Mahlers Welt - Residenz Verlag

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Helmut Brenner
Reinhold Kubik
Mahlers
Welt
Die Orte seines Lebens
Mit 587 Abbildungen
Residenz Verlag
Inhalt
Vorwort
7
Kindheit und Jugend in Böhmen und Mähren 1860 bis 1875
Kalischt (Kaliště, Juli bis Oktober 1860) Iglau (Jihlava, Oktober 1860 bis August 1875) Prag (Praha, September 1871 bis März 1872) 9
10
20
Die Studienjahre und Adressen 1875 bis 1897
Wiener Studienjahre (1875 bis 1880)
Wien (1880 bis 1897)
21
28
Stationen eines fahrenden Gesellen 1880 bis 1888
Bad Hall (Juni bis 1. September 1880)
Laibach (Ljubljana, September 1881 bis April 1882)
Olmütz (Olomouc, Januar bis März 1883)
Kassel (Oktober 1883 bis Juli 1885)
Prag (Praha, Juli 1885 bis Juli 1886)
Leipzig (Juli 1886 bis Mai 1888)
51
53
55
59
66
75
Frühe Meisterjahre in Budapest und Hamburg 1888 bis 1897
Budapest (Oktober 1888 bis März 1891)
Hamburg (März 1891 bis April 1897)
87
104
Der Gott der südlichen Zonen 1897 bis 1907
Direktor der Wiener Hofoper
Ferien und berufliche Reisen (1897 bis 1907)
171
214
Vollendung und Abschied 1907 bis 1911
Wien – Paris – New York: Aufbruch in die Neue Welt (1907)
Häfen, Schiffe, Passagen (1907 bis 1911)
USA (1907 bis 1911)
Europa, Ferien und berufliche Reisen (1908 bis 1910)
Wien (1908 bis 1910)
New York – Paris – Wien: Krankheit und Tod (1911)
311
313
319
338
362
370
Anhang
Dank
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Ortsregister
Personenregister
Abbildungsnachweis
375
376
379
386
391
406
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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im Niederösterreichischen Pressehaus
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St. Pölten – Salzburg
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
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Umschlagbild: © Lebrecht Music & Arts/Corbis (vorne); Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien; Archiv Helmut Brenner; Deutsches Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven (hinten)
Gesetzt aus Adriane Text und Akzidenz Grotesk
Gesamtherstellung: GRASL Druck & Neue Medien GmbH
ISBN 978-3-7017-3202-9
Vorwort
D as Österreichische Theatermuseum veranstaltete 2010 im Palais Lobkowitz
in Wien eine Ausstellung aus Anlass von Gustav Mahlers 150. Geburtstag:
GUSTAV­MAHLER­UND WIEN. „… leider­bleibe ich ein eingefleischter Wiener“.
Das Spannungsverhältnis zwischen dem Musiker und jener Stadt, die er selbst am
ehesten als „Heimat“ empfand, wurde in mehreren thematisch und methodisch
unterschiedlichen Bereichen dargestellt. Einer davon bestand aus drei Stadtplänen, in denen die Örtlichkeiten eingezeichnet und durch Fotos verdeutlicht waren,
die Mahler­in den Wien-Abschnitten seines Lebens aufgesucht hat. Parallel dazu
entstand ein umfangreicher Katalogbeitrag, in welchem die aufgezeigten Adressen durch Planausschnitte und Abbildungen, durch Quellentexte und Kommentare
skizziert­wurden. Während der Arbeit an diesem auf Wien beschränkten Kapitel
wuchsen Idee und Wunsch, den bislang nur marginal beachteten Forschungsbereich auf die gesamte Biographie Mahlers auszuweiten und eine Art Topographie
seines Lebens­zu schreiben.
Dabei ging es zunächst nur darum, dürre, an sich bekannte Fakten mit Leben
zu erfüllen, um nackte Informationen mit einem aussagekräftigen, dennoch wissenschaftlich abgesicherten Bild zu verbinden. So weiß etwa jeder Interessierte, dass
Mahler bei seinen Besuchen in Breslau bei seinem Freund Albert Neisser wohnte.
Wie aber sah es dort aus? Wie sah der Konzertsaal aus, dessentwegen Mahler
überhaupt nach Breslau gekommen war? Oder die von Mahler selbst berichtete, jedermann geläufige Geschichte, wie er am 27. November 1891 Hans von Bülow in
Hamburg die Todtenfeier vorspielte. Wir veröffentlichen dazu ein Foto des Salons in
Bülows Wohnung, mit dem Bechstein-Flügel, auf dem Mahler damals zum Entsetzen
Bülows vorspielte. Dieses Foto kann man lange betrachten, auf sich wirken lassen,
und das bekannte Ereignis wird mit neuem Leben erfüllt.
