D I E E U R O PÄ I S C H E C H A R TA F Ü R S O L A R E N E R G I E I N A R C H I T E K T U R U N D S TA D T P L A N U N G Die Europäische Charta für Solarenergie in Architektur und Stadtplanung Begleitende Überlegungen zu ihrer aktuellen Neuauflage THOMAS HERZOG Es sind einige konzeptionell prägende Merkmale moderner Architektur im 20ten Jahrhundert, die in großem Umfang für hohen Energieverbrauch verantwortlich sind. Sie stehen damit auch dem Bemühen entgegen, den gewaltigen Energiebedarf in den industrialisierten Ländern möglichst weitgehend durch Solarenergie zu decken. Die Antwort darauf war die 2006 auf der 4. Europäischen Konferenz für Solararchitektur und Stadtplanung vom Münchner Architekturprofessor Thomas Herzog vorgelegte Charta, deren praktische Auswirkungen er bilanziert. Thomas Herzog Drei signifikante Entwicklungen waren für die Ignorierung der Energiefrage in Architektur und Stadtentwicklung maßgeblich: Die Charta von Athen, Programmschrift der Moderne 1933 forderte (aus seinerzeit verständlichen Gründen zur Verbesserung der städtischen Lebensbedingungen) die Separierung der Funktionen wie Wohnen, Erziehung, Arbeitsleben/Produktion, Kultur und Freizeit und bewirkte damit eine ungeheure Zunahme von individueller Mobilität, was heißt Verkehr/ Energieverbrauch/Infrastrukturaufwand/Emissionen ... Ein grundlegende Irrtum lag in einer falschen Analogie, die aufkam als die Industrialisierung des Bauens in der Nachkriegszeit bei uns propagiert und praktiziert wurde: das Ziel, Häuser durchwegs gleicher Art wie Autos vom Fließband herstellen zu können – so als wären die lokalen klimatischen, ressourcenbezogenen 10 SOLARZEITALTER 3 2008 und kulturellen Gegebenheit der Immobilie zu vernachlässigen. Die zweifellos aus vielen Gründen zu betreibende Weiterentwicklung der Leichtbaukonstruktionen führte u. a. aber auch zu starker Minimierung der baulichen Massen, denen nur noch Schutzfunktionen gegen das Außenklima abverlangt wird, ohne weitere für das Raumklima maßgebliche Eigenschaften zu bieten. Dessen Konditionierung hatten von laufender Energiezufuhr abhängige Klimaanlagen zu übernehmen. So schien es Anfang der 90er Jahre geboten, neben Pionierbauten, die aufzeigen konnten, wo für den Bau und Betrieb von Gebäuden neue Optionen lagen, als eine Art übergeordnetes Statement einen Text zu erarbeiten, der wesentliche Orientierung geben würde – eine Charta für die Nutzung von solarer Energie in Architektur und Stadtplanung, die D I E E U R O PÄ I S C H E C H A R TA F Ü R S O L A R E N E R G I E I N A R C H I T E K T U R U N D S TA D T P L A N U N G über den Tag hinaus gültige Aussagen treffen sollte. Von der Kommission in Brüssel wurde das Vorhaben gefördert, der Wortlaut von 30 renommierten europäischen Architekten unterzeichnet und auf der einschlägigen Konferenz 1996 in Berlin offiziell verabschiedet. Dass diese in der Fachwelt meinungsbildenden Architekten damit auch ein Bekenntnis in der Sache ablegten, war durchaus ein gewollter Effekt. - Dass heute ein guter Teil weiterer Baumeister der nächsten Generation unterschreiben würden, kann als positive Wirkung bei der Verbreitung der Botschaft der Charta gesehen werden, die nun erneut als Reprint des Originaldokuments – erweitert auf insgesamt 10 Sprachfassungen – erschien. (Prestel Verlag; München/Berlin/London/New York) S o l a r a r c h i t e k t u r : Wo s t e h e n w i r heute? Wie wir seit langem wissen, wird rund die Hälfte der von Menschen verbrauchten Energie derzeit für den Bau und vor allem den Betrieb von Gebäuden aufgewendet und dies geschieht, weil Gebäude, wie sie heute weltweit genutzt werden und so unterschiedlich sie sein mögen, ohne diese