oder Bewegungsarmut und Muskelhypotonie beobachtet werden. Störungen des motorischen Systems werden in der Regel erst ab dem 2. oder 3. Lebensjahrzehnt beobachtet. Pedersen und Birket-Smith (1974) beschrieben uni- oder bilaterale Steigerungen der Muskeleigenreflexe, Spastik, Paraund Hemiparesen, Hypotonie und Optikusatrophie bei einzelnen unbehandelten Erwachsenen mit PKU. Weitere Symptome. Nicht auf das ZNS bezogene Symptome der PKU sind eher geringfügig. Beim Säugling kann es zu gehäuftem Erbrechen kommen. Die Störung der Melaninsynthese bewirkt bei unbehandelten Patienten eine helle Pigmentierung der Haut, blaue Augen und blonde Haare. Oft schon im Säuglingsalter oder aber nach Beendigung der Diätbehandlung mit dann stark ansteigender Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 112 9.2 Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämien Spät behandelte Phenylketonurie Nach der Beschreibung einer wirksamen Therapie 1954 durch Horst Bickel (Bickel et al. 1954) wurde die Diätbehandlung oft bei vorgeschädigten Patienten während der ersten Lebensjahre begonnen. Spätbehandlung bei Kindern (nach dem 3. Lebensmonat) wird heute in Deutschland nur noch von Migrantenfamilien aus Ländern ohne Neugeborenenscreening gesehen. Bei spät behandelten Patienten werden die bei unbehandelten Patienten gesehenen Symptome in abgeschwächter Form beobachtet. Leitsymptome sind hier in der Regel gesteigerte Muskeleigenreflexe, Tremor, reduzierte Leistungen in Intelligenztests, Angstsymptome, soziale Zurückgezogenheit und Erethismus. Die Patienten profitieren von der Diät, indem die Epilepsie sistiert und sich die Verhaltensstörungen und teilweise auch die kognitiven Fähigkeiten bessern. Die aufgrund der Entwicklungsstörung des Gehirns bestehende geistige Behinderung ist aber nie vollständig rückbildungsfähig. Die Behandlung vorgeschädigter Patienten jenseits des Kleinkindesalters wirkt zwar im Allgemeinen nicht auf die intellektuellen Beeinträchtigungen, Einzelfallberichte belegen jedoch, dass sich neurologische Symptome und Verhaltenauffälligkeiten unter Diät verbessern können. Gemessen am großen Aufwand, den hohen Kosten, die eine konsequente Diätführung verlangen, sowie den Widerständen durch die Patienten selbst, werden die sich einstellenden Verbesserungen von den Familien häufig als nicht ausreichend angesehen und Diätversuche deshalb häufig wieder abgebrochen. Früh behandelte Phenylketonurie Nach früh eingeleiteter Diätbehandlung verläuft die psychomotorische Entwicklung weitgehend normal (Tab. 9.1). Neben dem Zeitpunkt des Diätbeginns ist die Qualität der Diätführung, d. h. die Höhe der Phenylalaninblutspiegel im Verlauf der Therapie, von entscheidender prognostischer Bedeutung. Bei fast allen Patienten kommt es im Verlauf des Lebens aufgrund nachlassender Compliance zu einem kontinuierlichen oder auch in Sprüngen verlaufenden Anstieg der Phenylalaninkonzentration im Blut (Walter et al. 2002). Die im Kindesalter von den Eltern meist recht konsequent durchgesetzte diätetische Ernährung wird beim Übergang ins Jugend- und Erwachsenenalter von vielen Patienten stark gelockert, häufig auch ganz verlassen. Intelligenz und Neuropsychologie. Der Beginn der Behandlung innerhalb der ersten 4 Lebenswochen ist die wichtigste Voraussetzung für eine normale Intelligenzentwicklung. Für jeden weiteren Aufschub um einen Monat ist der IQ im Alter von 4 Jahren um 0,25 SD erniedrigt (Smith et al. 1990). Eine Metaanalyse großer Längsschnittstudien zur Intelligenzentwicklung früh behandelter Patienten (Burgard 2000) ergab, dass Q ein mittlerer Phenylalaninblutspiegel ≤ 400 μmol/l während der Kindheit eine normale Intelligenzentwicklung ermöglicht, Q im Vorschulalter jede darüber hinaus gehende Erhöhung des Phenylalaninblutspiegels um je 300 μmol/l eine Reduktion des IQ um 0,5 SD nach sich zieht, Q der Phenylalaninblutspiegel nach dem 10. Lebensjahr auch bei Diätabbruch keinen Effekt auf den IQ hat. Die Ergebnisse neuropsychologischer Untersuchungen an PKU-Patienten sind nicht eindeutig (Waisbren et al. 1994). Mit Ausnahme von Wahlreaktionszeiten wurden alle untersuchten Variablen (höhere kognitive Funktionen, Motorik, exekutive Funktionen, Gedächtnis, Einfachreaktionszeit, Daueraufmerksamkeit, visuomotorische Leistungen) sowohl intakt als auch beeinträchtigt beschrieben. Die Divergenz der Befunde beruht auf unterschiedlichen Phenylalaninblutspiegeln der Untersuchungsteilnehmer, den jeweils verwendeten Instrumenten sowie unterschiedlichen Fallzahlen. Eine Metaanalyse der Ergebnisse von 10 Studien, in denen mit computergestützten Verfahren Wahlreaktionszeiten von PKU-Patienten mit gesunden Kontrollpersonen verglichen wurden, ergab Reaktionszeitverlängerungen von 190 ms bei Kindern (7 – 10 Jahre), 80 ms bei Jugendlichen (13 – 16 Jahre) und 170 ms bei Erwachsenen (17 – 25 Jahre). Im Mittel waren alle Patienten verlangsamt, wobei der Zusammenhang zwischen der Verlangsamung und dem aktuellen Phenylalaninblutspiegel mit dem Alter abnahm. Regressionsanalysen sagen in allen Altersgruppen für Blutspiegel um 360 μmol/l weitgehend normale Reaktionszeiten vorher. Auch nach lang andauernd hohen Phenylalaninkonzentrationen zeigt sich eine Reversibilität der Verlangsamung nach Absenkung des Blutspiegels (Schmidt et al. 1994). Psychiatrische Auffälligkeiten. In Studien zu früh behandelten Patienten (Überblick bei Smith 2000) zeigten sich in allen Altersgruppen doppelte Raten für introversive Symptome (depressive Verstimmung, Ängste, Kontaktstörungen, Selbstwertprobleme) und Aufmerksamkeitsstörungen. Expansive Störungen (dissoziales und aggressives Verhalten) sind bei PKU-Patienten eher selten. Verhaltensauffälligkeiten sind häufiger bei IQ-Werten ≤ 90 sowie bei Risikobedingungen wie häufigen Krankenhausaufenthalten, Schulwechseln, elterlichen Eheproblemen, Trennung von den Eltern, der Anwesenheit weiterer chronisch kranker Familienmitglieder, niedriger sozialer Schicht und einem kontrollierenden Erziehungsstil zu beobachten. Die Alltagsrelevanz der Befunde wird allgemein als eher gering eingestuft (Burgard et al. 1994, Pietz et al. 1997, Lundstedt Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Phenylalaninkonzentration im Blut entstehen ekzemartige Hautveränderungen, die auf die Einwirkung von Phenylalaninmetaboliten zurückgeführt werden (Knox 1972). Unbehandelte erwachsene Patienten werden in Behandlungszentren der Stoffwechselmedizin selten gesehen. Diese Patienten leben in der Regel in Heimen und anderen Einrichtungen für schwerstbehinderte Menschen. 113 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren et al. 2001, Sullivan 2001, Landolt et al. 2002). Hinsichtlich der Ätiologie muss eine kombinierte Wirkung psychosozialer und neurobiologischer Faktoren angenommen werden. Zum Einfluss des aktuellen Phenylalaninspiegels auf das Verhalten liegen 2 Doppelblindstudien mit kleinen Stichproben vor. Bei Adoleszenten und Jugendlichen wurden keine Veränderungen während und nach der experimentellen Variation des Phenylalaninspiegels beobachtet (Griffiths et al. 1997). Vorschulkinder zeigten lediglich in der Phase des Blutspiegelanstiegs Symptome wie Lethargie und Hyperaktivität, die sich jedoch nach einigen Tagen wieder zurückbildeten (Frankenburg et al. 1973). Im Vergleich zu Patienten mit Diabetes mellitus Typ I konnten Weglage et al. (2000) keine Unterschiede im Verhalten und Erleben beobachten. Allerdings zeigten beiden Gruppen gegenüber der Norm signifikant erhöht introversive Symptome. Neurologie. Verlässliche Daten zu früh behandelten Patienten mit PKU liegen aus historischen Gründen (Beginn des Neugeborenenscreenings und frühe Behandlung) derzeit nur bis in die mittlere Lebensspanne vor. Die meisten Patienten zeigen im Erwachsenenalter einen normalen klinisch-neurologischen Status. In Querschnittstudien kommen nur die folgenden Symptome häufiger vor: Q feinschlägiger Halte- und Aktionstremor, Q eher gering ausgeprägte motorische Koordinationsstörungen, Q vereinzelt gesteigerte Muskeleigenreflexe insbesondere an der unteren Extremität. Bei Patienten, deren Diätbehandlung verspätet eingeleitet oder unzureichend streng durchgeführt wurde, scheinen solche Symptome wie auch Pyramidenbahnzeichen vermehrt vorzukommen. Hinweise für eine späte neurodegenerative Entwicklung bei Patienten, die in der Kindheit streng behandelt wurden, im Jugendalter die Diät aber beendet haben, gibt es bisher nicht. In Einzelfallberichten wurden progrediente neurologische Störungen beschrieben, die in einen kausalen Zusammenhang mit der meist im Jugendalter einsetzenden Diätlockerung oder Diätbeendigung oder schlechter Compliance im Kindesalter gestellt werden. Die Symptomatik ähnelt der bei unbehandelten, geistig behinderten Patienten beschriebenen neurologischen Verschlechterung im Erwachsenenalter mit spastischen Paresen, ausgeprägtem Tremor, Epilepsie und mentalem Abbau. PKU der Eltern Maternale PKU. Die maternale PKU ist eine Schädigung in utero. Bei Schwangeren mit PKU geht der Blutspiegel der Mutter diaplazentar – um den Faktor 1,5 erhöht – auf das ungeborene Kind über. Auch wenn das Ungeborene in der Regel selbst nicht homozygot für PKU ist, entstehen Embryo-Fetopathien, die denen der Alkoholembryofetopathie vergleichbar sind. Die Risiken des Kindes bei mütterlichen Phenylalaninspiegeln > 1200 μmol/l während der gesamten Schwangerschaft liegen bei (Lenke u. Levy 1980): Q 92 % für geistige Behinderung (Normalbevölkerung 5 %), Q 73 % für Mikrozephalie (4,8 %), Q 40 % für intrauterine Dystrophie mit Geburtsgewicht < 2500 g (9,6 %) und Q 12 % für angeborene Herzfehler (0,8 %). Eine Senkung des mütterlichen Phenylalaninspiegels auf ein Niveau zwischen 60 und 360 μmol/l bereits vor der Konzeption und im gesamten Schwangerschaftsverlauf ist deshalb für eine normale prä- und postnatale Entwicklung streng indiziert (Trefz et al. 1995, American Academy of Pediatrics 2001, Koch et al. 2003). Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist die Prognose als sehr gut anzusehen. Paternale PKU. Ist der Vater homozygot für PKU (paternale PKU), sind keine nachteiligen Folgen zu erwarten (Fisch et al. 1991). Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung Neben dem Phenylalaninhydroxylase-Defekt existieren mit einer wesentlich geringeren Inzidenz verschiedene erbliche Störungen der Synthese oder der Reduktion des Phenylalaninhydroxylase-Kofaktors Tetrahydrobiopterin (Abb. 9.1; Kap. 7). Die entsprechenden Gene sind auf den Chromosomen 4, 10, 11 und 4 lokalisiert). Die resultierende Hyperphenylalaninämie ist variabel ausgeprägt. Klinisch resultiert eine neurodegenerative Erkrankung mit extrapyramidalen Bewegungsstörungen und einer schweren Epilepsie, die unbehandelt im Kindesalter tödlich verläuft. Diagnostik Neugeborenenscreening. Die Entwicklung eines einfach durchzuführenden mikrobiologischen Hemmtests durch Guthrie und Susie (1963) ermöglichte, die PKU bereits kurz nach der Geburt in einem generellen Screening aller Neugeborenen zu diagnostizieren. Hierzu wird dem Säugling in den ersten Lebenstagen eine Blutprobe aus der Ferse entnommen und auf Filterpapierkarten in spezielle Screeninglabors verschickt. Flächendeckend wird dieses Screening in Deutschland seit 1969 durchgeführt. Grenzwert für weitere diagnostische Maßnahmen ist ein Blutspiegel > 150 μmol/l (Hoffmann et al. 1994). Behandlungsbedürftig sind Neugeborene mit Blutspiegeln über 600 μmol/l. Diagnosebestätigung. Die Diagnose wird durch Bestimmung der Aminosäuren im Plasma (erhöhtes Phenylalanin und erniedrigtes Tyrosin) bestätigt. Verschiedene Schweregrade sind durch unterschiedlich schwere Mutationen (variable Restaktivitäten des Enzyms) erklärlich (Tab. 9.2). Unterhalb von 600 μmol/l (10 mg%) liegt eine persistierende, nicht diätpflichtige Hyperphenylalaninämie (milde Hyperphenylalaninämie) vor. In der klinischen Praxis bestimmt die Höhe des Phenylalaninblutspiegels ohne Behandlung die Therapieindikation. Dazu werden Maximal- Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 114 9.2 Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämien Tabelle 9.2 115 In Deutschland unterschiedene Schweregrade der Phenylketonurie (PKU) nach Schmidt et al. 1989 Differenzialdiagnose Restaktivität der PAH in vivo* (enzymatischer Phänotyp) Phenylalaninblutspiegel bei standardisierter Proteinbelastung** (metabolischer Phänotyp) Phenylalanintoleranz im Alter von 5 Jahren Therapieempfehlung*** Typ I klassische PKU <1% > 1200 μ mol/l < 21 mg/kg/d lebenslange Behandlung Typ II milde PKU 1–3 % 600 – 1200 μ mol/l 21 – 50 mg/kg/d Behandlung im Kindesund Jugendalter Typ III Non-PKU-HPA >3% < 600 μ mol/l > 115 mg/kg/d Behandlung nur bei maternaler PKU genetische Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung (BH4-Kofaktor) sekundäre Phenylalaninerhöhungen Tyrosinämien Q Frühgeburtlichkeit Q Leber- oder Nierenversagen Q Einnahme von Trimethoprim Q Zytostatikatherapie * = Leberbiopsie, ** = Schmidt et al. 1989, *** = entsprechend den Empfehlungen der APS (Burgard et al. 1999) werte des Phenylalaninspiegels während einer standardisierten Proteinbelastung oder im klinischen Verlauf bestimmt. Standardisierte Eiweißbelastungen und Bestimmungen der Phenylalanintoleranz sind sehr aufwendig und erfordern einen mehrtägigen stationären Krankenhausaufenthalt. Häufig wird die Differenzialdiagnose (s. u.) deshalb im Verlauf der Behandlung (ex juvantibus) abgeschätzt und durch eine genetische Diagnostik ergänzt. Für die häufiger vorkommenden Mutationen sind Korrelationen mit dem Phänotyp bekannt (Guldberg et al. 1998). Die Enzymaktivitätsbestimmung mithilfe einer Leberbiopsie ist nie indiziert. PKU-Einteilung. Die Einteilung der PKU ist international uneinheitlich: die Diagnose „Non-PKU-HPA“ wird in Großbritannien „atypische milde PKU“ genannt (jedoch mit der Obergrenze 900 μmol/l); in Dänemark wird zwischen klassischer und milder PKU eine moderate Form unterschieden (Guldberg et al. 1995). Die Non-PKU-HPA wird teilweise auch als milde Hyperphenylalaninämie (MHP) bezeichnet. Seit kurzem wird auch eine Tetrahydrobiopterin-(BH4-)responsive Form der auf einem PhenylalaninhydroxylaseMangel beruhenden Phenylketonurie unterschieden (Erlandsen u. Stevens 2001, Muntau et al. 2002), bei der das Hydroxylasedefizit durch eine erhöhte orale Gabe von BH4 (partiell) ausgeglichen werden kann. Gesicherte Langzeitbefunde zur Behandlung mit BH4 liegen jedoch noch nicht vor. Die Uneinheitlichkeit der Nomenklatur ist für die Evaluation der Behandlung bedeutsam, da Stichproben mit gleicher Bezeichnung Patienten mit unterschiedlichen metabolischen Phänotypen enthalten können. Magnetresonanztomographie. Die ersten auffälligen MRT-Befunde wurden bei Patienten beobachtet, die aufgrund klinisch-neurologischer Störungen untersucht wurden (Villasana et al. 1989, Thompson et al. 1990). Vor allem in T2-gewichteten Bildern zeigten sich Signalanhebungen im Marklager. Das Maximum lag im Parietal- und Okzipitallappen. Die MRT-Befunde wurden zunächst in den Kontext der neurologischen Symptome gestellt und als Zeichen einer aktiven Demyelinisierung interpretiert. Früh behandelte Patienten ohne neurologische Störungen zeigen jedoch vergleichbare MRT-Befunde (Thompson et al. 1993) (Abb. 9.2). Ein Bezug zum Mutationstyp ist nicht belegt (Walter et al. 1993). Neurophysiologische Untersuchungen (VEP, SEP, NLG, TKMS) zeigten keinen Zusammenhang mit den MRT-Veränderungen (Cleary et al. 1994). Die Reversibilität der Marklagerveränderungen bei erneut strenger Diätbehandlung ist nachgewiesen (Bick et al. 1993, Cleary et al. 1995, Walter et al. 1997). Mit der Methode der diffusionsgewichteten MRT konnte im Bereich der Läsionen in der weißen Substanz ein eingeschränktes Diffusionsmuster nachgewiesen werden. Heute werden die bei PKU-Patienten gesehenen Signalveränderungen in der weißen Substanz weitgehend einheitlich als Dysmyelinisierung interpretiert. Differenzialdiagnosen Von genetischen Defekten der Phenylalaninhydroxylase müssen vor Beginn einer diätetischen Therapie sekundäre, teilweise vorübergehende Erhöhungen des Phenylalaninspiegels und vor allem genetische Defekte in der Synthese oder der Regenerierung von Tetrahydrobiopterin, dem Ko- Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Q 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren a b Abb. 9.2a u. b In der kranialen MRT (T2-Gewichtung TR 3600, TE 80) sichtbar werdende Signalanhebungen der parietookzipitalen, frontalen und zentralen weißen Substanz eines erwachsenen Patienten mit früh behandelter klassischer Phenylketonurie (aktueller Plasmaspiegel von Phenylalanin 1100 μ mol/l unter stark gelockerter, überwiegend vegetarischer Diät), die nach heutigem Erkenntnisstand einer diffusen Wassereinlagerung bei Dysmyelinisierung entsprechen. faktor der Phenylalaninhydroxylase, abgegrenzt werden (Abb. 9.1). Dazu werden bei erhöhten Phenylalaninwerten folgende Untersuchungen durchgeführt: Q Tetrahydrobiopterin-Belastungstest, Q Bestimmung der Pterine im Urin, Q Aktivitätsbestimmung der Dihydropteridinreduktase aus einer Trockenblutprobe. Therapie und Therapiemonitoring Die Therapie der Defekte der Tetrahydrobiopterinbildung ist in Kap. 7 dargestellt. Die phenylalaninreduzierte Diätbehandlung der PKU ist eine überprüfte und praktikable Interventionsmethode (Bickel et al. 1954, Hoffmann et al. 1994, Poustie u. Rutherford 2000). Die Dauerbehandlung erfolgt durch den Kinderarzt und die örtliche Kinderklinik. Die Therapieplanung und regelmäßige Kontrolle der Stoffwechseleinstellung ist nur unter der Federführung eines Stoffwechselzentrums möglich. Speziell im Kindes- und Jugendalter ist in regelmäßigen klinischen Untersuchungen die neurologische, kognitive und somatische Entwicklung zu überwachen (Tab. 9.3). Kindes- und Jugendalter Säuglinge. Im Säuglingsalter ist die Behandlung meist unproblematisch. Da Muttermilch relativ wenig Phenylalanin enthält, können Säuglinge etwa die Hälfte ihrer Nahrung durch Stillen erhalten. Diät ab dem Kindergartenalter. Ab dem Kindergartenalter besteht die Diät aus mehreren Komponenten. Phenylalaninarme natürliche Lebensmittel und Spezialprodukte (z. B. aus Stärkemehl hergestellte Brote, Gebäcke und Nudeln) werden auf der Basis vorliegender Tabellen in berechneten Mengen aufgenommen. Viele Obst- und Gemüsesorten enthalten relativ wenig Phenylalanin und sind deshalb die wesentlichen natürlichen Proteinquellen. Auf Fleisch, Geflügel, Fisch, Wurst, Käse und Getreideprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse und Kakao muss nahezu vollständig verzichtet werden. Die Diät ist mit erheblichen Kosten verbunden, durch ständiges Wiegen und Rechnen sehr aufwendig und erfordert gute Nahrungsmittelkenntnisse, um eine ausgewogene Nährstoffzufuhr zu gewährleisten (Schulz u. Bremer 1995). Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 116 9.2 Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämien 117 Lebensalter Phenylalaninblutspiegel EinstellungsHäufigkeit ziel [μ mol/l] Monitoring* Klinisches Monitoring** Proteinbedarf [g/kgKG/d] Phenylalanintoleranz [mg/d] phenylalaninfreie ASM Typ*** [g/d]**** 0 – 3 Monate 40 – 240 wöchentlich alle 3 Monate ≈ 2,2 ≈ 130 – 400 1 3 – 10 4 – 12 Monate 40 – 240 wöchentlich alle 3 Monate ≈ 2,1 ≈ 130 – 400 1 3 – 10 1 – 2 Jahre 40 – 240 wöchentlich alle 3 Monate ≈ 1,7 ≈ 130 – 400 2 20 – 50 2 – 3 Jahre 40 – 240 wöchentlich alle 3 Monate ≈ 1,7 ≈ 200 – 400 2 20 – 50 4 – 6 Jahre 40 – 240 14-tägig alle 3 – 6 Monate ≈ 1,6 ≈ 200 – 400 2 20 – 50 7 – 9 Jahre 40 – 240 14-tägig alle 6 Monate ≈ 1,4 ≈ 200 – 400 2 20 – 50 10 – 12 Jahre 40 – 900 monatlich alle 6 Monate ≈ 1,1 ≈ 350 – 800 2 50 – 90 13 – 15 Jahre 40 – 900 monatlich alle 6 Monate ≈ 1,0 ≈ 350 – 800 2 50 – 90 Adoleszente/ Erwachsene 40 – 1200 2 – 3-monatlich jährlich ≈ 0,9 ≈ 450 – 1000 3 60 – 150 * = zusätzlich zu den Zeitpunkten des klinischen Monitorings Bestimmung eines Nüchternaminosäurenprofils, Blutbild, Mineralien, Spurenelemente, Ca-, P-Stoffwechsel, AP, GOT, GPT sowie ein Status von Vitaminen und Serumfetten ** = Diätberatung, anthropometrische Daten, allgemeiner Gesundheitszustand, neurologische und psychologische Entwicklung/Funktionen *** = entsprechend dem Bedarf verschiedener Altersgruppen sind die Aminosäurenmischungen unterschiedlich zusammengesetzt **** = möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt einzunehmen Den größten Teil ihres Eiweißbedarfs nehmen die Patienten über industriell gefertigte phenylalaninfreie Aminosäurenmischungen auf, die auch mit Spurenelementen, Mineralstoffen und Vitaminen angereichert sind. Der unangenehme (metallische) Geschmack und Geruch beeinträchtigt die Compliance. Kinder und Jugendliche empfinden die Diät als Belastung, können sie nur schwer in den Alltag integrieren und nehmen sich deshalb als Außenseiter wahr (Weglage 1993). Da Phenylalanin eine essenzielle Aminosäure ist, muss dem Körper regelmäßig eine dem Lebensalter angepasste Phenylalaninmenge zugeführt werden, um einer Mangelernährung – die im Extremfall zu schwersten Entwicklungsbeeinträchtigungen führen kann – vorzubeugen. Während Phasen schnellen Wachstums im Kleinkindalter und der Pubertät ist einem erhöhten Phenylalaninbedarf Rechnung zu tragen. Gleichzeitig ist zu beachten, dass in katabolen Stoffwechsellagen (z. B. beim Fasten oder bei fieberhaften Infekten) körpereigenes, phenylalaninhaltiges Protein abgebaut wird, was zu einem raschen Anstieg des Phenylalaninblutspiegels führen kann. Aus diesen Gründen sind regelmäßige Bestimmungen des Blutspiegels und kurzfristige Anpassungen der Nährstoffzufuhr notwendig. Blutabnahmen sind für viele Patienten mit Ängsten vor der Blutentnahme selbst, häufig auch mit Befürchtungen eines schlechten Messergebnisses verbunden. In einer Untersuchung von Weglage (1993) an 34 Jugendlichen mit PKU berichteten 79 % an den Tagen unmittelbar vor der Blutabnahme eine strengere Diät als üblich einzuhalten. Phenylalaninblutspiegel. In Deutschland orientiert sich das Einstellungsziel für den Phenylalaninblutspiegel an den in der Tab. 9.3 zusammengefassten Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für pädiatrische Stoffwechselstörungen (Burgard et al. 1999). Außerdem liegen für Großbritannien (Medical Research Council Working Party on Phenylketonuria 1993) und für die USA (National Institutes of Health Consensus Development Conference Statement: phenylketonuria 2001) publizierte Behandlungsempfehlungen vor. Diese Empfehlungen unterscheiden sich in Details (zum Vergleich der britischen und deutschen Empfehlungen s. Burgard u. Smith 1999). Entsprechend der deutschen Empfehlung ist die Behandlung ab Phenylalaninblutspiegeln ≥ 600 μmol/l (Großbritannien: ≥ 400 μmol/l, USA: ≥ 420 – 600 μmol/l) indiziert. Diese muss unmittelbar nach einer Bestätigung des positiven Screeningbefundes und innerhalb des 1. Lebensmonats beginnen. Die Behandlung der Patienten sollte in einem interdisziplinären Team die Bereiche der Medizin, Biochemie, Ernährungsberatung, Soziales und Psychologie abdecken (Management of PKU 1999). Prognose. Bei einem frühen Behandlungsbeginn und einer Behandlung entsprechend den aktuellen Empfehlungen ist eine normale Entwicklung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter zu erwarten. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tabelle 9.3 Monitoring und Einstellungen bei phenylalaninreduzierter Diätbehandlung nach Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für pädiatrische Stoffwechselstörungen 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Erwachsenenalter Im Erwachsenenalter stellt sich als zentrale Frage die der Behandlungsnotwendigkeit bzw. die Art und das Ausmaß der Behandlung. Aufgrund des noch unbekannten Verlaufs früh behandelter Patienten im Erwachsenenalter ist die Indikation zur regulären klinischen Verlaufsdiagnostik gegeben. Bei neurologischen Symptomen sind alternative Erklärungen, wie z. B. ein Mangel an Vitamin B12, auszuschließen. Wenngleich die klinische Bedeutsamkeit neuropsychologischer Befunde für die Mehrzahl der Patienten nicht gegeben bzw. im Alltag unbedeutend ist, ist in Einzelfällen jedoch stets zu prüfen, ob sich durch eine Verbesserung der diätetischen Einstellung Befund und Befinden positiv beeinflussen lassen (Burgard et al. 1999, Cleary u. Walter 2001). 9.3 Andere Aminoazidopathien 9.3.1 Tyrosinämie Typ I Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der Tyrosinämie Typ I liegt bei etwa 1 : 150 000. Die Tyrosinämie Typ I wird durch einen autosomal rezessiv vererbten Mangel der Fumarylacetoacetase (Abb. 9.1) verursacht, welche am Ende des Abbauweges von Phenylalanin und Tyrosin die Spaltung von Fumarylacetoacetat in Fumarat und Acetoacetat katalysiert. Es entstehen die hochreaktiven und toxischen Metaboliten Fumarylacetoacetat, Maleylacetoacetat, Succinylacetoacetat und Succinylaceton, welche intrazellulär mit Makromolekülen und Glutathion reagieren sowie die Porphobilinogensynthese hemmen. Die Tyrosinerhöhung selbst wird durch eine ebenfalls sekundäre Hemmung des Enzyms Tyrosinaminotransferase hervorgerufen. Klinik Die bei der Tyrosinämie Typ I akkumulierenden Metaboliten schädigen primär Leber und Nieren (Fernandes et al. 2000). Klinisch zeigt sich die Erkrankung oft als akutes Leberversagen in der Säuglingszeit oder als protrahierte Hepatopathie mit zirrhotischem Umbau, Hepatomen und hepatozellulärem Karzinom. Nierenfunktionsstörungen führen zu einer hypophosphatämischen Rachitis und können bis zum Nierenversagen fortschreiten. Eine erhebliche Morbidität resultiert aus der Hemmung der Porphobilinogensynthese, die eine periphere Neuropathie sowie neurologische Krisen entsprechend einer akuten Porphyrie verursacht. wege entstehende phenolische Säuren. α-Fetoprotein im Serum ist z. T. exorbitant erhöht. Diese Veränderungen, wie auch der Nachweis erhöhter Leberenzyme und fortschreitender Leberfunktionsstörungen, kommen auch bei anderen infektiösen oder genetischen Lebererkrankungen vor. Pathognomonisch für das Vorliegen einer Tyrosinämie Typ I ist der Nachweis von Succinylaceton in der Analytik der organischen Säuren. Relativ spezifisch sind ferner Erhöhungen der 5-Aminolävulinsäure im Urin infolge der gehemmten Porphobilinogensynthese. Der Enzymdefekt wird in Lymphozyten oder Fibroblasten bestätigt. Neue diagnostische Ansätze untersuchen die Hemmung der Aktivität der Porphobilinogensynthese z. B. in einer Trockenblutkarte, wodurch sich auch die Möglichkeit einer spezifischen Diagnose im Rahmen des Neugeborenenscreenings ergibt (Schulze et al. 2001). Therapie und Prognose Therapie. Während früher die Leber- bzw. kombinierte Leber-, Nierentransplantation die einzige Erfolg versprechende Therapieoption waren, eröffnete Anfang der 90erJahre die Entdeckung von 2-(2-Nitro-4-Trifluoromethylbenzoyl)-1,3-Cyclohexadion (NTBC) als potenter Hemmstoff der 4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenase (ein im Tyrosinabbau oberhalb der bei Tyrosinämie Typ I defekten Fumarylacetoacetase lokalisiertes Enzym, Abb. 9.1) ein neues Therapieprinzip (Lindstedt et al. 1992). Unter der Behandlung mit NTBC steigen die Tyrosinspiegel zwar noch weiter an, die Bildung der hochreaktiven toxischen Metaboliten Fumarylacetoacetat, Maleylacetoacetat, Succinylacetoacetat und Succinylaceton wird aber verhindert. Leber- und Nierenfunktion normalisieren sich langsam, ebenso die Porphobilinogensynthese. Erforderlich bleibt eine phenylalaninund tyrosinarme Diät. Prognose. Die Prognose hat sich unter dieser Behandlung entscheidend gebessert, wobei Langzeitbeobachtungen noch fehlen. 