5 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr Auf der Suche nach Merkmalen, die den normal und den krankhaft funktionierenden Darm voneinander unterscheiden, kam Mayr zu den Phänomenen des Tonus. Spannkraft oder Tonus besitzt jedes Lebewesen. Auch die Pflanze drängt und wendet sich kraftvoll nach der Sonne; der niedergetretene Grashalm richtet sich durch seine Spannkraft wieder hoch; ebenso geschmeidig widersteht der Baum Sturm und Wetter. Der abgebrochene Zweig hingegen hängt schlaff, welk herab, weil er Tonus und Leben verloren hat. Auch am Menschen lässt sich ein Tonus leicht erkennen. Der Gang und die Haltung des trainierten, gut tonisierten Athleten sind klar von denen des kränklichen, krummrückigen, tonusarmen Stubenhockers zu unterscheiden. Die Leiche besitzt keinen Tonus. Kein Anatom und kein Pathologe setzte sich daher mit dem vitalen Tonus wissenschaftlich auseinander. Das Geheimnis des Tonus ist eine Frage des Lebens. Es kann vom Toten nicht erfragt werden. Mayr war hier auf eigene Forschung angewiesen. Lehrreicher Fall Da kam eine 30-jährige Frau mit hochgradiger Enteroptose zu ihm. Sie hatte mehrere Schwangerschaften hintereinander durchgemacht. Ihre Bauchhaut war papierdünn, die Konturen von Magen, Dünnund Dickdarm waren deutlich erkennbar. Der Magen hing weit unter den Nabel, der Querdarm bis zur Symphyse hinunter. Hier konnte Mayr wie im Bilderbuch die Wirkung seiner manuellen Bauchbehandlung beobachten. Schon nach wenigen Minuten zarten Drückens und Einwirkens auf die Gedärme rückten Magen und Querdarm um eine Handbreite höher, verkleinerten sich und zeigten offenkundig Verbesserung ihres vordem elenden Tonus. Überraschend war auch, dass es nach der Behandlung nicht möglich war, die Gedärme wieder in ihre vorige gesenkte Lage zurückzuziehen. Sie entglitten jedes Mal federnd der herabziehenden Hand und „turnten“ sich sogleich wieder in ihre neue Position zurück, die sie nun aktiv, unbeeinflussbar aufrechterhielten. Dieser Zustand verbesserte sich im Laufe der nächsten Wochen noch weiterhin durch die gleichzeitig durchgeführte Schon- und Reinigungskur des Verdauungsapparates. Die Lehre aus diesem und anderen ähnlichen Fällen zwang Mayr, alles Gelernte über die Ursache der Enteroptose zu revidieren. Magerkeit, Erschlaffung und Überdehnung der Bauchdecken waren demnach nicht die Ursache, sondern nur eine mögliche Begleiterscheinung der Eingeweidesenkung. Mayr hatte mit seiner manuellen Therapie ja weder Gewicht noch Bauchdecken verändert, wohl aber die Ptose deutlich vermindert! Als verantwortlich für Entstehung und Rückbildung der Senkung erwies sich der Tonus allein! Nachforschungen ergaben: 1. Die topographische Lage des gesunden Magens, Dünn- und Dickdarms wird – abgesehen von ihren Fixationsvorrichtungen – von ihrem Tonus bestimmt; 2. die Formen, Längen, lichten Weiten aller Hohlorgane hängen von ihrem Tonus ab; 3. gesunde Gewebe oder Organe besitzen gesunden Tonus (Normtonus), kranke Gewebe hingegen abnormen Tonus (Hyper-, Hypo-, Atonus). Der Tonus stellt ein Kriterium für die augenblicklich vorherrschende Gesundheitssi- 29 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Wir lernen vom Leben doch mehr als von den Dozenten. Von Bergmann 5 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr tuation eines Gewebes dar: Je besser der Tonus, desto besser der Zustand; je schlechter der Tonus, desto schlechter der Zustand. Wirkt eine Noxe in ausreichender Stärke und Dauer auf ein Gewebe ein, so treten die folgenden Reaktionsstufen auf: 5.2.1 das Exzitations- oder Erregungsstadium Entstehung abnormer Tonuszustände Es sind vor allem die im kranken Verdauungsapparat entstehenden Gifte, die den Tonus verändern, die Gesundheit untergraben und den Menschen krank, vorzeitig