Antidepressiva Um die pharmakotherapeutischen Möglichkeiten in der Depressionsbehandlung auszuschöpfen, muss zunächst eine ausreichend hohe Dosis über einen ausreichend langen Zeitraum verabreicht werden. In der ▶ Tab. 17.2 finden sich die jeweiligen Dosierungen einzelner Antidepressiva sowie die Höchstdosen der Substanzen. In praxi empfiehlt es sich generell, langsam einschleichend zu dosieren, um die besonders initial auftretenden Nebenwirkungen in einem überschaubaren Rahmen zu halten. Die so erreichte Dosis wird über einen Zeitraum von 3 Wochen beibehalten. Sprechen die depressiven Symptome nur unzureichend an, wird unter Beachtung der individuellen Kontraindikationen über einen weiteren Zeitraum von 2 Wochen in Höchstdosis weiterbehandelt, bevor gemäß ▶ Abb. 17.1 umgesetzt wird. Der Patient ist vor Beginn der Pharmakotherapie unbedingt über die zu erwartenden Nebenwirkungen aufzuklären, da es sonst schnell zu Therapieabbrüchen kommen kann. Die einzelnen Dosen sind aus der ▶ Tab. 17.2 abzulesen. ▶ Zeitpunkt der Verabreichung. Meist ist es aufgrund der relativ langen Halbwertszeiten ohne Nachteil möglich, die Gesamtdosis auf nur 2 Einzeldosen (morgens und abends) zu verteilen, bei einzelnen Antidepressiva (z. B. Fluoxetin) genügt eine Einmalgabe. Dabei sollte bei den sedierenden Antidepressiva die Hauptdosis abends eingenommen werden, um die häufig vorhandenen Schlafstörungen günstig zu beeinflussen und den Schwerpunkt der Nebenwirkungen in die Nacht zu verlagern. Dadurch erhöht sich die Compliance in der Mehrzahl der Fälle. Bei nicht sedierenden Antidepressiva sollte die letzte Dosis, insbesondere wenn Schlafstörungen vorliegen, vor 16 Uhr verabreicht werden. 17.6 Behandlungsstrategie und Therapieresistenz ▶ Ältere Patienten. Im Alter liegt die Standardtagesdosis wegen geringerer Metabolisierung und Serumeiweißbindung um bis zu 50 % niedriger (eine Ausnahme hiervon stellt Sertralin dar). Eine allgemein gültige Definition der Therapieresistenz bei der Behandlung mit Antidepressiva existiert nicht. Es werden im Wesentlichen folgende Definitionen verwendet (Ananth, 1998; Berlim und Turecki, [8], [25]): ▶ Absetzen der Medikation. Gravierende Nebenwirkungen, wie sie u. a. bei den TCA vorkommen Stufe I serotonerg(es) Antidepressivum) Stufe Ia Höchstdosis noradrenerg Stufe II Stufe IIa Stufe III 17 320 breit Höchstdosis (noradrenerg) dopaminerg breit Stufe IIIa Stufe IV (noradrenerg) dopaminerg Abb. 17.1 Stufenschema der antidepressiven Pharmakotherapie, verdeutlicht anhand des Beginns mit einem serotonergen Antidepressivum. Die Therapieschritte gelten entsprechend, falls mit einem anderen Antidepressivum begonnen wird. noradrenerg breit noradrenerg (noradrenerg) dopaminerg Höchstdosis breit (noradrenerg) dopaminerg breit noradrenerg (noradrenerg) dopaminerg noradrenerg Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. (z. B. Harnverhalt, Erregungsleitungsstörung am Herzen oder ein besonders im Alter gehäuft auftretendes Delir), zwingen zum Absetzen der Medikation. Gerade hier liegt, wie schon erwähnt, das besondere Indikationsgebiet der nicht oder weniger anticholinergen bzw. kardiotoxischen neueren Antidepressiva. 17.5 Dosierung der Antidepressiva 17.6 Behandlungsstrategie und Therapieresistenz ● ● ● Nichtansprechen auf die Behandlung mit dem ersten Antidepressivum ohne weitere Festlegung über die Adäquatheit der bisherigen Behandlung oder Nichtansprechen auf die erste adäquate Behandlung, die bezüglich Dosis und Dauer näher definiert wird (z. B. 150 mg Imipramin/d über 4–6 Wochen) oder Nichtansprechen auf das 2. Antidepressivum Nichtansprechen auf 2 monotherapeutische Behandlungsversuche mit pharmakologisch verschiedenen Antidepressiva in ausreichender Dosierung für einen ausreichend langen Behandlungszeitraum ▶ Pseudotherapieresistenz. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass bei vielen als therapieresistent eingestuften Patienten keine echte Therapieresistenz vorliegt, sondern nur eine sog. Pseudotherapieresistenz, z. B. bei unzureichender medikamentöser Behandlung mit Antidepressiva (zu niedrige Dosis, zu kurze Therapiedauer), diagnostischen Besonderheiten (z. B. hirnorganische Krankheitsprozesse, neurologische und internistische Erkrankungen, pharmakogene Depression u. a.) oder – ganz besonders wichtig – bei eingeschränkter oder fehlender Adhärenz. Letztere ist wahrscheinlich im ambulanten Bereich die häufigste Ursache für Pseudotherapieresistenz. Bekanntlich nehmen bis zu 50 % der depressiven Patienten ihre Antidepressiva nicht oder in zu geringen Dosen ein. Deshalb sollte von Anfang an versucht werden, die Adhärenz durch Aufklärung über die Art der Erkrankung sowie über die Wirkung der Antidepressiva (Wirklatenz und Nebenwirkungen) zu fördern. ▶ Vorgehen nach gezieltem Behandlungsplan. Da die Therapieresistenz – insbesondere im klinischen Bereich – von großer Bedeutung ist, empfiehlt es sich, von vornherein nach einem gezielten Behandlungsplan (ein Beispiel ist in ▶ Abb. 17.1 angegeben) vorzugehen. Dieser Behandlungsplan muss entsprechend der Nebenwirkungsproblematik (Kap. 17.4: „Auswahlkriterien für Antidepressiva“) modifiziert werden. In diesem Zusammen- hang ist es sinnvoll, den biochemischen Schwerpunkt der Antidepressiva sowie die jeweiligen Dosierungen zu berücksichtigen. Beim Durchschreiten dieser Therapiestrecke werden zunächst die tatsächlich therapieresistenten Fälle minimiert, vorausgesetzt, die einzelnen Stufen werden adäquat, d. h. mit ausreichend hohen Dosen und ausreichend lange durchgeführt. Die biochemischen Wirkschwerpunkte der Antidepressiva sind bereits in ▶ Tab. 17.1 dargestellt worden. ▶ Plasmaspiegel und Mindestwerteinstellung. Im Rahmen der Behandlung therapieresistenter Patienten gewinnt auch die Bestimmung des Plasmaspiegels Bedeutung. Zum einen kann sie die Adhärenz erhöhen, da der betreffende Patient weiß, dass die Medikamentenkonzentration im Plasma überprüft wird, zum anderen gibt es zumindest für Imipramin und Nortriptylin Zusammenhänge zwischen der Höhe des Plasmaspiegels und dem Grad der Response. Aus diesem Grund sollten therapieresistente Patienten auf einen Mindestwert eingestellt werden, d. h. die Dosis des entsprechenden Antidepressivums wird solange unter fortwährender Plasmaspiegelkontrolle erhöht, bis dieser Mindestwert (für die einzelnen Substanzen unterschiedlich) erreicht ist. Falls bei diesem Vorgehen kein Therapieerfolg erzielt wird, sollten gezielte Maßnahmen zur Beseitigung einer wahrscheinlichen bzw. gesicherten Therapieresistenz ergriffen werden, wie sie in den Stufen V–VII der ▶ Tab. 17.5 zusammengefasst sind. Für die Stufe V (▶ Tab. 17.5) stehen verschiedene Augmentierungsstrategien zur Verfügung: Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● ▶ Atypika in niedriger Dosierung. Hier liegt die beste Evidenz für retardiertes Quetiapin (150– 300 mg/d) vor, diese Substanz ist für die Indikation Augmentierung in Deutschland auch zugelassen. Aber auch für andere Atypika wie Olanzapin, Risperidon und Aripiprazol liegen gute Daten vor. ▶ Lithium. Lithium gilt als Adjuvans der 1. Wahl zu einer bestehenden Antidepressivatherapie ([3], [6], [35]), wenngleich eine Metaanalyse [10] kei- 17 Tab. 17.5 Stufenschema bei Therapieresistenz (zu verstehen im Anschluss an ▶ Tab. 17.7). Stufe V Stufe VI Stufe VII Antidepressivum + Augmentierung (2–4 Wochen) traditioneller MAOI EKT (TMS) EKT = Elektrokrampftherapie; MAOI = Monoaminoxidasehemmer; TMS = transkranielle Magnetstimulation 321 Antidepressiva ▶ Schilddrüsenhormone. Schilddrüsenhormone wurden in kleinen Dosen (25–50 μg Trijodthyronin [T3]) als Zusatzmedikation empfohlen ([3], [22]), allerdings scheinen Untersuchungen zur Augmentierung mit supraphysiologischen Dosen (250– 400 μg/d) überzeugendere Effekte zu zeigen [33], wobei der Symptomrückgang mit regionalen Veränderungen des Hirnstoffwechsels korreliert [4]. Es wird