Neueste tagesaktuelle Berichte ... Interviews ... Kommentare ... Meinungen .... Textbeiträge ... Dokumente ... MA-Verlag POLITIK / KOMMENTAR Linke Exilorganisationen durch deutsch-türkische Flüchtlingsabwehr gefährdet (SB) ­ Am 15. April des letzten Jahres stürmten deutsche Sicherheitskräfte Vereinsräume und Privatwohnungen von Personen aus dem Umfeld der "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK). Sieben ATIK-Mitglieder wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b verhaftet. Laut Anklageschrift soll es sich bei ihnen um Führungskader der kommunistischen Partei TKP/ML handeln. Kurze Zeit später stellte die Bundesanwaltschaft (BAW) Auslieferungsanträge für weitere fünf Personen in der Schweiz, in Griechenland und Frankreich ... (S. 7) Elektronische Zeitung Schattenblick Freitag, 18. März 2016 Das Anti-TTIP-Bündnis - der Kriegsführung entlehnt ... Uwe Hiksch im Gespräch Freihandelsabkommen im Dienst geopolitischer Vormachtstellung Interview auf der TTIP Strategie­ und Aktionskonferenz in Kassel am 27. Februar 2016 MUSIK / REPORT In Szene und erzählt "Die Andere", eine Oper ... Christoph Hein im Gespräch von Christiane Baumann, März 2016 (SB) ­ In Magdeburg wirft ein unge- wöhnliches Ereignis seine Schatten voraus: Am Freitag (18. März 2016) wird Die Andere, eine im Auftrag des Magdeburger Theaters komponierte Oper, als Uraufführung zu sehen und zu hören sein. Der Komponist ist der US-Amerikaner Sidney Corbett, dessen Orchester-, Instrumental- und Vokalwerke international aufgeführt werden. Corbett lebt seit 1985 vorwiegend in Deutschland und hat in Mannheim eine Professur an der Hochschule für ... (S. 11) Uwe Hiksch Foto: © 2016 by Schattenblick (SB) ­ Uwe Hiksch war von 1994 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst für die SPD, die er 1999 wegen der unsozialen Politik der Regierung Schröder verließ, und anschließend für die PDS, deren Bundesgeschäftsführer er war. Er ist seit 2007 Mitglied der Partei Die Linke, einer der Sprecher des Marxistischen Forums und derzeit Büroleiter der Bundestagsabgeordneten Annette Groth. Seit 1998 ist er Mitglied im Bundesvorstand der NaturFreunde Deutschlands und seit Mai 2010 stellvertretender Vorsitzender der NaturFreunde Berlin. Hiksch ist seit vielen Jahren in der Friedensbewegung und der Anti-Atom-Bewegung aktiv und war 2015 unter anderem als Redner und Organisator maßgeblich an der Anti-TTIP-Demonstration am 10. Oktober in Berlin beteiligt. Auf der TTIP Strategie- und Aktionskonferenz in Kassel bot er einen Workshop zum Thema "Rekolonialisierung verhindern - Freihandelsabkommen stoppen! Geopolitische und ökonomische Hintergründe des Freihandelsabkommens TTIP" an. Darin kam auf Grundlage einer marxistischen Krisentheorie zur Spra- Elektronische Zeitung Schattenblick che, aufwelche Weise die westlichen Industrieländer des globalen Nordens mit der Durchsetzung von Freihandelsabkommen ihre geopolitische Vormachtstellung sichern und ausbauen. Durch TTIP sollen neue Konkurrenten auf dem Weltmarkt in Gestalt der aufstrebenden BRICSStaaten zurückgedrängt oder zumindest in die Interessenlage von EU und USA eingebunden werden. Am Rande der Konferenz beantwortete Uwe Hiksch dem Schattenblick einige Fragen. nach meiner Überzeugung strategisch richtig. Jede und jeder weiß, daß ein großer Teil der Menschen, die in den Bündnissen gegen TTIP, CETA und TiSA aktiv sind, natürlich eher aus der fortschrittlichen, politisch linken Ecke kommen, aber man muß das ja nicht so weit nach außen kehren. SB: Müßte man nicht, wenn man diese Thematik aufgreift, eine fundierte Krisentheorie vorhalten, wie sie die marxistische Kritik der politischen Ökonomie entwickelt, oder Schattenblick (SB): Im heutigen Ple- kommt man deines Erachtens auch num und in einigen Workshops wur- ohne diese Voraussetzung aus? de die Empfehlung ausgesprochen, auf marxistische Terminologie zu UH: Die aktuelle Bewegung beweist verzichten und sich nicht in die lin- ja, daß eine ökonomische Krisenke Ecke stellen zu lassen. Ist die theorie nicht zwangsläufig notwenKampagne gegen die Freihandelsab- dig ist, um große Massen auf die kommen eine Bewegung, in der Lin- Straße zu bringen. Wenn ich einmal ke keine politische Heimat mehr ha- zurückdenke, war das auch schon in ben? der Friedensbewegung und der AntiAtom-Bewegung so. Linke meiner Uwe Hiksch (UH): Ich habe die Be- Tradition sind stets in diese Bewemerkungen nicht als Abgrenzung ge- gungen gegangen, um auch über Gegen die Linke verstanden. Vielmehr sellschaftstheorien und ökonomische haben sich mehrere Rednerinnen und Theorien zu diskutieren und diese Redner dafür stark gemacht, daß wir Bewegungen dazu zu bringen, sich natürlich eine Bewegung sein müs- mit Ökonomie zu beschäftigen, weil sen, die bis weit in das, was man frü- der Bau von Atomkraftwerken ja weher das bürgerliche Lager genannt sentlich mehr als nur die Planung der hat, hineinreicht. Ich halte diese Energiepolitik berührt hat. Wir haGrundthese für richtig. Wir haben ben damals auch versucht, die Ausvon Anfang an das Bündnis gegen einandersetzung mit dem militäTTIP und CETA so angelegt, daß risch-industriellen Komplex in die ganz unterschiedliche Organisatio- Friedensbewegung hineinzutragen, nen aus verschiedenen politischen um deutlich zu machen, daß hinter Traditionen - die Bauernorganisatio- Kriegen geopolitische, geostrateginen, die Gewerkschaften, attac bei- sche, altmodisch hätten wir das imspielsweise aus dem globalisierungs- perialistische Interessen genannt, kritischer Bereich, wir als Natur- stehen, die durchgesetzt werden solFreunde und der BUND aus dem len. In der Auseinandersetzung über umweltpolitischen Bereich, aber Freihandelsabkommen geht es nach auch bürgerliche Organisationen, die meiner Überzeugung, da gebe ich dir bisher gar nichts mit einer traditio- völlig recht, auch darum aufzuzeinellen Demonstrationskultur zu tun gen, warum das Kapital in seiner gehatten wie etwa der Kulturrat, zu- genwärtigen Phase so offensiv die sammengefunden haben. Ich denke, Freihandelsstrategie betreibt - nämwir tun uns strategisch einen Gefal- lich um seine Profitraten zu verbeslen, wenn wir diese Breite auch nach sern und dieses riesige, frei umheraußen zeigen. Und deswegen sind fließende Kapital, das derzeit keine die Hinweise, daß wir uns nicht in Anlagesphäre findet, wieder in die die linke Ecke drücken lassen dürfen, Profitmaximierung einzuspeisen. Seite 2 www.schattenblick.de Dies so zu sehen ist aber keine Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit, denn die traditionelle Vorstellung der Linken, daß alle ihr geschlossenes Weltbild teilen müßten, wollte man die Gesellschaft konsequent verändern, hat so nie gestimmt. Menschen, die einfach empört sind, sei es, weil sie aus dem christlichen Glauben, aus dem Umweltschutz oder einer humanistischen Tradition kommen, können genausogut mithelfen, Gesellschaft zu verändern wie Menschen wie ich, die aus einer marxistischen Tradition kommen. SB: Welche Möglichkeiten siehst du, auf Grundlage dieser grundsätzlichen Bündnisfähigkeit zu fundamentaleren und weitreichenderen Thematiken und Auseinandersetzungen vorzudringen? UH: Wir sind derzeit gerade dabei, in den Bereichen, wo wir noch nicht so stark