Hoffnung – eine philosophische Annäherung Dieter Birnbacher 1

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Hoffnung – eine philosophische Annäherung
Dieter Birnbacher
1. Hoffnung als Gegenstand der Philosophie
Für einen analytischen Philosophen ist die Hoffnung ein attraktiver Gegenstand philosophischer Bemühungen. Einerseits
handelt es sich um einen hinreichend bedeutenden und durch die Geistesgeschichte vielfach geadelten Begriff. Hoffnung
ist eine der traditionellen theologischen Kardinaltugenden. In der Philosophie Ernst Blochs ist die Hoffnung sogar zu
einem sozial- und naturphilosophischen "Prinzip", einem Prinzip Hoffnung, und damit zur tragenden Grundlage eines
ganzen philosophischen Systems geworden. Andererseits ist dieser Begriff alles andere als eindeutig und transparent.
Was Hoffnung ist und wie sie sich von verwandten Phänomenen wie Erwartung, Zuversicht oder Glaube unterscheidet,
ist nicht von vornherein und ohne alle weitere Untersuchungen klar. Und auch eine bloße Lexikondefinition, etwa
"Zuversicht in Bezug auf eine positive Entwicklung von Künftigem"1 schöpft die Sache bei weitem nicht aus.
Wie nähert man sich einem Begriff wie "Hoffnung"? Wie ich vorschlagen möchte, durch drei Schritte: Erstens durch eine
Vergegenwärtigung der Phänomene, die den Gegenstandsbereich "Hoffnung" ausmachen; zweitens durch eine
semantische Analyse, d. h. ein Aufweis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um von
Hoffnung sprechen zu können; und drittens durch eine Untersuchung der normativen Kriterien, nach denen sich bemisst,
wann Hoffnung berechtigt ist. Wie das Glauben hat das Hoffen ja nicht nur eine subjektive und eine objektive, sondern
auch eine intersubjektive Seite. Nicht alles, was subjektiv geglaubt und erhofft wird, ist objektiv wahr. Aber auch dann,
wenn sich für das subjektiv sicher Geglaubte und Erhoffte später zeigt, dass es objektiv wahr ist, ist offen, ob der Glaube
daran oder die Hoffnung darauf nach intersubjektiven Kriterien berechtigt oder unberechtigt, vernünftig oder unvernünftig
war. Eine Hoffnung kann nach intersubjektiven Kriterien unvernünftig sein, auch wenn sie sich am Ende als berechtigt
herausstellt. Andererseits kann ein Glaube oder eine Hoffnung nach intersubjektiven Kriterien berechtigt oder vernünftig
sein, ohne wahr zu sein oder sich zu erfüllen.
2. Phänomenologie: Ambivalenz der Hoffnung
Über die verschiedenen Erscheinungsformen der Hoffnung wäre viel zu sagen. Ich beschränke mich hier auf ein
bezeichnendes, in der Geschichte des Phänomens Hoffnung immer wieder erneut auftauchendes Merkmal: die
Ambivalenz in der Bewertung von Hoffnung. Heute dürfte die meisten den Begriff "Hoffnung" als positiv konnotiert
empfinden. Aber das war längst nicht immer so, und es ist es auch heute nicht durchgehend. Insbesondere Nietzsche hat
auf diese Ambivalenz aufmerksam gemacht. Ihm zufolge trat in der Antike diese Ambivalenz am deutlichsten zutage: Sie
habe nicht nur überwiegend als Übel, sondern sogar als das größte aller Übel gegolten:
Gerade wegen der Fähigkeit, den Unglücklichen hinzuhalten, galt die Hoffnung bei den Griechen als Übel der Übel, als
das eigentlich tückische Übel.2
Tatsächlich war die Hoffnung bei den griechischen Klassikern primär negativ konnotiert. Hoffnung wurde verstanden als
trügerisches Vertrauen auf die Zukunft, als leere Hoffnung. In der Sage von Pandora wird Pandora mit einer Büchse voller
Übel von Zeus auf die Erde gesandt. Zu diesen Übeln gehören Krankheit, Hunger und Sorge. Pandora verbreitet sie auf
der Erde – bis auf elpis, die richtige Voraussicht, und zwar deshalb weil sie zu verheerend ist, um sie den Menschen
zuzumuten. Sie verschließt die Büchse, bevor sie herauskann. In einer späteren hellenistischen Fassung der
Pandorasage enthält die Büchse lauter Glücksgaben. Pandora verbreitet sie auf der Erde, aber auch hier wieder ohne die
Hoffnung. Sie behält sie zurück, allerdings nicht als Übel, sondern als letztes Mittel, um die Menschen über die Übel der
Welt hinwegzutrösten.3
Auch viele Verwendungen des Begriffs Hoffnung in der Populärkultur lassen die wertmäßige Ambivalenz des Begriffs
erkennen. Im deutschen Volksmund halten sich positive und negative Konnotierungen die Waage. Zu den bekanntesten
Volksweisheiten gehört etwa "Hoffen und Harren hält manchen zum Narren". Auch hier wieder begegnet uns die leere
Hoffnung, das, was man heute "Warten auf den Weihnachtsmann" nennt, die diffuse Erwartung, dass der Zufall das
Glück bringen wird. Auch die in der Sportberichterstattung beliebte Wendung "Die Hoffnung stirbt zuletzt" hat
unverkennbare ironische Untertöne. Hoffnung erscheint eher als Schwäche denn als Stärke, wenn auch als verständliche
und verzeihliche Schwäche. Auch das hochliterarische Pendant dazu, Schillers Verszeile "Noch am Grabe pflanzt er – die
Hoffnung auf"4 hat einen unüberhörbar sarkastischen Unterton.