mit 100 mg/d Levothyroxin (Tetrajodthyronin [T4]) begonnen, die Zieldosis liegt bei 250 bis 400 mg/d nach 2 Monaten. Auf die kardiovaskuläre Situation ist hier besonders zu achten. ▶ Schlafentzug. Die (partielle) Schlafentzugsbehandlung ist ein weitgehend nebenwirkungsfreies und einfach durchzuführendes Behandlungsverfahren, das in Kombination mit einer Antidepressivabehandlung die Responderquote erhöht. Bei der Schlafentzugsbehandlung werden die Patienten (1- bis) 2-mal pro Woche eine Nacht (bzw. die zweite Nachthälfte) unter Aufsicht von geschultem Pflegepersonal wach gehalten. Hierbei ist darauf zu achten, dass bis zum darauffolgenden Abend keine Schlafperiode eintritt. Der Therapieerfolg dauert meist wenige Tage an. ▶ Ersatzpräparate. Ersatzpräparate zur Augmentierung sind der 5-HT1A-Agonist Buspiron (15– 30 mg) und der β-Blocker Pindolol (5–15 mg) bei primärer SSRI- oder SNRI-Gabe. ▶ Stufe VI, MAO-Hemmer. Für den Einsatz von MAO-Hemmern bei therapieresistenten Depressionen liegen Erfahrungen nur für die traditionellen, nicht reversiblen und nicht selektiven MAOI, wie etwa Tranylcypromin, vor [37]. Für die Besonderheiten, die es bei dem Einsatz dieser Substanz zu beachten gilt, siehe Kap. 17.3.10. 17 322 17.7 Sonderfälle 17.7.1 Schwere depressive Störung mit psychotischen Symptomen Klassische depressive Wahnformen sind der Verarmungswahn, der Schuldwahn, der hypochondrische Wahn und der Beziehungswahn, sofern dessen Inhalte zu der depressiven Verstimmung passen (sog. synthymer Wahn). In zahlreichen, wenngleich häufig unkontrollierten Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass bei wahnhaft depressiven Patienten die sonst anzustrebende Monotherapie mit Antidepressiva der Kombinationsbehandlung von Antidepressiva mit Antipsychotika unterlegen ist [17]. Früher kamen in erster Linie trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin) in Kombination mit hochpotenten (z. B. Haloperidol 5– 10 mg/d) oder mittelpotenten (z. B. Perazin 100– 300 mg/d) Antipsychotika zum Einsatz. Die Gabe von niederpotenten Antipsychotika ist zu vermeiden, da deren Nebenwirkungen die der trizyklischen Antidepressiva wesentlich verstärken können. Heute werden verstärkt moderne Antidepressiva in Kombination mit atypischen Antipsychotika eingesetzt, z. B. Citalopram (40–60 mg/d; Escitalopram 20–30 mg/d) oder Venlafaxin (150–300 mg/ d) in Kombination mit Olanzapin (10–15 mg/d), Risperidon (2–4 mg/d) oder Quetiapin (150– 600 mg/d). Die Datenlage über die Frage, ob die Rezidivprophylaxe in Form einer Kombinationsbehandlung (Antidepressivum und Antipsychotikum) oder nach einer Konsolidierungsphase monotherapeutisch antidepressiv erfolgen soll, ist gegenwärtig noch unzureichend [12], sodass im Einzelfall individuell entschieden werden muss. Nur die Elektrokrampftherapie (EKT) ist bei wahnhaften Depressionen der Kombinationsbehandlung mit Antipsychotika überlegen [17]. 17.7.2 Dysthymia Während traditionelle Konzepte zur Behandlung der Dysthymia hauptsächlich auf psychotherapeutischen Verfahren basieren, konnten klinische Studien der vergangenen 2 Jahrzehnte eine Wirksamkeit von Antidepressiva zeigen. Trotz einer Reihe von Kritikpunkten, die u. a. methodische Gesichtspunkte, den chronischen Verlauf der Erkrankung Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. nen signifikanten Unterschied zu Plazebo fand. Fast alle Untersucher betonen den raschen, häufig schon innerhalb der ersten 48 h feststellbaren therapeutischen Effekt der Lithiumzugabe. Meist wird mit einer Dosis von 450 mg Lithiumcarbonat begonnen. Nach einer Serumspiegelbestimmung am 4. Behandlungstag erfolgt eine Dosisanpassung (linearer Zusammenhang), wobei der für die Rezidivprophylaxe übliche Serumspiegel von 0,6– 0,8 mmol/l angestrebt wird. Wenn nach 2–4 Wochen keine eindeutige Besserung feststellbar ist, kann die Behandlung abgebrochen werden, da nach diesem Zeitpunkt wahrscheinlich kein Effekt mehr zu erwarten ist.