vertreten sind wie beispielsweise in den Kirchen, dafür zu werben, daß auch sie sich aus ihrer Tradition heraus am Widerstand gegen TTIP und CETA beteiligen können. Solche Bündnisse, wie wir sie heute mit der Bewegung gegen die Freihandelsabkommen erleben, haben meines Erachtens immer dazu beigetragen, Menschen zu politisieren und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Das war in der Friedensbewegung so, das war in der Anti-Atom-Bewegung so, und das ist jetzt nach meiner Überzeugung auch in der Anti-TTIP- und Anti-CETA-Bewegung so. Die Menschen haben sich mit Macht auseinandergesetzt, sie haben gemerkt, wie Parteien funktionieren, sie haben erfahren, wie Medien mit den von ihnen vorgetragenen Thesen umgehen, und sie haben die Strukturen kennengelernt, die auf europäischer Ebene wirken. Das politisiert Menschen und verändert sie. Dieser Veränderungsprozeß ist für sich genommen schon positiv. Ob er dann nach links führt oder eher in eine unpolitische Ecke, weil die Menschen fruFr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick striert sind, liegt nicht zuletzt auch an den linken und fortschrittlichen Kräften im Rahmen der Bewegung. Wir versuchen, beispielsweise Angebote wie den gestrigen Workshop zu machen, der sich mit geopolitischen, geostrategischen und ökonomischen Hintergründen von TTIP und CETA beschäftigt und sich diesem Thema von einer linken Krisentheorie her nähert. SB: In der Anti-TTIP-Bewegung herrschen bislang Aktionsformen vor, die sich der Öffentlichkeitsarbeit, Rechtsmittel und Medien bedienen. Wenig vertreten sind Aktionsformen, wie sie in der Anti-AtomBewegung oder der Umweltbewegung als direkte Aktionen bezeichnet wurden. Wie würdest du die weitere Entwicklung der Bewegung in dieser Hinsicht einschätzen? UH: In der aktuellen Arbeit sieht man solche direkten Aktionen noch nicht. Ich glaube aber, daß sie automatisch dazukommen werden, wenn die Auseinandersetzungen über Freihandelsabkommen weitergehen. Die Anti-Atom-Bewegung begann zwar mit einer direkten Aktion in Wyhl, doch waren solche Aktionsformen dann über weite Strecken nicht automatisch präsent. Es gab breite Aktionen, die eher so angelegt waren, wie unsere Demonstrationen in Berlin, München oder bald in Hannover, während Teile der Bewegung direkte Aktionsformen wie beispielsweise jene des gewaltfreien Widerstands praktizierten. Wir werden erleben, daß die Bewegung gegen TTIP und CETA mit sehr kreativen gewaltfreien Aktionen angereichert wird. Und das wird der Bewegung sehr gut tun. anderem deshalb betreibt, weil es sich aus seiner Sicht gesehen in der Defensive befindet und aggressiv Pläne schmiedet, wie es wieder in die Offensive gehen kann. Das wird einerseits mit militärischen Mitteln wie beispielsweise dem Stellvertreterkrieg in Syrien oder den Auseinandersetzungen in der Ukraine vorangetrieben und andererseits ökonomisch mit den Freihandelsabkommen forciert - nicht umsonst bezeichnen wir TTIP auch als "Wirtschafts-NATO". Das USamerikanische und europäische Kapital fürchtet, durch das Kapital aus den sogenannten BRICS-Staaten noch weiter in die Defensive gedrückt zu werden, und versucht deswegen so vehement, die Freihandelsideologie voranzubringen und Freihandelsabkommen durchzusetzen. Erkennt man nicht, daß dahinter brutale ökonomische Interessen am Werk sind, wird man in der Auseinandersetzung mit "der anderen Seite" nicht zu den richtigen Schlußfolgerungen gelangen. Wir kämpfen gegen einen aggressiven Versuch, Ökonomie weiterzuentwickeln, sie durch Kapitalisierung der Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. Es geht dabei insbesondere darum, dem Kapital neue Profitmöglichkeiten zu erschließen, indem Bereiche der Gesellschaft in privatwirtschaftliche Profitmaximierung überführt werden, die dieser zuvor nicht zugänglich waren. Vom Krankenhaus bis hin zu den Bildungseinrichtungen werden diese Sphären stückchenweise dem Gewinnstreben der großen Kapitalmassen zur Verfügung gestellt. Diese Auseinandersetzung ist in der gegenwärtigen ökonomischen Entwicklungsphase angelegt, und wir müssen sie als Linke in den Bewegungen auch unabhängig von TTIP und CETA verstärkt in den Mittelpunkt rücken. SB: Du hast gestern im Workshop die geopolitischen Zusammenhänge der Freihandelsabkommen themati- SB: Wie würdest du in diesem Zusiert. Warum sind sie deines Erach- sammenhang das Verhältnis von natens so wichtig? tionalstaatlichen und Kapitalinteressen bewerten, das in den jüngeren UH: Wir müssen erkennen, daß das Konzepten von Globalisierung ofteuropäische und das US-amerikani- mals relativ vage und fast beliebig sche Kapital TTIP und CETA unter interpretiert wird? Fr, 18. März 2016 www.schattenblick.de UH: Ich selber komme aus einer Tradition, die davon ausgeht, daß das Kapital auch heute noch national aufgestellt ist und zumindest seine nationalen Hometowns hat, in denen es arbeitet und sich der Politik bedient, um im internationalen Konkurrenzkampf Vorteile zu erzielen. Manchmal werden Unternehmenszentralen in ein Land verlagert, wo die Steuern möglichst niedrig sind, in anderen Fällen jedoch in Deutschland belassen, um dank der deutschen Außenpolitik den Standortvorteil in der Europäischen Union und weltweit zu nutzen. Der Nationalstaat spielt also auch für das sogenannte transnationale Kapital eine entscheidende Rolle. Wir erleben zum zweiten in der Sondersituation Europa, daß die Europäische Union zwischenzeitlich einen Binnenmarkt geschaffen hat, der weit über den Nationalstaat hinausgeht und in dem auch das Kapital anfängt, sich zu europäisieren. Europäisches Kapital im traditionellen Sinne gibt es bislang noch wenig. Man könnte EADS, Eurocopter oder Airbus als Beispiele nennen, die als europäisches Kapital angelegt sind und wo auch die Beteiligungen sehr weit über die führenden europäischen Staaten gestreut wurden. Aber auch in der Europäischen Union dominieren Nationalkapitalien, die diesen neuen Binnenmarkt dazu nutzen, möglichst große Teile des Kuchens für sich abzuschneiden. Die jeweiligen Kapitalien, die ihre Hauptsitze hier in der Europäischen Union haben, benutzen das Konstrukt EU, um ihre Stellung auf dem Weltmarkt zu verbessern. Als drittes finden wir vor allen Dingen im Finanzsektor ein Kapital, das schon lange über einzelne Nationalstaaten und Regionen hinaus arbeitet und durch die Computerisierung der Börsen in Sekunden zweimal um den Erdball herumsausen kann, also heute schon als transnationales Kapital funktioniert. Aber auch da gilt, daß hinter diesen Fraktionen des FinanzSeite 3 Elektronische Zeitung Schattenblick kapitals Pensionsfonds oder Hedgefonds stehen, die sehr häufig national angelegt sind und vorzugsweise an der Börse in London, New York oder Frankfurt gehandelt werden, also national oder regional verankerte Interessen repräsentieren. Zusammengefaßt: Es gibt eine Globalisierung der Ökonomie, es gibt eine Globalisierung von Unternehmenstätigkeiten, die über die Welt verteilt ihre Standorte haben. Aber die Frage dessen, was bei Karl Marx die Nationalkapitalien waren, spielt heute noch eine entscheidende Rolle, wenn man die Weltökonomie verstehen will. Die Vorstellung, das Kapital habe keine Heimat mehr und bewege sich frei fließend über den Globus, halte ich für eine