laufende Energiezufuhr nicht gebrauchstauglich wären. Gebäude sind in jedem Fall funktional begründete technische Großgegenstände als künstlich hergestellte Volumina (– egal woraus sie bestehen, wie sie konstruiert sind, wofür sie genutzt werden). Und wenn wir nun wissen, dass als Großthema der Menschheit über die kommenden Jahrzehnte hin die Reduktion des Verbrauchs an fossilen Energieträgern zur Überlebensfrage für Millionen werden kann, dann meine ich, dass daraus zwingend folgt, dass es ganz einfach der Größenordnung wegen, um die es geht, keine Profession gibt, die so sehr gefordert wäre, an den Gebäuden als ihrem zentralen Gegenstand zu arbeiten, wie diejenigen, die sie als Ganzes vom Konzept bis zur gebrauchstauglichen Übergabe an die Auftraggeber zu verantworten haben. Und das sind nun mal per definitionem die Architekten. Wenn wir uns fragen, wie dies denn geschehen solle, dann haben wir zunächst festzustellen, daß es für Architekten seit Jahrzehnten nicht mehr selbstverständlich war, sich mit dieser Zielsetzung profund zu befassen. Wenn es um die so genannten „energetischen Systeme“ geht, machen das die Haus- und Klimatechniker. Die Architekturschulen haben es kaum gelehrt. In der Praxis haben Ingenieure die Heizung, Lüftung, Klimatechnik zu von Energiezufuhr abhängigen Hochleistungssystemen entwickelt. Als Folge dessen musste die bauliche Konstruktion selbst - Tragwerk, Hülle, innere Massen usw. - immer weniger „können“. Der Ausgleich geschieht durch Klimageräte, deren Installierung so selbstverständlich wurde, wie die von Kühlschränken. Allein in China werden sie derzeit jährlich viel millionenfach neu produziert und eingebaut. Entsprechend steigt proportional der Energieverbrauch. Schlägt man aber im dafür geeigneten Einzelfall vor, darauf zu verzichten und auf rein bauliche, also nicht von Energiezufuhr abhängige Maßnahmen zu setzen, um adäquates Raumklima zu erzeugen, so riskiert man nach wie vor nicht für voll genommen zu werden. Tatsächlich ist jedoch die allgemeine Zielsetzung eine ganz andere: Man möchte ganzjährig über ein gutes Innenraumklima verfügen, das im Winter nicht zu kühl und im Sommer nicht zu heiß ist. Und weil die Häuser als bauliche Konstruktion dies zumeist nicht ausreichend leisten, wird mit Technik ergänzt. Fatalerweise wurde diese Technik in Verbindung mit Mess-, Steuer- und Regelungssystem im Laufe der Zeit nun so sehr perfektioniert, dass das geringe und immer mehr abnehmende Leistungsniveau der Teile des Gebäudes selbst – sozusagen der Karosserie – soweit es seinen Energiehaushalt angeht, gar nicht mehr auffiel. Unzählige Male schon wurde ich gefragt, warum Architekten nicht längst von neuen Technologien mehr Gebrauch machen, wenn es doch so gravierende Gründe gebe, Bauten strukturell und materiell von Grund auf zu überdenken. SOLARZEITALTER 3 2008 11 D I E E U R O PÄ I S C H E C H A R TA F Ü R S O L A R E N E R G I E I N A R C H I T E K T U R U N D S TA D T P L A N U N G Es gibt hierfür etliche Erklärungen, die oft auch im Zusammenhang wirksam werden. Es sind aus meiner Sicht derzeit sieben: 1. Bauten sind thermodynamische Gesamtsysteme und sowohl der Bereich der raumklimatischen Anforderungen als auch die bauliche Konstruktion, welche die Räume bildet, müssen in all ihren vielfachen physikalischen Merkmalen und Eigenschaften und ihren physiologischen Auswirkungen gesamtheitlich betrachtet und zu einer Art von optimaler Balance gebracht werden. Dies erfordert nicht nur die einschlägige fachliche Kompetenz, sondern zudem oft einen erheblich größeren Planungsaufwand mit vielen iterativen Schritten vom Projektbeginn an, was über das heutzutage übliche Leistungsprofil