Bald aber tauchten Fakten auf, die der Mahler-Forschung bislang unbekannt
waren. Wir stießen auf „neue“ Konzerte in der Jugendzeit, auf neue Wohnadressen
7
Vorwort
während der Wiener Studienjahre, auf konkrete Informationen zu Mahlers Sommer
im ungarischen Puszta-Batta, auf ein Operationsprotokoll des Wiener Rudolfinerhauses, auf eine Unmenge Daten und Namen, die entweder erschlossen oder korrigiert werden konnten, auf bisher unbekannte Adressen in Bayreuth, Sylt, Kitzbühel,
Vahrn, Bad Gastein, Maiernigg und in anderen Örtlichkeiten, bis hin zu erstmals recherchierten Fakten über den Erwerb des Grabes auf dem Grinzinger Friedhof.
Darüber hinaus gelang es, eine erkleckliche Anzahl von Fotos ausfindig zu
machen­, die noch niemals veröffentlicht wurden: Bilder von privaten Räumlichkeiten,
von Hotels, Restaurants und Cafés, sogar von Sälen, in denen Mahler aufgetreten
war, die in jeder Biographie erwähnt, jedoch nirgendwo abgebildet sind; dass wir
erstmals auch das Innere von Mahlers Villa in Maiernigg und die benachbarte Villa
„Antonia“ dokumentieren können, ist für die Mahler-Forschung ein zusätzlicher Gewinn. Und obwohl zwei Ordnungsprinzipien bedacht werden mussten – ein geographisches und ein chronologisches – und sich daher Situationen in der Anordnung
der ausgebreiteten Materialien ergaben, die man auch anders hätte lösen können,
ist letztlich so etwas wie eine Bildbiographie entstanden. In deren Zentrum steht
jedoch nicht Mahler allein, sondern ebenso sein Umfeld, unzählige „Vis-à-vis“, die
ihm sein Leben erleichtert oder erschwert haben – je nachdem. Sie vermitteln uns
auf anschauliche Weise einen lebendigen Eindruck, wo er übernachtet hat, wo er
mit Freunden im Restaurant saß, wo er musizierte, Familienangehörige traf, Urlaub
machte, komponierte, den Atlantik überquerte. In einigen Fällen haben wir auf eine
bildliche Darstellung verzichten müssen, da Gebäude aus der Zeit Mahlers nicht
mehr vorhanden sind, ein historisches Foto nicht aufzutreiben war und uns die Abbildung eines beliebigen Neubaus nicht zielführend erschien.
Mahlers Orte seines Lebens werden mit Bild und Text im Rahmen des kulturellen, ökonomischen und soziologischen Umfeldes näher beleuchtet. Insofern ist
das Buch auch eine Reise durch die Architektur- und Kulturgeschichte Europas während der Zeit zwischen 1870 und 1910. Dabei wird deutlich, dass Mahler bei aller
äußerlichen Bescheidenheit durchaus ein großbürgerliches Ambiente zu schätzen
wusste. So bevorzugte er bei seinen Reisen kostspielige Ferienquartiere und stieg
gerne in Luxushotels ab; selbstverständlicher Vertragsbestandteil seiner Schiffsreisen war die Unterbringung für sich und seine Familie in einer Staatskabine.
Die Textpassagen aus Briefen und anderen zeitgenössischen Dokumenten entsprechen bis auf geringfügige Ausnahmen der Schreibweise in den Autographen
bzw. in den zitierten Publikationen. Die vollständigen bibliographischen Angaben zu
den im Text verwendeten Siglen und Büchern können dem Abkürzungs- und Literaturverzeichnis entnommen werden; Aufsatztitel hingegen sind im Text vollständig mit
dem Namen des Mediums, mit Erscheinungsort und -jahr angegeben.
Düsseldorf/Wien, im Herbst 2010
Helmut Brenner Reinhold Kubik
8
Kindheit und Jugend in Böhmen
und Mähren 1860 bis 1875
Kalischt (Kaliště, Juli bis Oktober 1860)
Geburtshaus
Das Haus Kalischt (Kaliště) Nr. 9, in
dem Gustav Mahler zur Welt kam,
wurde 1857 von seinem Vater Bernard
(auch: Bernhard) Mahler aus Mitteln
seiner Frau Marie erworben, die als
Tochter des wohlhabenden Seifenherstellers und -händlers Abraham Herrmann 3.500 Gulden Mitgift erhalten
hatte.