In der Antike findet man die Ambivalenz der Hoffnung in knappster und schärfster Form bei Aischylos dargestellt. In
seinem "Gefesselten Prometheus" wird Prometheus nicht nur als derjenige vorgestellt, der den Menschen das Feuer,
1
Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch, 9. Aufl. Tübingen 1992, S. 415.
Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. In: F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. München/Berlin 1980, Bd. 6, S.
190.
3
Link, Hans-Georg : Hoffnung. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Basel 1974, S. 1158.
4 Schiller, Friedrich: Hoffnung. In: Werke, hrsg. Ludwig Bellermann, Bd. 1, Leipzig/Wien 1897, S. 219.
2
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sondern auch als der, der den Menschen die Hoffnung gebracht hat. Der an den Kaukasus gefesselte Prometheus lässt
den ihn bemitleidenden Chor wissen, dass er nicht nur deswegen von Zeus gestraft wird, weil er den Menschen das
Feuer gebracht, sondern auch deswegen, weil er ihnen etwas genommen hat, nämlich die Fähigkeit, ihr Geschick
vorauszusehen: "Ich nahm's den Menschen, ihr Geschick vorauszusehen." Der Chor fragt Prometheus: "Sag, welch ein
Mittel fandest du für dieses Gift?" Prometheus darauf: "Der blinden Hoffnung gab ich Raum in ihrer Brust." Der Chor
antwortet : "Ein großes Gut ist's, das du gabst den Sterblichen."5 Hoffnung ist etwas Gutes, aber nur als Illusion und
Selbstbetrug. Ihr Gutes ist erkauft durch Unwahrheit und Regression.
Wissen um die Zukunft gilt auch heute noch vielfach als Übel, Hoffnung dagegen als bewahrenswertes Gut. So dürften
sich zumindest zum Teil die Widerstände erklären, die sich gegen die für die Zukunft zu erwartenden Fortschritte der
prädiktiven Medizin mit ihren stets zielsichereren Prognosen zu Wort melden. Viele möchten sich ihre Hoffnungen auf
Gesundheit im Alter nicht durch eine mögliche perfektionierte medizinische Prognostik zerstören lassen. Der Zeitpunkt
des Einsetzens von Siechtum, Demenz und Tod soll – im Sinne des alten Diktums "Mors certa, hora incerta" – möglichst
nicht präzise voraussagbar sein.
3. Analyse: Hoffnung – was ist das?
Will man die Semantik der Hoffnung klären, empfiehlt es sich, sich als erstes die Frage vorzulegen, zu welcher Art von
psychischen Phänomen die Hoffnung gehört. Ist sie eine Überzeugung, ein Gefühl, eine Stimmung, eine Einstellung?
Offensichtlich das letztere. Eine bloße Überzeugung kann sie nicht sein, denn Hoffnung ist subjektiv stets positiv getönt.
Sie ist mehr als ein Fürwahrhalten. Sie hat nicht nur eine kognitive, sondern auch eine wertende, gefühlshafte
Komponente. Aber ein Gefühl kann sie ebensowenig sein, auch wenn sie des öfteren mit bestimmten Gefühlen, z. B. dem
der freudigen Erwartung einhergeht. Hoffnung wird nicht notwendig gefühlt. Wer hofft, braucht nicht notwendig bestimmte
mit dieser Hoffnung verbundene Gefühlszustände zu erleben. Deshalb kann sie auch keine Stimmung sein – auch wenn
man gelegentlich sagt, man sei "hoffnungsvoll gestimmt". Aber Hoffnung ist keine echte Stimmung in dem Sinn, in dem
Traurigkeit oder Fröhlichkeit Stimmungen sind. Echte Stimmungen werden gefühlt, und dies gilt für die Hoffnung gerade
nicht.
Hoffnung ist eine Haltung, Einstellung, also eine Disposition. Sie kann, aber muss sich nicht in einem bestimmten
Verhalten oder in bestimmten psychischen Zuständen manifestieren. Sie ist insofern nicht das genaue Gegenstück zur
Verzweiflung. Sperare und desperare, espoir und désespoir entsprechen sich nicht: Verzweiflung wird notwendig gefühlt,
Hoffnung nicht notwendig. Durch ihren dispositionellen Charakter ähnelt sie der Überzeugung und der Erwartung. Aber
anders als diese rein kognitiven Dispositionen ist sie, sofern sie sich zu einem Gedanken aktualisiert, gefühlshaft getönt.
In dieser gefühlshaften Tönung hat sie viel mit einer Stimmung gemeinsam. Wie eine Stimmung den Gestimmten zu
bestimmen Gedanken und Handlungen prädisponiert, disponiert die Hoffnung den Hoffenden zu bestimmten Erwartungen
und Motivationen. Wer gut gestimmt ist, neigt eher zu positiv getönten, wer schlecht gestimmt ist, zu negativ getönten
Gedanken. So neigt auch der Hoffende zu positiven Erwartungen. Der Hoffnungsvolle sieht die Zukunft anders als der
Hoffnungslose, er sieht die Dinge in helleren Farben. Und er ist im allgemeinen in höherem Maße motiviert und
tatenfreudig als der Hoffnungslose.
Eine zweite Frage betrifft die Gegenstände der Hoffnung. Worauf bezieht sich Hoffnung, auf was ist sie gerichtet? Hier
liegt die Antwort nahe: auf Ereignisse in der Zukunft. Aber diese Antwort greift zu kurz. Auch Gegenwärtiges kommt als
Gegenstand der Hoffnung in Frage ("Hoffentlich lebt er noch"), und Vergangenes ("Hoffentlich hat er die Tür
abgeschlossen"). Bezeichnenderweise finden wir in Spinozas Ethik die Hoffnung so definiert: "Hoffnung ist eine
unbeständige Freude, die aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges entspringt, über dessen Ausgang wir
in gewisser Hinsicht zweifelhaft sind."6 Mögliche Gegenstände der Hoffnung sind beliebige Tatsachen – in Zukunft,
Gegenwart und Vergangenheit.
