Sprachstörungen und Demenz

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SS 2006
Klinische Linguistik - Sprachentwicklungstörungen und Sprachstörungen
Claudia Meindl
Sprachstörungen und Demenz
¾ Begriffbestimmung Demenz
Schwere, ständig fortschreitende Hirnleistungsschwäche, bei der es zu einem Untergang von
Nervenzellen kommt. Abgeleitet vom lateinischen „dementia“ (den Verstand verloren habend;
Unvernunft).
¾ Formen der Demenz
Bei einem Rückgang bzw. Verlust intellektueller Fähigkeiten besteht der Verdacht auf ein
Demenzsyndrom. Mindestens 60 verschiedene Demenzformen werden in der Literatur unterschieden.
Wichtige Leitlinien zur Diagnose enthalten die folgenden Klassifikationssysteme:
DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (American Psychiatric Association,
Washington, D.C.
ICD: Internationale Klassifikation psychischer Störungen.
ADDTC: Criteria of the State of California Alzheimer’s Disease Diagnostic and Treatment Centers.
NINCDS-ADRDA: National Institute of Neurologic and Communicative Disorders and Stroke;
Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association.
Gefordert werden darin Beeinträchtigungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, des abstrakten
Denkens, des Urteilsvermögens und höherer kortikaler Funktionen (Aphasie, Apraxie, Agnosie etc.),
bei einigen Demenzformen auch Persönlichkeitsveränderungen.
Sicherheit der Diagnose:
Unterscheidung in: „wahrscheinlich“, „möglich“ und „bestätigt“, da manche Demenzformen erst sicher
durch eine Autopsie diagnostiziert werden können.
Schweregrad:
Leicht: Berufliche und soziale Beeinträchtigungen, aber intaktes Urteilsvermögen und erhaltene
Alltagsfunktionen.
Mittel: selbständige Lebensführung ist nur noch mit Schwierigkeiten möglich, Hilfestellung und Aufsicht
werden erforderlich.
Schwer: Völlig pflegebedürftig.
¾
Einteilung der Demenzformen (vereinfacht)
a) 10%: sogenannte sekundäre Demenzen, die z.T. heilbar sind.
Ursache: mechanisch, toxisch, metabolisch, infektiös, Mangelzustände.
b) 10%: vaskuläre Formen (vor allem: Morbus Binswanger und Multi-Infarkt-Demenz (MID).
Ursache: mehrere Infarkte, kleine Läsionen an strategisch wichtigen Stellen, viele kleine lakunäre
Infarkte, familiäre Formen.
c) 10-25% Mischformen: degenerativ und vaskulär.
d) 50%: degenerative Formen.
Überwiegend subkortikal: Parkinson-Syndrom; Huntington-Chorea.
Überwiegend kortikal: Pick-Krankheit; Down-Syndrom; Alzheimer-Demenz.
Abzugrenzen ist die sogenannte Pseudodemenz bei endogener Depression. Depression und
kognitive Störungen bilden sich parallel zurück.
¾ Prävalenz und Inzidenz
Die Zahl der Demenzkranken (Prävalenz) wird auf etwa 950.000 geschätzt, sie könnte aufgrund der
demographischen Entwicklung der Bevölkerung bis zum Jahr 2040 auf 1,4 bis 2 Millionen ansteigen.
Die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) für die Altenbevölkerung beträgt zwischen 1,17% für die
mittelschweren und schweren und 3,23%, wenn auch die leichteren Fälle miteinbezogen werden. An
einer Alzheimer Demenz (AD) sind etwa 650.000 ältere Menschen erkrankt, jährlich erkranken ca.
120.000 Personen.
¾ Die Alzheimer-Demenz
¾ Neuropathologie
Makroskopisch: Hirnatrophie und Erweiterung der Seitenventrikel.
Mikroskopisch: Neuronenverlust, Verminderung der Synapsendichte, intra- und extrazelluläre
Ablagerungen zweier abnormer Proteine in den sogenannten Fibrillen und Plaques.
Ursache(n)(?): Genetisch heterogen, familiäre Formen sind selten. Mehrere Punktmutationen im APPGen auf Chromosom 21 sind bekannt, die zum Phänotyp einer AD führen. Typisch ist dabei der frühe
Krankheitsbeginn (41-55 Jahre). Auch beim Down-Syndrom (Trisomie 21) kommt es zu einem
vorgezogenen Beginn der Plaqueproduktion durch das dritte Chromosom.