alt und hässlich machen. F. X. Mayr Der Tonus hängt ab: 1. Vom eigenen Gewebetonus, dem so genannten plasmatischen oder Autotonus und 2. vom zugehörigen vegetativen Nervensystem. Beide Faktoren können tonusverändernd beeinflusst werden. Mechanisch-physikalisch und chemisch-toxisch angreifende Noxen können direkt, etwa vom Lumen eines Hohlorgans auf diese einwirken; oder indirekt, hämatogen, lymphogen oder neural den Tonus über vegetative Schaltstellen verändern. Die Veränderungen erfolgen je nach Art der Noxe, Toxizität, Menge und Dauer der Einwirkung. Sie richten sich stets nach dem Gesetz der Ablaufstufen der Intoxikation. 5.2 Ablaufstufen der Intoxikation Die Abwehr der Gifte durch das „Fließsystem Organismus“ ist das, was wir als „Krankheit“ bezeichnen. H. H. Reckeweg 30 5.2.2 das Paralyse- oder Lähmungsstadium 5.2.3 das Atrophie- oder Degenerationsstadium 5.2.4 der Tod 5.2.1 Das Exzitations- oder Erregungsstadium Hier zeigt sich ganz allgemein das Anfangsbild einer akuten Vergiftung oder einer akuten Infektionskrankheit mit Aufbäumen aller Abwehrkräfte: Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, übersteigerte Tätigkeit der Ausscheidungsorgane, etwa Durchfälle, Harnflut, Auswürfe, Schweißausbrüche usw. Hierher gehören auch die Einleitungsphase der Narkose und das Anfangsstadium der Alkoholvergiftung mit enthemmtem Sprechen, Singen, Schreien, Raufen, Randalieren usw. Analog ist das Bild beim lokalen toxischen Angriff auf ein Gewebe oder Organ. Auch dieses gerät in Übererregung, Übersteigerung. Der Normotonus geht in Hypertonus über. Kontraktion oder Spasmus tritt auf. Pupillen werden eng, Hohlorgane krampfen sich zusammen, Krämpfe oder Überfunktionen prägen das Bild. Die Gesichtshaut kontrahiert sich zur Facies spastica (siehe S. 84), die Körperhaut zur Cutis anserina (Gänsehaut), die Muskulatur zum Schüttelfrost, Mund und Lippen werden eng und schmal, die Haut erblasst durch Kapillarkontrak- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.1 5.2 Ablaufstufen der Intoxikation Mit Beendigung der Toxineinwirkung tritt wieder das Normalstadium ein, der Hypertonus wird zum Normotonus. Bei weiterer Gifteinwirkung folgt hingegen: 5.2.2 Das Paralyse- oder Lähmungsstadium 5.2.3 Das Atrophie-, Degenerationsoder Verkümmerungsstadium Es entsteht aus den vorigen Stadien durch besonders intensive oder besonders lang anhaltende Gifteinwirkung. Während aber die bisherigen Stadien sich noch diesseits des „biologischen Schnittes“ (Reckeweg) [11] befinden, d. h. diesseits einer Grenze, bis zu der jede Intoxikation weitgehend reversibel bleibt, stehen die Schäden des Atrophiestadiums bereits jenseits dieser Grenze. Sie sind großteils irreversibel: nicht mehr rückbildungsfähige, degenerative Prozesse aller Art, Verminderung der Gewebesubstanz, Gewebeschwund bis Organschrumpfung. In den Geweben geht der Hypotonus in Atonus über. Hier bewirkt das Gift bereits Erschlaffungsbis Lähmungserscheinungen. Der Kranke liegt kaum oder nicht ansprechbar, reaktionsarm bis reaktionslos, erschöpft, schlaff, apathisch, somnolent, bewusstseinsgetrübt bis bewusstlos darnieder. Dies entspricht in der Narkose dem Lähmungsstadium mit Erschlaffen der Muskeln und Nachlassen bis Schwinden der Reflexe. Der Patient liegt in tiefer Betäubung am Operationstisch. Bei der Alkoholvergiftung zeigt sich in diesem Stadium das Bild des Vollrausches: Der Betrunkene liegt „stockhagelbesoffen“ am Steinboden, ohne es zu wissen. Die hypotonen Hohlorgane, Magen, Darm, Gallenblase usw. werden zu atonischen, nahezu formlosen, weiten, sackartigen Gebilden; Schleimhäute degenerieren zur Atrophie, die Haut wird immer dünner, substanzärmer bis zum Extrem der papierdünnen, pergamentartig zerknitterten Facies atrophicans plicatissime plicata (siehe Abb. 58, S. 90). Analog ist die lokale Gifteinwirkung auf ein Gewebe: Der Hypertonus geht in Hypotonus über. Verengung und Übererregung weichen Erschlaffung und Untererregung, Reaktionsarmut bis Lähmung. Pupillen werden ganz weit, Hohlorgane erweitern ihr Lumen, Gewebe werden schlaff, weit, träge, etwa wie der Darm bei schlaffer Obstipation. Die blasse Haut kann hochrot bis blaurot werden, da die Kapillaren erschlaffen, die Zirkulation verlangsamt, der Sauerstoffgehalt sinkt. Die Haut wird trocken (Lähmung der Schweißdrüsen), die Haare werden matt und trocken (Lähmung der Talgdrüsen) usw. Das Stadium der Atrophie entsteht sehr langsam im Sinne eines allmählichen degenerativen Verkümmerungsprozesses. Ein Gewebe wird nicht in seiner Gesamtheit schlagartig betroffen, sondern es verkümmern nur Anteile davon. Die übrigen Anteile halten eine Restfunktion aufrecht. Dem Grad des Ausfalles entsprechend zeigen sich verschiedene Grade der Atrophie. Mayr lehrt, 3 Grade der Atrophie voneinander abzugrenzen. Jene Gewebeanteile, die bereits degeneriert sind, regenerieren sich kaum mehr, jedoch ist noch eine Zustandsverbesserung über die nicht degenerierten Anteile möglich. Wirken jedoch wei- 31 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. tion, klebriger Schweiß tritt auf (Übererregung der Schweißdrüsen), Haare stehen zu Berge (Übererregung der Mm. erectores pili) usw. Die Tonuslehre nach F. X. Mayr terhin Noxen auf die Gewebe ein, dann gelingt es nicht, den Verkümmerungsprozess aufzuhalten. Die Funktionen der Organe werden zunehmend insuffizienter, die Produktion der Drüsen versiegt, der Zustand geht unaufhaltsam über in den Tod. * Bei Feststellung von Normotonus: im untersuchten Bereich keine Toxineinwirkung, normaler Gesundheitszustand, normale sensibel-vegetative Situation („Normosensibilität“), und daher auch normale Funktion (Normomotorik, Normosekretion). * Bei Feststellung von Hypertonus: im untersuchten Bereich toxisch bedingtes Exzitationsstadium, somit Hypersensibilität mit übererregten, übersteigerten, unökonomischen Reizfunktionen (Hypermotorik, Hypersekretion) * Bei Feststellung von Hypotonus: im untersuchten Bereich toxisch bedingtes paralytisches Stadium, somit Hyposensibilität mit verlangsamt-verzögerter, unökonomischer Funktion (Hypomotorik, Hyposekretion). * Bei Feststellung von Atonus: im untersuchten Bereich Asensibilität mit beträchtlich herabgesetzten bis insuffizienten oder fehlenden Funktionen (Amotorik, Asekretion). 5.2.4 Der Tod Er folgt auf jede genügend hohe und lange genug einwirkende Toxinmenge. Die Reihe sämtlicher Ablaufstufen der Intoxikation ist daher schematisch (siehe untenstehendes Schema). 5.3 Diagnostische Konsequenzen Gesundheit ist Freisein von Giften und Giftschäden. H. H. Reckeweg Besitzt ein Gewebe normalen Tonus, so bedeutet das, dass seine tonusbeeinflussenden sensiblen Reizrezeptoren und seine segmentzugehörigen vegetativen Nerven gesund sind, d. h. frei von schädigenden Einwirkungen. Daraus ergeben sich folgende Zusammenhänge: 1. Normalzustand ! 2. Exzitation einhergehend mit mit HyperNormotonus tonus Die Feststellung des Tonus erfolgt besonders einfach an der Haut (siehe Humoraldiagnostik!) und an den Hohlorganen. Auf den Verdauungskanal bezogen bedeutet dies in schematischer Darstellung (siehe S. 33). ! 3. Paralyse mit Hypotonus 4. Atrophie ! 5. Tod ! mit Atonus vorwiegend irreversibel |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} reversibel reversibel biolog. Schnitt (Reckeweg) 32 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 Tonus des Verdauungskanals und Entzündung Normotoner Darm Normalstadium Hypertoner Darm Exzitationsstadium Hypotoner Darm Paralyt. Stadium Atonischer Darm Atrophie-Stadium normosensibel normomotorisch normosekretorisch optimale Form und Funktion hypersensibel hypermotorisch hypersekretorisch Form verengt Reizperistaltik bis spast. Obstipation hyposensibel hypomotorisch hyposekretorisch schlaff erweitert träge Peristaltik Inhaltsvermehrung Speisenzersetzung asensibel amotorisch asekretorisch sackartig aufgetrieben stagnier. Inhalt Zersetzungsprozesse Abb. 16: Tonusschema am Darmtrakt. 