Welche weitere Bedingungen müssen hinzukommen? Auf der Seite des Hoffenden vor allem bestimmte kognitive
Fähigkeiten: Denkfähigkeit und die Fähigkeit zur Erwägung und Bewertung von Möglichkeiten. Nur von demjenigen
können wir sagen, dass er etwas erhofft, der das Erhoffte auch zu denken und zu beurteilen in der Lage ist. Deshalb
werden wir Tieren so etwas wie Hoffnung im allgemeinen nicht zuschreiben können. Hoffen kann nur der, der über
5
6
Aischylos: Der gefesselte Prometheus. In: Griechische Tragiker, München o. J., S. 248ff.
Spinoza, Benedictus de: Die Ethik, Teil III, Definitionen der Affekte 12, Hamburg 1905, S. 172.
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Abwesendes und bloß Mögliches urteilen kann. So weit es zutrifft, dass Tiere, wie oft gesagt wird,
"Augenblicksmenschen" sind und allenfalls das hic et nunc Wahrnehmbare denken können, ist Hoffnung zu komplex, um
Tieren zugeschrieben zu werden. Allenfalls in einem uneigentlichen – scherzhaften oder poetischen – Sinn kann man
einem Eichhörnchen, das im Herbst Nüsse versteckt, sagen, dass es darauf hofft, sie im Winter wiederzufinden. Ähnlich
poetisch-uneigentlich wird man auch die Stelle im Römerbrief (8, 19) verstehen müssen, wo es heißt: "Denn das
ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes."
Weiterhin müssen auf seiten des Hoffenden – über dessen allgemeine Fähigkeiten hinaus – bestimmte kognitive
Bedingungen in Bezug auf das Erhoffte erfüllt sein. Das Erhoffte darf aus Sicht des Hoffenden 1. nicht sicher, 2. nicht
unmöglich und 3. nicht gänzlich unwahrscheinlich sein.
1. Subjektive Sicherheit und Hoffnung vertragen sich nicht. Man kann nur erhoffen, was man für nicht vollständig sicher
hält. Anderslautende Redewendungen müssen als uneigentliche Redeformen verstanden werden, z. B. wenn man einem
Schwerkranken gut zuredet und etwa sagt: "Ich weiß, dass Du wieder gesund wirst", obwohl man es nur hofft und auch
ihm lediglich Hoffnung machen und kein Wissen vermitteln will.
2. Aber auch subjektive Unmöglichkeit und Hoffnung vertragen sich nicht. Man kann nur erhoffen, was man für nicht
vollständig unmöglich hält, und zwar in allen fünf verschiedenen Bedeutungen, die der Ausdruck "unmöglich" annehmen
kann:
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Das "Unmögliche"
Beispiel
1
Das logisch Unmögliche
Quadratur des Kreises
2
Das transzendental Unmögliche
zeitlose reale Existenz
3
Das naturgesetzlich (nomologisch) Unmögliche
Perpetuum mobile
4
Das aufgrund der Anfangsbedingungen des
Universums Unmögliche
Umkehrung der Expansion
des Universums
5
Das aufgrund der konkreten Umstände (real)
Unmögliche
Schnee am 15. 6. 2010 in
Düsseldorf
Mit Hoffnung sind alle fünf Formen des Unmöglichen unvereinbar. Wer hofft, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt (oder
eingetreten ist), muss annehmen, dass dieses Ereignis unter keine dieser fünf Kategorien fällt. Er muss annehmen, dass
das Ereignis in der stärksten Bedeutung von "möglich" möglich. d. h. real möglich ist.
Das schränkt die Möglichkeit ein, auf Wunder zu hoffen. Wird der Begriff "Wunder" so verstanden, dass er ein Ereignis
bezeichnet, das in einer der fünf genannten Kategorien "unmöglich" ist, ist ein "Hoffen auf ein Wunder" keine echte
Option. Das heißt: Es ist strikt unmöglich, auf etwas zu hoffen, dass man selbst für ein Wunder hält (was nicht
ausschließt, dass man auf etwas hoffen kann, was andere für ein Wunder halten). "Unmöglich" bezieht sich hier nicht auf
die Rationalität oder Irrationalität der Hoffnung, sondern auf die semantische Möglichkeit, in einem entsprechenden Fall
von "Hoffnung" zu sprechen. Es ist nicht semantisch sinnlos, von den Alchimisten zu sagen, dass sie darauf hofften, aus
Eisen oder Quecksilber Gold herzustellen, was immer man über die Rationalität dieser Hoffnung denken mag. Aber es ist
sinnlos, dasselbe von jemandem zu sagen, der seinerseits die Herstellung von Gold aus Eisen für unmöglich hält.
3. Das erhoffte Ereignis darf aus Sicht des Hoffenden nicht gänzlich unwahrscheinlich sein. Diese Bedingung ist im
Grunde bereits durch die zweite abgedeckt. Es gehört zu den Bedingungen der realen Möglichkeit, dass das für real
möglich Gehaltene nicht für gänzlich unwahrscheinlich gehalten wird. Dennoch gibt es einen pragmatischen Grund, diese
Bedingung gesondert aufzuführen, nämlich die Unterscheidung von aktiver und passiver Hoffnung als zwei
unterschiedlichen Konstellationen bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Erhofften.
Bei der aktiven Hoffnung bezieht sich die Hoffnung auf ein Ereignis, das u. a. aufgrund eigener Aktivität zustande kommt.
