25.3 Objektive Sinnesphysiologie

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25.3 Objektive Sinnesphysiologie
zentralnervöse Verstellung
Vigilanz, Stimmungen, Gedächtnis, Erwartungen, Aufmerksamkeitszuwendung oder -abwendung
Körperoberfläche
Außenwelt
Abb. 25.1
Adaptation
Habituation
reizleitender
Apparat
Rezeptor
afferente
Nerven
1
2
3
sensorische
Zentren im Gehirn
4
Sinneseindruck
Wahrnehmung
5
objektive Sinnesphysiologie
6
subjektive Sinnesphysiologie
Schematische Darstellung der Strukturen, die an einem Wahrnehmungsprozess beteiligt sind.
Die Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse sind
einer direkten naturwissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich. Auf sie kann nur durch die Angabe von Versuchspersonen zurückgeschlossen werden, wobei natürlich auch Tiere im Verhaltensexperiment indirekt Auskünfte über ihre Wahrnehmung geben. Diesen Bereich
nennt man subjektive Sinnesphysiologie. Wenngleich
sich die Grenzen des objektiv Beobachtbaren im Laufe
der Wissenschaftsentwicklung immer weiter zugunsten
der objektiven Sinnesphysiologie verschoben haben, sind
in der Regel aber nur Korrelationen zwischen objektiven
und subjektiven Beobachtungen aufzuzeigen. Der Nachweis von Kausalzusammenhängen ist schwierig.
Die quantitativen Beziehungen zwischen Reiz und
subjektiver Empfindung hat die Wissenschaft seit etwa
160 Jahren stark beschäftigt. Diese Forschungsrichtung
wird Psychophysik genannt, wenn Reiz und Empfindung
zueinander in Beziehung gesetzt werden, und Psychophysiologie, wenn die Empfindungsgröße mit Aktivitätszuständen der Rezeptoren oder afferenten Nervenbahnen
korreliert werden. Letztlich ist dies natürlich der Versuch
eines Zugangs zum Leib-Seele-Problem mit naturwissenschaftlichen Methoden.
Zu dieser, an sich philosophischen, Frage haben die
Neurowissenschaften in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten aber wichtige Beiträge leisten können. Moderne
Methoden der Neurobiologie (s. Kap. 19.1) haben unser
Wissen über zerebrale Prozesse wesentlich erweitert. Auf
der Grundlage der Überzeugung, dass jeder psychische
Vorgang auf physiologischen Abläufen beruht, hat die
Kognitionsphysiologie mannigfaltige Hinweise darauf
geben können, welche Hirnstrukturen bei der Bearbeitung von Wahrnehmungsprozessen ihre Beiträge liefern.
Vereinzelt konnten sogar Kausalzusammenhänge bewiesen werden (s. Kap. 25.5).
25.3
Objektive Sinnesphysiologie
Rezeptoren setzen den physikalischen oder chemischen
Reiz im Transduktionsprozess in Rezeptorpotenziale
um. Es folgt eine Umkodierung dieses Rezeptorpotenzials in eine Serie von Aktionspotenzialen. Die Aktionspotenziale geben die Information zur weiteren Verarbeitung an das Zentralnervensystem weiter.
Die allgemeinen Funktionsprinzipien eines Sinneskanals
wurden bereits in Kapitel 19 besprochen. Die danach
folgenden Kapitel haben konkrete Beispiele gegeben.
Insofern ist die Abb. 25.1 bis einschließlich Schritt 4
zunächst eine Zusammenfassung und Abstraktion des
bisher Gesagten: Im Schritt 1 wird der Reiz durch einen
reizleitenden Apparat an die Rezeptoren herangebracht,
dabei häufig umgeformt (transformiert), aber der Reiz
behält seine ursprüngliche physikalische Dimension bei.
