Komorbidität - Klips - Arbeitseinheit klinische Psychologie der

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Komorbidität – ein Anachronismus und eine Herausforderung für die
Psychotherapie
Reiner Bastine, 2012 [Komorb2012]
erscheint in Peter Fiedler (Hrsg.)(2012). Die Zukunft der Psychotherapie (S.13-25). Berlin:
Springer-Verlag.
Unter Komorbidität ist das gemeinsame Auftreten verschiedener, voneinander abgrenzbarer
psychischer und/oder somatischer Störungen in einem festgelegten Zeitraum zu verstehen.
Bekanntlich ist der Begriff abgeleitet vom Lateinischen „morbus“, also der Krankheit, und
verweist damit auf seinen Ursprung im medizinischen Krankheitsmodell. Damit ist die
Annahme verbunden, dass es sich bei den verschiedenen Krankheiten um klar voneinander
abgrenzbare Einheiten handelt, von denen weiter angenommen wird, dass sie unabhängig
voneinander sind und jeweils für sich eine eigenständigen und charakteristischen Verlauf
haben (vgl. Bastine, 1998, 2005a).
Im Klassifikationssystem ICD-10 liest sich das allerdings so, dass zunächst von dem Begriff
der psychischen Krankheit Abstand genommen wird zugunsten des Begriffs der Störung
(oder Dysfunktion): „So ersetzt der Begriff ‚Störung‘ den der psychischen Krankheit
weitgehend“. Lediglich durch ein Semikolon abgetrennt, findet dieser Satz jedoch eine
kuriose Fortsetzung: „dem Prinzip der Komorbidität wird Rechnung getragen“
(Weltgesundheitsorganisation/ Dilling, Mombour, Schmidt, 1993, S. 9). Das ist doch wirklich
ein klares Bekenntnis zu einer wissenschaftlich begründeten Widersprüchlichkeit – wie
einem unwillkommenen Gast, der am Eingang energisch abgewiesen und an der „Hintertür“
(Bastine, 1998, 184) herzlich begrüßt wird!
Schon diese Inkonsequenz und Unentschlossenheit ist genügend Anlass, über das
anscheinend selbstverständliche „Prinzip der Komorbidität“ noch einmal nachzudenken.
Allerdings sind es ebenso die empirischen Befunden, die dies dringend erforderlich machen.
Ich werde dies unter den folgenden Gesichtspunkten tun, indem ich
erstens die empirische Befundlage zur Komorbidität psychischer Störungen vorstelle,
zweitens einige Einwände und Schlussfolgerungen daraus ziehe sowie
drittens die Bedeutung thematisiere, die das gemeinsame Auftreten verschiedener
psychischer Störungen für die Psychotherapie hat.
Die empirische Befundlage zur Komorbidität
Die meisten Ergebnisse zur Komorbidität stammen aus epidemiologischen Untersuchungen,
wobei ein Hauptaugenmerk auf der Komorbidität der psychischen Störungen untereinander
liegt - die Komorbidität mit somatischen Störungen wirft noch einmal ganz andere, nicht
weniger spannende Fragen auf, die ich hier leider ausklammern muss.
Zwei der international bekanntesten Untersuchungen zur Epidemiologie psychischer
Störungen befassen sich auch mit der Frage der Komorbidität dieser Störungen. Das ist zum
einen der National Comorbidity Survey von Kessler u.a. (2005), eine US-amerikanische
Bevölkerungsstudie an über 9.200 Personen. Erfasst wurden 19 Diagnosen über einen
Zeitraum von 12-Monaten. Uns interessieren dabei besonders die „identifizierten Fälle“ der
12-Monats-Prävalenz, also die Personengruppe, die eine psychische Auffälligkeit in
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behandlungsbedürftigem Ausmaß zeigte. Von diesen Personen erhielten 55% die Diagnose
einer singulären Störung und die übrigen 45 % zwei oder mehr Diagnosen einer psychischen
Störung. Besonders interessant ist eine Teilgruppe, bei denen im genannten Zeitraum sogar
drei oder mehr psychische Störungen festgestellt wurden. Diese Teilgruppe umfasste a llein
23 % aller „klinischen Fälle“, also fast ein Viertel aller als behandlungsbedürftig
diagnostizierten Fälle!