Identifiziert sind auch zwei Loci auf den Chromosomen 1 und 14. Einem vierten Gen wird die Rolle
eines Risikofaktors zugeschrieben (Chromosom 19). Wahrscheinlich spielen auch oxidativer Stress
und bestimmte Stoffwechselstörungen bei der Krankheitsentstehung eine Rolle.
¾ Klinik
Langsamer Abbau kognitiver Funktionen; zunehmende Einschränkung in der Alltagsbewältigung;
Veränderungen von Antrieb und Affekt; körperliche Symptome.
Prädemenzphase: erste Leistungseinschränkungen (5-7 Jahre vor der Diagnosestellung
nachweisbar). Lernschwäche und eingeschränkte Wortflüssigkeit; sozialer Rückzug; Einschränkungen
der beruflichen Leistungsfähigkeit; Stimmungslabilität.
Frühes Demenzstadium: Zunahme der Lernschwäche, Ereignisse werden vergessen, häufiger
Wortfindungsstörungen, Probleme mit der Raumwahrnehmung. Unterstützung (Bankgeschäfte etc.)
wird nötig.
Mittleres Demenzstadium: erhebliche Einschränkung der selbständigen Lebensführung, Hilfestellung
bei einfachen Alltagstätigkeiten (Ankleiden, Körperpflege) notwendig. Beeinträchtigung der exekutiven
Funktionen, Apraxien, Gedächtnisstörungen („Leben in der Vergangenheit“).
Spätes Demenzstadium:
Totale Pflegebedürftigkeit. Nacht-Tag-Rhythmus ist gestört. Einzelne kognitive Störungen sind in der
Regel nicht mehr testbar. Patienten wirken unruhig, manchmal apathisch, nesteln an der Kleidung,
schreien. Sprachliche Äußerungen sind sehr reduziert (Echolalie). Das nonverbale
Kommunikationsvermögen bleibt länger erhalten. Zahlreiche körperliche Symptome (bspw.
Inkontinenzen, Schluckstörunen, Rigor). Als Folge der Bettlägerigkeit kommt es zu Infektionen und
Dekubitus. Viele Patienten versterben an einer Bronchopneumonie.
¾ Diagnostik
Die Diagnose erfolgt in mehreren Schritten durch eine Eigen- und Fremdanamnese, neurologischinternistische, laborchemische und apparative Untersuchungen (CT, MRT etc.) sowie eine formal
psychologische Testung. AD ist eine Ausschlussdiagnose. Auch heute kann eine Alzheimer-Demenz
erst sicher durch eine Autopsie festgestellt werden.
¾ Neuropsychologie
Gedächtnisstörungen gelten als das Kernsymptom (Langzeit- und Arbeitsgedächtnis). Nicht alle
Funktionen sind gleichermaßen gestört. Vom Abbau betroffen sind vor allem das episodische und das
semantische Gedächtnis (explizite Funktionen). Implizite Funktionen (prozedurales Gedächtnis und
Priming) gelten als abbauresistenter. Die sensorischen Register sind relativ unbeeinträchtigt.
Störungen der Aufmerksamkeit: auch hier unterschiedlich starker Abbau. Zumeist gut erhaltene
Daueraufmerksamkeit, Fokussierung besonders problematisch.
Störungen visuell-räumlicher Funktionen: Farbwahrnehmung und Kontextsensitivität wie bei
gesunden Älteren. Probleme beim Abzeichnen und freien Zeichnen (geringere Detailgenauigkeit,
Wiederholung einzelner Elemente, Veränderung von Winkeln). Perspektive, Rotationen und räumliche
Relationen werden nicht genau wiedergegeben.
Ideomotorische und ideatorische Apraxien (auch als Initialsymptom).
Beeinträchtigung der mentalen Zahlenverarbeitung (nachgewiesene Dissoziationen innerhalb der
numerischen Notationssysteme (visuell-arabisch, visuell-orthographisch, auditiv-verbal).
Störungen der Personenwahrnehmung (bei ca. 25% der Patienten): Vertraute Angehörige, das
eigene Spiegelbild oder die Gesichter berühmter Personen werden nicht erkannt. Einigen Patienten
fehlt die Krankheitseinsicht (Anosognosie).