5.4 Tonus des Verdauungskanals und Entzündung Der Darm ist der Vater aller Trübsal. Arabisches Sprichwort Finden in einem Verdauungsabschnitt Zersetzungsprozesse statt, dann gerät dieser Abschnitt als Folge der Toxineinwirkung in das Stadium der Exzitation: Er wird zum hypertonen engen Rohr. Hält die Toxineinwirkung längere Zeit an, so gesellen sich zum Hypertonus noch die Zeichen der Entzündung hinzu: Intensive Durchblutung (Rubor) und Erwärmung (Calor), Schwellung der Schleimhaut (hier „Tumor“), Schmerz oder Druckschmerz (Dolor) und gestörte Funktion (Functio laesa). Außerdem nimmt die entzündete Region eine Schutzstellung ein. Wie ein Gelenk, dessen Synovia entzündet ist, durch gleichmäßige Kontraktur der Beuger und Strecker eine schützende Mittelstellung einnimmt, so fixiert der entzündete Verdauungsschlauch durch gleichzeitige Innervation der Längsund Ringmuskulatur sein Lumen auf so genannte starre (spastische) mittlere Weite. Auf diese Weise wird die geschwollene empfindliche Schleimhaut am besten geschützt. Mayr: „Mittelstellung eines Darmes heißt dauernde spastische Einstellung seines Lumens auf mittlere Weite als Zeichen entzündlicher Veränderungen seiner Schleimhaut.“ Gleichzeitig retrahiert sich der entzündete Abschnitt aktiv in eine schützende Lage im Bauchraum, möglichst nahe an seine Fixationsstellen an der hinteren Leibeswand. Dadurch entstehen die harten, entzündlichen Bauchformen. In den Entzündungszustand können auch hypo- bis atonische Abschnitte des Verdauungstraktes gelangen. Bei letzteren kontrahieren sich die restlichen noch nicht er- 33 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.4 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr schlafften elastisch-muskulären Elemente zur Einnahme einer Mittelstellung. Als Resultat entstehen dadurch Mischbilder von Erschlaffung mit partiellen hypertonen Kontrakturen. Jeder entzündete zeigt: Verdauungsabschnitt 1. Abwehrspannung (Défense) in seinem Bauchdeckensegment, 2. Härte durch die organeigenen hypertonen Schutzstellungskontrakturen (spastische Mittelstellung), 3. verminderte Umgreifbarkeit und Bewegbarkeit des entzündeten Organs, umgebende Lymphstauung (Radixbzw. Mesokolonödem), 4. Druckschmerz. Mit einiger Übung lassen sich nicht nur diese 4 Entzündungskriterien feststellen, sondern auch, ob ein leichter, mittlerer, stärkerer oder besonders schwerer Entzündungsgrad vorliegt. Der jeweilige Entzündungsgrad kann dann mit den Ziffern 1 – 4 bezeichnet werden, z. B. „Jejunitis 3“ bedeutet stärkerer Entzündungsgrad im Bereiche des Jejunums. Knapp oberhalb entzündlich veränderter Verdauungsabschnitte pflegt der Organismus auf reflektorischem Wege einen Schutzspasmus herzustellen. Dieser sorgt dafür, dass die kranke Region geschont wird, weil vom oral befindlichen Darminhalt so lange nichts oder nur wenig weitertransportiert werden kann, bis sich der Spasmus wieder löst (Veto nach oben). Die Mehrzahl aller Entzündungen des Magens entsteht auf folgende Weise: Befindet sich eine besondere „Wetterecke“ des Verdauungsapparates, nämlich das Duodenum, im Entzündungszustand, dann tritt zu seinem Schutz ein Pylorospasmusauf.AlsFolgemussder vom Magen weiter zu transportierende Mageninhalt oft längere Zeit liegenbleiben, was schließlich zur Inhaltszersetzung und Schleimhautreizung führt. Es entsteht nach Mayr die „sekundäre Gastritis“, sekundär, da sie