9.3.2 Tyrosinämien Typ II und III Pathophysiologie Die Tyrosinämie Typ II wird durch einen Mangel der Tyrosinaminotransferase am Anfang des Abbauwegs von Tyrosin verursacht, die Tyrosinämie Typ III durch einen Defekt des Folgeenzyms 4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenase (Abb. 9.1). Klinik Diagnostik Die Tyrosinämien werden im erweiterten Neugeborenenscreening nicht zuverlässig erfasst. Erhöht finden sich die Aminosäuren Tyrosin, Methionin, in geringerem Ausmaß Phenylalanin, sowie andere, über alternative Stoffwechsel- Tyrosinämie Typ II. Patienten mit Tyrosinämie Typ II (Richner-Hanhart-Syndrom, okulokutane Tyrosinose) leiden ab dem Säuglingsalter unter Hornhautläsionen mit Photophobie, vermehrtem Tränenfluss, Fremdkörpergefühl und Konjunktivitiden. Unbehandelt entwickeln sich Nar- Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 118 9.3 Andere Aminoazidopathien Tyrosinämie Typ III. Die wenigen bislang dokumentierten Patienten mit Tyrosinämie Typ III zeigten eine ähnliche Symptomatik, wobei sich in einem Fall zusätzlich eine Ataxie fand, in einem anderen eine schwere epileptische Enzephalopathie. Diagnostik Biochemisch sind die Tyrosinämien Typ II und III durch eine massiv erhöhte Konzentration von Tyrosin und (geringer) Phenylalanin im Blut und Urin sowie durch eine starke Tyrosylurie charakterisiert. Die Abgrenzung von der Tyrosinämie Typ I gelingt durch die unterschiedliche klinische Symptomatik sowie das Fehlen der Marker α-Fetoprotein, Methionin und vor allem Succinylaceton (s. o.). Eine Unterscheidung zwischen Tyrosinämie Typ II und III erfordert den Nachweis des zugrunde liegenden Enzymdefekts in einer Leberbiopsie. Therapie Zur Therapie der Tyrosinämien Typ II und III eignet sich eine kombinierte phenylalanin- und tyrosinarme Diät. 9.3.3 Ahornsirupkrankheit Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der Ahornsirupkrankheit liegt bei etwa 1 : 200 000. Die Erkrankung wird durch einen autosomal rezessiv erblichen Mangel der Dehydrogenase verzweigtkettiger Ketosäuren verursacht. Dieses mitochondriale Enzym bewirkt die dehydrierende Decarboxylierung und Aktivierung mit Coenzym A (CoA) der durch reversible Transaminierung von Leucin, Isoleucin und Valin entstandenen α-Ketosäuren. Klinik Die Ahornsirupkrankheit verursacht eine progrediente Enzephalopathie mit Somnolenz und Koma (Fernandes et al. 2000). Als erste Symptome treten bei der am häufigsten vorkommenden schweren Verlaufsform zwischen dem 3. und 5. Lebenstag Lethargie und Trinkschwäche auf. Die Kinder verschlechtern sich rasch. Oft fällt der typische Geruch von Ahornsirup bzw. Maggi auf. Kinder mit milderen Verlaufsformen infolge einer Restaktivität des Enzyms fallen durch progrediente Entwicklungsverzögerung, neurologische Störungen, vor allem Ataxie und Anfälle, sowie rezidivierende ketoazidotische Entgleisungen (Differenzialdiagnose: ketonämisches Erbrechen!) auf. Diagnostik Die Ahornsirupkrankheit wird im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht kann im Neugeborenenalter der Nachweis einer Ketonurie hilfreich sein. Bei der Analyse der Aminosäuren im Plasma zeigt sich neben massiven Erhöhungen von Valin, Isoleucin und Leucin eine erhöhte Konzentration des pathognomonischen Metaboliten L-Alloisoleucin. Bei der Analyse der organischen Säuren im Urin finden sich neben den verzweigtkettigen α-Ketosäuren auch die korrespondierenden α-Hydroxysäuren erhöht. Die Ketosäuren lassen sich durch den einfachen DNPH-(Dinitrophenylhydrazin-)Test rasch im Urin nachweisen (Blau et al. 2002). Therapie und Prognose Therapie. Initial ist zur akuten Entgiftung des Kindes eine intensivmedizinische Notfalltherapie mit Infusion von Glucose und Insulin und ggf. Blutaustauschtransfusion oder Dialyse erforderlich (Fernandes et al. 2000, Hoffmann et al. 2002). Langfristig ist eine eiweißarme Ernährung erforderlich, mit Supplementierung eines Aminosäurengemischs ohne Leucin, Isoleucin und Valin. Wenige Patienten sprechen auf eine hoch dosierte Gabe des Kofaktors Thiamin (5 mg/kgKG/d) an. Prognose. Die Prognose ist nur bei rascher Diagnose (vor dem 5. Lebenstag) und konsequenter Therapie befriedigend. Spezifische Probleme bei maternaler Ahornsiruperkrankung scheinen nicht zu bestehen. 9.3.4 Stoffwechselerkrankungen mit erhöhten Homocysteinspiegeln Homocysteinstoffwechsel. Homocystein ist ein Zwischenprodukt des Abbaus von Methionin und hat darüber hinaus eine zentrale Rolle im zellulären Transfer von Methylgruppen (Abb. 9.3). In natürlichen Proteinen kommt die Aminosäure nicht vor. Die von Vitamin B12 (Methylcobalamin) und indirekt von Folsäure (5-Methyltetrahydrofolat) abhängige Remethylierung von Homocystein zu Methionin ist essenziell für die ausreichende Produktion von S-Adenosylmethionin, dem wichtigsten Methylgruppendonor des Zellstoffwechsels (notwendig für die Synthese z. B. von Cholin, Kreatin, Adrenalin, DNA-Methylierung). Da Homocystein toxisch ist, wird es rasch zu Methionin umgewandelt oder über Cystein abgebaut. Ätiopathogenese. Erhöhte Homocysteinspiegel weisen entweder auf einen gestörten Abbau oder auf eine mangelnde Verfügbarkeit von Methylcobalamin hin; Letztere kann durch angeborene oder erworbene Störungen im Vitamin-B12-(Cobalamin-)Stoffwechsel oder im Folsäure- Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ben und in der Folge eine Sehbehinderung. Ab dem Kleinkindalter treten ferner Hyperkeratosen sowie schmerzhafte Blasenbildung auch an Hand- und Fußsohlen auf. Ungefähr die Hälfte der Patienten entwickelt eine milde mentale Retardierung, insbesondere eine Sprachentwicklungsverzögerung, Störungen der Feinmotorik und, seltener, Autoaggressivität. 119 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Abb. 9.3 Stoffwechsel schwefelhaltiger Aminosäuren und des zytosolischen Methylgruppentransfers; MTHFR = Methylentetrahydrofolatreduktase. zyklus verursacht werden. Auch der Abbau von Homocystein über Cystathionin zu Cystein ist vitaminabhängig; beide dafür notwendigen Enzyme benötigen als Kofaktor Vitamin B6 (Pyridoxin). Genetische Defekte der verschiedenen im Homocysteinstoffwechsel involvierten Enzyme, einschließlich der Defekte in Aufnahme, Transport oder intrazellulärer Transformation der Kofaktoren, sprechen therapeutisch vielfach (auch in Abhängigkeit von den im Einzelfall vorliegenden Mutationen) auf pharmakologische Dosen der involvierten Vitamine/Kofaktoren an. Erhöhte Homocysteinspiegel können nicht nur durch die primären Enzymopathien sondern durch eine Vielzahl pathologischer Konstellationen bedingt sein, vor allem nutritive Vitaminmangelzustände sowie eine gesteigerte Aktivität von Makrophagen bei Infektionen und Tumorerkrankungen. Pathophysiologie. Pathophysiologisch beschleunigen erhöhte Homocysteinspiegel die Progredienz der Arteriosklerose und erhöhen das Risiko thromboembolischer Komplikationen. In Tierversuchen stimuliert Homocystein die Proliferation glatter Muskelzellen in der Gefäßwand, übt toxische Effekte auf die Kollagene der Elastica interna aus und bewirkt konsekutiv eine Verdickung der Basalmembran. Thrombozyten werden aktiviert und vermehrt umgesetzt; es resultiert eine Thromboseneigung. Auch fördert Homocystein die Ablagerung von Lipiden und Proteinen in den Gefäßwänden und trägt schließlich zur Bil- dung freier Radikale und damit zur Oxidation von LDLCholesterol bei. Zahlreiche aktuelle Studien belegen, dass Homocystein ein wesentlicher unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und für ischämische Hirninfarkte ist (Perry et al. 1995). Das Risiko steigt mit dem Plasmaspiegel von Homocystein, ohne dass ein Schwellenwert nachweisbar wäre. Erhöhte Homocysteinspiegel bei Schwangeren wurden des Weiteren als Risikofaktor für die Entstehung von kindlichen Neuralrohrdefekten identifiziert (van-derPut et al. 1995). Diagnostik. Starke Erhöhungen von Homocystein werden in der normalen Aminosäurenanalytik erkannt. Für den Nachweis von milden Hyperhomozysteinämien ist die Untersuchung von frischem (oder eingefroren gelagertem bzw. verschicktem) Plasma mittels spezieller Analyseverfahren notwendig (Blau et al. 2002). Klassische Homozystinurie Epidemiologie. 