Gegenüber Natalie Bauer-Lechner
erinnerte sich Mahler im Juli 1896 bei
einem Spaziergang vorbei an „dürftigen Bauernhütten“ in Weyregg am
Attersee: „Siehst du, in einem so armseligen Häusel bin ich geboren; nicht
einmal Scheiben waren in den Fenstern. Vor dem Hause breitete sich ein
Wassertümpel aus. Das kleine Dorf
Kalischt und einige zerstreute Hütten
waren alles, was in der Nähe lag.“ Am
26. Oktober 1904 hält Elisabeth Diepenbrock eine Äußerung Mahlers anlässlich einer Konzertreise nach Amsterdam in ihrem Tagebuch fest: „[Er] erzählt reizend über sein Geburtshaus, das
kein einziges ganzes Fenster hatte“.
9
Frühe Meisterjahre in Budapest und Hamburg 1888 bis 1897
lich gegen mich erwies, und ich bitte Euch die Damen [Adele und Toni] bestens
aufzunehmen.“ Mahler verkehrte regelmäßig im Hause von Adele Marcus und
berichtet Justine von einem Besuch im Oktober 1892: „Bei Markus [sic] war ich
neulich zu Tisch. – Vor entsetzlichster Langeweile wurde ich so nervös und
zapplig, daß ich mitten drin (d. h. nach dem Essen) aufstehen mußte und eine
Stunde lang in der Stadt herumgerannt bin, und dann erst wieder gekommen
bin.“ Hingegen heißt es in einem undatierten späteren Brief an Adele Marcus:
„Für heute zeige ich Ihnen offiziell meine Ankunft in Hamburg Anfang Januar
an, und daß ich Ihnen bei dieser Gelegenheit nicht vom Halse gehen werde.
Ich wünsche bei Ihnen sowohl zum Frühstück als auch zum Diner, als auch
zum Souper eingeladen zu sein. Speiszettel die bekannten beliebten! Nie mehr
als einen Gang bei Strafe der Verdammnis!“ Die Freundschaft Mahlers mit der
kunstsinnigen Adele Marcus und ihrer Tochter, die beide in der Hamburger Gesellschaft verankert waren, in die auch Justine und Emma einbezogen wurden,
lässt sich brieflich bis zum Jahr 1908 verfolgen, und im September 1910 kamen
die Damen Marcus zur Uraufführung der VIII. Symphonie nach München.
Das Haus in der Heimhuderstraße, das lediglich angemietet war (GMB 248),
ist unverändert erhalten geblieben.
GMFB 250, 267; GMB 249; Reinhold Kubik, Die Sammlung Bruck: Mahler und die Familie Marcus, in: NMF Nr. 50, Frühjahr 2004, S. 21–41
Arnold Berliner, Winterhude/Uhlenhorst, Dorotheenstrasse 14/24
Den Physiker Dr. Arnold Berliner lernte Mahler wahrscheinlich schon im
ersten Jahr seiner Hamburger Tätigkeit kennen und schloss mit ihm Freundschaft, die bis zu Mahlers Tod bestand (s. S. 354 f.). Zahlreiche Briefe zeugen
von vielerlei Kontakten, die Mahler einerseits sehr angenehm waren, ihm andererseits aber auch lästig fielen. Am 1. Oktober 1892 schreibt er an Justine:
„Zu thun habe ich nicht allzuviel die Nachmittage und Abende immer für mich;
letzte verbringe ich in der anregendsten Weise mit Dr. Berliner.“ Dagegen am
27. Februar 1894: „Mit Berliner geht es mir, wie immer. Ich habe mehr Ärger,
als Vergnügen in seinem Umgang […]. Auch seine unterstrichene Intimität in
Gesellschaft ist mir lästig.“ Justine berichtete in zwei Briefen an ihre Freundin
Ernestine Löhr von der Absicht Berliners, sie zu heiraten.
Arnold Berliner stand, als er Mahler kennenlernte, in den Diensten der
AEG, deren Hamburger Glühlampenfabrik er einige Jahre leitete. Seine Wohnung hatte er auf dem Firmengelände, wie aus Briefen Mahlers hervorgeht.