In Deutschland lieferte der Bundesgesundheitssurvey, der an 4.181 Personen über den
Zeitraum eines Jahres erhoben wurde, recht ähnliche Befunde: unter den „identifizierten
Fällen“ erhielten 60,5 % die Diagnose einer singulären Störung (dort als „reine Störungen“
bezeichnet), während bei 39,5 % „komorbide“ psychische Störungen festgestellt wurden.
Auch hier wurde eine Teilgruppe der Personen mit mehreren Störungsdiagnosen erfasst:
Diagnosen mit drei oder mehr Störungen („hoch komorbid“) wurden bei 10,3 % der Fälle
registriert. Für die in der Untersuchung diagnostisch erfassten 17 Störungen rangierte die
Rate der Komorbidität zwischen 44 und 94 %, am höchsten war sie bei der Generalisierten
Angststörung. Bei den sieben häufigsten aggregierten Störungsgruppen gab es prägnante
Störungskombinationen, vor allem die Kombinationen von Depression mit Angststörung,
Angst- und somatoforme Störung, depressiver Störung mit Angst- und somatoformer
Störung, verschiedene Angststörungen untereinander sowie depressive mit somatoformer
Störung. Wie gewichtig das multiple gemeinsame Vorkommen von „verschiedenen,
voneinander abgrenzbaren psychischen Störungen“ ist, zeigt ein weiterer Befund: Für die
1301 als „psychisch gestört“ klassifizierten Personen wurden insgesamt 2.321 Diagnosen
vergeben, also im Durchschnitt erhielt jeder „klinische Fall“ 1,8 Diagnosen. „Reine“
Störungen traten damit, gemessen an den insgesamt vergebenen Störungsdiagnosen, nur
bei etwa einem Drittel aller Störungsdiagnosen auf!
Bei den aggregierten größeren Störungsgruppen zeigen sich hohe substantielle
Überlappungen, so bei Angststörungen, bei affektiven Störungen, bei der Abhängigkeit von
Substanzen, bei somatoformen Störungen sowie bei Essstörungen. Dies zeigt die folgende
Abbildung für die 12-Monats-Prävalenzen dieser Störungen (Jacobi et al., 2004; für 2Monats-Komorbiditäten s. Wittchen & Hoyer, 2006, 70):
Hier Abb 1 einfügen
Diese Befunde berücksichtigen dabei nicht, dass wichtige psychische Störungen in diesen
Untersuchungen nicht erfasst wurden. Das gilt vor allem für Persönlichkeitsstörungen und
Belastungs- und Anpassungsstörungen, die sich erfahrungsgemäß besonders stark mit
anderen psychischen Beeinträchtigungen überschneiden und die zweifellos zu einer
drastischen Erhöhung der Komorbiditätsraten führen würden.
Die affektiven Störungen werden aus gutem Grund hinsichtlich ihres gemeinsamen
Vorkommens mit anderen psychischen Störungen besonders beachtet. So stellte die
Bundespsychotherapeutenkammer (2010) kürzlich in vollständiger Übereinstimmung mit
den genannten Daten fest, dass 60 % der depressiv erkrankten Menschen an einer weiteren
psychischen Erkrankung leiden, ganz abgesehen von der Koinzidenz mit einer ganzen Reihe
somatischer Erkrankungen. Aus einer finnischen Untersuchung in einer psychiatrischen
Versorgungseinrichtung wissen wir, daß sogar 79 % der Patienten mit einer Majoren
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Depressiven Störung an wenigstens einer weiteren psychischen Störung litt (Melartin et a.,
2002).
