Diederichs Gelbe Reihe Tenzin Wangyal Rinpoche DIE HEILENDE KRAFT DES BUDDHISMUS Leben im Einklang mit den fünf Elementen Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl Diederichs Gelbe Reihe Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Healing with Form, Energy and Light bei Snow Lion Publications Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2002 Tenzin Wangyal © der deutschen Ausgabe Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2004 Alle Rechte vorbehalten Textredaktion: Susanne Schneider Umschlaggestaltung: Die Werkstatt München / Weiss · Zembsch, unter Verwendung eines Fotos von zefa visual media, München Produktion: Ortrud Müller Satz: EDV-Fotosatz Huber / Verlagsservice G. Pfeifer, Germering Druck und Bindung: GGP Media Pößneck Printed in Germany 2004 ISBN 3-7205-2487-6 Dieses Buch ist gewidmet: Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama Seiner Heiligkeit Lungtok Tenpa’i Nyima Rinpoche Yongzin Tenzin Namdak Rinpoche und allen Lehrern, von denen ich gelernt habe. Seine Heiligkeit der Dalai Lama im Meri-Bönpo-Kloster in Indien INHALT Das Gebet im Zwischenzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die Bön-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Die drei Ebenen spiritueller Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die äußere Ebene 28 · Die innere Ebene 29 · Die geheime Ebene 30 Die Verbindung zum Heiligen suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fünf Reinen Lichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auflösung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnis durch die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Beziehung zu den Elementen aufbauen . . . . . . . . . . . . 31 36 41 42 44 Erde 45 · Wasser 49 · Feuer 51 · Luft 53 · Raum 56 Die Elemente und ihr Einfluss auf unser Wohlbefinden . . . Wie die Elemente aus dem Gleichgewicht geraten . . . . . . . . Wie Probleme entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative und positive Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das richtige Element finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeit mit den Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die richtige Ebene auswählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 61 65 68 69 72 74 Die fünf Elemente im Schamanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 La, Yi und Sem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La, Sok und Tse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiten mit den Naturelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 86 87 89 Die neun Atemzüge der Reinigung 91 · Erde 94 · Wasser 95 · Feuer 96 · Luft 98 · Raum 99 · Widmung 100 Die Elementargeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Beziehung zu nicht-materiellen Wesen aufbauen . . . . Die Darbringung von Opfergaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelenverlust und die Rückholung von Elementarenergien Türkis, Pfeil und Seelentier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückholung der Elementarenergien – die Praxis . . . . . . . . . 100 107 110 118 121 123 Überblick über die gesamte Übung 124 · Die neun Atemzüge der Reinigung 125 · Guru Yoga 125 · Die vier Gäste 126 · Die Umwandlung des Körpers 128 · Die Umwandlung der Energie 131 · Die Elementarenergien zurückholen 132 · Die Umwandlung des Geistes 136 · Das Langlebensmantra 138 · Widmung 139 · Die Praxis der Elementargöttin mit den anderen Elementen 139 Die Praxis im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Die fünf Elemente im Tantra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Pferd, Pfad, Reiter und Panzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Das Pferd: Prana 148 · Die Funktionen der fünf Pranas 149 · Der Pfad: die Kanäle 154 · Der Reiter: Tigle 157 · Der Panzer: die Keimsilben 157 Aspekte des Tantra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die Chakren 159 · Positiv und negativ 160 · Positive Qualitäten stabilisieren 