Dort muss er ihn auch aufgesucht haben, um sich von Berliner Unterricht in
der englischen Sprache erteilen zu lassen. Als Berliner nach 25jähriger Tätigkeit
bei der AEG ausschied, betätigte er sich als wissenschaftlicher Redakteur für
die Zeitschrift „Die Naturwissenschaft“. 1942 nahm er sich aus Angst vor Verfolgung durch die Nazis das Leben.
Das ehemalige Firmengelände ist früh einer Wohnbebauung gewichen.
GMFB 263, 363 und Anm. 3
118
Hamburg 1891 bis 1897
Julie de Boor, Moorweidenstrasse 19
Zum Kreis Hamburger Persönlichkeiten, mit denen Mahler zusammenkam, gehörte auch die Porträtmalerin Julie de Boor. In ihrem einstöckigen Haus in
der Moorweidenstraße 19 muss sie um die Jahreswende 1896/97 auch ein nie
bekannt gewordenes Porträt von Mahler angefertigt haben, wie einem Brief an
Anna von Mildenburg Ende Februar 1897 entnommen werden kann. Mahler
teilte ihr mit: „Mit der Malerin habe ich heute Gott sei Dank die letzte Sitzung,
am Abend habe ich sie zu uns eingeladen.“ Julie de Boor verfügte über gute gesellschaftliche Kontakte, so zu Bürgermeister Carl Friedrich Petersen und dem
Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe Justus Brinkmann, was ihr
zahlreiche Aufträge einbrachte. Sie führte ein offenes Haus, in dem auch viele
Musiker verkehrten. Mahler muss Julie de Boor schon einige Jahre früher begegnet sein, denn im Frühjahr 1894 schrieb er seiner Schwester Justine: „Eben
bekomme ich diese Karte und das Bild von der de Boor!“
Das Haus in der Moorweidenstraße besteht nicht mehr.
GMAvM 111; GMFB 352, 379
Martin und Luise Antonie Haller, Alsterterrasse 2
Luise Antonie Haller, die Ehefrau des bekannten
Hamburger Architekten Martin Haller, bewohnte
ab 1891 ein nobles Stadthaus nahe der Außenalster,
das sich zu einem Treffpunkt der Hamburger Musikfreunde entwickelte. Auch Mahler, der Gesellschaften eher mied, war im März 1894 geladen und
berichtet hierüber am 15. seiner Schwester Justine:
„In Gesellschaften gehe ich nicht, und werde auch
nur wenig geladen. Man scheint allmählich darauf
gekommen zu sein, daß das Vergnügen meiner Gesellschaft nur ein sehr mäßiges ist. Die Haller läßt
allerdings nicht locker, auch die berühmte Behrendt
nicht. – Zu ersterer gehe ich heute Abend; zu letzterer natürlich nie wieder […].“
Das Haus von Hermann und Luise Haller dokumentierte nachdrücklich,
dass der Architekt, dessen Bauten das Hamburger Stadtbild prägten, gesellschaftlich voll anerkannt war. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
GMFB 371
Dr. Carl Friedrich Petersen, Antonie (Toni) Petersen,
Grosse Theaterstrasse 33
Kontakt fand Mahler nach einigen Monaten auch zum Ersten Bürgermeister
der Stadt, Dr. Carl Friedrich Petersen, und seiner Tochter Antonie, gen. Toni,
die unmittelbar neben dem Stadt-Theater wohnten. An Justine schrieb er im
Februar 1892: „Mit[t]woch bin ich beim Bürgermeister Petersen geladen – eine
119
Frühe Meisterjahre in Budapest und Hamburg 1888 bis 1897
große Ehre – da er hier die erste Persönlichkeit in der ‚Republik‘ Hamburg ist.“
Zu Toni Petersen blieb ein enger persönlicher Kontakt erhalten. Mahler berichtet von einem „intimen Diner bei Petersen“ Anfang Februar 1893.
Das Gebäude fiel ebenfalls den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer.
