Fortsetzung der Stellungnahme zu den Fragen von Bischöfin Dr. Käßmann Qur’an Islam und Kultur Einleitende Bemerkung zur Bedeutung des Ausdruckes „europäischer Islam“ S. A. Hosseini Ghaemmaghami* Themenschwerpunkt der vorletzten Ausgabe von Al-Fadschr war der religiöse Status der Frau. In diesem Kontext haben wir einige Kurzinterviews u. a. mit der evangelischen Landesbischöfin von Hannover, Frau Dr. Margot Käßmann veröffentlicht, in der etliche Fragen im Hinblick auf die religiöse Stellung der Frau im Islam aufgeworfen wurden. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Themas, das auf gesellschaftlicher Ebene und auch in interreligiösen Gesprächen immer wieder polemisiert wird, erörtert der Leiter des Islamischen Zentrums, Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami, diese Fragen wissenschaftlich fundiert und detailliert. Bisher wurden die Methodologie und Mechanismen der Qur’interpretation und wie man die wesentliche und endgültige Botschaft Gottes aus den qur’anischen Versen herauskristallisiert, erörtert. Mittels einer auf den Qur’an gestützten Argumentation sind wir zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erreichung der qur’anischen Botschaft und die Kenntnis von der definitiven Sicht des Islam im Hinblick auf die verschiedenen Themen eines IºtihÁdprozesses bedarf (d. h. die endgültige Kenntnis der qur’ani- schen Botschaften und der verschiedenen Themen setzt aus islamischer Sicht IºtihÁd voraus, also die eigenständige Urteilsbildung über rechtlich-theologische Fragen durch selbständige Interpretation der Quellen). Dieser wiederum gründet auf Wissenschaften und unterschiedlichen Fachkenntnissen.1 Der Qur’an ist Gottes Wort an den Menschen, in dem Gott im Gespräch mit dem Menschen die grundsätzlichen und wesentlichen Wege der Glückseligkeit und Rettung für ihn erörtert hat. Diese Erörterung hat nicht die Form einer philosophischen, gedanklichen und weitschweifigen Wahrheit, die fern von den Lebenswirklichkeiten des Menschen ist, sondern ist eine vollkommen reale, lebendige und objektive Wahrheit des menschlichen Lebens. Aus diesem Grund spricht man in Bezug auf die Qur’anverse, die aufgrund von Ereignissen im individuellen und gesellschaftlichen Leben des Menschen jener Zeit offenbart wurden, vom „Offenbarungsanlass“. Das Umfassen eines Offenbarungsanlasses und der Beziehung und Verbindung zwischen der Offenbarung dieser Verse mit wirklichen und objektiven Beispielen verdeutlichen die Verantwortung des Qur’an hinsichtlich der menschlichen Bedürfnisse und die Fähigkeit des Qur’an, im Rahmen des Gottesdienstes ein geeignetes Lebenskonzept aufzuzeigen. In dem Moment, wo das Element „IºtihÁd“ bei der Interpretation der Qur’anverse ignoriert wird, und der Qur’an ohne besondere und fachmännische Methodologie erklärt und interpretiert wird oder prinzipiell sogar ohne jede Art der Interpretation und Erklärung nur mit einer oberflächlichen Übersetzung der Verse argumentiert wird, wird das Phänomen des Offenbarungsanlasses, der ein besonderer Aspekt der Lebendigkeit und Objektivität der qur’anischen Botschaft ist, in einen Anlass und eine Ursache für die Ignorierung des Geistes der qur’anischen Lehre und die Vernachlässigung der wesentlichen Botschaft dieses Buches umgewandelt. Diese Wandlung geschieht in dem Moment, in dem die objektiven Beispiele, die den Offenbarungsanlass der Verse bilden und im wesentlichen nur ein Grund für die Worte Gottes und die Rechtleitung und Führung des Menschen sind, so im Vordergrund stehen, dass die wesentliche Botschaft des Qur’an darauf reduziert Al-Fadschr Nr. 126 57 wird und die Erreichung des wahren Geistes der qur’anischen Lehre verhindert wird. Bedauerlicherweise muss man zugeben, dass in vielen Fällen dieses ungesegnete Ereignis geschehen ist. Die genauen historischen Untersuchungen einerseits und das Studieren aus