aufgrund des primär erkrankten Duodenums verursacht wird. Diese Patienten klagen über zu lange Verweildauer der Speisen im Magen, über Aufstoßen von Luft, Speiseresten, Säure und Völlegefühl. Die „primäre Gastritis“ hingegen wird durch primäre Schädigung des Magens bewirkt, durch schlechtes Kauen, eiskalte Getränke usw. Normotoner Darm Hypertoner Darm ohne Entzündung Hypertoner Darm mit Entzündung weich elastisch, beweglich, leicht umgreifbar, druckschmerzlos kontrahiert, eng, bis knorpelhart, druckschmerzlos, ohne Schwellung der Schleimhaut harte spastisch kontrahierte Mittelstellung, Schleimhautschwellung, Druckschmerz, Défense Abb. 17: Querschnittschema: Hypertoner Darm ohne und mit Entzündung. 34 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 5.5 Die intestinale Autointoxikation Die intestinale Autointoxikation Kranker Darm – krankes Blut – kranker Mensch. H. Weiss 1887 prägte der Franzose C. Bouchard den Begriff der intestinalen Autointoxikation [12]. Zahlreiche namhafte Kliniker bestätigten seither seine Entdeckungen. Bouchard erkannte, dass das, was von der aufgenommenen Nahrung nicht rechtzeitig restlos fermentativ abgebaut oder ausgeschieden wird, im Darm der bakteriellen Zersetzung anheim fällt. Dadurch entstehen aus essenziellen Aminosäuren Fäulnisgifte, wie die biogenen Amine Indol, Phenol, Kresol, Skatol, die sich mit der Indikan- und Xanthoproteinreaktion im Stuhl feststellen lassen. Sie sind aber auch im Harn und im Blut nachzuweisen. Dies lässt zweifelsfrei erkennen, dass die genannten Noxen nicht isoliert im Darmlumen verbleiben, sondern auch in die Blut- und Lymphwege penetrieren und den gesamten Organismus toxisch belasten können. Der Pathologe Büngeler wies sogar nach, dass diese Fäulnisgifte kanzerogen wirken und in Tierversuchen zur Entstehung von Leukämien und Lymphosarkomen führen [13]. Gutzeit [14] wieder zeigte auf, dass bei Entzündung des Dünndarms die bei der Spaltung und Fermentation der Ingesta freiwerdenden Zwischenprodukte häufig mangelhaft entgiftet und unzureichend weiterbefördert werden. Dadurch gelangen bestimmte resorbierbare Stoffe zu schnell und bestimmte andere, nicht zur Resorption geeignete Stoffe ungehindert in die Säftebahn. Damit erkannte Gutzeit (später als Mayr, aber unabhängig von ihm), dass der gesunde Dünndarm die erste und wichtigste Schranke gegen intestinal entstehende Noxen darstelle. Gut- zeit: „Warum der Magen-Darm-Kanal als Focus morbi bisher so wenig Beachtung, die Tonsillen und Zähne aber fast eine Überbewertung erfahren haben, ist mit Vernunftgründen kaum zu belegen.“ Becher kam in seinen Studien über die intestinale Toxikose zu gleichen Resultaten. [15] Besonders aufschlussreich erwiesen sich die Arbeiten von Prof. Pirlet und seinen Mitarbeitern vom Klinikum der Universität Frankfurt/Main. Sie konnten die Behauptung Mayrs, im Darmtrakt entstünden durch Zersetzung von gärungsfreudiger Kost Alkohole, die eine Autointoxikation verursachen, durch gaschromatografische und massenspektrometrische Untersuchungen bestätigen. So ließ sich die Bildung der alkoholischen Gärungsgifte Methanol, n-Butanol und n-Propanol als Folge bakteriologischer Zersetzungsprozesse des Darminhaltes bei alkoholabstinent lebenden Personen im Stuhl, im Blut, im Harn, in der Atemluft und in der Körperausdünstung feststellen. [16, 17, 18, 19] Gibel schließlich bewies im Tierexperiment, dass die alkoholischen Gärungsgifte zytotoxisch, hepato- und hämatotoxisch und vor allem kanzerogen wirken. Sie erzeugen Adenome, Karzinome und Sarkome. Die beschriebenen Darmtoxine können um so leichter durch die Darmwand in die Blutund Lymphbahn penetrieren, je stärker die Darmschleimhaut entzündlich verändert ist (Functio laesa bei Entzündung). Daher ist es so wichtig, die