These, die sich schwerlich belegen läßt. SB: Du sprichst in Anlehnung an das Konzept des militärisch-industriellen Komplexes von einem datensammelnden industriellen Komplex, der vornehmlich in den USA angesiedelt ist. Welche Konsequenzen hat das für einzelne Fraktionen des Kapitals und die Staaten, in denen sie dominieren? UH: Ich möchte mit dem Wortspiel vom datensammelnden industriellen Komplex andeuten, daß meiner Analyse zufolge zu den entscheidenden Einzelkapitalien der nahen Zukunft diejenigen gehören werden, die Daten sammeln, besitzen, auswerten und für ihre jeweiligen Profitinteressen einspannen können - Industrie 4.0, wie das immer so schön genannt wird. Im Rahmen der Einzelkapitalfraktionen haben sich die Machtverhältnisse deutlich von der Kohleund Stahlindustrie zum verarbeitenden Gewerbe und Anlagenbau verschoben, die in Deutschland eine führende Stellung innehaben. Bei den US-amerikanischen Kapitalfraktionen findet man eine komplett gespaltene Interessenlage vor. Auf der einen Seite die Silicon-Valley-Fraktion, eben diese Datensammelindustrie, die versucht, sich kulturelle Güter anzueignen, die Bedürfnisse Seite 4 und später den Bedarf der Menschen zu erfassen und zu lenken, wie auch mit dem Staat oder gegen ihn - das ist manchmal durchaus ambivalent -, Daten zur Repression zu nutzen, die ihnen zugleich Umsätze bescheren. Und wir haben auf der anderen Seite die eher traditionelle explorierende Industrie der Öl- und Gasförderung, dann aber auch die noch immer große Automobil- und verarbeitende Industrie. Diese beiden Seiten haben durchaus unterschiedliche Interessen, was die Außenpolitik der USA betrifft. Die Silicon-Valley-Industrie drängt nach Globalisierung, weil sie keine Grenzen im traditionellen Sinn mehr braucht und ihre Systeme weltweit schalten möchte. Hingegen sind für die explorierende Wirtschaft Nationalstaaten und regionale Machtfaktoren bedeutsam, die "Ruhe und Ordnung" garantieren. Aus diesen divergierenden Interessen resultieren unterschiedliche Anforderungen an die Politik. Wir müssen uns meines Erachtens darauf einstellen, daß sich die datensammelnde Industrie auf dieser Ebene der Auseinandersetzungen immer stärker durchsetzt, dadurch zunehmend in der politischen Elite an Einfluß gewinnt und damit auch das Interesse an der Umsetzung von TTIP wächst. Interessenlagen sowohl der Einzelkapitalfraktionen als auch der Nationalkapitalien gibt, zu nutzen und zu erweitern. Beispielsweise versucht die US-amerikanische Agrarlobby im Rahmen der TTIP-Verhandlungen, die Gentechnikfrage in den Mittelpunkt zu stellen, da sie gentechnisch verändertes Saatgut und gentechnisch veränderte Lebensmittel großflächig in der Europäischen Union verkaufen will. Für die europäische Saatgutindustrie ist Gentechnik jedoch längst nicht so wichtig. Vor allem aber haben wir in der Europäischen Union eine starke Verbraucherinnen- und Verbraucherschutzbewegung, die auf keinen Fall gentechnisch verändertes Saatgut und gentechnisch veränderte Lebensmittel möchte, die von Millionen Menschen fundamental abgelehnt werden. Wir haben in der EU gleichzeitig eine starke Bewegung im umweltpolitischen Bereich, die Gentechnik ebenfalls ablehnt. Inzwischen hat das deutsche Kapital das Prinzip Gentechnik zurückgestellt, und im letzten Jahr hat Monsanto den Versuch aufgegeben, gentechnisch verändertes Saatgut auf die Felder zu bringen, weil es sich angesichts des Widerstands für den Konzern vorerst nicht lohnt, dieses Vorhaben weiterzuverfolgen. Gelingt es uns, die deutsche Politik so weit unter Druck zu setzen, daß sie dabei bleibt, gentechnisch veränderte Lebensmittel möglichst vom Markt der Europäischen Union fernzuhalten, schwindet das Interesse der USAgrarindustrie, TTIP durchzusetzen. SB: Du hast im Workshop ausgeführt, wie wichtig TTIP für die Protagonisten des Freihandels ist, so daß die Aussichten, dieses Projekt unmittelbar aus der Welt zu schaffen, als sehr gering einzuschätzen seien. Mit Hilfe welcher Strategie könnte man TTIP deines Erachtens dennoch ausbremsen? Ein anderes Beispiel könnten die Interessen des verarbeitenden GewerUH: Ich stünde nicht hier, wenn ich bes sein, das in Deutschland zu den keine Chance erkennen könnte, TTIP weltweit exportoffensivsten gehört. und CETA zu verhindern. Ich schät- Häufig wurden deutsche Standards ze die Interessen der Gegenseite al- im Rahmen der Europäischen Union lerdings als so fundamental ein, daß durchgesetzt und sollen nach Möges uns sehr schwer fallen wird, die lichkeit auch problemlos auf die großen Kapitalfraktionen unmittel- USA übertragen werden. Das fürchbar an der Durchsetzung dieser Form tet jedoch das verarbeitende Gewervon Politik zu hindern. Dennoch ha- be der USA, weil diese Entwicklung ben wir auf jeden Fall Möglichkei- dazu führen würde, daß das hochten, bestehende Risse, die es in den produktive europäische (eigentlich www.schattenblick.de Fr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick deutsche) Kapital noch stärker auf den US-amerikanischen Markt drängt und die Konkurrenz verschärft. Gelänge es den US-amerikanischen Gewerkschaften, die Regierung so stark unter Druck zu setzen, daß aufgrund massiv bedrohter Arbeitsplätze die Standards nicht angeglichen werden, würde TTIP aus Sicht des deutschen oder europäischen verarbeitenden Gewerbes uninteressant. Wenn wir diese Risse, die man in fast jedem Bereich durchdeklinieren könnte, ein Stückchen vergrößert, kann es passieren, daß aufgrund der vorhandenen Widersprüche der Interessen TTIP und CETA scheitern. Bündnissen gegen TTIP, CETA und TiSA engagieren. Das hat sicher maßgeblich dazu beigetragen, daß wir hier eine sehr interessante und intensive Diskussion führen. Die Konferenz hat sich im Sinne ihrer Planung im ersten Teil mit inhaltlichen Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auseinandergesetzt, um dann im zweiten Teil zu erörtern, wie wir die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft erreichen, und schließlich im dritten Teil die künftigen Aktionsformen in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Der Kongreß hat nach meiner Überzeugung wichtige Impulse in die Bewegung gesetzt, weshalb von ihm ein starkes Zeichen ausgeht, daß der Widerstand gegen SB: Ich möchte dich gerne abschlie- TTIP und CETA noch stärker wird. ßend fragen, wie dir die Konferenz bislang gefallen hat. SB: Uwe, vielen Dank für dieses Gespräch. UH: Ich bin sehr angetan von dem Kongreß, zu dem 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen sind. TTIP Strategie­ und Aktionskonfe­ Die Einladung war vor allen Dingen renz in Kassel im Schattenblick auf die Menschen und Aktivisten an- www.schattenblick.de → INFO­ gelegt, die sich in den Regionen in POOL → BUERGER → REPORT: BERICHT/068: Das Anti-TTIPBündnis - Widerstand und Kompromiß ... (SB) BERICHT/069: Das Anti-TTIPBündnis - Lackmustest Verschärfung ... (SB) INTERVIEW/097: Das Anti-TTIPBündnis - die Säge am Überlebensast ... Pia Eberhardt im Gespräch (SB) INTERVIEW/098: Das Anti-TTIPBündnis - Kulturelle Errungenschaften im Ausverkauf ... Olaf Zimmermann im Gespräch (SB) INTERVIEW/099: Das Anti-TTIPBündnis - Konsens ... Nelly Grotefendt im Gespräch (SB) INTERVIEW/100: Das Anti-TTIPBündnis - Rechtsprechung statt Verträge ... Petra Pinzler im Gespräch (SB) INTERVIEW/101: Das Anti-TTIPBündnis - Korrumption im Zangengriff der Basis ... John Hilary im Gespräch (SB) http://www.schattenblick.de/ infopool/buerger/report/ brri0103.html SCHACH UND SPIELE / SCHACH / SCHACH-SPHINX Arabischer Fatalismus (SB) ­ Die alten Araber hatten eine seltsame Art, Schach zu spielen. Statt auf den Zug des Gegners eine Antwort zu finden und so die Partie in wechselnder dynamischer Bewegung zu halten, machte jeder einzelne die ersten zehn bis vierzehn Züge für sich, und zwar innerhalb der eigenen Bretthälfte. Erst dann, nachdem sich beide für eine bestimmte Figurenaufstellung entschieden hatten, schenkten sie dem Spiel des anderen ihre Aufmerksamkeit. Da auch sie einem Eröffnungsschema folgten, ergaben sich daraus eine große Anzahl von vorher mehr oder weniger ausanalysierten Stellungsbildern. Der feste Ablauf der PositionsmotiFr, 18. März 2016 ve machte es einem findigen Kopf beispielsweise möglich, den Aufbau seines Gegners mit einer vorher genau berechneten Abfolge von Zügen zu besiegen. Man mag so oder so über den arabischen Fatalismus denken, er erlaubte es dennoch, daß das Schach uns aus ihren Händen weitergereicht wurde. Und so können wir uns nun am heutigen Rätsel der Sphinx erfreuen und kehren damit zur Partie zwischen Perenyi und Damljanovic zurück. Schwarz hatte sich - wohl auch aus einem Fatalismus heraus mit seinem König in die Brettmitte begeben, um den weißen Angriff zu entkommen, allein Weiß hatte eine hübsche Überraschung parat nach dem letzten schwarzen Zug 1...b5-b4. Also, Wanderer, aufzur Spurensuche! www.schattenblick.de Perenyi Damljanovic Zürich 1981 Auflösung letztes Sphinx­Rätsel Juri Balaschow hatte ein Kind zu ernähren. Für Fisimatenten hatte er daher keine Zeit und so beendete er die Partie schlagend mit 1.Tc1-c6! Sein brasilianischer Gegner Sunyé-Neto kapitulierte sogleich. Auf 1...Ld7xc6 hätte 2.Se3-f5+ die schwarze Stellung zerbrochen, und ansonsten drohte einfach der Einschlag auf d6. http://www.schattenblick.de/info­ pool/schach/schach/sph05778.html Seite 5 Elektronische Zeitung Schattenblick POLITIK / AUSLAND / LATEINAMERIKA Brasilien Massendemonstrationen fordern den Rücktritt der Mitte-links-Regierung poonal ­ Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen von Andreas Behn halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras leitet und schon zahlreiche Top-Manager und Politiker hinter Gitter gebracht hat, wurde zum Helden und Retter des Landes stilisiert. Viele brachten am Sonntag ihren Unmut über die Lage im Land zum Ausdruck, die von der Opposition und vor allem den Massenmedien tagtäglich als unzumutbar dargestellt wird. Anhänger*innen der Regierung nennen dies den Appell an ein "je schlechter desto besser" und verweisen auf die strikte Blockadepolitik im Kongress, die das Regieren seit Monaten fast unmöglich macht. Gelb-Grün gekleidete Menschenmengen prägten am Sonntag, 13. März, das Bild in hunderten Städten. In der Metropole Sao Paulo gab es dem Umfrageinstitut Datafolha zufolge mit 500.000 Teilnehmer*innen den größten Umzug, die Polizei sprach gar von 1,4 Millionen. Auch (Rio de Janeiro, 14. März 2016, taz) in Rio de Janeiro und der Hauptstadt Brasiliens Präsidentin Dilma Brasilia waren es über 100.000. Rousseff steht mit dem Rücken zur Noch nie beteiligten sich so viele an Wand. Über eine Million Menschen einem Protesttag. forderten bei Massendemonstrationen im ganzen Land den Rücktritt ihrer Mitte-links-Regierung. Die rech- Es wird eng für Dilma Rousseff te Opposition forciert ein Amtsenthebungsverfahren, und nun droht Die Demonstrant*innen forderten auch noch der wichtigste Koalitions- "Dilma raus" und "Knast für korruppartner PMDB mit Austritt aus der te Politiker". Immer wieder wurde Regierung. Der Rechtsruck im größ- die Nationalhymne angestimmt, beten Land Lateinamerikas, der schon sonders beliebt war eine riesige aufbei Rousseffs knapper Wiederwahl blasbare Puppe von Ex-Präsident im Oktober 2014 spürbar war, hat im Lula da Silva in Häftlingskleidung. Zuge der Korruptionsermittlungen Der Untersuchungsrichter Sergio und der anhaltenden Wirtschaftskri- Moro, der die Ermittlungen im riesise längst die Oberhand gewonnen. gen Korruptionsskandal um den Aufblasbare Politiker sind im Karne­ valsland Brasilien besonders beliebt, wie hier auf einer Demonstration in Brasilia. Foto: Flickr/Ninja Midia (CC BY­ NC­SA 2.0) [https://creativecom­ mons.org/licenses/by­nc­sa/2.0/de/] Seite 6 www.schattenblick.de Die Rechte träumt vom Militärputsch Tonangebend ist auf der Straße jedoch der rechte Rand, der nach über 13 Jahren Regierung der Arbeiterpartei PT Morgenluft wittert. Es ist der Ruf nach einem starken Mann, während demokratische Spielregeln und rechtsstaatliche Normen eher als Problem bezeichnet werden. Auf vielen Plakaten wird eine Rückkehr der Diktatur herbeigesehnt oder eine Intervention der Militärs gefordert. Auch Fotos von Männern im Trikot der Nationalmannschaft mit zum Hitlergruß erhobener Hand kursieren in den sozialen Netzwerken. Entlarvend auch die Fotos von offensichtlich gut situierten Paaren, die gut gelaunt demonstrieren, während ihre kleinen Kinder im Kinderwagen von einer dunkelhäutigen Angestellten hinterhergeschoben werden. AnFr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick dersdenkende ließen sich aus Angst vor Zusammenstößen kaum in der Nähe der Umzüge blicken. Nur an der Copacabana in Rio erlaubten sie sich eine kleine Provokation: Als ein Sportflugzeug ein Transparent mit der Aufschrift "Es wird keinen Staatsstreich geben" den Strand entlang flog, antworteten Zigtausende mit einem Pfeifkonzert und Buhrufen. ruptionsskandal inzwischen die Spitze der PT erreicht haben und sogar den einst so populären Lula in Mitleidenschaft ziehen. Ein Kartell von Bauunternehmen soll jahrelang überteuerte Aufträge von Petrobras erschlichen haben. Das Bestechungsgeld floss demnach in die Taschen von korrupten Politiker*innen und an politische Parteien, die zumeist der Regierungskoalition angehörten. Zahlreiche Politiker und Unternehmer, unter ihnen einige führende Manager von Petrobras und von Baufirmen, sind bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Im Visier der Ermittler*innen sind mehr als 50 amtierende Abgeordnete und Senator*innen. URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/massendemonstrationen-fordern-denruecktritt-der-mitte-links-regierung/ Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.npla.de Dilma Rousseff selbst gibt sich kämpferisch. In einer Ansprache am 11. März schloss sie einen Rücktritt kategorisch aus. Ihren Gegner*innen warf sie vor, eine politische http://www.schattenblick.de/ Krise verursacht und so der Wirtinfopool/politik/ausland/ schaftsentwicklung geschadet zu pala1542.html haben. Die PT bezeichnet das Vorgehen der Opposition als "Putschversuch". Das Amtsenthebungsverfahren steht auf wackeligen Füßen, da es abgesehen von dubiosen und illegal der Presse zugespielten POLITIK / KOMMENTAR / REPRESSION Kronzeugenaussagen bisher nicht gelungen ist, Rousseff mit der KorLinke Exilorganisationen durch deutsch-türkische ruptionsaffäre in Verbindung zu bringen. Deswegen werden ihr illegale Wahlkampffinanzierung und