Natürlich spiegeln sich die außerordentlich starken Zusammenhänge zwischen
verschiedenen psychischen Störungen auch in der Versorgungspraxis. Die
Psychotherapeutischen Ambulanzen der Universität Mainz geben einen sehr informativen
jährlichen Bericht über ihre psychotherapeutische Arbeit heraus. Im Jahr 2009 wurden dort
986 Patienten mit einer psychischen Störung psychotherapeutisch behandelt. Insgesamt
jedoch wurden für diese 986 Psychotherapiepatienten genau 1.946 Diagnosen vergeben –
also auch hier bekam jeder psychotherapeutische Patient im Durchschnitt zwei psychische
Störungen diagnostiziert! Dieses Ergebnis wiegt auch deshalb besonders schwer, weil zwar in
den internen Berichten der Therapeuten, die an der kassenärztlichen Versorgung
teilnehmen, in erheblichem Umfang „Komorbiditäten“ beschrieben werden, diese aber nur
selten in eine ICD-Kodierung umgesetzt und offiziell als zusätzliche Diagnosen aufgeführt
werden (Lieberz, Koudela & Lieberz, 2009).
Gesichert ist inzwischen auch, dass die Koinzidenz psychischer Störungen mit einer ganzen
Reihe weiterer Faktoren in Zusammenhang steht (Jacobi et al., 2004, Kessler et al., 2005,
Melartin et al., 2002), unter anderem mit:
 der Länge des Zeitraums, der bei der Erhebung der Störungen herangezogen wird: Je
länger dieser ist, desto höher ist die sog. Komorbidität;
 Faktoren der persönlichen Lebenssituation wie dem familiären und dem
sozioökonomischen Status (Unverheiratete und Angehörige der unteren Sozialschicht
weisen höhere Komorbiditäten auf);
 dem Geschlecht (bei Frauen ist die Koinzidenz höher als bei Männern);
 einem niedrigen körperlichen Gesundheitszustand sowie
 dem Schweregrad der psychischen Beeinträchtigung.
Die „Komorbidität“ hat außerdem Folgen: sie beeinflusst die Rate der Versorgung der
betreffenden Personen. Menschen mit mehreren psychischen Störungen erhalten sehr viel
häufiger eine Behandlung als Menschen mit einer singulären Störung, was vermutlich sowohl
an der stärkeren Auffälligkeit wie auch an der stärkeren Beeinträchtigung durch die
Komplexität der psychischen Symptomatik liegt. Der Unterschied ist gravierend, denn nach
den Daten des Bundesgesundheitssurvey war die Versorgungsrate bei „hoch-komorbiden“
Personen mehr als doppelt so hoch als bei Personen mit einer singulären Störung (76 %
versus 30%) (Jacobi et al., 2004). Auch diese Daten weisen darauf hin, dass „Komorbidität“
nicht einfach nur „zufällig“ auftritt, sondern auf die außerordentlich komplexe Bedingtheit
von psychischen Störungen hinweist und mit einer Vielzahl weiterer Bedingungen der
gesamten Lebensumstände der Betroffenen zusammenhängt.