Verhaltensstörungen: bspw. Wahnvorstellungen, Depressionen, Angststörungen, Apathie.
¾ Sprachverarbeitung unter AD – die Forschungslage
Phonologie und Artikulation
Das phonologische System gilt als weitgehend unbeeinträchtigt. Die Patienten sprechen lange Zeit
flüssig. Phonematische Paraphasien treten nur selten auf (Spontansprache). In experimentellen
Studien zeigen Patienten aber durchaus Probleme mit suprasegementaler Information (bspw. mit der
intrinsischen Prosodie, mit der Fragesätze als solche identifiziert werden). Es gibt auch innerhalb der
Alzheimer-Patienten (post-mortem-Diagnose!) Subgruppen mit phonologisch-artikulatorischen
Störungsbildern (nicht-flüssige Aphasien).
Semantik
AD führt zu einer Störung der Semantik, das ist unumstritten. Diskutiert wird die Frage, ob es sich
dabei um einen Verlust semantischer Informtion handelt, oder eine Zugriffsstörung bzw. ein
Zusammenbruch inhibitorischer Prozesse anzunehmen ist.
Starke Beeinträchtigungen im Benennen und vor allem in der Wortflüssigkeit. Die Befunde zum
Priming sind widersprüchlich.
Syntax
Sprachproduktionsdaten sprechen nach Ansicht einiger Autoren dafür, dass die morphosyntaktische
Komponente nicht beeinträchtigt ist. AD-Patienten produzieren mehr lexikalisch-semantische als
syntaktische Fehler. Aber es sind auch hier Fälle dokumentiert, die vom Profil her gesehen als
annähernd agrammatisch einzustufen sind.
Bei Sprachverständnistests schneiden AD-Patienten in der Regel schlechter ab als gesunde
Vergleichsprobanden. Die syntaktische Komplexität (Satztyp) spielt dabei oft keine Rolle, allerdings
die Anzahl der Propositionen. Kontrovers diskutiert wird, ob kognitive Störungen (Arbeitsgedächtnis,
kognitive Verlangsamung etc.) oder ein syntaktisches Verarbeitungsdefizit als Ursache anzunehmen
sind. Verletzungen von Wohlgeformheitsbedingungen werden zu einem hohen Prozentsatz korrekt
wahrgenommen.
Diskurs und Textverarbeitung
Zu diesem Bereich liegen vergleichsweise wenige Studien vor. Die Ergebnisse hängen stark von den
eingesetzten Erhebungsverfahren ab (unstrukturiertes Gespräch, strukturiertes Interview,
Bildbeschreibung, Nacherzählung etc.). Das Turn-Taking ist erhalten, aber der Informationsgehalt
nimmt ab (viele deiktische und indefinite Ausdrücke).
Schriftsprache
Es ist unklar, ob und in welchem Umfang die Verarbeitung der Schriftsprache beeinträchtigt ist. Die
Fähigkeit, laut zu lesen, soll lange erhalten bleiben, allerdings haben AD-Patienten Probleme mit
irregulären Wörtern und Kunstwörtern (semantisches Defizit als Ursache?). Diskutiert wird auch ein
visuell-kognitives Defizit als Ursache bzw. eine Störung im graphematischen Speicher.
¾
Eigene Untersuchungen
Fragestellungen
Welche Domänen sind von AD betroffen?
Um welche Art von Defizit handelt es sich (repräsentational oder prozedural)?
Darf man im Zusammenhang von AD den Begriff „Aphasie“ verwenden, oder beeinflussen kognitive
Störungen ein an sich intaktes Sprachmodul („Sickertheorien“)?
Welches Verfahren ist für die Diagnostik besonders gut geeignet?
Probanden (n = 60)
20 wahrscheinlich AD-Patienten, sieben vaskulär Demente (MID), sechs Patienten mit WernickeAphasie nach Apoplex und 27 gesunde ältere Probanden.
Experimente
Ebene „Wort“: Benennen
Ebene „Satz“: Interpretative Relationen
Ebene „Diskurs/Text“: Bildbeschreibung, Wegbeschreibung, Semistrukturiertes Interview.
Ergebnis
Es gibt innerhalb der Gruppe der AD-Patienten eine Subgruppe mit aphasischen Symptomen, die
prozedurale Defizite widerspiegeln.
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