Schallwellen werden z. B. über den Trommelfell-Gehörknöchelchen-Apparat ans Innenohr gebracht. Dieser
Übertragungsweg hat Bandpasscharakter, für das Ohr
ebenso wie für alle anderen Sinneskanäle. Für das Ohr
heißt dies, dass das Mittelohr nur mittlere Frequenzen
passieren lässt, tiefe und vor allem sehr hohe Frequenzen
werden nicht übertragen. Zum zweiten bewirken das
Verhältnis der Flächen von Trommelfell und Stapesfußplatte sowie die Hebelarme der Gehörknöchelchen überdies, dass aus dem Luftschall mit Teilchenbewegungen
großer Amplitude und geringen Drucks Schwingungen
der Endolymphe geringer Amplitude, aber höheren
Drucks werden. Schließlich werden durch die hydromechanischen Eigenschaften des Innenohres bestimmte
Teilfrequenzen eines Schallreizes auf bestimmte örtliche
Bereiche der Basilarmembran verteilt.
Erst nach Ablauf dieser Vorgänge kann die so transformierte Schallenergie mit den Rezeptoren, in diesem
Fall einem Teil der Haarzellen, interagieren (Transduktion). In ähnlicher Weise verteilt der dioptrische Apparat
des Auges die einfallenden Lichtstrahlen auf bestimmte
Retinabezirke und entwirft dort ein reelles Bild. Erst
danach kommt es zur adäquaten Reizung der belichteten
Rezeptoren, der Transduktionsvorgang (Schritt 2) läuft
ab, als dessen Konsequenz Rezeptorpotenziale entstehen.
Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005
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Reiz
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25 Empfindungen – Wahrnehmungen
25.4
Subjektive Sinnesphysiologie
Quantitative Angaben über die Stärke von Empfindungen sind im modernen Leben an vielen Stellen von
Wichtigkeit, z. B. bei der Beurteilung störenden Lärms,
geeigneter Helligkeit am Arbeitsplatz u. a. Es hat daher
verschiedene Versuche gegeben, Empfindungen zu
quantifizieren und in einfache mathematische Formeln
zu fassen. Allen ist gemeinsam, dass die Formeln nur
über einen begrenzten Intensitätsbereich gültig sind,
also zur Beschreibung des gesamten Empfindungsraumes nicht ausreichen. Dennoch sind Angaben über die
Empfindungsstärken in verschiedenen Sinnesmodalitäten durchaus möglich und sinnvoll.
Die Psychophysik beschreibt die Beziehungen zwischen
Reiz und Empfindung und unternimmt den Versuch einer
Quantifizierung. Zunächst hat schon Johannes Müller
1837 erkannt, dass die Empfindung einer bestimmten
Sinnesmodalität (S. 617) nicht von der Art des Reizes
abhängt, sondern nur vom gereizten Sinneskanal. Auch
ein überschwelliger inadäquater Reiz führt zu Empfindungen, die für den betreffenden Kanal spezifisch sind,
also etwa zum „Sternchensehen“ beim Schlag aufs Auge
oder zum Kribbeln im Kleinfingerbereich beim Druck auf
den N. ulnaris am Ellenbogen. Johannes Müller nannte
diese Tatsache seinerzeit das Gesetz der spezifischen
Sinnesenergien, eine Terminologie, die sich erhalten hat,
obwohl sie nach heutigem Sprachgebrauch nicht sehr
glücklich ist.
Therapeutisch wird dieser Sachverhalt ausgenutzt,
etwa wenn durch elektrische Reizung des Hörnervs
bei voll ertaubten Patienten wieder Hörempfindungen
bis hin zum Sprachverständnis möglich werden.
Innerhalb einer Sinnesmodalität unterscheidet man verschiedene Qualitäten, z. B. rot-grün, rau-glatt etc.