1 : 100 000. Die Häufigkeit beträgt mindestens Ätiologie und Pathogenese. Die klassische Homozystinurie beruht auf einem autosomal rezessiv erblichen Defekt der Cystathionin-β-Synthetase, des ersten Enzyms des Ho- Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 120 9.3 Andere Aminoazidopathien mocysteinabbaus (Abb. 9.3). Folge sind massiv erhöhte Homocysteinkonzentrationen in Blut und Urin sowie durch erhöhte Remethylierung oder verminderten Abbau ebenfalls stark erhöhte Konzentrationen von Methionin. prinzipiell gut. Wird über lange Zeit mit hohen Dosen Pyridoxin behandelt, müssen die Patienten regelmäßig auf das Auftreten einer sensorischen Polyneuropathie untersucht werden. Klinik. Betroffene Patienten sind bei Geburt unauffällig. Unbehandelt entwickeln sie eine chronisch progrediente Multisystemerkrankung mit folgenden Symptomen (Mudd et al. 1985): Q ZNS: psychomotorische Retardierung (ca. 80 %), Anfälle, psychiatrische Symptome, Q Augen: Ectopia lentis (ca. 90 % zwischen dem 3. und 10. Lebensjahr), Katarakte, Glaukom, Retinadegeneration; wichtiges Frühsymptom ist eine sich rasch verschlechternde Myopie, Q Skelett: marfanoider Habitus, Pes cavus, Genu valgum, Skoliose, bikonkave Wirbelkörper, Osteoporose (gelegentlich mit pathologischen Frakturen), Q arterielle Thromboembolien: Hirninfarkte, Herzinfarkte, periphere arterielle Embolien (häufigste Todesursache), Q Beinvenenthrombosen. Störungen des zytosolischen Methylgruppentransfers Diagnostik. In einigen Ländern ist eine Methioninbestimmung zur Identifizierung von Patienten mit klassischer Homozystinurie in das Neugeborenenscreening integriert (Großbritannien, Irland, Japan, Teile von Deutschland und den USA). Leider werden durch den Screeningtest nicht alle Patienten zuverlässig erfasst. Im Urin lässt sich typischerweise eine deutliche Ausscheidung schwefelhaltiger Säuren (Disulfide) über eine positive Brandprobe nachweisen. Im Plasma finden sich Homocysteinwerte zwischen 200 und 400 μmol/l (normal altersabhängig < 9 – 18). Eine starke Homozystinurie lässt sich durch Dünnschichtchromatographie oder quantitative Aminosäurenanalyse nachweisen und gab der Erkrankung ihren Namen. Der Enzymdefekt kann in unterschiedlichen Geweben, üblicherweise in Fibroblasten, bestätigt werden. Therapie. Etwa 50 % der Patienten sprechen auf pharmakologische Dosen von Pyridoxin (Vitamin B6) an. Eine weitergehende Normalisierung des Homocysteinspiegels (bei gleichzeitiger Erhöhung der Methioninspiegel) lässt sich durch alternative Remethylierung mit Betain (bis zu 3 × 3 g/d) erreichen. Günstig ist eine zusätzlich Supplementierung mit Folsäure (5 mg/d). Bleibt der Plasmahomocysteinspiegel oberhalb des Zielwertes von 30 μmol/l, muss entsprechend den Diättherapien bei anderen Aminoazidopathien eine methioninarme Diät eingehalten werden. Die Behandlung muss lebenslang durchgeführt werden. Prognose. Die Prognose hängt vom Zeitpunkt des Therapiebeginns sowie dem Grad der Pyridoxinabhängigkeit ab. Sie ist bei einem Behandlungsbeginn in früher Kindheit Ätiologie und Pathogenese. Störungen des zytosolischen Methylgruppentransfers können durch verschiedene Enzymopathien verursacht werden, darunter genetische Defekte der Methioninsynthase, der Methylcobalaminsynthese oder der 5,10-Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR), der häufigsten Erkrankung aus dieser Gruppe (Abb. 9.3). Klinik. Typische Krankheitsbilder sind eine früh beginnende progrediente epileptische Enzephalopathie bzw. eine progrediente Neurodegeneration, wobei die intraund interfamiliäre Variabilität groß ist (Fernandes et al. 2000). Neben der meist im Säuglingsalter beginnenden, rasch progredienten Enzephalopathie finden sich neurodegenerative Krankheitsverläufe sowie eine Neigung zu Thrombosen im Bereich der Hirngefäße. Im späteren Lebensalter wird eine unterschiedliche Dynamik der Krankheitsverläufe beobachtet, in Einzelfällen nach bis zu jahrzehntelanger Symptomfreiheit. Neben epileptischen Enzephalopathien sollte eine Störung des Methylgruppentransfers z. B. auch bei einem Hinterstrangsyndrom erwogen werden. Störungen im Cobalaminstoffwechsel, welche auch die Synthese von Adenosylcobalamin beeinträchtigen, führen durch den gestörten Abbau von Methylmalonyl-CoA ggf. zu klinischen und biochemischen Symptomen einer Methylmalonazidurie (s. u.). Diagnostik. Störungen des zytosolischen Methylgruppentransfers werden im erweiterten Neugeborenenscreening nicht zuverlässig erfasst. Neben der mäßig bis stark erhöhten Homocysteinkonzentration ist insbesondere eine erniedrigte Methioninkonzentration im Blut (und ggf. Liquor) richtungsweisend. Beim 5,10-Methylentetrahydrofolatreduktase-Mangel ist 5-Methyltetrahydrofolat im Liquor erniedrigt; der zugrunde liegende Enzymdefekt wird in Fibroblasten nachgewiesen. Cobalaminstoffwechselstörungen zeigen neben einer megaloblastären Anämie oft auch eine deutlich erhöhte Ausscheidung der Methylmalonsäure im Urin. Therapie. Die Verabreichung von Betain (bis zu 20 g/d, auf mehrere Dosen verteilt) steht im Vordergrund und führt zu einem Anstieg von Methionin (und dadurch zur erhöhten Verfügbarkeit von S-Adenosylmethionin) sowie zur Besserung der mentalen Funktionen und neurologischen Symptome. Darüber hinaus wird vielfach eine zusätzliche Substitution von Methionin empfohlen. Die meisten Patienten mit MTHFR-Mangel zeigen keine Besserung auf Vitamingaben, während Vitamin B12 hoch dosiert bei Patienten mit Methioninsynthase-Mangel bzw. Störungen der Methylcobalaminsynthese verabreicht wird. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bei jeder sich rasch verschlechternden Myopie und Linsenektopie im Kindesalter ist eine quantitative Bestimmung von Homocystein im Plasma indiziert. 121 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Prognose. Die Prognose ist variabel sowohl zwischen verschiedenen Störungen als auch unerklärterweise innerhalb der gleichen Erkrankung. Milde Hyperhomozysteinämie Ätiologie, Pathogenese und Genetik. Vor einigen Jahren wurde eine in polymorpher Häufigkeit vorkommende Mutation (677C → T) im Methylentetrahydrofolatreduktase(MTHFR-)Gen identifiziert, die zu einem thermolabilen MTHFR-Protein (A222V) führt. Speziell bei homozygoten Personen (immerhin ca. 5 % der Allgemeinbevölkerung) mit niedrigen Folsäurespiegeln führt diese Variante über eine verminderte Bereitstellung von 5-Methyltetrahydrofolat zu einer Beeinträchtigung der Remethylierung von Homocystein und in der Folge zu hochnormalen bzw. erhöhten Homocysteinspiegeln im Plasma. Zahlreiche Studien zeigten, dass eine milde Hyperhomozysteinämie bzw. Homozygotie für die MTHFR-Variante 677C → T bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, ischämischen Hirninfarkten (Perry et al. 1995) sowie in Familien mit Spina bifida signifikant gehäuft vorkommt (van-der-Put et al. 1995) (wobei eine milde Hyperhomozysteinämie allerdings nur in etwa 25 % der Fälle durch die MTHFR-Variante erklärt ist). Durch Gabe von Folsäure lassen sich die Homocysteinspiegel im Plasma und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der o. g. Komplikationen senken. So wurde nachgewiesen, dass zumindest in manchen Populationen die Inzidenz von Neuralrohrdefekten durch perikonzeptionelle Folsäuresupplementierung deutlich vermindert wird. Es ergeben sich wesentliche Konsequenzen für eine primäre und sekundäre Prävention; so wird in einigen Ländern Folsäure Lebensmitteln, wie z. B. Mehl, generell zugesetzt. Diagnostik. Zur Diagnostik der milden Hyperhomozysteinämien müssen Nüchternspiegel bestimmt werden. Eine Methioninbelastung ist hingegen unphysiologisch und von unklarer Wertigkeit. Daneben kann auch der primäre Nachweis der MTHFR-Variante diagnostisch hilfreich sein. Therapie. Erhöhte Homocysteinspiegel können durch Therapie mit 5 mg Folsäure/Tag halbiert werden. Bei über 90 % der milden Hyperhomozysteinämien werden die Blutspiegel durch eine kombinierte Therapie von 5 mg Folsäure und 100 mg Vitamin B6/Tag normalisiert. Manche Behandlungsprotokolle beinhalten zusätzlich 0,4 mg Vitamin B12. Grundsätzlich soll Folsäure nur bei ausreichendem Vitamin-B12-Spiegel isoliert substituiert werden – andernfalls könnten ausgeprägte Schädigungen des ZNS entstehen (vgl. Kap. 16.4). Fest etabliert ist die perikonzeptionelle Folsäuresupplementierung bei allen Frauen mit 0,4 mg/d zur Prävention von Neuralrohrdefekten bzw. 4 mg/d als Wiederholungsprophylaxe. 9.3.5 Hartnup-Krankheit Ätiologie und Pathogenese. Diese autosomal rezessiv vererbte Krankheit ist Folge eines Defekts der Aufnahme neutraler und zyklischer Aminosäuren im Darm und im Nierentubulus. Der Körper verarmt an Tryptophan, wodurch nicht ausreichend Nicotinamid hergestellt wird. Klinik. Pellagraähnliche Hauterscheinungen an belichteten Hautpartien, zerebelläre Ataxie und psychomotorische Retardierung sind die Folgen. Diagnostik. Die Diagnose wird durch die vermehrte Ausscheidung von neutralen Aminosäuren und Indolkörpern im Urin gestellt. Therapie und Prognose. Die Therapie besteht in Lichtschutz und der Gabe von Nicotinamid (50 – 200 mg/d). Bei rechtzeitiger Diagnosestellung ist die Prognose exzellent. 