163 Die Praxis des Tsa Lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Haltung 169 · Atem und Prana 170 · Transformation durch Halten und Loslassen 172 · Übungsanweisungen 174 · Die fünf äußeren Tsa-Lung-Übungen 175 · Die fünf inneren Tsa-Lung-Übungen 189 · Die fünf geheimen Tsa-Lung-Übungen 192 Die Chakren öffnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die fünf Elemente im Dzogchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Die Große Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samsara erschaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sechs Lampen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klang, Licht und Strahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Problemen leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samsara auflösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wertschätzung des Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einswerden mit dem Raum und den anderen vier Lichtern Das Dunkelretreat: Visionen der fünf Elemente . . . . . . . . . . 199 201 203 211 214 217 223 228 230 Zum Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zwölf Tierkreiszeichen und ihre Richtungen . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nützliche Adressen für Praktizierende . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gebet im Zwischenzustand in tibetischer Sprache und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 241 242 243 244 248 Shenla Odkar DAS GEBET IM ZWISCHENZUSTAND : DER KOSTBARE BLÜTENKRANZ A OM HUNG In dem Zwischenzustand, der unser Leben ist, im gegenwärtigen Augenblick, erkennen wir unseren Geist nicht und lassen uns von illusorischen Aktivitäten täuschen. Wir erinnern uns nicht an Vergänglichkeit und Tod, streben nur nach den Schätzen dieses Lebens und sind an das Leid von Geburt, Alter, Krankheit und Tod gefesselt. Möge ich, wenn dieser gegenwärtige, illusorische Körper mit einem Mal die letzte Krankheit erleidet, mich von der Anhaftung an alle Objekte der Materie und des Geistes selbst befreien. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder vereinen möge. Denn dann reise ich im Zwischenzustand des Sterbens allein in die andere Dimension, obschon ich von Verwandten und lieben Menschen umgeben bin. Das Leben lässt sich nicht einmal für einen Augenblick verlängern, wenn die vier Elemente dieses magischen Körpers sich auflösen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn sich die Energie der Erde im Wasser auflöst, erleben wir den Zusammenbruch des Körpers, begleitet von Visionen von Rauch und Trugbildern. 11 Wenn das gelbe Licht, das unser ist, plötzlich erscheint, möge ich es als den göttlichen Körper von Salwa Rangyung, der aus sich selbst entstandenen Klarheit, erkennen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn die Energie des Wassers sich im Feuer auflöst, verliert der Körper seine Farbe. Durst plagt uns, wir bleiben mit trockener Zunge zurück, begleitet von Visionen strömenden Wassers. Wenn die Reinheit des Wassers als blaues Licht erscheint, möge ich sie als den göttlichen Körper von Gawa Dondrup, der freudigen Verwirklichung, erkennen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn die Energie des Feuers sich im Wind auflöst, wird der Körper kalt. Die Energiekanäle lösen sich auf, und wir sehen Schwärme von glühwürmchenähnlichen Lichtflecken. Wenn das rote Licht des Selbst erscheint, möge ich es als die Gottheit Chetak Ngomed, das Ungeschiedene, Dinglose, erkennen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn die Windenergie sich ins Bewusstsein auflöst, hört der Atem auf, die Augen verdrehen sich nach oben, und wir sehen Butterlampen, die verlöschen. Wenn das grüne Licht des Selbst erscheint, möge ich es als die tugendhafte Göttin Gelha Garchug, die Vielfalt des Tanzes, erkennen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. 