GMFB 222, 298
Ferdinand Pfohl, Sechslingspforte 5
Von einem plötzlichen Auftauchen in seiner Wohnung berichtete Ferdinand
Pfohl anlässlich des Veröffentlichung einer Schrift Felix von Weingartners über
das Dirigieren: „Das Buch Weingartners war kaum erschienen, als Gustav Mahler – im September 1896 – in mein Arbeitszimmer einbrach mit dem Ungestüm und dem Brausen eines Sturmes. Er lief in dem Zimmer hin und her wie
ein gereizter Tiger in einem Käfig. Er vermied es, sich des angebotenen Stuhles
zu bedienen, stampfte, schrie: ‚Haben Sie das Buch Weingartners, dieses Quartaners, dieses Trottels schon gelesen? Ich bitte Sie, reißen Sie ihn herunter, diesen Quartaner!‘“
Pfohl, aus Eger stammend, kam nach seinem Studium der Musik in Leipzig
im November 1892 nach Hamburg und übernahm auf Empfehlung Bülows die
Leitung des Musikfeuilletons bei den „Hamburger Nachrichten“. In späteren
Jahren trat Pfohl auch als Komponist spätromantischer Werke in Erscheinung.
Die Beziehung zu Mahler endete nach dessen Weggang aus Hamburg.
Das Wohnhaus existiert nicht mehr.
Pfohl S. 40
Carl Wilhelm Zinne, Bundesstrasse 9, IV. OG
Mit dem Musikkritiker Carl Wilhelm Zinne verband
Mahler die Verehrung für Anton Bruckner und die
gemeinsame Begeisterung für das Fahrradfahren
(s. S. 114). Anlässlich der Aufführung von Bruckners
Te Deum durch Mahler kam es zum persönlichen
Kontakt mit Zinne. Mahler wohnte zeitweise gegenüber von Zinnes Wohnung.
Die Abbildung zeigt das damalige Wohnhaus in
seinem heutigen Zustand.
GMUB S. 244–247
Hans von Bülow, Alsterglacis 10, II. Stock
Im Herbst 1886 folgte Bülow, unter tatkräftiger Mitwirkung seines Konzertagenten Hermann Wolff, einem Ruf nach Hamburg, wo er ab November 1886
die „Neuen Abonnementskonzerte“ übernahm. Das Flair der Weltoffenheit der
Hansestadt sagte Bülow so zu, dass er auch seinen Wohnsitz nach Hamburg
verlegte und eine elegante Stadtwohnung im Obergeschoss des Hauses Alsterglacis 10 bezog. Mahler, der schon in Kassel danach getrachtet hatte, Bülows
120
Hamburg 1891 bis 1897
Protektion zu gewinnen, suchte auch
als Komponist die Anerkennung des
weltberühmten Dirigenten und Pianisten und strebte daher nach privaten Kontakten. Am 15. September 1891
schrieb er ihm: „Zu meinem größten
Bedauern erfuhr ich bei einem Versuche, Ihnen meine Aufwartung zu machen, daß Sie sich nicht wol befinden.
– Indem ich die Hoffnung hege, daß
dieses Unwolsein wieder vorübergangen, spreche ich Ihnen die ergebenste
Bitte aus, mir eine Viertelstunde Ihrer kostbaren Zeit zu schenken, da es
mein sehnlichster Wunsch ist, Ihnen
eine Partitur von mir zur Ansicht vorlegen zu dürfen.“
Die Begegnung fand statt und gegen Ende November berichtete Mahler seinem Freund Friedrich Löhr:
„Als ich ihm meine Totenfeier [den
späteren 1. Satz der II. Symphonie] vorspielte, geriet er in nervöses Entsetzen und
erklärte, daß Tristan gegen mein Stück eine Haydnsche Symphonie ist, und
gebärdete sich wie ein Verrückter.“ Foerster gibt nach Mahlers Angaben die Äußerung Bülows so wieder: „Wenn das noch Musik ist, dann verstehe ich überhaupt nichts von Musik.“ Während Bülow den Komponisten Mahler ablehnte,
schätzte er den Dirigenten. Nach einem Benefizkonzert am 15. April 1893 erhielt
Mahler von Bülow einen Kranz mit Schleife und der Inschrift: „dem Pygmalion
der Hamburger Oper“.
Bülow starb am 12. Februar 1894 in Kairo. Seine Urne wurde auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf bestattet.
Das Wohnhaus Hans von Bülows wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
GMKB 56; Foerster S. 356 f.; GMB 108; GMFB 315
Carl Wagner, Colonnaden 53 (ab 1897: Magdalenstrasse 50)
Der Wiener Schauspieler Carl Wagner kam etwa
zeitgleich an das Hamburger Stadt-Theater und
wurde ein enger Freund Mahlers. Dass man auch
privat miteinander verkehrte, belegt ein Brief an
Justine von Mitte Februar 1894: „Heute bin ich bei
Wagner eingeladen; da wird mich die Toni [wahrscheinlich Toni Marcus] sehr beneiden.“ Aufgrund
seines attraktiven Aussehens war der Schauspie-
121
Frühe Meisterjahre in Budapest und Hamburg 1888 bis 1897
ler bei der Damenwelt sehr umschwärmt, wozu nicht nur Mahlers Schwester
Justine zählte. Als 1899 die „Aktiengesellschaft Deutsches Schauspielhaus“ in
Hamburg gegründet wurde, war Carl Wagner einer der Hauptbeteiligten.