9.4 Wichtige Organoazidopathien Definition Organoazidurien unterscheiden sich hinsichtlich Pathogenese und Klinik nicht grundsätzlich von Aminoazidopathien. Sie sind jedoch meist mitochondrial lokalisiert und involvieren CoA-aktivierte Karbonsäuren. Daher bedingen sie eine sehr viel substanziellere Störung des Energiestoffwechsels. Eiweißexzesse, Mangelernährung oder Katabolismus (z. B. interkurrente Infekte, Impfungen, Unfälle, Operationen, Steroidtherapien) mit unbalancierter Nahrungszufuhr und Abbau des körpereigenen Eiweißes können rasch zu einem Anstieg toxischer Metabolite mit der Folge akuter, lebensbedrohlicher Stoffwechselentgleisungen führen. In jedem Lebensalter können Patienten innerhalb kürzester Zeit schwerste zerebrale Schädigungen erleiden oder versterben. Die Akutbehandlung sollte in einem mit den notwendigen Maßnahmen vertrauten Stoffwechselzentrum erfolgen. Alle Patienten sollten einen Notfallausweis bzw. ein Medaillon mit den wichtigsten Erstinformationen und Telefonnummern sowie Angaben über unverzüglich durchzuführende Maßnahmen bei sich tragen. 9.4.1 Isovalerianazidurie Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der Isovalerianazidurie liegt um 1 : 150 000. Ihr liegt ein autosomal rezessiv vererbter Defekt des Enzyms Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase im Abbau der Aminosäure Leucin zugrunde. Die sich anstauende Isovaleriansäure wirkt inhibitorisch auf den Zitronensäurezyklus, den mitochondrialen Sauerstoffverbrauch der Leber sowie die Granulopoese von Knochenmarkzellen. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 122 9.4 Wichtige Organoazidopathien Etwa die Hälfte der Betroffenen erkrankt während der Neonatalperiode mit Nahrungsverweigerung, rezidivierendem Erbrechen, Lethargie, Somnolenz und häufig Hypothermie. Wegen der gastrointestinalen Symptomatik wurde häufiger die Verdachts-(Fehl-)diagnose einer hypertrophen Pylorusstenose gestellt bis hin zur operativen Therapie. Gewöhnlich ist im akuten Stadium ein penetranter „Schweißfußgeruch“ festzustellen, der von der kurzkettigen Fettsäure Isovaleriansäure herrührt. Laborchemisch finden sich eine Ketoazidose, Hyperammonämie, Hypokalzämie sowie, infolge einer Knochenmarkdepression Thrombo-, Neutro- und/oder Panzytopenien. Da die Diagnose oft nicht rechtzeitig gestellt wird, verstirbt etwa die Hälfte der Patienten im Rahmen einer Stoffwechselkrise (Fernandes et al. 2000). Bei der chronisch intermittierenden Form der Isovalerianazidurie kommt es bei Infekten oder durch vermehrte Eiweißbelastung rezidivierend zu Erbrechen, Lethargie oder Koma, metabolischer Azidose und dem schon erwähnten „Schweißfußgeruch“. Diagnostik Die Isovalerianazidurie wird im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht ist die Analytik der organischen Säuren (z. B. N-Isovalerylglycin, N-Isovalerylglutaminsäure, 3- und 4-Hydroxyisovaleriansäure) oder der Acylcarnitine (Isovalerylcarnitin) diagnostisch. Eine enzymatische und/oder molekulare Bestätigung der Verdachtsdiagnose ist nicht erforderlich, zudem weltweit nur in einzelnen Speziallaboratorien verfügbar. Eine Pränataldiagnostik ist wegen der prinzipiell guten Behandelbarkeit nur in Ausnahmefällen indiziert. Therapie und Prognose Therapie. In der akuten Krise müssen folgende, für die meisten Organoazidurien geltenden Therapieprinzipien, rasch und konsequent umgesetzt werden (Fernandes et al. 2000, Hoffmann et al. 2002): Q Reduktion der Eiweißzufuhr, Q Glucose-/Insulin-/Lipidinfusionen, um eine katabole Stoffwechsellage zu beheben, Q Korrektur der metabolischen Azidose. Die Langzeittherapie besteht in einer proteinreduzierten Diät, evtl. unter Verwendung einer leucinfreien Aminosäurenmischung. Zur Förderung der Isovaleriansäureausscheidung in Form von Isovalerylglycin und Isovalerylcarnitin sowie zur Vermeidung eines sekundären Carnitinmangels sollten Glycin (150 mg/kgKG) und L-Carnitin (100 mg/ kgKG) supplementiert werden. Prognose. Ist die erste metabolische Krise schadlos überstanden und die Diagnose gestellt, kann bei konsequenter Behandlung die Prognose als gut bezeichnet werden. Wie bei anderen Organoazidurien, nimmt die Häufigkeit von Entgleisungen mit zunehmendem Alter ab. Probleme bei maternaler Isovalerianazidurie scheinen nicht zu bestehen. 9.4.2 Propionazidurie Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der Erkrankung liegt bei ca. 1 : 100 000. Der Propionazidurie liegt ein Defekt der Propionyl-CoA-Carboxylase im Abbau des Propionyl-CoA zugrunde, welches im Intermediärstoffwechsel aus verschiedenen Quellen (Isoleucin, Valin, Methionin, Threonin, ungeradzahlige Fettsäuren, Cholesterolseitenkette, Darmbakterien) entsteht. Das sich aufstauende Propionyl-CoA geht als äußerst reaktionsfreudige Verbindung eine Fülle von Nebenreaktionen ein (Lehnert et al. 1994). Die Gesamtheit der verschiedenen Metaboliten ist für die im akuten Schub auftretende metabolische Azidose verantwortlich. Durch Hemmung der N-Acetylglutamatsynthetase, einem wichtigen Enzym der Harnstoffsynthese, verursacht Propionyl-CoA in metabolischen Krisen schwere Hyperammonämien. Des Weiteren übt die Propionsäure einen starken inhibitorischen Effekt auf die mitochondriale Energieproduktion aus und beeinträchtigt das Wachstum der Stammzellen im Knochenmark. Klinik In 80 % der Fälle manifestiert sich die Propionazidurie nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt in den ersten Lebenstagen mit zunächst unspezifischen Symptomen wie Appetitlosigkeit, Trinkschwäche, rezidivierendem Erbrechen, Dehydratation, Gewichtsverlust und Muskelhypotonie (Lehnert et al. 1994). Wenig später entwickelt sich eine schwere metabolische Azidose mit Hyperammonämie und eine ausgeprägte neurologische Symptomatik mit Dyspnoe, Somnolenz, Apathie, Krampfanfällen und Koma. Wenn die Kinder überleben, resultieren als Folgeschäden oft fokale und generalisierte Krampfanfälle, zerebrale Atrophie und Entwicklungsretardierung. Im Jugendalter entwickeln Patienten häufig Dystonien, eine Chorea und pyramidale Symptome. Postmortal wurden Läsionen der Basalganglien und Myelinisierungsstörungen beschrieben. Diagnostik Die Propionazidurie wird im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht ist die Analytik der organischen Säuren (z. B. Methylcitrat, 2-Methyl-3-oxovalerat und 3-Hydroxypropionat) oder der Acylcarnitine (Propionylcarnitin) diagnostisch relevant. Bestätigt wird die Diagnose durch die Bestimmung der Propionyl-CoA-Carboxylase in Leukozyten oder Fibroblastenkulturen oder mittels Mutationsanalytik. Enzymatische und/oder molekulargenetische Untersuchungen sind Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Klinik 123 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren zur Sicherung der Diagnose nicht erforderlich, wohl aber für die Durchführung einer Pränataldiagnostik in Hochrisikofamilien. Eine Pränataldiagnostik kann auch zuverlässig über die Bestimmung pathologischer Metabolite im Fruchtwasser mit Stabile-Isotopen-Verdünnungstechnik erfolgen. Therapie und Prognose Therapie. Besonders bei ausgeprägter oder rasch progredienter Hyperammonämie oder bereits manifester Enzephalopathie (Koma) ist eine unverzügliche Verlegung in ein Stoffwechselzentrum empfehlenswert, das die Akutdiagnostik der relevanten biochemischen Parameter sowie die Möglichkeit der extrakorporalen Detoxifikation (Hämodiafiltration) vorhält. Bereits vor der Verlegung müssen diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden (Fernandes et al. 2000, Hoffmann et al. 2002): Q Reduktion der Eiweißzufuhr, Q Glucose-/Insulin-/Lipidinfusionen, um eine katabole Stoffwechsellage zu beheben, Q Korrektur der metabolischen Azidose und Carnitingabe, Q spezifische Therapie der Hyperammonämie mit intravenöser Infusion von Argininhydrochlorid und Natriumbenzoat (bis zu 350 mg/kgKG/24 h) (s.a. Kap. 10). Die Langzeittherapie besteht aus einer individuell angepassten und immer wieder adaptierten Isoleucin-, Valinund Methionin-reduzierten Ernährungstherapie, einschließlich einer spezifischen Aminosäuremischung. Zusätzlich muss im Intervall L-Carnitin mit 100 mg/ kgKG/24 h substituiert werden. Prognose. Für die Prognose der Propionazidurie sind der Zeitpunkt der Diagnosestellung und die adäquate Therapie der metabolischen Entgleisung insbesondere auch in der Zeit zwischen Erstmanifestation und Diagnosestellung von entscheidender Bedeutung. Prinzipiell ist eine normale psychomotorische Entwicklung möglich, jedoch können schon kurze Episoden mangelhafter Kontrolle zu irreversiblen Schäden bis hin zum Tod führen. einer Methylmalonazidurie oft auch eine Hyperhomozysteinämie und Störung im zytosolischen Methylgruppentransfer (s. o.). Insbesondere eine veganische Fehlernährung kann im Säuglingsalter einen alimentären Vitamin-B12-Mangel verursachen und zu einer den genetischen Defekten vergleichbaren Gedeihstörung, neurodegenerativer Symptomatik und laborchemischen Veränderungen führen. Klinik Patienten mit isolierter Methylmalonazidurie infolge eines Defekts der Methylmalonyl-CoA-Mutase