Probleme und Schlussfolgerungen
(1)
Diese Befunde zur Komorbidität psychischer Störungen müssten eigentlich
außerordentlich beunruhigen, denn sie werfen ein überaus kritisches Licht auf das Postulat
voneinander unabhängiger Störungen, die mehr oder weniger zufällig in einer bestimmten
Zeitspanne gemeinsam auftreten. Die empirisch gesicherte Realität stellt diese Annahme
fundamental in Frage: die Koinzidenzen treten bei mindestens 40 Prozent aller klinischen
Fälle auf und bei einer beträchtlichen Teilgruppe der Betroffenen sogar hochgradig massiert:
„Es ist nicht selten, dass ein Patient fünf oder sechs Diagnosen zugeschrieben erhält“
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(Wittchen & Hoyer, 2006, 49). Singuläre Störungen sind bei wichtigen Hauptdiagnosen sogar
deutlich in der Minderheit. Schließlich entfallen zwei Drittel aller klinischen Diagnosen auf
multiple Störungen. Würden Mehrfachdiagnosen etwa in weniger als fünf Prozent aller Fälle
und nur bei wenigen Störungen auftreten, ließe sich dieses Ergebnis vielleicht noch
tolerieren und als Ausnahme und „seltenes Ereignis“ einordnen. Aber ganz im Gegenteil: das
gemeinsame Auftreten psychischer Störungen ist „eher die Regel als die Ausnahme“
(Bastine, 1998, 184) und steht damit eindeutig im Widerspruch zu den theoretischen
Grundlagen des Komorbiditätskonzepts. Diese Aporie ist keineswegs unerheblich, sondern
trifft den zentralen Kern der theoretischen Fundierung psychischer Störungen.
(2)
Hinzu kommt, dass die epidemiologischen Daten das Ausmaß der Überlappung
verschiedener Störungsphänomene noch gravierend unterschätzen, und zwar aus drei
Gründen:
Einmal gibt es unterhalb der Schwelle von Volldiagnosen ein ganz erhebliches Maß
symptomatischer Überschneidungen. Beispielsweise treten Angststörungen sehr häufig bei
Menschen auf, die zugleich ausgeprägte ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitszüge
aufweisen, die jedoch nicht unbedingt die geforderten Kriterien einer vollen
Persönlichkeitsstörung erfüllen, etwa weil die Gefühle von Anspannung und Besorgtheit
nicht „andauernd und umfassend“ vorhanden sind. Die zitierten epidemiologischen Daten
beschränken sich hingegen lediglich auf das gemeinsame Auftreten von Störungen, die jede
für sich die Kriterien einer Volldiagnose erfüllen.
Zweitens beziehen sich die meisten epidemiologischen Untersuchungen nur auf ein
ausgesprochen kleines Spektrum psychischer Störungen. Die beiden genannten Surveys
erfassen beispielsweise nur 17 bzw. 19 Diagnosen (von weit über 300 im ICD-10), und sie
konzentrieren sich zudem vorwiegend auf Störungen der obersten Hierarchieebenen des
Klassifikationssystems. Würden auch die differenzierteren Störungen der unteren Ebenen
der Klassifikation einbezogen, würden die Koinzidenzen zwischen verschiedenen Störungen
beträchtlich höher ausfallen.
Drittens ist die Höhe der festgestellten Komorbiditäten abhängig von der Länge der
zugrundeliegenden Beobachtungszeiträume: je länger der Zeitraum, desto höher sind die
festgestellten Komorbiditäten. Es fehlt an Untersuchungen, die zeigen, wie sich die
Beziehungen zwischen verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen über längere
Zeiträume entwickeln und welche Faktoren dafür ausschlaggebend sind. Wenn dabei sowohl
unbehandelte wie behandelte Störungsverläufe analysiert würden, ließe sich auch das
bemerkenswerte Theoriedefizit dieses Konzepts beheben (s. den nächsten Punkt).
(3)
Der gravierendste Einwand ist allerdings, dass das anspruchsvoll klingende „Prinzip
Komorbidität“ überhaupt nichts erklärt: Es ist rein deskriptiv-formal, beschreibt lediglich
zeitliche Überschneidungen des Auftretens verschiedener psychischer Störungen und lässt
jede inhaltliche Begründung vermissen, abgesehen von dem kryptischen, dennoch fatalen
Bezug auf das Krankheitskonzept („Morbus“).
Der Begriff erleichtert keineswegs das Verstehen von psychischen Störungen. Zudem dient
der Verweis auf ein nicht näher begründetes „Prinzip“ der Verschleierung. Welche kausale
oder funktionale Bedeutung das gemeinsame oder das innerhalb eines bestimmten
Zeitraums versetzte (beides ist möglich) Auftreten von psychischen Störungen und
Problemen hat, bleibt im Dunkeln und lässt reichlich Spielraum für Spekulation und
Interpretation möglicher Zusammenhänge (Petermann, Kusch & Niebank, 1998, 191-194).