GMFB 359; Neuer Theateralmanach 1892–1897
Josef Bohuslav Foerster, Bornstrasse 3/II
Josef Bohuslav Foerster studierte Musik am Prager
Konservatorium und übersiedelte mit seiner Frau,
der Opernsängerin Berta Foerster-Lauterer, nach
Hamburg, wo er als Kritiker tätig war und später
am Konservatorium lehrte. Er lernte Gustav Mahler kennen und schloss mit ihm eine lebenslange
Freundschaft. Foerster nahm regen Anteil am
Schaffen Mahlers (s. S. 113) und war ein großer Anhänger seiner Musik. Er erwähnt in seinen lesenswerten Memoiren einen Besuch Mahlers in seiner
Wohnung in der Bornstraße.
Das Haus, in dem Foerster wohnte, hat die Bombenangriffe weitgehend unversehrt überstanden.
Foerster S. 353
Wilhelm Birrenkoven, Luisenstrasse 5
Der ab 1893 am Hamburger Stadt-Theater engagierte Tenor Wilhelm Birrenkoven zählte zu den wenigen Sängern, zu denen Mahler auch privat Kontakte
pflegte. In einem Brief von Ende Februar 1897 an Anna von Mildenburg teilt
Mahler der Sängerin mit: „Die Einladung bei Birrenkoven ist auf den 3. März
verschoben, bis du zurückgekehrt bist.“ Mahler schätzte den Sänger, der von
ihm bestens einstudiert 1894 in Bayreuth die Titelpartien des Lohengrin und
Parsifal sang. Einem Angebot Mahlers, an die Wiener Hofoper zu wechseln,
folgte Birrenkoven später jedoch nicht.
Das Wohnhaus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
GMAvM 111; Neuer Theateralmanach 1894–1897
Anna von Mildenburg, Welckerstrasse 6b (ab Herbst 1895)
und Magdalenstrasse 50 (ab Februar 1897)
Die von Rosa Papier in Wien ausgebildete, noch bühnenunerfahrene Sängerin trat im Herbst 1895 in den Verband des Stadt-Theater Hamburg ein. Sie bezog zunächst in einer Pension in der Welckerstraße Quartier, die gegenüber
dem Theater lag und in der auch andere Mitglieder des Hauses untergebracht
waren. Im Februar 1897 wechselte Anna von Mildenburg in eine vermutlich
komfortablere Wohnung in der Magdalenenstraße, wo sich, etwa zum selben
Zeitpunkt, auch der Schauspieler Carl Wagner eingemietet hatte. Zwar gibt es
etliche Briefe und Telegramme Mahlers an die beiden Adressen, es lässt sich
122
Hamburg 1891 bis 1897
hieraus jedoch nicht eindeutig nachweisen, dass
er in den Wohnungen gewesen ist. Dennoch kann
dies angenommen werden, da Mahler und Anna
von Mildenburg nicht nur eine berufliche Beziehung, sondern auch ein privates Liebesverhältnis
unterhielten (ausführlich hierzu GMAvM). Während
die gesamte Welckerstraße durch die Bomben des
Zweiten Weltkriegs zerstört wurde, hat sich das im
Gründerzeitstil erbaute Haus in der Magdalenenstraße erhalten.
GMAvM 97, 110; Neuer Theateralmanach 1897
Friedrich Gernsheim, Berlin, von der Heydtstrasse 4
Der Komponist, Pianist und Leiter des renommierten „Stern’schen Gesangsvereins“ in Berlin, Friedrich Gernsheim, hatte sich im Oktober 1895 bereit erklärt,
mit seinem Chor bei der Uraufführung der vollständigen II. Symphonie Mahlers
mitzuwirken. In einem Brief vom Oktober 1895 schrieb Mahler an Gernsheim:
„Wenn Sie mir erlauben wollten, mich und mein Werk Ihnen persönlich vorzustellen, so käme ich Montag (übermorgen) oder Dienstag zu diesem Behufe
nach Berlin, und würde mich zu einer von Ihnen zu bestimmenden Stunde
bei Ihnen einfinden, um Ihnen mein Werk vorzuführen.“ Für die Begegnung
bedankte sich Mahler bei Gernsheim am 30. Dezember: „Die Stunden, die ich
mit Ihnen und Ihren wackeren Mitarbeitern verlebte, werden mir immer unvergeßlich bleiben“, und beendete seinen Brief mit „herzlichsten Neujahrswünschen“ auch an Gernsheims Frau. Anlässlich seines Konzertes im März 1896
berichtete Mahler seiner Schwester Justine kurz am 12. März: „Samstag 8 Uhr
Gernsheim.“ Im Verlauf des Jahres wünschte sich Mahler weitere Treffen mit
Gernsheim in Berlin.