12 Wenn das Bewusstsein sich im allumfassenden Grund auflöst, hören die inneren Organe der Sinneswahrnehmung und ihre äußeren Objekte auf zu existieren, begleitet von der Vision eines wolkenlosen Himmels. Wenn das klare Licht des Bardo erscheint, möge ich es als Kunang Chabpa erkennen, das alles durchdringt. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn die sechs Bewusstseinsaggregate und ihre sechs Objekte sich ins Herz hinein auflösen, wenn die Dunkelheit kommt und mit ihr der Blutregen in einem See aus Blut, wenn der große Klang erschallt und das große Licht erstrahlt, möge ich all meine Visionen als Illusion erkennen. Möge ich Verwirklichung in der aufsteigenden, grundlegenden Bewusstheit erlangen. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Wenn das Bewusstsein zum Waisen wird, weil es keine Stütze mehr hat, wenn die Vision des Schrecken erregenden Herrn des Todes in der anderen Dimension sichtbar wird, wenn die Illusionen von Klang, Licht und Lichtstrahlen erscheinen, segne mich, dass ich im Zwischenzustand Befreiung finde, indem ich all dies als aus sich selbst entstehende Selbst-Energie erkenne. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Segne mich, dass ich alle Visionen als Illusion erkenne. Segne mich, dass ich einer Geburt in den niedrigen Bereichen entgehe. Segne mich, dass ich die Eine Natur der drei Zeiten sehe. Segne mich, dass ich die Buddhaschaft der drei kayas erlange. Segne mich, dass ich die fünf Weisheitslichter erlange. 13 Segne mich, dass ich den zahllosen fühlenden Wesen nützlich bin. O Meister, segne mich aus deinem tiefen Mitgefühl heraus. Segne mich, damit ich die täuschenden Visionen des Bardo durchschneide. Segne mich, auf dass ich die Leerheit der Mutter und das Gewahrsein des Kindes wieder einen möge. Aus: Gur zhog chun pos mdzad pa’i smon lam rin chen phreng ba Tenzin Wangyal Rinpoche mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama in Dharamsala, Indien 14 EINFÜHRUNG ch wuchs in enger Verbindung mit den Kräften der Natur auf. Dies war schon durch unsere Lebensweise bedingt. Wir kannten weder Heizung noch fließendes Wasser. Unser Wasser holten wir in Eimern von der nahen Quelle, unsere Häuser heizten wir mit Holz und kochten auf offener Flamme. Auf unserem kleinen Gartengrundstück bauten wir Gemüse an, vor allem Zwiebeln und Tomaten. Wir berührten also buchstäblich die Erde. Sommerregen hieß für uns zweierlei: Überschwemmung und Wasser für den Rest des Jahres. Die Natur musste nicht in Parks erhalten werden. Sie lag auch nicht hinter dickem Fensterglas. Unser enger Kontakt mit den Elementen geschah ja nicht aus Vergnügen, auch wenn er häufig Freude bereitete. Zwischen unserem Leben und dem Feuer, dem Holz, dem Wasser und dem Wetter bestand ein direkter, unmittelbarer Zusammenhang. Unser Überleben hing von den Elementarkräften der Natur ab. Vielleicht ist es eben diese Abhängigkeit, die uns Tibeter wie die meisten indigenen Kulturen begreifen ließ, dass die Welt der Natur heilig ist, bevölkert mit Wesen und Kräften, die sowohl sichtbar als auch unsichtbar sein konnten. So tranken wir während des Losar-Festes, der tibetischen Neujahrsfeiern, keinen Champagner. Wir feierten, indem wir zur nahe gelegenen Quelle gingen und dort ein Dankesritual vollzogen. Wir opferten den Nagas, den Wassergeistern, die das Wasser in unserer Gegend beherrschten. Und wir brachten den Ortsgeistern unserer Umgebung Rauchopfer dar. Diese Glaubensform und die dazu gehörigen Rituale haben sich über die Jahrhunderte entwickelt. Im Westen aber werden sie I 15 häufig als primitiv betrachtet. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die Projektion menschlicher Ängste auf die Umwelt, wie dies einige Anthropologen und Historiker deuten. Unsere Art, mit den Elementen zu kommunizieren, wurzelt in der direkten Erfahrung der heiligen Natur innerer und äußerer Elemente, welche die Menschen und die Weisen unter ihnen machten. Wir nennen diese Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum (Äther). Mit diesem Buch verfolge ich mehrere Ziele: Ich möchte dazu beitragen, dass wir wieder mehr Achtung vor der Umwelt bekommen, denn diese muss größer werden, wenn wir unsere Lebensqualität nicht dauerhaft schädigen wollen. Des Weiteren möchte ich dem westlichen Leser die traditionelle Welt der Tibeter nahe bringen. Und allen spirituell Interessierten möchte ich zeigen, dass ein Verständnis der Elemente für jede Form der Praxis nützlich ist. Diejenigen unter den Lesern, die einem spirituellen Pfad folgen, ziehen aus dem Wissen um die Elemente und ihrer Beziehungen zueinander vielfältigen Nutzen: Sie wissen, warum sie eine bestimmte Praxis machen, erfahren, welche Übungen nötig sind und wann, und lernen, in welchen Situationen eine bestimmte Praxis nutzlos oder sogar hinderlich sein kann. Die Lehren in diesem Buch entstammen der tibetischen BönTradition. Sie kreisen um drei Dimensionen des spirituellen Weges. Die hier vorgestellten Methoden sind im Bön und im Buddhismus traditionelle Übungswege. Das bedeutet, dass sie in die Praxis umgesetzt werden müssen. Ein rein intellektuelles Verständnis genügt nicht. Manchmal glauben wir, etwas zu wissen, wenn wir einfach nur darüber informiert sind. Wir denken dann, wir verstehen alles, worüber wir reden können. Aber wenn wir über eine Praxis nur reden, ohne sie auszuführen, ist das so, als hätten wir zwar Medikamente im Arzneischränkchen, würden uns aber weigern, sie zu nehmen und geheilt zu werden. Die meisten Übungen in diesem Buch haben psychologisch gesehen einen unterstützenden Charakter. Sie steigern unsere 16 Lebensqualität, fördern Heilung und bieten einen gewissen Schutz gegen Unglück und Krankheit. Sie legen die Fundamente dafür, dass wir unserem Leben mit entspannter Wachheit begegnen, statt es nur wie betäubt über uns ergehen zu lassen bzw. uns endlos darüber aufzuregen. Auf diese Weise schenken sie Gesundheit, Kraft und Lebensfreude. Das ist gut und sinnvoll. Doch die hier vorgestellten Übungen wurden mit dem Ziel entwickelt, unser spirituelles Wachstum voranzutreiben. In diesem Sinne verändern sie unsere Einstellung zur Natur und zu unserer persönlichen Erfahrung. Sie öffnen und erweitern unsere Sicht der Dinge, weil sie unsere meditative Praxis stärken. Wenn die Elemente in unserem Leben aus dem Gleichgewicht geraten sind, ist es sehr schwierig zu meditieren. In solchen Zeiten müssen wir mit Krankheit, Stress, Ablenkung und Trägheit arbeiten. Die hier vorgestellten Übungen helfen uns, äußere Hindernisse ebenso zu überwinden wie Hindernisse im Geist, indem sie die Elementarkräfte im Individuum ausgleichen. Sind die Elemente im Gleichgewicht, ist es sehr viel einfacher, in der Natur des Geistes zu ruhen, der Buddha-Natur. Und dies ist letztendlich das höchste Ziel jeder spirituellen Reise – und gleichzeitig die höchste Form der Übung. Die Übungen werden hier zusammen mit ihrem theoretischen Hintergrund vorgestellt. Dies entspricht unserer Tradition, die lehrt, dass die Art, wie wir die Welt sehen, sich sowohl auf unsere Praxis als auch auf unser Leben auswirkt. Vor allem habe ich mich bemüht, Übungen aufzunehmen, die sich gut in den Alltag integrieren lassen. Wir müssen uns also nicht von der Welt zurückziehen, um zu praktizieren, obwohl natürlich auch dies möglich ist. Aber wir brauchen nicht sämtliche Termine in unserem Organizer zu streichen, weil wir uns jetzt mit den Elementen auseinander setzen wollen. Alles, was existiert, setzt sich aus den Elementen zusammen. Daher können wir immer mit den Elementen praktizieren, jederzeit, wo immer wir auch sind und was immer wir gerade tun mögen. 