der Sicht des IºtihÁd andererseits zeigen, dass viele Traditionen und ethnische Sitten der muslimischen Araber mit dem Namen des Islam versehen und vorgestellt wurden, oder die islamischen Gebote und qur’anischen Verse wurden auf der Grundlage dieser Tradition und Kultur interpretiert und übersetzt. Wir können heutzutage beobachten, dass viele Verhaltenweisen, Taten und Sichtweisen als islamisches Gebot, Gesetz und islamische Ansicht dargestellt werden, obwohl sie keinerlei Beziehungen mit dem Islam haben, sondern allein das Ergebnis der herrschenden Kultur in verschiedenen islamischen Gesellschaften sind und manche von denen der islamischen Lehre sogar diametral gegenüberstehen. Ebenso hat in späteren Zeiten mit der Ausbreitung des Islam auf nichtarabische Gesellschaften diese Vermischung von qur’anischen Versen und islamischen Lehren mit den Traditionen und ethnischen Sitten der nichtarabischen Muslime wie z. B. Perser und Türken, zugenommen. Das geht so weit, dass man in aller Deutlichkeit feststellen kann, dass wir heutzutage beobachten können, dass viele Verhaltenweisen, Taten und Sichtweisen als islamisches Gebot, Gesetz und islamische Ansicht dargestellt werden, obwohl sie keinerlei Beziehungen mit dem Islam haben, sondern allein das Ergebnis der herrschenden Kultur in verschiedenen islamischen Gesellschaften sind und 58 Al-Fadschr Nr. 126 manche von denen der islamischen Lehre sogar diametral gegenüberstehen. Der Grund für eine solche falsche Bezeichnung, d. h. dem Islam eine falsche Tat und Meinung zuzuschreiben, ist genau diese unlogische verändernde Vermischung zwischen Traditionen und ethnischen Sitten der Muslime und der qur’anischen Lehre. Die Beachtung und Berücksichtigung dieses Vorworts ist deswegen sehr wichtig, weil wir in dem Moment, in dem diese Analyse, Selektierung, Differenzierung und Reinigung von Traditionen und ethnischen Sitten geschehen ist, sicher sein können, die wesentliche und tatsächliche Meinung des Qur’an zu einem besonderen Thema erkannt und erreicht zu haben. Aufgrund der Tatsache, dass viele von diesen Traditionen in der Wahrnehmung und Kultur der Menschen wurzeln, die als die ursprünglich Angesprochenen des Islam gelten, bedürfen wir beim Prozess der Reinigung und Analyse und der Kenntnis von den wahren Lehren des Islam einer historischen Untersuchung der gesellschaftlichen und kulturellen Zustände zuzeiten der Entstehung des Islam. Kultureller Austausch der Gahiliyazeit Eine einfache historische Untersuchung zeigt uns die ungewöhnlichen Gewohnheiten und Traditionen, die unter den Menschen in der Zeit der Berufung des Propheten des Islam verbreitet waren. Viele dieser Gewohnheiten und Traditionen sind rational nicht zu rechtfertigen, und zuweilen sehen wir, dass sie sehr unmenschlich waren. Der Qur’an bezeichnet diese besondere Kultur mit dem Begriff „¹ÁhilÍya“ (al-¹ÁhilÍya). ¹ÁhilÍya wurde in deutschen Qur’anübersetzungen in der Regel als „Unwissenheit“ übersetzt.2 Wenn mit Unwissenheit die Verneinung von Bewusstsein und Wissen gemeint ist, dann ist das keine äquivalente Bezeichnung für ¹ÁhilÍya, weil in der qur’anischen Kultur ¹ÁhilÍya niemals in der Bedeutung von Mangel an Wissen und Bewusstsein, Analphabe- tismus und Desinformation gebraucht wird, sondern in der islamischen Kultur gibt es zwischen Bewusstsein oder Wissen und Weisheit einen gewissen Unterschied, der aus den unterschiedlichen Begriffen nicht immer eindeutig hervorgeht, weil in vielen Fällen für diese beiden Begriffen der Begriff al-¹ahl gebraucht wurde. Deswegen sollen in Fällen, in denen diese gemeinsame Bedeutung benutzt wird, für die Unterscheidung und das Kennen dieser beiden Begriffe der im Satz und der Aussage herrschende Geist und die Botschaft beachtet werden, (d. h. damit wir verstehen, ob mit ¹ahl Unwissenheit oder Torheit gemeint ist, müssen wir auf den Satz