Flüchtlingsabwehr gefährdet Unregelmäßigkeiten in der Haushaltspolitik vorgeworfen. Ihre Be- (SB) ­ Am 15. April des letzten Jah- ATIK ist eine legale demokratische liebtheit ist auf knapp über zehn res stürmten deutsche Sicherheits- Organisation, die für die Rechte von kräfte Vereinsräume und Privatwoh- Migranten und Arbeitern in ganz EuProzent gesunken. nungen von Personen aus dem Um- ropa eintritt und sich in Kampagnen feld der "Konföderation der Arbeiter und Kongressen gegen rassistisch Die Linke bangt um den Erhalt der aus der Türkei in Europa" (ATIK). motivierte Gewalt und DiskriminieSieben ATIK-Mitglieder wurden un- rung engagiert. Den Inhaftierten Demokratie ter dem Vorwurf der Mitgliedschaft wird zur Last gelegt, durch das SamFür Freitag (18.3.) haben linke Par- in einer ausländischen terroristi- meln von Spenden und organisierte teien und soziale Bewegungen zu schen Vereinigung nach Paragraph Veranstaltungen den angeblich miliGegendemonstrationen zur Verteidi- 129b verhaftet. Laut Anklageschrift tanten Kampf der TKP/ML zu untergung der Demokratie aufgerufen. soll es sich bei ihnen um Führungs- stützen, die im Verdacht steht, mit Viele stehen dabei vor einem Dilem- kader der kommunistischen Partei bewaffneten Einheiten der Kurdima: Die angeschlagene Rousseff TKP/ML handeln. Kurze Zeit später schen Arbeiterpartei PKK Anschläkommt vor allem in der Wirtschafts- stellte die Bundesanwaltschaft ge in der Türkei durchgeführt zu hapolitik den Konservativen seit länge- (BAW) Auslieferungsanträge für ben, obgleich die Partei nicht auf der rem entgegen und verficht einen Ab- weitere fünf Personen in der EU-Terrorliste steht. Die Anklage bau von Arbeitnehmerrechten und Schweiz, in Griechenland und der BAW stützt sich im wesentlichen von Sozialleistungen. Die Mehrheit Frankreich. Inzwischen sitzen die auf Informationen der türkischen der Linken wird also nicht für ATIK-Mitglieder Müslüm Elma, Geheimdienste, die in höchstem MaRousseff, aber gegen ihre Amtsent- Erhan Aktürk, Banu Büyükavci, Si- ße fragwürdig sind, weil keineswegs nan Aydin, Haydar Bern, Seyit Ali ausgeschlossen werden kann, daß die hebung demonstrieren. Ugur, Musa Demir, Sami Solmaz angeblichen Ermittlungsergebnisse Das größte Problem der Regierung und Deniz Pektas in verschiedenen durch die Anwendung von Folter, Geständniserpressung und massiver ist, dass die Ermittlungen im Kor- bayerischen Gefängnissen. Fr, 18. März 2016 www.schattenblick.de Seite 7 Elektronische Zeitung Schattenblick Einschüchterung zustande gekom- einem Ausmaß zu nehmen, der von men sind. nationalkonservativen Grenzwächtern und nationalliberalen KulturDaß die in Deutschland anhängigen kriegern weithin unterschätzt wird. oder bereits abgeurteilten 129b-Verfahren insbesondere gegen kurdische Daß ein Beitritt in die EU wenig und linke türkische Aktivisten ge- Aussicht auf Erfolg hat und selbst richtet sind, die in der Türkei zum Lockerungen bei der Visumspflicht Spektrum der in den Augen der mit harten Bandagen erkämpft werAKP-Regierung mißliebigen Oppo- den müßten, ist der Regierung in Ansition gerechnet werden können und kara durchaus bewußt. Sie kann jeim Ausland den antidemokratischen doch darauf hoffen, daß Europa wegKurs des türkischen Präsidenten Er- schaut, wenn sie ihr "Kurdenprodogan anprangern, läßt auf Einver- blem" auf militärischem Wege löst nehmlichkeit zwischen deutschen und im selben Atemzug die wachund türkischen Sicherheitskräften sende linke Opposition im Lande beschließen. Dieser Pakt auf Gegensei- kämpft. Um zu verhindern, daß türtigkeit hat eine lange Geschichte und kische und kurdische Exilorganisagründet sich in erster Linie auf die tionen in der EU einen RückzugsZerschlagung linker Kräfte zugun- raum bilden, ist sie auf Entgegensten eines NATO-Staates, der schon kommen bei deren Verfolgung im im Kalten Krieg den südöstlichen europäischen Ausland angewiesen. Pfeiler in der sogenannten Sicher- Als verschworene Antikommunisten heitsarchitektur des Militärbündnis- haben deutsche und türkische Sises bildete. Das politische Strafrecht, cherheitsbehörden seit jeher gut zudas die bloße Assoziation mit Orga- sammengearbeitet, und so verwunnisationen der revolutionären Linken dert es nicht, daß die deutsche Justiz im Ausland oder die Zustimmung zu in den letzten Monaten gegen eine ihrer Programmatik unter Gesin- Reihe türkisch-kurdischer Organisanungsverdacht stellt und kriminali- tionen zu Felde zog. Den hier lebensiert, ist ein wesentliches Instrument den Migrantinnen und Migranten der politischen Repression gegen wird auf diese Weise mitgeteilt, daß Menschen, die sich der Ideologie und die politische Repression der AKPPraxis imperialistischer Politik nicht Regierung nicht an den eigenen beugen wollen. Grenzen haltmacht und Widerstand gegen das Regime von Präsident ReUngeachtet der immer wieder ver- cep Tayyip Erdogan und Ministerschobenen Beitrittsverhandlungen präsident Ahmet Davutoglu ihren zwischen der EU und der türkischen Preis hat. Republik nimmt die Türkei eine wichtige Scharnierfunktion für die Der von der Bevölkerung massiv ungeostrategischen Interessen der EU terstützte Gezi-Aufstand 2013 hat im Nahen und Mittleren Osten ein. der türkischen Regierung nochmals Als Transitland der Flüchtlingsströ- deutlich vor Augen geführt, daß me aus Syrien, Irak und Afghanistan große Teile der Zivilgesellschaft hat sich die Türkei zudem für das nicht gewillt sind, auf die säkularen EU-europäische Krisenmanagement Errungenschaften von Modernität so unverzichtbar gemacht, daß sich und demokratischen Grundrechten, seine Regierung in einer starken Ver- die in den kemalistischen Zeiten vor handlungsposition gegenüber Brüs- allem von seiten der Gewerkschaften sel und Berlin befindet. Ohne eine und linker Befreiungsbewegungen durch Kontingente und soziale Se- mit hohen Blutzoll erkämpft wurden, lektion regulierte Zuwanderung von zugunsten einer neoosmanischen ErFlüchtlingen nach Europa drohen die mächtigungspolitik zu verzichten. Hegemonialstellung und Handelspo- Der kurdische Freiheitskampffür das litik der Bundesrepublik Schaden in Recht auf eine eigene Sprache und Seite 8 www.schattenblick.de Kultur sowie die Autonomiebestrebungen auf kommunaler Ebene in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Regionen des Landes stellen für den türkischen Staat eine unversöhnliche Herausforderung dar. Obwohl der auf Imrali inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan in seiner letztjährigen Newrozbotschaft die Guerilla aufgefordert hatte, auf einem eigens einberufenen Kongreß die militärischen Auseinandersetzung innerhalb der Türkei für beendet zu erklären, hat Ankara die ohnehin bis dahin schleppend bis verzögernd verlaufenden Gespräche mit der kurdischen Befreiungsbewegung einseitig abgebrochen. Es folgten massive militärische Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak. Zur Zerschlagung des kurdischen Gesellschaftsexperiments im nordsyrischen Rojava wurde der IS zudem mit Waffenlieferungen aufgerüstet und logistische Unterstützung geleistet. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 erhielt die AKP erstmals seit ihrem Regierungsantritt 2002 keine absolute Mehrheit. Mehr noch als dies war ihr ein Dorn im Auge, daß die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 13 Prozent die 10-Prozent-Hürde nahm und Erdogans AKP, die viele Stimmen an die ultrarechte MHP verloren hatte, keine Regierungsmehrheit bilden konnte. Bei den Neuwahlen am 1. November gelang es der AKP jedoch wieder, sich als alleinige Macht in der Türkei zu etablieren. Als in Teilen der kurdischen Städte im Südosten der Türkei wie Diyarbakir, Cizre, Silopi und Sirnak eine demokratische Autonomie ausgerufen wurde, verhängte die türkische Armee tage- und wochenlange Ausgangssperren, unterband die Wasser, Strom- und Lebensmittelversorgung und setzte die Telekommunikation aus. Hunderttausende Kurdinnen und Kurden wurden so in Kollektivhaft genommen. Im Zuge der Fr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Belagerungsoperationen wurden in einer landesweit durchgeführten Verhaftungswelle über 6000 Oppositionelle, darunter Gewerkschaftsmitglieder und Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisationen wie auch viele Mitglieder der HDP samt einiger Funktions- und Mandatsträger, festgenommen. Seitdem herrscht in der Türkei ein latenter Ausnahmezustand und das drohende Abgleiten in einen Bürgerkrieg. Die Entwicklungen der letzten Wochen deuten darauf hin, daß die AKP ein quasi-diktatorisches System einführen will, in dem die demokratischen Rechte ausgesetzt, die Pressefreiheit rigoros beschnitten und die Integrität der Gerichte weitgehend aufgehoben werden sollen. fehl. Mittlerweile wurden über 20 migrantische Linke mit Hilfe des 129b verurteilt, und das, wie im Fall von Nurham Erdem, zu Haftstrafen von bis zu 6 Jahren und 9 Monaten. mokratische Praxis anzuprangern, kaum vorhanden ist. Wenn politische Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie geflüchtete Menschen immer widerstandsloser unter die Räder exekutiver Ermächtigung geraten, dann werden Menschen, die sich jetzt noch in sicherer Entfernung zu den Brandherden sozialer Verrohung und Zerstörung wähnen, im Ernstfall erst recht allein dastehen. Die Rote Hilfe e.V., die sich um die Interessen der politischen Gefangenen kümmert, fordert daher, die Verfolgungsermächtigungen gegen die PKK und andere revolutionäre türkische Gruppierungen hier in Deutschland einzustellen, das seit 1993 bestehende PKK-Verbot aufzuheben Anmerkung: und die Partei von der EU-Terrorliste zu streichen. Am 18. März, dem [1] REPRESSION/1520: Solidarität Aktionstag für die Freiheit der poli- mit den politischen Gefangenen! (SB) tischen Gefangenen [1], ist auch die- http://www.schattenblick.de/infoses Jahr festzustellen, daß politische pool/politik/kommen/repr1520.html Repression ein eher zu- als abnehmendes Problem auch in der Bunhttp://www.schattenblick.de/ Wird dies selbst von CSU-Politikern desrepublik darstellt, während das infopool/politik/kommen/ aus durchsichtigen parteipolitischen öffentliche Interesse, diese antiderepr1523.html Gründen als rechtsstaatswidrig kritisiert, so sind die Berliner Regierungsparteien keineswegs bereit dazu, dem angeblich sicheren HerREPRESSION / FAKTEN / INTERNATIONAL kunftsland Türkei den Status eines Rechtstaates abzuerkennen. Die geostrategischen und migrationspolitiHonduras schen Implikationen des SchulterWeiterer Aktivist von COPINH ermordet schlusses mit der Türkei wiegen weit schwerer als der Anspruch der türkipoonal ­ schen und kurdischen ExilgemeinPressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen den in der Bundesrepublik auf Schutz vor politischer Verfolgung. So kam es kurz nach der Rückkehr (Tegucigalpa, 16. März 2016, ser­ mung drohe zudem zwei weiteren von Kanzlerin Merkel im Oktober vindiensa latinaonal) ­ Ein weite- Führungsmitgliedern von CO2015 aus der Türkei unter einem rer Aktivist des Komitees der in- PINH die Verhaftung durch die Großaufgebot der Polizei zur Durch- digenen Völker Honduras CO- Polizei. suchung eines kurdischen Vereins PINH ist am Dienstag, 15. März und mehrerer Privaträume in Dres- ermordet worden. García war ak- "Seit dem Mord an unserer Geden. Dabei wurde der Kurde Kenan tiv an Landbesetzungen im Gebiet nossin Berta Cáceres sind wir zum Bastu festgenommen. Vier Wochen Río Lindo beteiligt; just am selben Ziel vieler Vorfälle geworden, die später erfolgte die Verhaftung des Tag waren 150 Familien von der beweisen, dass der honduranische langjährigen Vorsitzenden der kurdi- Militärpolizei und der Spezialein- Staat überhaupt kein Interesse hat, schen Dachorganisation YEK-KOM, heit Cobras geräumt worden, be- unser Leben und unsere Arbeit zu Mustafa Celik, in Stuttgart. Beiden richtete das Portal Notiindigena. schützen", so COPINHA. "Wie wird Mitgliedschaft in einer auslän- García hatte mitgeholfen, die Hab- sollen wir den Ermittlungen des dischen terroristischen Vereinigung seligkeiten der geräumten Famili- Staates vertrauen, wenn die Fühnach Paragraph 129b vorgeworfen, en zu bergen und begab sich da- rung unserer Organisation krimiund auch hier liegen individuelle nach zu Verwandten nach Río Chi- nalisiert wird, indem ihre angebliStraftaten nicht vor. Der Verdacht, quito im Department Cortés. Dort che Verstrickung in den Mord unals Regional- oder Gebietsverant- tauchten zwei Killer auf und tersucht wird, während nicht gewortliche der PKK in Deutschland schossen ihm viermal ins Gesicht. gen die Urheber der Morddrohunzu fungieren, reichte für den Haftbe- Im Zusammenhang mit der Räu- gen ermittelt wird?" Fr, 18. März 2016 www.schattenblick.de Seite 9 Elektronische Zeitung Schattenblick Mörder von Cáceres weiter auf Konflikts aussehen zu lassen, statt freiem Fuß den Todesdrohungen nachzugehen, die Cáceres vor ihrer Ermordung erDer Umweltschützer Gustavo Castro halten hatte. Mit ihrem Verhalten Soto, Hauptzeuge der Ermordung "versucht die Regierung, Bertas Ander führenden honduranischen Um- denken und den beeindruckenden weltaktivistin Berta Cáceres, hatte Kampfzu untergraben, den COPINH zuvor angeprangert, dass sich die in all den Jahren zur Verteidigung Auftragskiller weiter auf freiem Fuß des Lebens, der Territorien und der befinden. Die Indígena-Sprecherin, Menschenrechte geführt hat", so CaUmweltschützerin und Vertreterin stro weiter. der Volksgruppe Lenca, war am 3. März in ihrem Haus im südwestlich Das Komitee der indigenen Völker gelegenen Department Intibucá in Honduras COPINH, dessen Vorsitz Honduras aus nächster Nähe er- Berta Cáceres innehatte, vertritt seit schossen worden. Jahren die Rechte der Volksgruppe der Lenca gegen das massive und In einem offenen Brief an seine rücksichtslose Vordringen der transFreund*innen und Mitkämpfer*in- nationalen Konzerne; nach Angaben nen erklärte Castro Soto, dass der Castros bekämpfen die Lenca derzeit Tatort manipuliert worden sei und den Ausbau von über 40 Wasserdass er in Honduras um sein Leben kraft-Projekten und Dutzenden fürchte. Der Regierung sei daran ge- Bergbauvorhaben an über 50 Stellen legen, die Ermordung der Aktivistin im Land mit dem Ziel, das Land ihals das Resultat eines persönlichen rer Vorfahren wiederzugewinnen und seine Schönheit so gut es geht zu bewahren. URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/weiterer-aktivist-von-copinh-ermordet/ * Quelle: poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.npla.de http://www.schattenblick.de/ infopool/repress/fakten/ rf0i0198.html SPORT / BOXEN / MELDUNG Crème de la Crème Vorschau auf ausgewählte Profikämpfe 26. März: Kell Brook gegen Kevin Bizier bis 7. Mai: Saul Alvarez gegen Amir Khan http://www.schattenblick.de/ infopool/sport/boxen/ sbxm1916.html Liste der neuesten und tagesaktuellen Nachrichten ... Kommentare ... Interviews ... Reportagen ... Textbeiträge ... Dokumente ... Tips und Veranstaltungen ... http://www.schattenblick.de/infopool/infopool.html Seite 10 www.schattenblick.de Fr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick MUSIK / REPORT / INTERVIEW In Szene und erzählt - "Die Andere", eine Oper ... Christoph Hein im Gespräch Die Andere von Sidney Corbett und Christoph Hein in Magdeburg Interview mit dem Librettisten der Oper, dem Schriftsteller Christoph Hein, vor der Uraufführung von Christiane Baumann, März 2016 (SB) ­ In Magdeburg wirft ein unge- wöhnliches Ereignis seine Schatten voraus: Am Freitag (18. März 2016) wird Die Andere, eine im Auftrag des Magdeburger Theaters komponierte Oper, als Uraufführung zu sehen und zu hören sein. Der Komponist ist der US-Amerikaner Sidney Corbett, dessen Orchester, Instrumental- und Vokalwerke international aufgeführt werden. Corbett lebt seit 1985 vorwiegend in Deutschland und hat in Mannheim eine Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst inne. Das Libretto für Die Andere schrieb Christoph Hein, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller, dessen neuer Roman Glückskind mit Va­ ter gerade in die Buchläden gekommen ist. Nach der Oper Noach, die 2001 in Bremen zur Uraufführung kam, ist es die zweite gemeinsame Arbeit von Corbett und Hein. Christoph Hein (CH): Ganz grundsätzlich: Ich arbeite eigentlich ganz gern übergreifend mit Künstlern zusammen, auch mit der bildenden Kunst, mit Bildhauern, das ist immer etwas sehr Anregendes. Insofern bin ich gerne mit Komponisten, mit Sängern, mit anderen Künstlern zusammen. Es ist einfach das Anregende das für mich Entscheidende dabei. SB: Es ist Ihre zweite gemeinsame Arbeit mit Sidney Corbett, was spricht Sie an seiner modernen Musik, seinem Kompositionsstil besonders an? CH: Seine Musik ist tonal. Ich arbeite noch mit einem lateinamerikanischen Komponisten zusammen, der auch modern ist, aber im tonalen Bereich bleibt. Atonale Musik hat möglicherweise ihren Rubikon, ihren Höhepunkt überschritten. Ich weiß es nicht, aber mit dieser Art Musik von Christiane Baumann traf Christoph Corbett komme ich sehr gut zurecht. Hein vor der Uraufführung in Magdeburg. SB: Für die Oper Noach war Ihre Erzählung Ein älterer Herr, federleicht der Auslöser. Sidney Corbett las darSchattenblick (SB): In Ihrem Roman über und regte die Zusammenarbeit Weiskerns Nachlass spielt der Libret- an. Der Anstoß für die neue Oper kam tist Mozarts, Friedrich Wilhelm Weis- von Ihnen. Wie kamen Sie auf das Sukern, eine Rolle, eine Ihrer Erzählun- jet? gen heißt Der Tangospieler. Dann gibt es da die Zusammenarbeit mit Hans- CH: Es ist immer zuallererst die GeEckhardt Wenzel, die zwei CDs her- schichte, der Einfall, um den es geht. vorbrachte, Masken und Das erste Das war ganz spannend. Die Ehefrau Buch Homers. Korrekturen, schließ- legt dem Ehemann eine andere Frau lich Opern-Libretti. Was reizt Sie an ins Bett, da dachte ich, das könnte der Verbindung von Literatur und was ergeben. Dann ist der nächste Musik? Punkt zu schauen, was das für eine Fr, 18. März 2016 Geschichte ist. Ich schreibe Romane, ich schreibe Theaterstücke, und ich habe schon einige Libretti geschrieben. Insofern prüfe ich, wofür es am geeignetsten ist, mit welchen Mitteln kann ich es am besten erzählen. Das schien mir hier am geeignetsten zu sein. www.schattenblick.de Szenefoto "Die Andere" ­ Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg Roland Fenes als Abraham und Julie Martin du Theil als Hagar Foto: © 2016 by Nilz Böhme SB: Mythisches spielt in Ihrem gesamten Schaffen eine Rolle. 2013 erschien der Erzählband Vor der Zeit. Korrekturen, in dem Sie die griechischen Mythen neu erzählen. Woher rührt Ihr Interesse am biblischen Stoff? Seite 11 Elektronische Zeitung Schattenblick CH: Ich kenne die Bibel und gerade das Alte Testament auswendig. Sie brauchen nur ein paar Zeilen in der Luther-Übersetzung zu nennen und ich kann Ihnen sofort sagen, wie es weitergeht. Die habe ich einfach oft gelesen, weil es gute Geschichten sind, so wie ich mich mit den griechischen Mythen gut auskenne und den lateinischen, mit den deutschen nicht so sehr. Der deutsche Mythos, Wotan und Genossen, ist eigentlich ziemlich langweilig. Ich finde auch, die Libretti für die großen Wagner-Opern haben überhaupt nicht den Reichtum, jetzt rede ich natürlich nicht von der Musik, ich rede von der Geschichte. Da gibt es immer Gut und Böse, alles genau zugeordnet. Das ist in den anderen Mythen ganz anders. Die Abraham-Geschichte in der Bibel hat eine enorme Brutalität. Diese Geschichte von Sara und Hagar, das sind Sachen, die man keinem Kind erzählen kann, und wenn in einer Familie so etwas passiert, dann wird heftig darüber gestritten, aber nicht vor Kindern, das ist schon eine spannende Geschichte. SB: Was hat Sie gerade an der Geschichte von Abraham und Sara gereizt? CH: Gerade das Alte Testament erzählt sehr harte, brutale Geschichten, das ist nichts für Kinder und nichts für die Spinnstuben der Mägde, das ist schon ein ziemlich genauer Bericht über das Leben. Und das war mir ganz klar, als ich Sidney Corbett diesen Stoffvorschlug. Ich sah die Moderne dabei. Ich kenne noch solche Bauernhöfe. Mein Großvater war in Schlesien Inspektor eines riesigen Gutshofs. Nach dem Krieg war er hier in Sachsen-Anhalt. Er war staatlicher Leiter von einem riesigen Gut, das sogar einen eigenen Dorfnamen hatte. Und in diesem Stil müsste man sich das auch bei Abraham vorstellen. Er war ein mächtiger Mann, ein großer Herrscher und das bedeutete damals, dass er einen besonders großen Hof hatte. Insofern waren diese Geschichten, das fand ich sehr schnell für mich heraus, sehr modern. Es sind fast zwei Seite 12 Hundertjährige, die da ein Kind zeugen, Sara und Abraham. Das ist zwar etwas verwunderlich, aber wir erleben das ja gerade mit der Medizin, dass das alles wunderbar geht, und die Frauen werden ja inzwischen auch schon aufgefordert, die Eier einfrieren zu lassen und dann, wenn sie beruflich die Zeit haben, so um die 60, die Kinder zu kriegen. Wir nähern uns auch da wieder dieser alten Bibel. Und dann diese Geschichte: Die Frau legt dem Mann die Magd, die ihr Untergebene, ins Bett, ungern, aber sie bekommt ein Kind. Kein Kind zu haben, ist für Abraham die große Katastrophe. Wer keinen Erben hat, der ist von den anderen gierigen Nachbarn bedroht. Das haben wir auch bei großen Dynastien der Politik und der Wirtschaft. Es muss immer irgendwie ein Sohn her oder es müssen dann die Gesetze geändert werden, damit die Frau Regentin wird, was aber immer schwierig ist. Sara weiß, ohne Kind wird sich Abraham scheiden lassen. Das war übrigens noch Anfang des 20. Jahrhunderts in landwirtschaftlich geprägten Regionen Deutschlands ganz üblich. Da heiratete der reiche Erbe eine Frau zur Probe und das wurde von der Katholischen Kirche toleriert. Wenn das Mädchen nach einem Jahr