Bei der passiven Hoffnung bezieht sich die Hoffnung auf ein Ereignis, dass vollständig ohne eigene Aktivität zustande
kommt. Die Hinzufügung "u. a." im Falle der aktiven Hoffnung bedeutet, dass sich aktive Hoffnung nicht nur auf eigene
Handlungen bezieht ("Ich hoffe, ich denke daran, wenn es soweit ist"), sondern auch auf nicht-handlungsartige Ereignisse,
sofern diese u. a. durch eigene Handlungen beeinflusst werden ("Ich hoffe, ich bestehe die schriftliche Prüfung"). Passive
Hoffnung richtet sich dagegen ausschließlich auf die Welt, einschließlich dessen, was uns von der Welt ohne eigenes
Eingreifen widerfährt. (Ernst Bloch nennt das, worauf sich die passive Hoffnung richtet, Tendenz.)
Passive Hoffnung ist das bekanntere Phänomen. Wir hoffen als Menschheit darauf, dass kein zerstörerischer Meteorit die
Erde heimsucht, als Individuen, dass wir von keiner mörderischen Infektionskrankheit befallen werden. Passiv ist auch die
Hoffnung auf gutes Wetter, weitgehend auch die Hoffnung auf Gesundheit und langes Leben. Passive Hoffnung ist eine
wichtiger Bestandteil von Schicksals- oder Gottvertrauen, aber auch eines temperamentsbedingtem Optimismus, z. B. im
Vertrauen darauf, von einer Krankheit zu genesen.
Die aktive Hoffnung ist an weitergehende Bedingungen gebunden: 1. die Fähigkeit der Welt, sich durch eigene Aktivität
zu dem erhofften Ereignis bringen zu lassen, sowie 2. die eigene Fähigkeit, das erhoffte Ereignis durch entsprechende
Interventionen zu verwirklichen. Die erste Bedingung besagt, dass die Welt die für ein erfolgreiches aktives Eingreifen
nötigen Möglichkeiten und Gelegenheiten bietet. Sie muss das Potenzial aufweisen, dass sich durch aktives Eingreifen
verwirklichen lässt. (Ernst Bloch nennt diese Bedingung Latenz.)
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Kennzeichnend für die aktive Hoffnung ist, dass sie sich nicht primär auf die Welt, sondern primär auf uns selbst (in einem
kollektiven oder einem individuellen Sinn) richtet – auf unsere eigene Fähigkeit und Bereitschaft, mit der Welt so in
Austausch zu treten, dass das erhoffte Ergebnis erreichbar wird. Der Optimist in Sinne aktiver Hoffnung vertraut weniger
auf den Weltlauf als auf eigene Leistungsfähigkeit und eigene Leistungsbereitschaft. In diesem Sinne ist Prometheus, wie
er ein Goethes Gedicht gezeichnet wird, ein paradigmatischer Fall aktiver Hoffnung. Prometheus ist Pessimist bezüglich
des Weltlaufs, aber Optimist in Bezug auf seine eigene Kraft zu Gestaltung und Umgestaltung. Er hofft auf die Menschen,
nicht auf die Götter. Und er verachtet diejenigen, die sich der passiven statt der aktiven Hoffnung überlassen:
Ich kenne nichts Ärmers
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.7
Hier hat das Wort "hoffnungsvoll" nicht nur einen ironischen, sondern einen höhnischen Klang. Es steht für die
ausschließlich passive Hoffnung. Gerade diese Verwendungsweise von "Hoffnung" gibt dem Gedicht – ein Gedicht über
die Kraft der aktiven Hoffnung – seinen beispiellos kraftvollen Gestus.
4. Rationalitätsprüfung – wann ist Hoffnung vernünftig?
Bisher sind lediglich die semantischen Bedingungen des Begriffs "Hoffnung" zur Sprache gekommen. Diese Bedingungen
sind wohl zu unterscheiden von den Bedingungen der Rationalität von Hoffnung. Die semantischen Bedingungen der
Hoffnung verweisen auf die subjektiven Überzeugungen und Bewertungen des Hoffenden. Die Rationalitätsbedingungen
verweisen demgegenüber auf intersubjektiv anerkannte Standards der Berechtigung der der Hoffnung zugrunde
liegenden Überzeugungen und Bewertungen. Beide Arten von Kriterien sind unabhängig voneinander, wenn auch nicht
gänzlich. Die Brücke zwischen ihnen sind die im Hoffen vorausgesetzten kognitiven Bedingungen.
Hoffen ist – anders als Wünschen –an bestimmte kognitive Bedingungen gebunden. Wünsche sind frei. Wünschen lässt
sich, wie bereits Aristoteles wusste8 auch das Widersprüchliche und damit das im stärksten Sinn Unmögliche. Man kann
sich wünschen, dass p und nicht-p zugleich wahr sind. Wünsche, die auf logisch Unmögliches zielen, sind nicht einmal
selten. Viele wünschen sich z. B. vollständige Sicherheit über die Gedanken und Empfindungen einer anderen Person,
etwas, das es aus logischen Gründen nicht geben kann.
Hoffnung dagegen ist gebunden. Hoffnungen sind in stärkerem Maße als Wünsche Maßstäben rationaler Beurteilung
unterworfen. Nur das real Mögliche und das nicht gänzlich Unwahrscheinliche lässt sich rationalerweise hoffen. Natürlich
heißt das nicht, dass man nichts gänzlich Unwahrscheinliches erhoffen kann. Es heißt nur, dass eine solche Hoffnung
illusorisch oder blind wäre. Man kann auch das Unmögliche erhoffen – darin liegt für sich genommen kein semantischer
Widerspruch –, aber nur um den Preis der Irrationalität.