17 In diesem Buch gehe ich davon aus, dass der Leser mit bestimmten Begriffen vertraut ist. So benutze ich beispielsweise die Begriffe Dzogchen und Große Vollkommenheit synonym. Für Rigpa benutze ich Worte wie »innewohnendes Gewahrsein«, »nicht-duales Gewahrsein« oder »nicht-duale Präsenz«. Die »Natur des Geistes« beziehungsweise der »natürliche Zustand« steht hingegen für die Untrennbarkeit von Leerheit und Klarheit des Geistes, also für die Buddha-Natur, die unsere wahre Natur ist. Immer wieder zitiere ich aus traditionellen tibetischen Texten. Die von mir angefertigten Übersetzungen sind nicht wortwörtlich exakt. Das liegt daran, dass ich mich bemüht habe, das Gemeinte besser zu treffen. In der Bibliografie können alle Interessierten die Angaben zum tibetischen Quellenmaterial lesen und sich so selbst vergewissern, wenn sie dies wünschen. Viele der hier benutzten Begriffe sind in meinem früheren Buch Übung der Nacht, das im selben Verlag erschienen ist, genauer erklärt. Dieses Buch enthält eine geballte Ladung an Information. Daher mein Rat an den Leser: Hören Sie auf zu lesen, wenn Sie »voll« sind. Nehmen Sie sich Zeit, alles zu verdauen und das Gelesene anhand Ihrer eigenen Erfahrung zu überprüfen. Auf diese Weise werden die Lehren zu einem Teil Ihres Lebens. Die Bön-Tradition Da die meisten Menschen im Westen Bön nicht kennen, möchte ich an dieser Stelle eine kurze Einführung in diese Tradition und ihre Geschichte geben. Doch wie so oft in der Geschichte geistiger Traditionen, egal welchen Völkern bzw. welchen Ländern sie entstammen mögen, herrscht über die tatsächliche Vergangenheit nicht unbedingt Einigkeit. Die mündliche Überlieferung besagt, dass die Bön-Religion über 17 000 Jahre alt ist. Moderne Wissenschaftler hingegen halten sie für weit jünger. In jedem 18 Fall ist Bön die ursprüngliche Religion des tibetischen Volkes, in der viele seiner heutigen spirituellen Traditionen wurzeln. Yungdrung Bön (Ewiges Bön) war der erste vollständige Pfad zur spirituellen Befreiung in Tibet. Er wurde von Buddha Tonpa Shenrab aus der Familie Mushen begründet. Sein Vater war Gyalbon Thokar, seine Mutter Yoche Gyalshema. Sie lebten in Tazig ‘Olmo Lung Ring, das manche Gelehrte im Nordwesten Tibets ansiedeln, andere jedoch als Teil des mythischen Königreiches Shambhala betrachten. Die Tradition berichtet von drei »Toren« oder Entstehungsorten des Bön. Das Erste war Tazig ‘Olmo Lung Ring. Das Zweite lag in Zentralasien, möglicherweise im alten Persien. Die Historiker glauben, dass Bön in Zentralasien weit verbreitet war, bevor der Islam sich in dieser Gegend ausbreitete. Viele der alten Kultstätten und Verehrungsgegenstände, welche die Ausgrabungen dort zu Tage fördern, sind möglicherweise der Bön-Tradition zuzurechnen und nicht dem wesentlich jüngeren Buddhismus. Das dritte »Tor« war das Königreich von Shang Shung. Es umfasste einen Großteil des westlichen Tibet. Die Lehren entstanden zuerst in Tazig ‘Olmo Lung Ring und breiteten sich dann in Zentralasien sowie später in Shang Shung bzw. Tibet aus. Die Legende berichtet, dass Tonpa Shenrab ins südliche Tibet kam, um nach Pferden zu suchen, welche die Dämonen ihm gestohlen hatten. Er besuchte den Heiligen Berg Kong-po, der heute noch von den Bön-Pilgern entgegen dem Uhrzeigersinn umschritten wird. Als Tonpa Shenrab im Süden Tibets ankam, fand er dort ein unterentwickeltes Volk vor, das die Geister mit Tieropfern zu besänftigen pflegte. Er machte den Tieropfern ein Ende und lehrte die Menschen, statt der Tiere Gerstenmehl zu opfern, was die Tibeter aller Traditionen heute noch tun. Wie alle Buddhas lehrte auch Tonpa Shenrab so, wie es der Aufnahmefähigkeit seiner Zuhörer entsprach. Da die Menschen von Shang Shung noch nicht die Voraussetzungen erfüllten, die allerhöchsten Lehren aufzunehmen, unterrichtete er sie im 19 niedrigeren Fahrzeug, das heißt in den Lehren des Schamanismus, und betete, dass sie sich durch Eifer, Hingabe und Fleiß auf die höheren Lehren des Sutra, Tantra und Dzogchen vorbereiten mögen. Und letztendlich erreichten alle Lehren von Buddha Tonpa Shenrab das Königreich Shang Shung. Jahrhunderte später wurden unter der Herrschaft des zweiten tibetischen Königs, Mu Khri Tsenpo, viele der tantrischen und Dzogchen-Belehrungen aus der Sprache Shang Shungs ins Tibetische übersetzt. Obwohl diese Lehren in mündlicher Überlieferung schon seit Jahrhunderten in Tibet existierten, wurden sie so zum ersten