GMKB 76; GMFB 400; GMB 160, 168, 186
Leonard Berlin-Bieber (Inh. Fotoatelier E. Bieber),
Neuer Jungfernstieg 20, I. Etage
Im Herbst 1893 hatte Mahler im Fotoatelier Bieber
Porträtaufnahmen und Visitenkartenfotos von sich
machen lassen, um sie an Familie und Freunde mit
Widmung zu verschicken. Am 9. Dezember teilt er
Justine mit: „3 große Cabinetsbilder hat mir Bieber
schon für Dich geschickt – 3 Visitkarten, die ich
bestellt habe, sind noch nicht da […].“
Emilie Bieber hatte, damals für eine Frau ungewöhnlich, 1852 das Fotoatelier gegründet und
machte sich unter dem Namen „E. Bieber“ einen Namen für Porträts im Carte-de-visite- und Kabinett­
123
Frühe Meisterjahre in Budapest und Hamburg 1888 bis 1897
format. 1872 übergab sie das Geschäft an ihren Neffen Professor Leonard Berlin,
der sich später Berlin-Bieber nannte und von Mahler die in seinem Brief erwähnten Aufnahmen machte. Die Fotografie vom inzwischen bekannten Hamburger Kapellmeister ließ sich offensichtlich für eigene Werbung Berlin-Biebers
gut verwenden, denn in Bruno Walters Erinnerungen liest man: „Am Jungfernstieg fesselte mich im Schaufenster des Bieberschen Ateliers ein Kopf, der mir
beim ersten Blick als der eines Musikers erschien, beim zweiten wußte ich, das
mußte Mahler sein, nur so konnte der Komponist des ‚Titan‘ aussehen“, was sich
bei der ersten Begegnung mit Mahler am nächsten Tag bestätigte. Bruno Walter
trat im September 1894 in Hamburg die vakante Stelle des Chordirektors an
und wurde wenig später Mahlers Assistent.
GMFB 344; Walter, Thema und Variationen, S. 115 f.
Hermann und Luise Wolff, Berlin, Rankestrasse 8
Mahler war 1884 nach dem Tod Hans von Bülows als dessen Nachfolger mit
der Leitung der „Neuen Abonnementskonzerte“ betraut worden, was durch
die damals bedeutendste Konzertagentur Deutschland, Hermann Wolff, Berlin­,
arrangiert wurde. Der umtriebige und in Musikerkreisen hoch angesehene
Hermann­Wolff vertrat auch über Hamburg hinaus Mahlers Interessen. Dieser­
nutzte jede Gelegenheit, auch persönlich mit seinem Agenten zusammenzukommen. Aus Hamburg schrieb Mahler (auf dem Wege zu einem Konzert
nach Berlin) am 28. August 1894 an Justine: „In Berlin mit einer ‚Grippe‘ angekommen, bei Wolff zu Mittag eingeladen gewesen – nichts gegessen.“ In den
Erinnerungen­ von Wolffs Tochter heißt es: „Unter den Musikern, welche in den
letzten Jahren meines Vaters mit ihm in engeren Beziehungen standen, tritt
Gustav Mahler wohl als die markanteste Persönlichkeit hervor. Er war in Hamburg Bülows Nachfolger geworden und kam oft von dort nach Berlin herüber.
So sah ich ihn häufig in meinem Elternhaus als Tischgast. Sein so ungemein
charakteristischer Kopf, die durch funkelnde Brillengläser lebhaft blickenden
Augen und seine etwas merkwürdige Mundhaltung haben sich mir unauslöschlich eingeprägt.“ Was Mahler wirklich über Hermann Wolff dachte, hat
Natalie Bauer-Lechner in NBLME festgehalten: „[…] da der Herr Konzertunternehmer Wolff für nichts als zum Prozenteinstecken da ist.“
Hermann Wolff starb bereits früh und seine Frau Luise übernahm dann
sehr erfolgreich bis zu ihrem Tode die Leitung der Konzertagentur.