Auf diese Weise erklärt sich, dass es so leicht zu Konflikten kommt zwischen den Rationalitätsbedingungen für Hoffnung
und psychologischen Gesetzmäßigkeiten wie denen der sogenannten Dissonanzreduktion. Die Theorie der kognitiven
Dissonanz9 sagt voraus, dass Wünsche und Erwartungen, Begehren und Glaube an die Erreichbarkeit bzw. an das
Eintreten des Begehrten tendenziell ausgeglichen werden. Entweder das Wünschen und Begehren werden den
Erwartungen oder die Erwartungen dem Wünschen und Begehren angepasst.
7
8
9
Goethe, Johann Wolfgang: Prometheus, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1948, S. 45.
Vgl.: Aristoteles: Nikomachische Ethik 1111 b 22, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 102.
Vgl.: Festinger, Leon: A theory of cognitive dissonance, Stanford 1957.
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Diese Theorie erklärt eine ganze Reihe vertrauter psychologischer Beobachtungen:
1. Je höher der "Preis", den man für etwas bezahlt hat, desto höher die Hoffnung auf den Erfolg. Große Opfer führen zu
einer Aufwertung des Ziels. Eine Aufwertung des Ziels führt ihrerseits zu einer Überschätzung von dessen
Realisierungschancen. Man sagt sich: Die großen Anstrengungen können doch nicht umsonst gewesen sein.
2. Je intensiver die Hoffnung, desto wahrscheinlicher die Überschätzung der Wahrscheinlichkeit des Erhofften. Not lehrt
beten. Aber Not bringt auch erst dazu, die Existenz des Angebeteten anzunehmen. Ein starkes Verlangen nach einem
gnädigen Gott erleichtert die Annahme der Existenz eines gnädigen Gottes.
Ähnlich kommen die Rationalitätsbedingungen der Hoffnung häufig in Konflikt mit den Funktionen von Hoffnung. Unter
diesen verdienen insbesondere drei hervorgehoben zu werden: 1. die Motivationsfunktion; 2. die hedonische Funktion; 3.
die gemeinschaftsbildende Funktion.
1. Beide Formen von Hoffnung – die passive und die aktive – übernehmen wichtige motivationale Funktionen: Sie erhalten
den Lebenswillen und schützen vor Frustration und Verzweiflung. Man könnte sagen: Wenn der Glaube Berge versetzt,
dann die Hoffnung erst recht. Wiederum hat Nietzsche diese Funktion der Hoffnung am deutlichsten ausgesprochen:
Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans des Lebens als irgendein einzelnes wirklich eintretendes Glück ...10
In der Medizin ist die Hoffnung auf Genesung oder Besserung als Therapeutikum seit langem anerkannt. Mörike hat ihr in
dem (von Hugo Wolf kongenial vertonten) Gedicht
Dankgesang des Genesenen an die Hoffnung allegorisch Ausdruck gegeben:
Tödlich graute mir der Morgen:
Doch schon lag mein Haupt, wie süß!
Hoffnung, dir im Schoß verborgen,
Bis der Sieg gewonnen hieß.
Opfer bracht' ich allen Göttern,
Doch vergessen warest du;
Seitwärts von den ew'gen Rettern
Sahest du dem Feste zu.11
Beide Formen der Hoffnung, die aktive wie die passive, entfalten eine beträchtliche Motivationskraft. Aktive Hoffnung
motiviert zu Tatkraft, Aufmerksamkeit, Reaktionsbereitschaft und Anstrengung. Passive Hoffnung motiviert zum
geduldigen Ausharren, zum Durchhalten im Leiden im Vertrauen auf "Rettung von oben", von seiten Gottes oder von
seiten der Natur.
Wirkmächtig sind beide Arten von Hoffnung u. a. im Bereich der Religion. Eine extreme Form der aktiven religiösen
Hoffnung ist die altindische Vorstellung des Karma: Der einzelne ist dabei selbst Herr über sein metaphysisches
Schicksal. In seinen späteren Wiedergeburten erfährt er den Lohn für sein Vorleben. Er selbst steuert das, was ihm von
den Göttern widerfährt. Diese reagieren nur auf das, was er sich selbst erarbeitet hat. Bezeichnenderweise wurzelt diese
Vorstellung kulturgeschichtlich in weltlichen Vorstellungen von selbst erarbeiteten Erfolgen, z. B. von Kriegern: Der
siegreiche Krieger erfährt bereits in diesem Leben den verdienten Lohn für seine Tapferkeit. Eine weniger extreme Form
der aktiven religiösen Hoffnung stellt die christliche Lehre von der Werkgerechtigkeit dar. Auch hier ist es an dem
individuellen Gläubigen, über sein metaphysisches Schicksal zu bestimmen. Aber anders als bei der Karma-Vorstellung
hat die Reaktion hier nicht mehr den Charakter eines Automatismus, bei der sich die Rolle Gottes bzw. der Götter mehr
10
Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. In: F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. München/Berlin 1980, Bd. 6, S.
190.
11
Mörike, Eduard: Der Genesene an die Hoffnung. In: E. Mörike: Gedichte. Erste Sammlung. In: E. Mörike: Sämtliche Werke in
sechs Bänden, hrsg. Rudolf Krauß, Bd. 2, Leipzig o. J.. S. 91.
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oder weniger erübrigt. Natürlich kann in beiden Fällen nur dann die Rede von Hoffnung sein, wenn der einzelne Gläubige
sich der jenseitigen Belohnung nicht sicher ist.
Eine Extremform der passiven religiösen Hoffnung ist die Vorstellung der Gnadenwahl, bei der das Seelenheil vollständig
ohne eigenes Zutun gewährt oder vorenthalten wird. Bei der Gnadenwahllehre hat der Einzelne keine Aussicht, seine
metaphysische Zukunft in irgendeiner Weise zu beeinflussen, auch nicht durch gute Werke. Niemand kann darauf hoffen,
direkt oder indirekt sein individuelles Schicksal zu steuern. Auch der ärgste Sünder hat eine Chance auf Erlösung. Das
einzige, was das Individuum erhoffen kann, ist ein entweder in der Vergangenheit oder in einer zeitlosen Gegenwart
vorgestelltes Faktum, erwählt (worden) zu sein. Dieses Faktum ist wortwörtlich etwas, das objektiv feststeht: unabhängig
von allem, was er will oder tut.