von Architekten deutlich hinaus geht und intensive Zusammenarbeit mit den zu beteiligenden Fachingenieuren und Wissenschaftlern notwendig macht. Die hierfür erforderliche Zusatzqualifikation muss erworben werden, was Aufwand bedeutet und bei der konkreten bauplanerischen Umsetzung bezogen auf den komplexen Gegenstand nicht additiv und kumulativ sondern nur integrativ erfolgen darf. Dieser Mehraufwand ist nötig, um beim Gebäudebetrieb fossile Energie in erheblichem Umfang einzusparen. Er kann aber nur stattfinden, wenn der Zeitbedarf und die Kosten dafür bewilligt werden. 2. Dasjenige Verhalten der Nutzer, das für den Energieverbrauch relevant ist, wie Lüften, Temperaturregelung, Vermeidung von Aufheizung im Sommer durch Verschattung sowie raumweise Stufung von Feuchte und Temperatur zeigt keinen sich kausal dem Verursacher mitteilenden und verständlichen Verbrauchseffekt von Energie. Kurz: Wir verfügen kaum über technisch-funktionale Systeme, die Ursache und Auswirkung im Zusammenhang mit dem menschlichen Verhalten unmittelbar für jedermann qualitativ und vor allem quantitativ verständlich machen würden. Das so unterschiedliche konkrete Verhalten der Nutzer verursacht, und nicht etwa nur die Summe ihrer allgemeinen, soge12 SOLARZEITALTER 3 2008 nannten Bedürfnisse, individuell nicht selten auch sehr unterschiedlichen Energieverbrauch trotz nahezu gleicher baulich konstruktiver Bedingungen der genutzten Gebäude. 3. Viele, wenn nicht die meisten energetisch wirksamen Vorgänge sind nicht sichtbar - ganz im Gegensatz beispielsweise zu anderen bautechnischen Gegebenheiten wie dem Tragen, dem Ableiten der Kräfte, zur Aussteifung und Verformung, die sich auch für den Laien optisch erkennbar mitteilen oder doch meist als Phänomen sinnfällig erläutern lassen. Lage, Dimension und Materialität von Wänden, Stützen, Trägern und Decken sind für jedermann unmittelbar ablesbar, verändern sich nicht laufend und sind ästhetisch höchst bedeutsam, wogegen die "energetischen Systeme" in ihrer physikalischen Wirkung auf Raum und Konstruktion zunächst ein "invisible environment" darstellen und - weil weitgehend unsichtbar - dementsprechend schwierig vermittelbar sind. Vielleicht ist dies sogar das größte Handicap: Es gibt kein „Stilmerkmal“ für solare Bauten - und es gibt auch keine allseits erkennbaren, eindeutigen, durchwegs zutreffenden Symbole, die für eine neue und gewollte architektonische Qualität stünden. Natürlich sind die Kollektoren, PV-Paneele oder gebäudeintegrierte Windräder Signale, die von außen im öffentlich Raum wahrgenommen werden. Die Möglichkeit ihrer Effizienz, Tauglichkeit oder gar die ästhetisch-gestaltbestimmende Schlüssigkeit ihrer strukturellen Einbindung in die bauliche Gesamtkomposition als Merkmal architektonischer Qualität zu beurteilen, ist kaum entwickelt. Gerade Architekten unterliegen oft der verführerischen Ausstrahlung, die neue Technik als Stimulans für Gestaltung vermittelt und so werden Äußerlichkeiten zu Signets, welche erhoffte bauklimatische Eigenschaften suggerieren, ohne dass dies eingelöst würde. 4. An Stelle von Prozess- und Entwicklungsabfolgen, woraus ein Projekt schrittweise entsteht, verlangt der Konsument in der Warenwelt oft schon vor der Kaufentscheidung das fertige Produkt D I E E U R O PÄ I S C H E C H A R TA F Ü R S O L A R E N E R G I E I N A R C H I T E K T U R U N D S TA D T P L A N U N G sehen und prüfen zu können - möglichst mit Testsiegel für die Performance ("you see what you get"). Entsprechend verhalten sich Entwickler, Investoren und Vermarkter. Dies bewirkt, daß Abbilder von gewünschter Realität produziert werden, die zwangsläufig nur die Oberfläche des ja noch nicht vorhandenen Arbeitsresultates vorab darstellen - nicht aber eine fallweise, durch die Planung erst zu entwickelnde bauliche Logik - schon gar nicht die energetische Charakteristik, worüber demnach in dieser, oftmals für die Akquisition des Projektes bereits entscheidenden Phase, auch noch kaum jemand nachdenkt. 