Mal schriftlich in tibetischer Sprache niedergelegt. Lange Zeit dachten die westlichen Gelehrten, Shang Shung und seine Sprache hätten nur im Reich des Mythos existiert. Mittlerweile aber findet man immer mehr Schrift-Fragmente aus Shang Shung, sodass mittlerweile das Gegenteil bewiesen ist. Die ersten sieben tibetischen Könige sollen gestorben sein, ohne einen Körper zu hinterlassen, was ein Zeichen für ein hohes Maß an spiritueller Verwirklichung ist. Man glaubt, sie hätten den so genannten »Regenbogenkörper« (tib. ‘ja ‘lus) erreicht, was ein Zeichen für die speziell durch Dzogchen-Übungen erreichte Erleuchtung ist. Das würde bedeuten, dass die Dzogchen-Lehren zu jener Zeit in Tibet bereits existierten. Buddhistische Gelehrte nehmen an, dass das Dzogchen sich von Indien her nach Tibet ausbreitete, und tatsächlich spricht auch die Bön-Tradition von einer Überlieferungslinie, die aus Indien kam. Doch der Großteil der tibetischen Dzogchen-Lehren stammt aus Shang Shung. Die wichtigsten Bön-Lehren werden in den Neun Wegen, auch bekannt als die Neun Fahrzeuge, zusammengefasst. Dies sind neun Abstufungen der Lehren. Jede davon hat eine eigene Sicht sowie eigene Meditationspraktiken und zielt damit auf ganz spezielle Ergebnisse ab. In den »niederen Fahrzeugen« geht es um Medizin, Astrologie, Zukunftsschau und so weiter. 20 Darüber stehen die Sutra- und Tantra-Lehren. Das höchste Fahrzeug sind die Dzogchen-Lehren, die Belehrungen über die Große Vollkommenheit. Von diesen Neun Wegen gibt es drei regionale Varianten, die man als Südlichen, Zentralen und Nördlichen Schatz bezeichnet. Die schamanischen Techniken, die hier vorgestellt werden, stammen in erster Linie aus dem Südlichen Schatz. Der Zentrale Schatz steht den buddhistischen Lehren der Nyingma-Schule sehr nahe, der Nördliche Schatz ist leider verloren gegangen. Jede dieser drei Regionaltraditionen enthält bestimmte Aspekte der Sutra-, Tantra- und DzogchenLehren. Außerdem gibt es als Quelle noch eine 15-bändige Textsammlung, welche die Lebensgeschichte des Buddha Tonpa Shenrab beinhaltet. Chinesische Statistiken zeigen, dass Bön seiner Verbreitung nach die zweitwichtigste Religion in Tibet ist. Bön-Priester sind über das ganze Land verteilt. Die alten Lehren werden heute noch sowohl von Mönchen bzw. Nonnen als auch von Laien praktiziert. Sogar im 20. Jahrhundert gab es Bön-Meister, die den Regenbogenkörper erlangt haben. Dies ist das höchste Zeichen der letztendlichen Verwirklichung im Dzogchen. Zum Zeitpunkt seines Todes lässt der Praktizierende, der einen hohen Grad an Realisation erlangt hat, die fünf gröberen Elemente los, aus denen der Körper besteht. Er oder sie löst sie in ihre Essenz auf, in reines, elementares Licht. Während dieses Vorgangs verliert sich die materielle Form des Körpers in einem wunderbaren Reigen vielfarbigen Lichts, das wir Regenbogenkörper nennen. Manchmal bleibt vom toten Körper überhaupt nichts zurück, manchmal nur Haare und Nägel. In jedem Fall ist der Regenbogenkörper ein Zeichen dafür, dass der Praktizierende die höchste Ebene der Verwirklichung erlangt hat und den Dualismus von Materie und Geist bzw. Leben und Tod überwunden hat. Nachdem die Chinesen Tibet besetzt hatten, begann ein sehr strenges Trainingsprogramm für Bön-Mönche im Menri-Kloster 21 in Dolanji, Indien, und im Tritsen-Norbutse-Kloster in Kathmandu, Nepal. Dies war vor allem der außerordentlichen Anstrengung solcher Persönlichkeiten wie Seiner Heiligkeit Lungtok Tenpa’i Nyima Rinpoche sowie dem Lopön (Meditationsmeister) Tenzin Namdak Rinpoche und vielen älteren Mönchen zu verdanken. Die Ausbildung schloss mit dem Grad eines Geshe ab, einer Art Doktorwürde, die lange Studien voraussetzt. Die erste Klasse, die außerhalb Tibets ausgebildet wurde, machte 1986 ihren Abschluss. Ich war einer von ihnen. Viele der Bön-Traditionen gingen ebenso wie die tibetischbuddhistischen Traditionen unter der Herrschaft der Chinesen in Tibet verloren. Andere sind vom Untergang