präsentieren sich meist mit akuten Stoffwechselkrisen, vergleichbar Patienten mit Propionazidurie, die ohne rasche spezifische Behandlung tödlich enden oder zu schweren Residualschäden führen. Fast regelmäßig finden sich eine schwere Ketoazidose (92 %), Hyperammonämie (71 %), Hyperglyzinämie/urie (68 %) sowie in 50 – 60 % eine Leuko-/Thrombopenie/Anämie. Die Methylmalonsäure ist in allen Körperflüssigkeiten stark vermehrt, während Homocystein und Serum-Cobalamin normal sind. Patienten mit genetischen Defekten, die zu einem kombiniertem, intrazellulärem Adenosyl- und Methylcobalamin-Mangel führen, zeigen ähnliche Symptomatik und Befunde, jedoch entstehen vermehrt neurologische (Irritabilität, Gedeihstörung, Entwicklungsretardierung, Ataxie, Lethargie und Krämpfe) sowie, insbesondere bei späterer Manifestation, neuropsychiatrische Symptome (Anorexie, Antriebslosigkeit, Delirium, Psychose). Laborchemisch treten zusätzlich zu den oben beschriebenen Veränderungen eine Homozystinurie/ämie mit Hypomethioninämie und eine megaloblastische Anämie auf. Zusätzlich zu möglichen Folgeschäden einer oder mehrerer Stoffwechselentgleisungen im Säuglings- und Kindesalter entwickeln Patienten im Jugendalter häufig Dystonien, eine Chorea und pyramidale Symptome. Zusätzlich entsteht oft eine Osteoporose sowie eine spezifische Nierenschädigung, die im Jugendlichen- oder frühem Erwachsenenalter in eine terminale Niereninsuffizienz mündet. Diagnostik 9.4.3 Methylmalonazidurien Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit aller Methylmalonazidurien wird auf ca. 1 : 100 000 geschätzt und bewegt sich damit in der gleichen Größenordnung wie die der Propionazidurie. Methylmalonazidurien werden durch Störungen der mitochondrialen Methylmalonyl-CoA-Mutase verursacht. Entweder durch einen primären Enzymdefekt (mut0 ohne Restaktivität oder mut– mit Restaktivität) oder einen Mangel des Vitamin-B12-Kofaktors Adenosylcobalamin. Vitamin B12 ist auch Kofaktor der Remethylierung von Homocystein zu Methionin (hier als Methylcobalamin). Dementsprechend verursachen Störungen im Cobalaminstoffwechsel neben Methylmalonazidurien werden im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht ist die Analytik der organischen Säuren (Methylmalon-, Methylzitronen-, 2-Methyl-3-oxovalerian- und 3-Hydroxypropionsäure) oder der Acylcarnitine (Propionylcarnitin und, nur bedingt zuverlässig, Methylmalonylcarnitin) diagnostisch. Für die weitere Differenzierung ist die parallel durchzuführende quantitative Aminosäurenanalytik (Glycin, Homocystein, Methionin) erforderlich. Biochemische Untersuchungen an kultivierten Fibroblasten (14C-Propionat-Fixation, Methylmalonyl-CoA-MutaseBestimmung, Komplementierungsanalysen, molekulargenetische Untersuchungen) erlauben die endgültige Differenzierung der unterschiedlichen Defekte. Eine Pränataldiagnostik muss individuell geplant werden. Sie kann Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 124 9.4 Wichtige Organoazidopathien Therapie und Prognose Therapie. Besonders bei ausgeprägter oder rasch progredienter Hyperammonämie oder bereits manifester Enzephalopathie (Koma) ist eine unverzügliche Verlegung in ein Stoffwechselzentrum empfehlenswert, das die Akutdiagnostik der relevanten biochemischen Parameter sowie die Möglichkeit der extrakorporalen Detoxifikation (Hämodiafiltration) vorhält. Bereits vor der Verlegung müssen diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden (Fernandes et al. 2000, Hoffmann et al. 2002): Q Reduktion der Eiweißzufuhr, Q Glucose-/Insulin-/Lipidinfusionen, um eine katabole Stoffwechsellage zu beheben, Q Korrektur der metabolischen Azidose und Carnitingabe. Initial muss ein Behandlungsversuch mit Vitamin B12 (1 – 5 mg Hydroxycobalamin i. m. über mehrere Tage) durchgeführt werden. Die Hyperammonämie muss spezifisch mit intravenöser Infusion von Argininhydrochlorid und Natriumbenzoat (bis zu 350 mg/kgKG/24 h) behandelt werden (s.a. Kap. 10). Falls keine Vitamin-B12-Abhängigkeit vorliegt, besteht die Langzeittherapie aus Ernährung, in der Isoleucin, Valin und Methionin reduziert sind sowie in der L-Carnitin-Substitution (100 mg/kgKG/24 h). Bei den meisten Defekten mit Vitamin-B12-Abhängigkeit ist eine orale Supplementierung ungenügend. Prognose. Die Prognose der Methylmalonazidurien ist differenziert: Vitaminabhängige Erkrankungen haben in Abhängigkeit vom Zeitraum bis zur Diagnosestellung eine befriedigende Prognose, während sich bei fehlender Vitamin-B12-Abhängigkeit bzw. Restaktivität trotz frühzeitigem Therapiebeginn oftmals eine psychomotorische Retardierung, extrapyramidale Bewegungsstörungen, Osteoporose und progressive Niereninsuffizienz entwickeln. 9.4.4 3-Hydroxy-3-methylglutarazidurie Klinik Etwa ein Drittel der Patienten erkranken schon in der Neonatalzeit, bei den übrigen wird die Erkrankung zwischen dem 3. und 11. Monat manifest, mit rezidivierendem oder unstillbarem Erbrechen, schwerer metabolischer Azidose, hypoketotischer Hypoglykämie und Hyperammonämie. Nicht selten versterben Kinder in einer akuten Reye-Syndrom-artigen Krise. Neurologisch findet man neben Atemproblemen (Tachy-, Hyper-, Dyspnoe) häufig Muskelhypo-/ hypertonie, Hyperreflexie, Lethargie, Koma, Krämpfe sowie geistige Retardierung. Neuroradiologisch dokumentieren sich zerebrale Atrophien und Läsionen der weißen Substanz. Diagnostik Die 3-Hydroxy-3-methylglutarazidurie wird im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht ist die Analytik der organischen Säuren (neben 3-Hydroxy-3-methylglutarsäure u. a. 3-Methylglutacon-, 3-Methylglutar- und 3-Hydroxyisovaleriansäure sowie 3-Methylcrotonylglycin) oder der Acylcarnitine (3-Methylglutarylcarnitin) diagnostisch. Die enzymatische und/oder molekulare Bestätigung ist nicht unbedingt erforderlich und kann in Leukozyten, Lymphozyten oder kultivierten Fibroblasten erfolgen. Therapie und Prognose Therapie. Während akuter Krisen steht die Behandlung der Hypoglykämie durch reichliche Glucoseinfusionen ganz im Vordergrund, wodurch die katabole Stoffwechsellage durchbrochen wird. Meist bessert sich dadurch auch die metabolische Azidose. Bezüglich der Langzeittherapie ist zu beachten, dass diätetisch neben einer proteinreduzierten (1,5 – 2 g/kgKG/d) auch eine fettarme (ca. 25 % des täglichen Kalorienbedarfs als Fett) Kost gegeben werden muss. Entscheidend ist die prompte Behandlung kataboler Stoffwechsellagen (Notfallausweis). Prognose. Sind während der Erstmanifestation oder im Verlauf weiterer Stoffwechselattacken keine bleibenden Schäden entstanden, ist die Langzeitprognose als günstig anzusehen. Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der 3-Hydroxy-3-methylglutarazidurie liegt bei ca. 1 : 200 000. Ursächlich ist ein Defekt der 3-Hydroxy3-methylglutaryl-(HMG-)CoA-Lyase, welche die Spaltung von HMG-CoA in Acetoacetyl-CoA und Acetyl-CoA katalysiert. Diese Reaktion wird sowohl als letzter Schritte im Leucinabbau als auch in der hepatischen Ketogenese benötigt. Die hohe Konzentration organischer Säuren führt während akuter Krisen zu schweren metabolischen Azidosen. Darüber hinaus entwickelt sich durch die den Fettsäurenoxidationsdefekten vergleichbare gestörte Ketogenese eine hypoketotische Hypoglykämie. 9.4.5 Glutarazidurie Typ I Ätiologie und Pathogenese Die Häufigkeit der Glutarazidurie Typ I in Mitteleuropa beträgt etwa 1 : 100 000 Neugeborene, in manchen genetisch homogenen Populationen wie der Amish Community (Pennsylvania, USA) bis zu 1 : 400 (Baric et al. 1998, Hoffmann u. Zschocke 1999). Ein autosomal rezessiv vererbter Mangel der Glutaryl-CoA-Dehydrogenase im Abbau der Aminosäuren Lysin, Hydroxylysin und Tryptophan (Abb. 9.4) Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. enzymatisch, molekular oder auch über die Bestimmung pathologischer Metabolite mit Stabile-Isotopen-Verdünnungstechnik im Fruchtwasser erfolgen. 