Die Hoffnung auf Erwähltheit im Rahmen des Prädestinationsglaubens ist offensichtlich nicht semantisch paradox.
Hoffnung kann sich, wie wir gesehen haben, durchaus auch auf Vergangenes oder Gegenwärtiges richten. Aber dennoch
ist diese Hoffnung paradox, nämlich in psychologischer Hinsicht. Die Hoffnung auf Erwähltheit bezieht ihre
Motivationskraft aus ihrer psychologischen Unannehmbarkeit. Für den Gläubigen muss die Möglichkeit, dass Gott das
Seelenheil vollständig willkürlich auf Gerechte und Ungerechte, Gläubige und Ungläubige verteilt, inakzeptabel, ja
unerträglich sein. Deshalb wird er fast unweigerlich zu Hilfskonstruktionen greifen, die diese Unerträglichkeit aufheben
oder zumindest abschwächen. Eine Möglichkeit ist, sich Sicherheit über die eigene Erwähltheit zu verschaffen, indem
man sich bemüht, an die eigene Erwähltheit zu glauben, also durch einen Akt der inneren Anstrengung. In diesem Fall tritt
das Willenswerk des Glaubens an die Stelle äußerer Werke. Eine andere Möglichkeit ist, sich zu bemühen, den inneren
Glauben im Handeln zu bewähren, also so zu handeln, dass dieses Handeln als von Gott gewirkt erscheint und sich die
Erwähltheit nicht nur in der inneren Einstellung des Glaubens, sondern auch im äußeren Lebenswandel offenbart. In
dieser letzteren Weise deutet Max Weber in seiner Schrift zum Protestantismus die für den Calvinismus charakteristische
Vorstellung einer "Bewährung durch Erfolg":
So absolut ungeeignet ... gute Werke sind, als Mittel zur Erlangung der Seligkeit zu dienen ..., so unentbehrlich sind sie
als Zeichen der Erwählung. Sie sind das technische Mittel, nicht: um die Seligkeit zu erkaufen, sondern: die Angst um die
Seligkeit loszuwerden.12
Auch durch diese Hilfskonstruktion ist die Zumutung der Prädestinationslehre nur unwesentlich gemindert: Der Gedanke,
die von ihrer Idee her unverfügbare Erwähltheit durch die Verfügbarmachung ihrer Anzeichen dennoch ein Stück weit
verfügbar zu machen, ist nicht weniger als paradox. Nichts garantiert, dass derjenige, der durch die Zeichen der
Erwähltheit sich selbst die subjektive Gewissheit der Erwähltheit verschafft, auch tatsächlich erwählt ist. Subjektive
Gewissheit ist im allgemeinen kein Beweis für Wissen. Gerade im Gegenteil: Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz
ist eher zu vermuten, dass ein hoher Grad von subjektiver Gewissheit in metaphysischen Fragen, über die nach
intersubjektiven Kriterien nur schwer Sicherheit zu erlangen ist, wenig mit der Fundiertheit oder rationalen Begründetheit
der jeweiligen Überzeugung zu tun hat. Das ändert allerdings, folgt man Max Webers Interpretation, nichts an der
historischen Wirkmächtigkeit der Hoffnung auf Erwähltheit in den von ihm beschriebenen Strömungen des
Protestantismus.
2. Weiterhin übernehmen beide Formen der Hoffnungen wichtige hedonische Funktionen. Wenn der Glaube selig macht,
dann auch die Hoffnung. Der Hoffende fühlt sich dadurch, dass er hofft, besser. Shakespeare geht in Richard III. sogar
noch einen Schritt weiter und weist auf den narzisstischen Befriedigungsgehalt der Hoffnung hin: "Kings it makes gods,
and meaner creatures kings"13. Hoffnung lässt uns über uns hinauswachsen. Die Hoffnung auf Erfolg auf dem Buchmarkt
lässt Autoren Bücher schreiben und die Hoffnung auf Glück in der Ehe Menschen heiraten, auch dann, wenn diese
wissen, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit unter fifty-fifty liegt. Menschen voller Hoffnung auf die Zukunft werden –
offenbar weil ihr Immunsystem besser funktioniert – deutlich weniger krank als andere. Wer sich als "Optimist" bezeichnet, sucht statistisch seltener Ärzte auf und ist nur etwa halb so häufig erkältet wie andere, die sich als ausgeprägte
"Pessimisten" beschreiben.14
12
Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie. Bd. I, Tübingen 1920, S. 110.
13 Shakespeare, William: Richard III., Akt 5, Szene 2, London 1968, S. 184.
14 Vgl.: Sommer, Volker: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992, S. 138.
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3. Schließlich ist an die gemeinschaftsbildende Funktion von Hoffnung zu erinnern. Hoffnung vereint, schweißt
zusammen und motiviert zu gemeinschaftlichen Anstrengungen. Wie die beiden anderen ist auch diese Funktion nicht
ohne Ambivalenzen. Um ihrer Früchte willen kann man Kollektiven Hoffnung nur wünschen. Aber Hoffnung macht auch
empfänglich für Verführung und Missbrauch.
Es ist klar, dass Hoffnung alle diese Funktionen auch dann ausüben kann, wenn sie nach intersubjektiven Kriterien
unberechtigt und irrational ist und wenn das Erhoffte nach rationalen Maßstäben – in einer der verschiedenen Weisen der
Unmöglichkeit – unmöglich und die Hoffnung darauf illusorisch ist. Das ist, wie man sagen könnte, die mehr oder weniger
unausweichliche Dialektik der Hoffnung. Es scheint, als könnte die Hoffnung ihre Funktionen am besten dann erfüllen,
wenn sie sich um die Rationalitätsbedingungen nicht besonders schert. Gerade die rational nicht berechtigten
Hoffnungen scheinen die wirkmächtigsten zu sein.