entzündlichen Darmveränderungen zu diagnostizieren! Hiroschi Kaji und Mitarbeiter von der japanischen Universität Hokkaido, Sapporo, beschrieben alkoholische Vergiftungskri- 35 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.5 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr sen durch Kohlenhydratvergärung im Darm bei Candidabefall als „Syndrom d’autobrasserie“ (Selbstbrauerei-Syndrom) [20]. Das ist intestinale Autointoxikation! Die Zahl der Pilzerkrankungen explodiert. Heute sollen sie schon jeden 3. bis 4. deutschen Bürger befallen haben [21]. Die in das lymphatische Abstromsystem gelangenden Darmgifte verursachen das Radix- und Mesokolonödem mit entsprechenden Konsequenzen für das Immunsystem und für den Zustand der Körpersäfte. Und die in die Blutbahn, in das Pfortadersystem eindringenden Darmtoxine werden zunächst von der Leber entgiftet. Bei chronischer Intoxikation durchbrechen sie schließlich die Leberbarriere, strömen in den großen Kreislauf und können sich von da aus auf alle Zellen und Organe auswirken. Vor allem an den genetisch schwächer angelegten Funktionsbereichen treten dann Fernsymptome aus dem kranken Darm auf. Zu ihnen gehört ein hoher Prozentsatz aller banalen Befindungsstörungen wie Müdigkeit, Wetterfühligkeit, Benommenheit usw., außerdem sehr viele Fälle mit Kopfschmerzen, Migräne, Herz-Kreislaufund Durchblutungsstörungen, weiter verschiedene allergische und rheumatische Prozesse, Hauterkrankungen und eine ganze Reihe von Beeinträchtigungen im Empfindungsleben. Sie können von Gereiztheitszuständen, Übererregbarkeit, Weinerlichkeit bis zu starken Depressionen reichen. Besonders empfindlich auf Darmgifte reagieren das vegetative Nervensystem, das hormonelle System und die Psyche. Die Zusammenhänge lassen sich durch die Resultate einer ausreichenden (!) Darmsanierung nachweisen, wenn danach die beklagten Beschwerdebilder verschwunden sind. 36 Mayr verwies daher wiederholt auf den alten Lehrsatz: Cessante causa – cessant effectus. In der offiziellen Medizin werden heute solche Zusammenhänge meist nicht gesehen. So ist die Auffassung zu hören, daß eine Obstipation erst dann bestehe, wenn seltener als 2 – 3-mal pro Woche (!) eine Defäkation erfolgt. Bei 2 – 3-mal wöchentlicher Darmausscheidung funktioniere der Darm noch „normal“! Da diese „normalen“ Personen dick belegte Zungen, entzündliche Kotbäuche, Radixödem usw. aufweisen, dass sie sich nicht wohlfühlen und über üblen Mundgeruch, Völlegefühl, Blähungszustände, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, chronische Müdigkeit oder andere Fernsymptome klagen, wird auf alles mögliche abgeschoben, auf psychische Labilität, vegetative Dystonie, Klimaanlage usw., nur nicht auf den kranken Darm. Die intestinale Autointoxikation wird sogar als „Horror autotoxicus“ oder „einsuggerierte Horrorvorstellung“ abqualifiziert. Dazu Prof. Pirlet gütig: „Ich vermute, hinter solchen Sprüchen steht keine große diätetisch-therapeutische Erfahrung!“ Unbeachtet blieb auch die Arbeit des großen Friedrich Sander über die Darmflora [73], in der er 1948 schrieb: „Wie wir den Blutdruck bei unseren Patienten messen, wie wir auf Eiweiß und Zucker prüfen, sollten wir auch bei jedem Patienten eine Harnindikanprobe durchführen. Harnindikan stammt bekanntlich aus dem unvollständigen und unphysiologischen Abbau des Tryptophans infolge Darmfäulnis. Der Gesunde scheidet täglich 1 mg Indikan aus, der Darmkranke das 30fache und mehr ... Sobald man eine positive Harnindikanprobe ermittelt hat, sollte man mit der Therapie der Autointoxikation beginnen!“ Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 Lage und Form der Eingeweide Fall Kollege S. wog über 100 kg und fühlte sich bei seiner üppigen fleischreichen bürgerlichen Küche so unwohl, dass er Vegetarier wurde. Daraufhin ging es ihm bald besser (Beseitigung der Fäulnistoxikose!). Jahrelang blieb er bei seiner rohkostreichen Küche. Mit der Zeit traten aber andere Beschwerdebilder auf, kalte Hände und Füße, allgemeine Frostigkeit, massive Blähungszustände, Herzdruck usw. Deshalb suchte er schließlich Dr. Mayr auf. Kaum dass er dessen Ordination betreten hatte und sich eben vorstellen wollte, rief Dr. Mayr spontan aus: „Schon wieder so ein armer Vegetarier!“ Verblüfft fragte der Kollege, warum Dr. Mayr dies behaupten könne. Mayr: „Sie haben zu rote Ohren und eine zu rote Nase, im Volksmund sagt man Schnapsnase. Aber für einen Alkoholiker sehen Sie zu intelligent aus, also sind Sie Vegetarier!“ Das ist Humoraldiagnostik nach Mayr. Hier die Feststellung der intestinalen Autointoxikation durch alkoholische Gärungsgifte im Blut, die sich als Gefäßgifte auswirken und an den Akren Kapillarerweiterung mit blau-roter Verfärbung hervorrufen. Der Kollege verlor durch die anschließende Kur seine „Schnapsnase“ und wurde schließlich persönlicher Schüler Dr. Mayrs. Fall 4-jähriger Knabe, nach Angaben der Eltern immer gesund und sehr lebendig. Er bekam plötzlich kurz anhaltende Ohnmachtsanfälle mit anschließendem Verwirrtheitszustand. Verdachtsdiagnose: Epilepsie. In der Kinderneurologie wollte man sofort Lumbalpunktieren. Da sich die Eltern dagegen wehrten, wurde das Kind entlassen. Die Anfälle mehrten sich, bis nach 2 Kinderärzten der Verfasser aufgesucht wurde. Der Junge zeigte perorale Blässe bei hochroten Wangen (Gesichtskapillaren teils im Exzitations-, teils im Paralysestadium), entzündlichen GasKotbauch, vergrößerte Leber, Succussio e., gh. und h. (siehe S. 81). Die Mutter erzählte, dass die Verdauung ihres Sohnes „bestens“ sei, er setze mehrmals täglich weiche Stühle ab (Gärung!) und ernähre sich besonders gesund, ja er sei sogar geradezu „süchtig“ nach Obst, er könne davon kaum genug bekommen. Auch trinke er reichlich Fruchtsäfte (unverdünnt!). Diese Angaben waren nur eine Bestätigung der vorher schon gestellten Diagnose: Alkoholisches Intoxikationsbild bei Darmgärung durch übermäßigen Rohkostkonsum. Als Therapie erhält der Junge durch zwei Monate totales Süßigkeiten-, Zucker-, Obstund Fruchsaftverbot, ein schwach dosiertes F. X.Passagesalz, 2-mal 1/2 TL Basenpulver und Milde Ableitungsdiät 2. Von da an trat schlagartig kein einziger Anfall mehr auf. Beobachtungszeit: 4 Jahre. Der Junge ist in sehr gutem Zustand. 5.6 Lage und Form der Eingeweide Der Schöpfer hat dem Menschen den Verstand gegeben, damit er mit ihm die wunderbare Ordnung in der Natur erkenne ... Johannes Keppler 5.6.1 Dickdarm Der Darmkanal lässt sich mit einem Gummischlauch vergleichen. Denkt man sich einen solchen Schlauch an zwei Aufhängevorrichtungen fixiert, ähnlich wie dies beim Dickdarm an den Flexuren der Fall ist, so wird ein Gummischlauch dank seiner Elastizität eine leicht gebogene Form annehmen, wie Bild a auf Abb. 18. Füllt man diesen Schlauch mit Flüssigkeit und verschnürt seine Enden dicht, so wird er entweder Lage und Form unverändert beibehalten oder der Schwerkraft nachgeben und seine ursprüngliche Gestalt verlieren (Bild b und c). Die Entscheidung, ob der gefüllte Schlauch unverändert bleibt oder nicht, liegt in der Kraft seines Tonus. Der normotone, der hypotone und der atonische Dickdarm verhalten sich entsprechend verschieden. Das gesunde (normotone) Kolon hält im Leer- und im Füllungszustand unverändert seine bogig gerundete Form aktiv aufrecht. Die Rundbogenform ermöglicht allein die zweckmäßigste und kräftesparendste Funktion. Im Gegensatz zu ihr bietet der hypotone und noch mehr der atone Dickdarm das funktionsunfreudige BildderErschlaffung,Ermüdung, Verformung, Senkung. Atonische Kolonschlingen liegen