bedroht. Andererseits haben sowohl der tibetische Buddhismus als auch das Bön mittlerweile in Indien und Nepal Fuß gefasst, von wo aus sie sich in der ganzen Welt verbreiten. Wie viele Leser vielleicht wissen, gibt es auch unter den Praktizierenden des tibetischen Buddhismus viele Missverständnisse, die die Bön-Tradition betreffen. Bön erlitt dasselbe Schicksal wie alle indigenen Religionen. Ähnliches geschah vor Hunderten von Jahren in Europa, als das sich ausbreitende Christentum die schamanischen Urkulte verdrängte. Wenn eine neue Religion auf den Plan tritt, versucht sie häufig, Anhänger zu gewinnen, indem sie die etablierten Glaubensformen als minderwertig darstellt, um so die Menschen zu überzeugen, dass diese alten Formen überwunden werden müssten. Ich habe festgestellt, dass viele Tibeter, auch hohe Lamas, welche die Bön-Tradition nicht aus eigener Anschauung kennen, leichtfertig negative Urteile über diese Religion äußern. Diese Haltung kann ich nicht verstehen. Natürlich trifft diese Art von Vorurteil nicht nur die Bön-Religion. Auch viele Schulen innerhalb des tibetischen Buddhismus werden auf diese Weise zum Opfer von Vorurteilen. Diese Anmerkungen sind vor allem für die jetzigen Schüler des Bön gedacht. Ich möchte, dass sie über diese Tatsache Bescheid wissen, bevor sie selbst mit derartigen 22 Vorurteilen konfrontiert werden. Ich hoffe sehr, dass jetzt, wo die tibetische Form der Spiritualität sich allmählich über die ganze Welt verbreitet, die Begrenztheit solchen Denkens ein für alle Mal ein Ende findet. Glücklicherweise gibt es auch viele tibetische Buddhisten, Laien, Mönche und hohe Lamas, die sich dem ökumenischen Gedanken verpflichtet fühlen, der sich im Tibet des 19. Jahrhunderts ausbreitete. Ihr Bestreben ist es, Toleranz und Verständnis unter den einzelnen spirituellen Schulen zu fördern. Damit stehen sie unter dem Schutz von Seiner Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama, der Bön als eine der fünf wichtigsten spirituellen Traditionen Tibets anerkannt hat. Er hat die Arbeit von Seiner Heiligkeit Lungtok Tenpa’i Nyima Rinpoche und Lopön Tenzin Namdak Rinpoche immer wärmstens unterstützt und gefördert. Er bat sie persönlich darum, das Erbe des alten Bön zu bewahren, damit dieser Schatz auch künftig allen Tibetern zur Verfügung stehen möge. Die Menschen im Westen stehen dem Bön offen gegenüber, wenn sie erst mehr darüber wissen. In den Texten und Übungen finden sie Studium und Praxis, Glauben und kritische Vernunft gleichermaßen angesprochen. Das Bön, das sich in Zeiten entwickelt hat, in denen es keine schriftliche Überlieferung gab, bietet Gelegenheit zu schamanischer Praxis ebenso wie zu philosophischen Auseinandersetzungen. Die klösterliche Tradition hat darin ebenso Platz wie yogische Übungen, tantrische Übertragungen und die höchsten Lehren der Großen Vollkommenheit. Obwohl dieses Buch in erster Linie für den Praktizierenden gedacht ist, hoffe ich, dass ich den Lesern damit auch einen Einblick in den ungeheuren Reichtum und die Tiefe der spirituellen Tradition des Bön geben kann. Die Übungen des spirituellen Weges zeitigen, wenn sie korrekt verstanden und angewendet werden, konkrete Resultate. Diese wiederum stärken den Glauben. Wenn der Glaube stark und auf innere Sicherheit gegründet ist, ermutigt er zur Praxis. Glaube 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Tenzin Wangyal Die heilende Kraft des Buddhismus Leben im Einklang mit den fünf Elementen Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, ca. 256 Seiten, 12,5 x 18,7 cm ISBN: 978-3-7205-2487-2 Diederichs Erscheinungstermin: Februar 2004 Tenzin Wangyal Rinpoche erschließt eine der ältesten geheimen Traditionen Tibets: die Arbeit mit den fünf Elementen. Der vom Dalai Lama autorisierte Lehrer leitet zu Ritualen und Meditationen der Heilung an, die bisher nur von Mönch zu Mönch weitergegeben wurden. Mit Tenzin Wangyal Rinpoche besinnt sich der tibetische Buddhismus auf seine schamanischen Wurzeln.