Ein nach wie vor aktuelles Beispiel für ein Divergieren von subjektiven Beweggründen und intersubjektiven Gründen,
subjektivem Glauben und objektiver Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit ist die Hoffnung auf ein individuelles
Überleben des eigenen physischen Todes. Auch in Deutschland ist diese Hoffnung empirischen Erhebungen zufolge weit
verbreitet, und zwar ganz unabhängig von dem Bestehen einer religiösen Bindung. Nach den semantischen Kriterien für
das Hoffen setzt diese Hoffnung die subjektive Überzeugung voraus, dass ein Überleben des physischen Todes nicht
völlig unwahrscheinlich, geschweige denn logisch, nomologisch oder real unmöglich ist. Aber genau gegen die
Möglichkeitsthese eines individuellen Weiterlebens nach dem Tode sprechen Seite massive Einwände, abgestuft nach
der Form, in der das Weiterleben gedacht wird. Neben logischen Einwänden gegen eine vermeintliche Identität der
Person bei Wiederauferstehung oder Seelenwanderung sprechen vor allem nomologische Einwände gegen die
Möglichkeit eines Weiterlebens. Alles, war wir wissen, spricht dafür, dass die Existenz und Funktionsfähigkeit des
Geistigen an die Existenz und Funktion eines körperlichen Substrats gebunden ist. Damit ist auch ein Weiterbestehen
psychischer Funktionen nach dem irreversiblen Aufhören der körperlichen unmöglich.
5. Hoffnung – ethische Fragen
Das mögliche Auseinanderfallen von Funktion und Berechtigung, Wirkmächtigkeit und Rationalität der Hoffnung wirft nicht
zuletzt gravierende ethische Probleme auf, Probleme, die oft auch in der konkreten Lebenspraxis nicht leicht zu
bewältigen sind. Im Kern laufen diese Probleme auf die Frage hinaus, wie man sich angesichts der häufigen Divergenz
von Berechtigung und Funktion zu den unberechtigten Hoffnungen anderer verhalten soll. Soll man nach funktionalkonsequenzialistischen Standards der Erfolgsmaximierung vorgehen und die illusorischen Hoffnungen anderer stützen,
solange sich diese für die Hoffenden, aber auch möglicherweise für Dritte (für die Moral, die Kultur, die Religion) wohltätig
auswirken? Oder soll man strikt rationalen Standards folgen und andere nach Möglichkeit über ihre Illusionen aufklären,
auch dann, wenn dies bedeutet, auf bestimmte wohltätige Wirkungen zu verzichten? Zur Wahl stehen in dieser Frage,
soweit ich sehe, im wesentlichen drei Strategien, eine rationale, eine pragmatische und eine therapeutische.
Die rationale Strategie besagt, dass man jemand Hoffnung machen oder nehmen sollte, je nach Maßgabe der rationalen
Berechtigung der der Hoffnung zugrunde liegenden deskriptiven Überzeugungen. Ein Berater, der diese Strategie befolgt,
orientiert sich ausschließlich daran, wie realistisch die der Hoffnung zugrunde liegenden Einschätzungen
sind. Bei der pragmatischen Strategie wird neben zu den möglichst realistisch eingeschätzten Wahrscheinlichkeiten
zusätzlich auch das Wohl des Hoffenden als eigenständiger Wert berücksichtigt. Nach der pragmatischen Strategie
empfiehlt es sich, Hoffnung immer dann zu geben oder zu erhalten, wenn erstens die Annahme, dass das Erhoffte eintritt,
keiner rational begründeten Überzeugung widerspricht und insofern nicht gänzlich unmöglich ist, zweitens der Hoffende
das Erhoffte intensiv wünscht und drittens die Hoffnung ihrerseits das Wohl des Hoffenden (oder anderer) entscheidend
befördert. Bei der therapeutischen Strategie schließlich entfällt die Rationalitätsbedingung gänzlich: Nach ihr sollte man
Hoffnung immer dann geben oder erhalten, wenn der Hoffende das Erhoffte intensiv wünscht und die Hoffnung dazu
angetan ist, das Wohl des Hoffenden (oder anderer) zu befördern.
Interessanterweise haben zwei der bedeutendsten Philosophen, die als strenge Rationalisten bekannt sind, in der Frage
der Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode nicht die rationale, sondern die pragmatische Strategie eingeschlagen –
zumindest meinten sie, eine pragmatische Strategie einzuschlagen. Ich denke an Immanuel Kant und an John Stuart Mill.