achten). Aber die zwei Begriffe al-¹ahÁla (Unwissenheit) und insbesondere al-¹ÁhilÍya (vorislamische Zeit der Torheit) werden nur für die Verneinung von Weisheit und Rationalität und niemals für die Verneinung von Wissen oder Wissenschaft benutzt. Deshalb ist es vielleicht passender, bei der genauen Erörterung des Begriffes „¹ÁhilÍyat“ von einem ähnlichen Begriff wie „Torheit“ oder „Irrationalität“ Gebrauch zu machen. Auf jeden Fall ist aber wichtig, dass der Qur’an mit dem Begriff „¹ÁhilÍya“ das irrationale Wesen des herrschenden Geistes im Verhalten und der Tradition der Gesellschaft vor dem Islam zu erklären versucht, und deshalb wurde in Sure 48, Vers 26, bei der Erklärung dieser ¹ÁhilÍya der Begriff „al½amÍya“ gebraucht. „¼amÍya“ allein bedeutet „brennender Eifer“ oder „Enthusiasmus“. Deshalb hat der Qur’an diesen Begriff mit ¹ÁhilÍya erweitert und einen neuen Ausdruck gebildet und zwar „½amÍya-al-ºÁhiliya“ d. h. „eifrige Torheit“ oder „irrationaler Eifer“. Und dieser irrationale Eifer kann unterschiedliche Erscheinungsformen haben wie z. B. irrationale Parteilichkeit und irrationaler Stolz (die in vielen deutschen Qur’anübersetzungen für diesen Begriff gebrauchten Ausdrücke sind keine genaue Übersetzung dieses Begriffes und geben nur eine allgemeine Bedeutung dieses Begriffes wieder). Stammesdünkel und -stolz, unlogischer eifriger Stolz auf Meinungen und Glaubensüberzeugungen usw., die in manchen Qur’anübersetzungen und interpretationen angewendet wurden, bringen für „½amÍya-al-ºÁhiliya“ eifrige Torheit und irrationalen Eifer zum Ausdruck.3 Aber die Moral und Kultur der Torheit reduziert sich nicht auf nur diese wenigen Fälle, sondern umfasst eine Vielzahl von Traditionen und Gewohnheiten im Zusammenhang mit dieser Kultur und Moral. Die Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen, Stolz auf den eigenen Stamm und sogar Prahlen mit der Anzahl der Verstorbenen, extremer Männlichkeitswahn, Sklaverei, Rassismus, Überlegenheitsdenken eines Volkes, Gewalt und Kriegstreiberei, Rache und die Verletzung der Rechte der anderen usw. sind weitere Merkmale des Ersetzens der Kultur der Torheit gewesen. Das geschah unter Umständen, in denen die Menschen dieser Gesellschaft aufgrund der wirtschaftlichen Struktur gezwungen waren, mit anderen Nationen und Gesellschaften Beziehungen zu unterhalten. Durch diese lebendigen Beziehungen waren sie über einige Wissenschaften und Kenntnisse informiert. So hatten sie z. B. eine sehr starke und beeinflussende Literatur, und sie hatten die größten Dichter unter sich. Aber ungeachtet all dieser Dinge hielten sie eifrig an ihren Überzeugungen und Traditionen fest, die sie von ihren Vorvätern übernommen hatten, und jede Art der Ablehnung ihrer Gedanken und Traditionen haben sie mit Gewalt beantwortet, und sie haben die Andersdenkenden sehr hart bestraft, sogar mit dem Tod. Das alles ist ein Zeichen dafür, dass „¹ÁhilÍya“ mehr ist als Analphabetismus und Unwissenheit, und dass die ¹ÁhilÍya von ihrem Wesen her Rationalität und Weisheit bekämpfte. Fortsetzung folgt. * Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami ist islamischer Rechtsgelehrter und Theologe mit Schwerpunkt Islamische Philosophie und Mystik. Anmerkungen: 1 Im Zusammenhang mit dem Prozess des IºtihÁd und der zeit- und ortgebundenen Interpretation s. die Werke und islamischen Lehren von diesem Autor in Al-Fadschr Nr. 123, S. 30ff, Al-Fadschr Nr. 125, S. 3ff und S. 53ff. 2 S. die Übersetzung von Max Henning, S. 514 und auch die Übersetzung von N. Elyas, S. 514. 3 Einige äquivalente Begriffe für „½amÍyat““ in deutschen Qur’anübersetzungen sind: Max Henning, S. 514: „Der Blinden Eifer“; M. A. Rasoul, S. 514 „der Stolz der Ungläubigen und heidnischer Stolz“; A. M. ibn A. Rassoul, S. 683 „Parteilichkeit“; N. Elyas „Die Hitzigkeit“. Moschee des Propheten in Medina Al-Fadschr Nr. 126 59