kein Kind hatte, wurde sie entlassen und die nächste kam dran, denn das Erbe war viel zu wichtig, wegen der Macht. Und schließlich: Hagar wird schwanger und kaum ist sie schwanger, wird Sara auch schwanger. Auf ihr lastete jahrzehntelang der Druck, sie sollte gefälligst den Thronerben gebären. Auf einmal löst sich der Zwang und in dem Moment kann sie schwanger werden. Auch da würde die moderne Psychologie zu dieser Bibel-Geschichte nur beifällig nicken. Insofern bleibe ich ganz dicht an der Bibel, aber den Zug zu meinem Track, zu meinem Hier, das war mir, auch beim Noah-Stoff immer ganz wichtig. SB: Wird durch die politische Ebene, durch den Bruder Nachor und den Ältestenrat, in Ihrem Libretto nicht der alttestamentarische Mythos korriwww.schattenblick.de Szenefoto "Die Andere" ­ Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg v.l.n.r. Julie Martin du Theil als Hagar und Undine Dreißig als Sara Foto: © 2016 by Nilz Böhme giert, das heißt knallhart ökonomisch erzählt? CH: Es gibt Erweiterungen, aber Nachor ist original. Ich leiste mir da keine Dreistigkeiten. Wenn wir ein paar religiöse Verbrämungen wegnehmen, ist das in der Bibel auch knallhart ökonomisch erzählt. Das ändert sich im Neuen Testament. Das ist das Gründungdokument einer Religion mit der entsprechenden Aufforderung des Wohlverhaltens, was zu Gründungsdokumenten von Religionen und Ideologien dazugehört. Das Alte Testament erzählt hingegen Geschichten, wie das Leben abgelaufen ist, natürlich immer zeitgemäß. Vor tausend Jahren waren Blitz und Donner mit einem Gott verbunden, man konnte sich das ja nicht anders vorstellen. Der Gott ist immer dabei, aber das hat natürlich etwas mit der nicht ausreichenden Welterkenntnis zu tun. Insofern ist im Alten Testament Gott immer dabei, aber die Geschichten laufen nur unter den Menschen ab und ich suche nach dem Kern, nach dem Funken Wahrheit in diesen Mythen. Fr, 18. März 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick SB: Sie nennen die Oper Die Andere, mal nach oben, mal nach unten, mal was auf Hagar, die ägyptische Magd zur Seite. Zur Zeit habe ich keinen Saras zielt, warum? guten Eindruck, von der Welt, aber speziell auch von Deutschland. Einer CH: Hagar ist nicht nur die Magd, sie der Elder Statesmen sprach unlängst ist die Fremde, die Ausländerin, die von Weimarer Zuständen, die wir Unerwünschte, und wir haben ja in jetzt hier in Deutschland bekommen. Deutschland gerade mit den Anderen Das ist schwierig. Der Wunsch nach viel zu tun. Sie ist vielfältig, diese einer menschlichen Gesellschaft wird Andere. Sie ist die andere Frau, die nicht aufhören. Da gehört das Scheizweite, aber die nicht aus dem Land tern auch dazu, aber ich glaube nicht, ist, die man auch wieder vertreiben dass der Wunsch danach, das Bestrewill und die weg soll. Als sie unver- ben und auch die einsetzenden Kämpschämt werden will, wird sie verjagt, fe aufhören. also sie ist die Andere. Sie gehört nicht dazu. SB: Ein Kompositionsauftrag für eine neue Oper ist ein Ereignis, brauSB: In Ihrem geradezu legendär ge- chen wir überhaupt noch moderne wordenen Stück Die Ritter der Tafel­ Opern, haben sie eine Zukunft? runde von 1987 bedeutete das Ende einer Idee immer zugleich die Geburt CH: Wenn ich mir die Spielpläne der einer neuen. In Die Andere ist am En- deutschen Opernhäuser anschaue, de die "Ordnung" wieder hergestellt, dann würde ich sagen: Das hat keine das heißt Unterdrückung, Ausbeu- Zukunft. Wenn die mal eine neue motung, Sklaverei. Hat sich aus Ihrer derne Oper spielen, ist sie garantiert Sicht seit Abrahams Zeiten nichts mindestens hundert Jahre alt. Was vor verändert? hundert Jahren komponiert wurde, gilt heute als gewagt. Die OpernhäuCH: Ich verstehe Ihren Pessimismus, ser haben sich ein bisschen auf Häneine Spirale wahrscheinlich. Es geht del, Mozart und Telemann geeinigt, viel mehr will man nicht haben, also es ist schwierig. Andererseits ist, was schon Hegel und Goethe an der Oper loben, dieses Zusammenführen der verschiedenen Künste, das ist schon ein großer Heizpunkt, der da vor Hunderten von Jahren entstanden ist, aus Anfängen, die tausende von Jahren zurückliegen. Die Oper ist ein ganz besonderer Höhepunkt. Insofern denke, hoffe ich, dass das nicht aufhört. Wir haben da ja auch Nebenstrecken, die später entstanden sind, die Operette oder das Musical, die sich zwar mehr ans Publikum anschmeißen, aber auch wunderbar sind. Irgendwie gibt es da ein Bedürfnis im Publikum nach dem Zusammenklang der Künste. Deshalb habe ich bei allen Schwierigkeiten Hoffnung. Ich selber schreibe ununterbrochen Libretti. Premiere: 18. März 2016, 19.30 Uhr Theater Magdeburg, Schauspielhaus/Bühne Die Andere Uraufführung Kammeroper von Sidney Corbett Libretto von Christoph Hein Kompositionsauftrag des Theaters Magdeburg Musikalische Leitung: Michael Wendeberg Regie/Bühne: Ulrich Schulz Kostüme: Falk Bauer Dramaturgie: Ulrike Schröder Weitere Vorstellungen: Szenefoto "Die Andere" ­ Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg v.l.n.r. Paul Sketris, Kai Preußker und Kim Schrader als die drei Räte, Manfred Wulfert als Nachor und Roland Fenes als Abraham Foto: © 2016 by by Nilz Böhme Fr, 18. März 2016 www.schattenblick.de So. 27. 3. / Do. 7. 4. / Sa. 14. 5. 2016, jeweils 19.30 Uhr, Theater Magdeburg, Schauspielhaus/Bühne http://www.schattenblick.de/ infopool/musik/report/ muri0052.html Seite 13 Elektronische Zeitung Schattenblick ______I n h a l t_____________________________________Ausgabe 1767 / Freitag, den 18. März 2016____ BÜRGER - REPORT SCHACH-SPHINX POLITIK - AUSLAND POLITIK - KOMMENTAR REPRESSION - FAKTEN MUSIK - REPORT DIENSTE - WETTER Das Anti-TTIP-Bündnis - der Kriegsführung entlehnt ... Uwe Hiksch im Gespräch Arabischer Fatalismus Brasilien - Massendemonstrationen fordern Rücktritt der Mitte-links-Regierung (poonal) Linke Exilorganisationen durch deutsch-türkische Flüchtlingsabwehr gefährdet Honduras - Weiterer Aktivist von COPINH ermordet (poonal) In Szene und erzählt - "Die Andere", eine Oper ... Christoph Hein im Gespräch Und morgen, den 18. März 2016 Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite 1 5 6 7 9 11 14 DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN Und morgen, den 18. März 2016 +++ Vorhersage für den 18.03.2016 bis zum 19.03.2016 +++ © 2016 by Schattenblick IMPRESSUM Morgennebel öffnen Fenster und entlassen in den Tag alle müden Nachtgespenster, die nur Jean-Luc wirklich mag. Elektronische Zeitung Schattenblick Diensteanbieter: MA-Verlag Helmut Barthel, e.K. Verantwortlicher Ansprechpartner: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Elektronische Postadresse: [email protected] Telefonnummer: 04837/90 26 98 Registergericht: Amtsgericht Pinneberg / HRA 1221 ME Journalistisch-redaktionelle Verantwortung (V.i.S.d.P.): Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth ISSN 2190-6963 Urheberschutz und Nutzung: Der Urheber räumt Ihnen ganz konkret das Nutzungsrecht ein, sich eine private Kopie für persönliche Zwecke anzufertigen. Nicht berechtigt sind Sie dagegen, die Materialien zu verändern und / oder weiter zu geben oder gar selbst zu veröffentlichen. Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. 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