Die konzeptuelle Anleihe am Morbiditätskonstrukt bedeutet jedoch, dass die gemeinsam
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auftretenden Störungen als eigentlich unabhängige Krankheitseinheiten aufgefasst werden
müssten, die nicht kausal miteinander verknüpft sind und daher auch nicht systematisch
gemeinsam auftreten dürften.
Dagegen steht allerdings die klinische Sicht, aus der heraus evident ist, dass ein
gemeinsames Auftreten verschiedener psychischer Auffälligkeiten meistens keineswegs
zufällig, sondern systematisch ist: in aller Regel lassen sich funktionale oder kausale
Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Störungsaspekten rekonstruieren, die
verständlich und erklärbar machen, warum verschiedene psychische Beeinträchtigungen bei
dem speziellen psychischen Hintergrund und den spezifischen Lebensumständen eines
Patienten auftreten. Das schließt explizit ein, dass es bei einem Patienten durchaus andere
Erklärungen für das gemeinsame Auftreten von Ängsten und depressiven
Beeinträchtigungen geben kann als bei einem anderen Patienten.
(4)
Ist es nun Sackgasse oder Ausweg, wenn die Komorbidität nicht zur
Ausnahmeerscheinung, sondern zum Wesensmerkmal psychischer Störungen erklärt wird?
„Komorbidität ist ein Charakteristikum psychischer Störungen und hat wichtige
Implikationen für die Aufklärung der Ätiologie und Pathogenese sowie die Therapieplanung“
(Wittchen & Hoyer, 2006, 49; ähnlich Fiedler, 1995). Es klingt eher danach, aus der Not eine
Tugend zu machen als nach einer wirklich überzeugenden Lösung. Zumal es mit der
Realisation dieser hoffnungsvoll angekündigten Implikationen keine so große Eile zu haben
scheint, jedenfalls sucht man bisher ziemlich vergeblich nach deren konsequenter
Umsetzung. Vielmehr scheint das Leitmotiv eher darin zu liegen, den Dinosaurier der
morbiditätsorientierten Pathopsychologie zu retten. Als immunisierendes Hilfsargument
wird nämlich gleichzeitig eingebracht, dass die hohe Komorbiditätsrate auf die deskriptive
Ausrichtung der heutigen Klassifikationssysteme zurückzuführen sei (z.B. Wittchen & Hoyer,
2006, Gouzoulis-Mayfrank, Schweiger & Sipos, 2008). Leider wird dabei übersehen, dass das
zugrundeliegende Problem eine konzeptuell-theoretische Aporie ist und keine Not der
klassifikatorischen Umsetzung.
(5)
Es fehlt an Konsequenz, aus diesen Erkenntnissen eine weiterführende
Schlussfolgerung zu ziehen: Statt am Detail zu kurieren, ist ein fundamentaler
Paradigmenwechsel fällig. Die kategoriale Denkweise, in der die einzelne Störung eine
singuläre Entität ist, muss durch eine systemische Denkweise ersetzt werden. Die
verschiedenen Erscheinungsweisen psychischer Störungen (gemeinhin als „Symptome“
bezeichnet) hängen untereinander in vielfältiger kausaler und funktionaler Weise
zusammen; außerdem sind sie eng verknüpft mit dem Kontext von Lebensumständen und
der persönlichen Geschichte des Patienten. Anstelle von Störungs- oder Krankheits„einheiten“ ist konzeptuell von Störungs-„systemen“ auszugehen. Um den Realitäten
gerecht zu werden, muss das Postulat der klaren kategorialen Abgrenzbarkeit psychischer
Störungen und damit die Annahme distinkter Störungseinheiten endgültig verabschiedet
werden. Es handelt sich bei diesen Annahmen um einen kategorialen Fehler, der einem
zeitgemäßen Verständnis psychischer Störungen und damit auch der Entwicklung
praxistauglicher Behandlungen massiv im Wege steht. Nicht das Auftreten komorbider
Störungen ist erklärungsbedürftig, sondern das der singulären Störungen!