Beide haben sich der pragmatischen Strategie bedient, um die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode zu erhalten,
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ohne (wie sie meinten) an ihren erkenntnistheoretischen Prinzipien Verrat zu begehen. Beide behaupteten, dass 1. die
Annahme einer individuellen Fortexistenz nach dem physischen Tod keiner rationalen Überzeugung widerspricht und
insofern nicht gänzlich unmöglich ist; 2. die meisten den intensiven Wunsch nach individuellem Weiterleben haben; und
3. die Hoffnung auf ein Weiterleben das Wohl der Hoffenden bzw. anderer entscheidend befördert. Für Kant war der
Glaube an Unsterblichkeit eine "Idee", für deren objektive Berechtigung es zwar keine überzeugenden theoretischen
Gründe, wohl aber überzeugende praktische gebe, nämlich die daraus sich ergebende Unterstützung der Moralität. In der
Kritik der reinen Vernunft argumentiert Kant, dass, solange der Glaube an Unsterblichkeit theoretisch nicht widerlegt sei,
die praktischen Gründe den Ausschlag geben: Unsterblichkeit lässt sich zwar nicht mit guten Gründen annehmen. Unter
theoretischen Gesichtspunkten, d. h. ohne Rücksicht auf die Moral spricht wenig dafür. Aber die Hoffnung darauf soll aus
praktischen Gründen bestehen bleiben:
Dieser mächtige, niemals zu widerlegende Beweisgrund, begleitet durch eine sich unaufhörlich vermehrende Erkenntniß
der Zweckmäßigkeit in allem, was wir vor uns sehen ... bleibt immer noch übrig, wenn wir es gleich aufgeben müssen, die
nothwendige Fortdauer unserer Existenz aus der bloß theoretischen Erkenntniß unserer selbst einzusehen.15
Auch für Mill war Unsterblichkeit kein legitimer Gegenstand einer rationalen Erwartung: Die Tatsachen sprechen dagegen.
Dennoch meinte er in seinem späten Essay Theismus, die Hoffnung auf Unsterblichkeit durch ihre praktischen Folgen
rechtfertigen zu können. Die Aussicht auf ein unsterbliches Leben gewähre den Menschen hinreichend viel Trost im
Leiden und Ansporn im Streben, um eine pragmatische Abwägung zugunsten der Hoffnung auf Unsterblichkeit ausfallen
zu lassen:
Es gibt ... auf der Grundlage der natürlichen Religion keinerlei Sicherheit für ein Leben nach dem Tode. Aber keinem, dem
es seiner Befriedigung oder seinen nützlichen Zwecken förderlich zu sein scheint, ein künftiges Dasein als möglich zu
erhoffen, ist es verwehrt, diese Hoffnung zu nähren.16
Aus heutiger Sicht können diese Versuche zweier Rationalisten, die radikalen Konsequenzen des eigenen Rationalismus
unter praktischen Vorzeichen abzumildern, nur schwer als erfolgreich gelten. Gegen sie sprechen bereits immanent, d. h.
von ihren jeweiligen philosophischen Prämissen her, gewichtige Einwände. Beide vertreten Prinzipien, die mit der
Möglichkeit eines individuellen Weiterlebens strikt unvereinbar sind. Im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus,
in dem das Ich stets an die Erfahrung einer raumzeitlichen Welt gekoppelt ist, ist die Idee einer transempirischen Identität
der Person von vornherein nicht kohärent. Mills These, dass keine rationalen Überzeugungen gegen die Möglichkeit eines
Weiterlebens sprechen, widerspricht seiner eigenen These, dass es keine Empfindungen ohne vorausgehende
körperliche Zustände gibt und dass sie durch diese körperlichen Zustände kausal bedingt sind.17
Die Positionen beider Philosophen lassen sich deshalb allenfalls mit der "therapeutischen" Strategie rechtfertigen. Genau
so sah es im Falle Kants bekanntlich der ironische Heinrich Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in
Deutschland. Mit seiner Lehre von Unsterblichkeit als "Idee" der reinen Vernunft habe Kant nur seinen Diener Lampe
schonen wollen:
... die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt und stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit
seinem Regenschirm unterm Arm als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da
erbarmte sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist ... 18
Aber natürlich wirft die therapeutische Strategie ihrerseits schwerwiegende ethische Probleme auf: Einem Erwachsenen
Hoffnungen zu machen, für die kein rationaler Spielraum besteht, bedeutet, ihn nicht als Diskurspartner, sondern als
Patienten zu behandeln. Er wird in gewisser Weise entmündigt. Diese Strategie mag in Krisensituationen angebracht sein.
Als durchgängige Haltung ist sie jedoch fragwürdig. Sie ist nur schwer vereinbar mit den in unserer Kultur tragenden
Vorstellungen von Personalität, Autonomie und eines durch Achtung und Gleichheit bestimmten Miteinanders.
15
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, B 426, Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, S. 277.
Mill, John Stuart: Drei Essays über Religion. Natur– Die Nützlichkeit der Religion – Theismus, Stuttgart 1984, S. 174.
17 Vgl.: Mill, John Stuart: A System of Logic ratiocinative and inductive, VI, 4, 2, London 1919, S. 555.
18
Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: H. Heine, Werke in fünf Bänden, Bd. 5,
Berlin/Weimar 1964, S. 105.
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Zitierte Literatur
Aischylos: Der gefesselte Prometheus. In: Griechische Tragiker, München o. J., 233-266.
Aristoteles: Nikomachische Ethik, hrsg. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006.
Festinger, Leon: A theory of cognitive dissonance, Stanford 1957.
Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1948.
Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: H. Heine, Werke in fünf Bänden, Bd. 5,
Berlin/Weimar 1964, 5-142.
Kant, Immanuel, Die Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, Berlin 1904/11, 1-552.
Link, Hans-Georg: Hoffnung. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 1158-1166.
Mill, John Stuart: A System of Logic ratiocinative and inductive, London 1919.
Mill, John Stuart: Drei Essays über Religion. Natur– Die Nützlichkeit der Religion – Theismus, Stuttgart 1984.
Mörike, Eduard: Gedichte. Erste Sammlung. In: E. Mörike: Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. Rudolf Krauß, Bd. 2,
Leipzig o. J.
Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. In: F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. München/Berlin 1980,
Bd. 6, 165-254.
Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch, 9. Aufl. Tübingen 1992.
Schiller, Friedrich: Werke, hrsg. Ludwig Bellermann, Bd. 1, Leipzig/Wien 1897.
Shakespeare, William: Richard III, hrsg. E. A. Honigmann, Harmondsworth 1968.
Sommer, Volker: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992.
Spinoza, Benedictus de: Die Ethik, Hamburg 1905.
Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, 17-206.
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