125 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Abb. 9.4 Metabolischer Block und pathologische Metaboliten bei Glutarazidurie Typ I. führt zum Anstau von Glutaryl-CoA, welches in großen Mengen zu Glutarsäure hydrolysiert und im Urin ausgeschieden wird. Kleinere Mengen werden zu Glutaconund 3-Hydroxyglutarsäure metabolisiert oder mit L-Carnitin zu Glutarylcarnitin konjugiert. Klinik Bei Geburt besteht als einziges Krankheitszeichen häufig eine Makrozephalie, welche in den ersten Lebensmonaten perzentilenkreuzend zunimmt. Sonst entwickeln sich die meisten Patienten über Monate unauffällig oder zeigen relativ unspezifische Symptome wie eine mäßige Muskelhypotonie, Irritabilität und Zittrigkeit. Die Kinder erkranken dann mit durchschnittlich 9 Lebensmonaten an einer akuten enzephalopathischen Krise. Diese verursacht eine striatale Schädigung. Häufig wird die akute Erkrankung als Enzephalitis und die entstandene irreversible, schwere dyston-dyskinetische Bewegungsstörung mit profunden Dyskinesien als Folgeschädigung fehlgedeutet. Die Intelligenz der Kinder ist zunächst weitgehend unbeeinträchtigt. Bleibt die Erkrankung undiagnostiziert und unbehandelt, entwickeln sich in späteren Lebensjahren oft zusätzlich eine generalisierte Hirnatrophie, eine Spastik mit Pyramidenbahnzeichen und eine geistige Retardierung. Ungefähr 25 % der Patienten erleiden keine enzephalopathische Krise, sondern entwickeln schleichend eine dyston-dyskinetische Bewegungsstörung und geistige Retardierung (Baric et al. 1998, Hoffmann u. Zschocke 1999). Einzelne Patienten bleiben während Kindheit und Jugend symptomfrei. Sie können lebenslang asymptomatisch bleiben oder im Erwachsenenalter einen psychomentalen Abbau mit leukodystrophen Veränderungen in der MRT entwickeln. Diagnostik Spezifische Diagnostik. Die Glutarazidurie wird im erweiterten Neugeborenenscreening zuverlässig erfasst. Bei akutem klinischem Verdacht ist die Diagnose durch den Nachweis der in allen Körperflüssigkeiten meist reichlich zu findenden Glutarsäure leicht zu stellen, jedoch sind auch Fälle beschrieben, bei denen trotz schwerer klinischer Symptomatik nur gering erhöhte oder sogar unauffällige Konzentrationen der Glutarsäure im Urin vorlagen. Darüber hinaus findet sich bei der Acylcarnitinanalyse eine erhöhte Konzentration von Glutarylcarnitin. In Einzelfällen kann die exakte quantitative Bestimmung der Glutarsäure und der 3-Hydroxyglutarsäure im Urin und Liquor diagnostisch weiterhelfen. In seltenen Fällen muss die Indikation zur Enzymuntersuchung in Leukozyten oder Fibroblastenkulturen oder zur molekulargenetischen Untersuchung allein aufgrund der typischen klinischen und neuroradiologischen Symptomatik gestellt werden. Pränataldiagnostik. Eine Pränataldiagnostik ist wegen der prinzipiell guten Behandelbarkeit nur in Ausnahmefällen indiziert. Sie kann enzymatisch, molekular oder auch über die Bestimmung pathologischer Metaboliten mit StabileIsotopen-Verdünnungstechnik durchgeführt werden. In jedem Falle ist ein Screening sowohl jüngerer wie auch älterer Geschwister sinnvoll. Neuroradiologie. Im CT bzw. MRT zeigen sich bereits im präsymptomatischen Stadium frontotemporale Atrophien und eine verzögerte Myelinisierung. Subdurale Hämatome und Hygrome können im späten Säuglingsalter als Hinweise auf eine Kindesmisshandlung fehlgedeutet werden. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 126 9.4 Wichtige Organoazidopathien Bei den neurologisch erkrankten Patienten lässt sich zusätzlich eine Schädigung der Nuclei caudati sowie der Globi palladi nachweisen. Ohne spezifische Behandlung entwickelt sich eine progrediente Hirnatrophie, mit frontotemporal betonter Atrophie sowie zerstörten Nuclei caudati und Globi palladi. 127 gen. Frühzeitig diagnostizierte und behandelte Kinder entwickeln sich demgegenüber normal. 9.4.6 Störungen des Biotinstoffwechsels Therapie. Grundpfeiler sind eine Eiweißreduktion oder, spezifischer, eine lysinarme Diät unter Aufstockung von fehlendem Eiweiß durch eine lysinfreie und tryptophanreduzierte Aminosäurenmischung, eine Carnitinsupplementierung und konsequent und zuverlässig durchgeführte Notfallmaßnahmen schon im Frühstadium interkurrenter Infekte (Fernandes et al. 2000). Da Riboflavin ein Coenzym der Glutaryl-CoA-Dehydrogenase ist, sollte eine mögliche (aber sehr seltene) Riboflavinabhängigkeit ausgetestet werden. Zur Milderung der neurologischen Symptome nach einer enzephalopathischen Krise können z. B. Baclofen, Vigabatrin oder Diazepam, nicht jedoch Valproat, eingesetzt werden. Da die intellektuellen Funktionen bei schweren körperlichen Beeinträchtigungen lange Jahre erhalten bleiben, ist eine technische Unterstützung (z. B. Rollstuhl, Sprachcomputer) besonders wichtig. Im Gefolge von Koordinationsstörungen auftretende Ernährungsschwierigkeiten können durch ein Gastrostoma gemildert werden. Prognose. Nach aufgetretener erster neurologischer Symptomatik ist die Prognose schlecht. Trotz Therapieeinleitung bessert sich das Krankheitsbild nicht oder nur wenig, und etwa 20 % der Patienten versterben im Rahmen krisenhafter neurologischer Verschlechterungen, unbeeinflussbarer Hyperthermien oder interkurrenter Erkrankun- Die Häufigkeit des schweren Biotinidase-Mangels (Restaktivität < 10 %) liegt bei 1 : 73 000 (Hoffmann u. Machill 1994). Biotin, ein Vitamin des B-Komplexes, ist das Coenzym von 4 CO2-fixierenden Carboxylasen, der zytosolischen Acetyl-CoA- sowie der mitochondrialen PropionylCoA-, 3-Methylcrotonyl-CoA- und Pyruvatcarboxylasen (Abb. 9.5). Durch die Holocarboxylasesynthetase wird es kovalent an die entsprechenden Apoenzyme gebunden. Sowohl zur enteralen Aufbereitung des an Protein gebundenen Biotins als auch zur endogenen Rückgewinnung aus Biotinylpeptiden und Biocytin (einem Konjugat von Biotin mit Lysin) wird das Enzym Biotinidase benötigt. Beide Enzymdefekte werden autosomal rezessiv vererbt. Der Holocarboxylasesynthetase-Mangel wird meist schon im Neugeborenenalter symptomatisch, da die Aktivität der Carboxylasen von Anfang an gestört ist. Der Biotinidase-Mangel führt in Abhängigkeit von enzymatischen (ohne Restaktivität, mit geringer Restaktivität und normaler Michaelis-Konstante, Km-Variante mit verringerter Affinität für Biocytin) und äußeren Variationen (Ernährung, metabolische Belastungen) im Verlaufe von Wochen bis Jahren (im Mittel mit 3 Monaten) zur Biotinveramung und klinischen Symptomen. Selten kann ein Biotinmangel in jedem Lebensalter aus einer Darmsterilisation oder Langzeiternährung mit rohem Eiweiß resultieren. Abb. 9.5 Biotinstoffwechsel. Die Carboxylierungen von 3-Methylcrotonyl-CoA, Propionyl-CoA, Acetyl-CoA und Pyruvat sind biotinabhängig. Ein multipler Carboxylase-Mangel kann durch fehlende Aktivierung der Apoenzyme (Holocarboxylasesynthetase) oder durch mangelnde Bereitstellung von Biotin aus Biocytin und proteingebundenem Biotin (Biotinidase-Mangel) verursacht werden. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Therapie und Prognose 9 Störungen im Stoffwechsel von Amino- und Karbonsäuren Klinik Literatur Bei Defekten im Biotinstoffwechsel können sich sowohl metabolische Krisen als auch eine progrediente neurologische Symptomatik entwickeln. Metabolische Krisen sind durch Ketoazidose, Lactatazidose wie auch Hyperammonämie gekennzeichnet. Häufige Symptome sind Muskelhypotonie, Lethargie und myoklonische Anfälle, gefolgt von Ataxie, Entwicklungsretardierung, Optikusatrophie, Amaurose, sensoneuralem Hörverlust und Sprachstörungen. Ferner findet man respiratorische Probleme (Hyperventilation, Stridor, Apnoe) sowie ekzematöse Hautveränderungen und Alopezien. American Academy of Pediatrics: Maternal phenylketonuria. Pediatrics 2001;107:427 – 8. Baric I, Zschocke J, Christensen E, Duran M, Goodman SI, Leonard JV, Müller E, Morton DH, Superti-Furga A, Hoffmann GF. Diagnosis and management of glutaric aciduria type I. J Inher Metab Dis 1998; 21:326 – 40. Bick U, Ullrich K, Stober U, Möller H, Schuierer G, Ludolph AC, Oberwittler C,Weglage J, Wendel U. White matter abnormalities in patients with treated hyperphenylalaninaemia: magnetic resonance relaxometry and proton spectroscopy findings. Eur J Pediatr 1993; 152:1012 – 20. Bickel H, Gerrard J, Hickmans EM. 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In Leukozyten oder Fibroblastenkulturen können auch die Aktivitäten aller Carboxylasen differenziert bestimmt und somit die Diagnose eines multiplen Carboxylase-Mangels, bzw. eines Holocarboxylasesynthetase-Mangels gesichert werden. Die krankheitsverursachenden Mutationen können sowohl für den Biotinidase-Mangel wie für den Holocarboxylasesynthetase-Mangel in Speziallaboratorien nachgewiesen werden, wobei eine molekulare Bestätigung nicht unbedingt erforderlich ist. Speziell beim Biotinidase-Mangel ist ein Geschwisterscreening sinnvoll. Therapie und Prognose Therapie. Beim Biotinidase-Mangel führen tägliche orale Gaben von 5 – 10 mg Biotin zu einer raschen Normalisierung des Intermediärstoffwechsels und oft zu einer frappierend raschen klinischen Besserung. Zur Therapie des Holocarboxylasesynthetase-Mangels werden oft höhere Dosen an Biotin benötigt (bis 50 mg/d). Prognose. Sind noch keine irreversiblen Schäden durch wiederholte metabolische Krisen gesetzt, ist die Prognose des Biotinidase-Mangels sehr gut. Aus Hoffmann, G. F., A. J. Grau: Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie (ISBN 9783131363213) © Georg Thieme Verlag KG 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmtund darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 128 children with continuously treated phenylketonuria. American Journal on Mental Retardation, 1997;102:27 – 36. Guldberg P, Mikkelsen I, Henriksen KF, Lou HC, Güttler F. In vivo assessment of mutations in the phenylalanine hydroxylase gene by phenylalanine loading: Characterization of seven common mutations. European Journal of Pediatrics 1995;154:551 – 6. Guldberg P, Rey F, Zschocke J, Romano V, François B, Ullrich K, Hoffmann GF, Burgard P, Schmidt H, Dianzani I, Ponzone A, Rey J, Güttler FA. 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