Die Folgen für die Psychotherapie
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Konsequenterweise ergibt sich daraus für die Psychotherapie, dass die „reinen“
diagnostischen Behandlungsfälle in der Praxis rar sind: „In vielen klinischen Einrichtungen
mag es schwierig sein, reine diagnostische Fälle zu finden, die nicht auch unter anderen
Arten von Psychopathie leiden“ (Clark, Watson & Reynolds, 1995, 128). Das ist noch sehr
vorsichtig ausgedrückt, bedeutet aber im Klartext, dass die eindeutig störungsspezifischen
Fälle, die sich auf eine einzige umgrenzte psychische Störung und nur auf diese beziehen, in
der klinischen Praxis selten zu finden sind.
Damit kehren sich die Verhältnisse um: nicht die klar umgrenzte psychische Störung ist in der
Psychotherapie der Normalfall, sondern Behandlungsfälle, die „wenig konturiert“ (Bastine,
1998, S. 184 sowie 244-247) und durch verschiedene Störungsaspekte gekennzeichnet sind.
Es ist ja die normale psychotherapeutische Erfahrung, dass beispielsweise Befürchtungen
und Ängste zunächst eine existenzielle Lebenskrise und nicht verarbeitete
Verlusterfahrungen verdecken, die sich erst später während der Behandlung als depressive
Störung manifestieren. Dabei führen vielfältige Einflüsse zu ebenso facettenreichen
Erscheinungsbildern der psychischen Problematik, die „reine Fälle“ selten werden lässt und
die Behandlungen erfordert, die die komplexen Lebenslagen der Patienten berücksichtigen
(Fiedler, 2006).
Gleichzeitig wird das Erscheinungsbild der Störungen durch vielfältige Bedingungen geprägt,
angefangen von den lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Patienten, seiner Persönlichkeit,
seinen Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten, dem Verlauf der Beeinträchtigungen
sowie vergangenen und gegenwärtigen Lebensweisen und Lebensbedingungen. Diese
Vielfalt der ätiologischen und pathogenetischen Einflüsse führt zu einem ebenso
facettenreichen Erscheinungsbild der psychischen Problematik, die „reine Fälle“ selten
machen.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass störungsspezifische Behandlungsmethoden
nach dem Resümee von Lambert und Barley (2002) einen relativ geringen Anteil am
Gesamterfolg der Psychotherapie haben. Beide Autoren haben versucht, aus der Fülle der
empirischen Ergebnisse zum Therapieerfolg auf den Anteil zu schließen, den verschiedene
Prädiktoren zur Besserung von Psychotherapie-Patienten leisten. „Eine gewissenhaft
abgeleitete, dennoch grobe Schätzung des relativen Beitrages verschiedener Variablen zum
Psychotherapie-Ergebnis“ (Lambert & Barley, p. 18) lässt sie zu dem Ergebnis kommen, das
in der Abbildung 2 dargestellt ist.
Hier Abb 2 einfügen
Danach sind es vor allem unspezifische Faktoren wie außertherapeutische Einflüsse (40%)
und Beziehungsfaktoren (30 %), die deutlich mehr zum Therapieerfolg beitragen als
Erwartungseffekte (15 %) und störungsspezifische Techniken (15 %). Auf diesen letzten
ruhten sicher die Hoffnungen der störungsspezifischen Behandlungstheoretiker. Bei allen
Einschränkungen, die gegen solche Einschätzungen angebracht sind, dürfte sie doch ein
weiterer Hinweis für die Notwendigkeit einer neuen Perspektive für die Psychotherapie sein.