Schließlich haben wir noch die Dimension Intensität
einer Empfindung. Zunächst können Absolutschwellen
gemessen werden. Ein Beispiel ist die Hörschwellenkurve
der Abb. 21.2 (S. 659), in der der zu einer Hörempfindung
notwendige Mindestschalldruck über die verschiedenen
300
Weber-Beziehung
200
100
0
2
4
6
Reizkraft, j (N)
8
10
Abb. 25.2 Weber-Beziehung. Zusammenhang zwischen
Kraft und notwendigem Reizzuwachs, der zur Überschreitung der Unterschiedsschwelle nötig ist. Es ergibt sich die
Weber-Beziehung.
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Diese Rezeptorpotenziale bilden zwar den Reiz in analoger Form ab, aber nicht mehr in der physikalischen
Dimension des Reizes. Der Transduktionsvorgang macht
also aus dem externen Reiz ein internes Signal. Dieses
Signal kann aber nicht in analoger Weise an das Zentralnervensystem weitergegeben werden. Es wird in eine
Folge von Aktionspotenzialen kodiert, durch einen Mechanismus, der zuweilen auch als Encoder bezeichnet
wird (Schritt 3).
Über afferente Nervenbahnen gelangt die informationstragende Folge von Aktionspotenzialen dann ans
Gehirn und wird dort mit Hilfe synaptischer Prozesse
evaluiert und weiter verarbeitet. Wichtig ist an dieser
Stelle die Feststellung, dass praktisch alle der genannten
Schritte durch zentralnervösen Einfluss modifiziert werden können. Der reizleitende Apparat kann verändert
werden über Innervation der Mittelohrmuskulatur, der
Irismuskulatur oder des M. ciliaris, durch Veränderung
der Blickrichtung, durch willkürliches Schnüffeln oder
das Abtasten einer Oberfläche mit den Fingern etc. Zusätzlich sind Rezeptoren häufig efferent innerviert, wie
z. B. die Haarzellen des Gleichgewichtsorgans oder des
Corti-Organs. Über diese efferente Innervation kann deren Empfindlichkeit modifiziert werden. Erst recht sind
praktisch alle neuralen Strukturen des Zentralnervensystems zentrifugal beeinflusst. Diese zentrifugalen Bahnen
sind meistens hemmend; sie dienen der Steuerung des
Aufmerksamkeitsverhaltens und können u. U. bestimmte
Sinneskanäle weitgehend abschalten. Schließlich tun
Adaptationsvorgänge ein übriges, um neuronale Antworten auf definierte physikalische Reize zu verändern. Dabei
versteht man in der Physiologie unter Adaptation im
Allgemeinen Anpassung der Rezeptoren an die vorhandene Reizstärke. Einen Vorgang mit ähnlichem Endergebnis,
der aber im Zentralnervensystem über neuronale Rückkoppelungsschleifen zustande kommt, nennt man Habituation.
In den sensorischen Zentren des Gehirns wird die
einlaufende Information durch neuronale Netzwerke kritisch verarbeitet (Schritt 4). Dabei kommt es insbesondere auf die Extraktion wichtiger Eigenschaften des Reizes
aus dem Muster der Aktionspotenziale an (Feature Extraction). Eine grundlegende Eigenschaft dieser Netzwerke ist die Kontrastverschärfung mit Hilfe der lateralen
Inhibition (Kap. 19, Abb. 19.12), die nicht nur die Reizmaxima heraushebt, sondern auch ein hemmendes Umfeld zur Folge hat. Diese hemmenden Umfelder können
von einer Versuchsperson auch subjektiv wahrgenommen werden, z. B. an Hell-dunkel-Grenzen (Kap. 23). Sie
werden nach ihrem Erstbeschreiber Mach-Bänder genannt. Selbstverständlich aber lösen die neuronalen
Netzwerke weit kompliziertere Aufgaben als die der
Kontrastverschärfung. Man denke etwa an die Extraktion
von Eigenschaften eines Sprachlautes, die dann bis zum
Sprachverständnis führen, oder an die Analyse von
Schriftzeichen, mit der Sie soeben befasst sind.
Reizzuwachs, Dj (mN)
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