GMFB 390; NBLME S. 21; Stargardt-Wolff, Wegbereiter großer Musiker, S. 172
Heinrich Krzyzanowski, München, Schnorrstrasse 9/I (ab 1892)
und Schellingstrasse 70/II (ab 1896)
Auf der Rückreise von Berchtesgaden nach Hamburg unterbrach Mahler die
Fahrt in München, um die „Entwicklung der Dinge“ (Cholera-Epidemie in Hamburg) abzuwarten. Er informierte seine Schwester Justine am 25. August 1892:
„Meine Adresse bis auf weiteres Schnorrstrasse 9 bei Krzyzanowski“. Auf der
124
Hamburg 1891 bis 1897
Fahrt von Hamburg nach Steinbach legte Justine in München einen Zwischenaufenthalt ein und empfing dort eine Ansichtskarte ihres Bruders aus Dresden, adressiert an „Fräulein Justine Mahler / München / Schellingstraße 70 / bei
Krzyzanowski“. Kontakte zu seinem Freund hielt Mahler in zwei Briefen an Justine vom 19. und 24. März 1897 anlässlich eines Konzertes in München fest: „Am
25. fahre ich von hier ab. Mit Heinrich [Krzyzanowski] war ich eben zusammen,
er schwärmt schrecklich von Dir“; und weiters: „Mit Heinrich (dem es übrigens
jetzt pecuniär ganz passabel geht) bin ich viel zusammen, und habe eine Freude
an ihm.“ Mahler bat am 15. und 18. März 1897 Anna von Mildenburg, ihm Nachrichten „(p[e]r Adr[esse] Dr. Heinrich Krzyzanowski Schellingstr. 70)“ zu senden.
Heinrich Krzyzanowski setzte sein unstetes Leben fort und zog mit seiner
Familie 1898 nach Hall in Tirol. Anschließend wechselte er ins nahe gelegene
Kramsach. 1925–1927 verbrachte er zwei Jahre in Wien und meldete sich von
dort nach Innsbruck ab, wo er am 13. Januar 1933 starb. Sein Leben bedarf noch
genauerer Erforschung.
GMFB 255, 402, 420, 424; GMAvM 121, 123
Lokalitäten
Wiener Café, Colonnaden/Ecke Neuer Jungfernstieg 5
Am 25. Dezember 1892 vernahm Justine in einem Brief ihres Bruders: „Den
gestrigen Weihnachtsabend habe ich ganz allein im Wirthshaus versessen: resp.
im Wiener Café 2 Glas Pilsner und ein Beefsteak wie gewöhnlich gegessen, und
bin schon um ½ 11 zu Bette gegangen, und habe mich endlich einmal ordentlich ausgeschlafen.“
Das „Wiener Cafe“ wird in den Ausgaben des „Theateralmanachs“ für die
Mitglieder des Stadt-Theaters neben anderen Gasthäusern als „Verkehrs-Lokal“
aufgeführt und lag in unmittelbarer Nähe der Oper („Kolonnaden u. Neuer
Jungfernstieg“, Inh.: A. Prückel, später: August Dettmer). Ferdinand Pfohl erwähnt ein von ihm vermitteltes Treffen zwischen Mahler und dem Musikwissenschaftler und Händel-Forscher Friedrich Chrysander „in einem Wiener Kaffee am Neuen Jungfernstieg“.
Die Colonnaden waren Mitte der 1870er Jahre eine Privatstraße der Gebrüder Wex. Um 1880 wurde die Etagenbebauung im Neorenaissance-Stil mit
ihren abwechslungsreichen Fassaden und viel Gebäudeschmuck vorgenommen.
Die noch vorhandenen Häuser, die seit 1978 unter Denkmalschutz stehen, geben
der Straße ein großbürgerliches Flair. Architektonischer Höhepunkt ist der Arkadengang, der italienische Lebensart verbreitet und der Straße ihren Namen
gab. „Das Wiener Café bot österreichischen Kaffeehaus-Service total, vom Glas
Wasser bis zum umfassenden Zeitungssortiment.“ Es wurde 1879 eröffnet und
um die Jahrhundertwende in „Café Imperial“ umbenannt (s. S. 340).
GMFB 284; Pfohl S. 36; Neuer Theateralmanach 1891–1897; „Die Welt“ vom 27.8.1986
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