Aus diesen Ergebnissen sind für die Psychotherapie zwei Schlussfolgerungen naheliegend.
Erstens sind Einflüsse des außertherapeutischen Kontexts von Patienten sowie
Beziehungsfaktoren sehr viel stärker in Theorie und Praxis der Psychotherapie
einzubeziehen. Dass Psychotherapie keine isolierte Veranstaltung sein sollte, die nur auf die
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Störung fixiert ist, ist keineswegs eine neue Erkenntnis, dies forderten bereits viele
prominente Psychotherapeuten unterschiedlichster Orientierung (z.B. Frank, 1973, Kanfer,
Reinecker & Schmelzer, 1990, Rogers, 1959, Stierlin 1975). Zweitens sollte eine deutlich
stärkere Ausrichtung auf störungsübergreifende therapeutische Handlungsstrategien und die
Gestaltung der therapeutischen Beziehung erfolgen.
Beide Forderungen stehen jedoch im Gegensatz zur jüngeren Entwicklung der
Psychotherapie, die störungsspezifischen Ansätzen in den letzten Jahren enormen Einfluss
zukommen ließ (Herpertz, Caspar & Mundt, 2008). Das hatte nachvollziehbare Gründe, die
vor allem darin liegen, dass die Ausrichtung auf die Behandlung singulärer psychischer
Störungen wesentlich dabei half, die Begrenztheit des traditionellen Schulendenkens in der
Psychotherapie zu überwinden und der ätiopathogenetischen Forschung zugleich
disziplinübergreifende Perspektiven zu eröffnen (Bastine, 2005b). Außerdem führte es zu
einigen praktischen Konsequenzen, die zunächst als Erleichterungen wahrgenommen
wurden, insbesondere die Entwicklung und Evaluation standardisierter störungsspezifischer
Behandlungsprogramme, Entscheidungen über die Zulassung von Behandlungsverfahren, die
Entwicklung von Behandlungsleitlinien sowie die Strukturierung der psychotherapeutischen
Ausbildung. Diese Verdienste bleiben, wobei manche dieser Folgen auch von Befürwortern
durchaus nicht nur positiv gesehen werden (Caspar, Herpertz & Mundt, 2008).
Andererseits ist die Aporie der störungsorientierten Psychotherapie, nämlich die gravierende
Diskrepanz zur klinischen Realität, nicht zu übersehen, und stellt inzwischen ein massives
Hindernis für die psychotherapeutische Praxis und Forschung dar:
In der psychotherapeutischen Praxis stellen die multiplen, miteinander vielfach verknüpften
psychischen Störungen die handelnden praktizierenden Psychotherapeuten vor ganz andere
Anforderungen, als mit störungsspezifischen Konzepten und Manualen zu bewältigen sind.
Daher – und nicht aus einer wie immer gearteten Unwilligkeit - resultieren auch die geringe
Gegenliebe und das Misstrauen, die praktizierende Psychotherapeuten diesen Programmen
entgegenbringen. Die schiere Zahl der funktionalen Zusammenhänge beim gemeinsamen
Auftreten psychischer Störungen lässt es aussichtslos erscheinen, für „komorbide
Störungen“ sogenannte „integrierte“ Behandlungsprogramme zu entwickeln (GouzoulisMayfrank, Schweiger & Sipos, 2008). Wie soll das gehen: für alle oder auch nur die
wichtigsten Kombinationen psychischer Störungen und Probleme ein jeweils eigenes
Behandlungsmanual entwickeln?