5. Regionalistische Bezüge von Architektur werden üblicherweise, falls sie nicht ohnehin als rückschrittlich oder gar reaktionär gewertet werden, allenfalls als stilistische Kategorie gesehen. Für die Minimierung von Energieverlusten oder die Maximierung der Möglichkeit lokal vorhandene Umweltenergie optimal zu nutzen ist aber zuvorderst die architektonisch-entwurfliche Reaktion auf die Merkmale des Standorts maßgeblich - also eindeutig ein Ortsbezug. (Lokales Klima, Topographie, Exposition). Dies steht in eklatantem Widerspruch zur längst weltweit selbstverständlich gewordenen Internationalisierung aller Produkte und der Verbreitung von formalem „Branding“, das völlig unabhängig von den Standortmerkmalen die Architektur globalisiert, anstatt dass nur Wissen und Material allseits verfügbar wären, woraus und womit dann die örtlichen Besonderheiten der Gebäude mit ihrem regional so unterschiedlichen Wesen entstehen würden. 6. Nicht zielführend war von Anbeginn seit den 70er Jahren die Art der Diskussion über die Kosten. Man drängte das Großthema des Umgangs mit der Solarenergie dabei in eine rein merkantile Rentabilitätsdebatte, die schon deshalb im Ansatz falsch war, weil dabei weder die übergeordneten Aspekte, wie die Endlichkeit der fossilen Ressourcen und potenzielle Auswirkungen des geübten Raubbaus, noch die Folgen der Emissionen aus Verbrennung monetär berücksichtigt wurden. Aber auch die Milliardenbeträge zur Domestizierung der Kernkraft wurden bei den ökonomischen Vergleichsrechnungen nicht adäquat mit einbezogen. Bezogen auf den konkreten Einzelfall beim Bauen schließlich wurde zumeist davon ausgegangen, dass die Nutzung von Sonnenenergie zunächst den Aufwand für zusätzliche gebäudetechnische Installationen unter Fortbestand der Kosten für die beibehaltene konventionelle bauliche Konstruktion bedeute. Der bauliche „Organismus“ als Ganzes wurde nicht in Frage gestellt und so wurde nicht ausreichend bewusst, dass es dabei viel weniger um additive Maßnahmen, als um ein für die meisten Akteure neuartiges, grundsätzliches Durchdenken des baulichen Gesamtenergiehaushaltes geht. 7. Wir bauen die Städte (in denen derzeit 3 Mrd. Menschen leben) nicht neu, sondern es werden nur wenige Prozent der Substanz erneuert – jedenfalls in den so genannten Industrieländern. So entsteht das Dilemma mit dem Bestand (der im Gebrauch ist). Wir haben kaum Strategien, um diese Problematik des Energiemanagements zu bewältigen. Strukturell, ästhetisch und technisch ist vor allem hier eine Fülle von angewandter Forschung dringend geboten. Wer es aber mit der heute laufend beschworenen 'Baukultur' ernst meint und gegenüber dem Status quo dabei Verbesserung fordert, möge darauf hinwirken, dass es nicht bei den Debatten in den akademischen Zirkeln bleibt, sondern dass die erforderlichen zusätzlichen geistigen Leistungen so honoriert werden, dass sie in der beruflichen Praxis allenthalben zum Wohl der Allgemeinheit überhaupt eine Chance haben, Realität mit kulturellem Niveau von Dauer zu werden. Der Autor, Dr. (Univ. Rom), Dr. h.c., Jahrgang 1941, war von 1973 bis 2006 nacheinander Professor an der Universität in Kassel, der TH Darmstadt und der TU München. Er ist Gastprofessor an der THU in Peking und betreibt in Partnerschaft seit 1971 ein Architekturbüro in München, www.herzog-und-partner.de. SOLARZEITALTER 3 2008 13