Auch in der Forschung gerät der störungsspezifische Ansatz an seine Grenzen, wenn die
Psychotherapie mittels extrem vorselegierter kontrollierter Wirksamkeitsstudien (RCTStudien) bewertet wird, deren Ergebnisse wenig mit der psychotherapeutischen Praxis zu
tun haben. Die begrenzte externe Validität der Untersuchungen wird zu Recht kritisch
gesehen. Deshalb muss die Psychotherapieforschung die Praxisbedingungen adäquater
einbeziehen, wie es bereits durch klinisch relevantere Effektivitätsstudien sowie durch eine
Patienten-fokussierte Behandlungsforschung geschieht, die einzelne Behandlungsverläufe
analysiert, aggregiert und damit erfolgreiche Behandlungsmuster zu identifizieren versucht
(Asay, Lambert, Gregersen & Goates, 2010; Lambert, 2001; Lutz, 2003).
Vor allem aber ist es ein konzeptuelles Problem der Psychotherapie. Es ist an der Zeit, die
Begrenztheit der störungsspezifischen Behandlungsansätze zu erkennen und zu akzeptieren,
indem die Psychotherapie singulärer psychischer Störungen als ein Spezialfall und nicht als
Regelfall begriffen wird. Das erfordert ist eine umfassenderes Verständnis von
Psychotherapie, das neben der symptomatischen Behandlung vor allem von der Bedeutung
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störungsübergreifender psychotherapeutischer Bedingungen und Einflüsse ausgeht. Diese
systemische Konzeptualisierung von Psychotherapie gründet auf zwei Postulaten:
 Die Psychotherapie behandelt ein komplexes, sich dynamisch entwickelndes System
psychischer Störungen. In diesem dysfunktionalen System stehen die verschiedenen
psychischen Beeinträchtigungen („Symptomatiken“) untereinander sowie mit
übergeordneten psychischen Problemen in vielfältigen strukturellen und
funktionalen Beziehungen. Solche übergeordneten psychischen Probleme sind etwa
Beeinträchtigungen des Selbstwerts, der Selbstakzeptanz und der Identität, der
Verlust von Kontrolle und Selbstbestimmung, Defizite der Emotionsregulation,
unausgeschöpfte psychische und soziale Ressourcen, unbefriedigende soziale
Beziehungen und Bindungen, mangelnde Bewältigung von Belastungen und sozialen
Konflikten, unverarbeitete Lebensereignisse und Lebensthemen oder inadäquate
Ziele und Motive.
 Psychotherapie muss zugleich den Lebenskontext der Patienten konzeptuell
einbeziehen, nämlich die vielfältigen Verbindungen und Wechselwirkungen der
psychischen Problematik mit den Merkmalen der Person, ihren sozialen und ihren
somatischen Bedingungen, ihrem Werdegang, ihren Lebenserfahrungen und ihren
Lebensumständen.
Störungsspezifische Vorgehensweisen sind also nur für einen kleinen Teil des
psychotherapeutischen Handlungsspektrums hilfreich. Eine sehr viel größere Bedeutung für
die vielfältigen Zusammenhänge und Entwicklungen der psychischen Problematik des
Patienten haben generelle (störungs-übergreifende) psychotherapeutische
Handlungsstrategien und –muster. Diese Strategien sind sie komplex, zielbestimmt,
prozessorientiert (und damit adaptiv nicht nur auf die störungsspezifischen Konditionen des
Patienten abgestimmt), und sie schließen die Gestaltung der therapeutischen Beziehung mit
ein.
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Seite 8
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61,2 %
der affektiven
Störungen sind
komorbid
62,1 % der
Angststörungen
sind komorbid
65,2 %
der Essstörungen sind
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44,9 % der
Substanzstörungen
sind komorbid
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somatoformen
Störungen sind
komorbid
Abb. 1: 12-Monats-Komorbidität einzelner Störungsgruppen nach Jacobi et al. (2004)
Bastine
KoMorb11A
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Psychotherapeutische Faktoren
Extratherapeutic Change
Common Factors
Techniques
Expectancy (Placebo effect)
Abbildung 2: Geschätzter Anteil therapeutischer Faktoren an der Besserung von
Psychotherapie-Patienten anhand empirischer Erfolgsuntersuchungen (nach Lambert &
Barley, 2002, 18).
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