oft den Kleinbeckenorganen auf, wie vollgefressene Schlangen auf sonnigem Lager: armdick erweitert, angeschoppt, träge, reaktionsarm. Die rundbogig verlaufenden Flexuren (= ökonomische 37 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.6 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr a b Lage u. Form Formdesdes aufgeLage und aufgehängten leeren Gummihängten leeren Gummischlauches schlauches Lage desgefüllten gefüllten Lageu. undForm Form des Schlauches guter SpannSchlauches bei bei guter Spannkraft(Lage(Lage- und kraft u. Formschema Formschema desnormalen normalen Kolons) des Kolons) a c b c Lage Form des geLage undu. Form des gefüllten füllten bei Schlauches Schlauches schlechter bei Spannkraft (Lage- und Formschlechter Spannkraft schema hypound atoni(Lage-des und Formschema schen des Dickdarmes) hypo- u. atonischen Dickdarmes) Abb. 18: Tonus und Formschema des Kolons. Passage!) sind hier eingeengt bis scharf geknickt. Die linke Flexur, die topographisch höher liegt als die rechte, bildet mit einer oft bis 180-gradigen Umkehr ein Passagehemmnis („doppelflinten“-artiger Kolonverlauf). Von hier staut sich häufig der schwer über den Knick zu transportierende Stuhl als Kot-Kolonne bis zum Zökum hin. An dieser Stelle entwickeln sich auch die ersten kolitischen Entzündungsvorgänge, die dann weitergreifen und fallweise zu bösartigen Prozessen führen. Alle Kotstaubereiche, Rektum, linke Flexur, Zökum (Rückstaugebiet), atonisches (daher verlängertes und erweitertes) Sigma und rechte Flexur sind bekanntlich Karzinom-Prädiletionsstellen. 5.6.2 Magen Auch dieser ist zwischen 2 Fixationsstellen aufgehängt: zwischen dem Hiatus oeso- 4 phagicus am Zwerchfell und dem Übergang der Pars superior in die Pars descendens des Duodenums. Da ein gesundes Organ stets jene Lage und Form einnimmt, die optimale und kräftesparende Funktion ermöglicht, zeigt der gesunde Magen die (normotone) Stierhornform nach Holzknecht (siehe Abb. 19). Bei dieser nehmen das Volumen und die physiologische Raumerweiterungsmöglichkeit des Organs gerade eine Größe ein, die einer ausreichenden, nicht aber einer exzessiv großen Speisemenge Platz bietet. Nimmt das Individuum jedoch mehr an Nahrung zu sich als bekömmlich ist, so wehrt sich der normotone Magen und befördert das Zuviel per Schub wieder nach oben zurück (normaler Brechreflex).4 Die Konfiguration des gesunden Magens gewährleistet einen kräftesparenden Weitertransport der magenverdauten Speisen. Man vergleiche dazu den atonischen Magen! Brauchle erzählt von einem Metzgermeister, der in seiner Jugend zum Frühstück regelmäßig 20 – 30 Bratwürste gegessen und dazu 4 – 5 l Wein getrunken hätte. Daraus schloss er: „Ein Mensch mit einer derartigen Verdauungsleistung kann nur eine absolute Gesundheit haben.“ Nach Mayr ist das Gegenteil der Fall: Der Metzger war verdauungsgeschädigt im Stadium der Paralyse! Funktionslähmung der Verdauungs-Schutzreflexe (Würg-, Brech- und Sättigungsreflexe), die den Organismus vor übermäßiger Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr schützen sollen, sowie Atonus des Magens, der zum Riesensack erweitert alle hineingestopften Substanzen wehrlos annehmen musste, da er sich infolge Tonuslähmung nicht mehr wehren konnte. Hier ist dem hervorragenden Naturheilarzt Prof. Brauchle einmal ein Irrtum unterlaufen. 38 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 Lage und Form der Eingeweide Abb. 19: Schema Magen normoton. Stierhornform, optimale ökonomische Funktion, Normalvolumen, Magenblase perkutorisch 3 Querfinger hoch, weicher Tympanismus. Abb. 20: Schema Magen hyperton. Form kontrahiert, Lumen verengt, nur kleine Speisemengen werden auf einmal vertragen. Funktion beschleunigt (schnelle Entleerung). Perkutorisch Magenblase kleiner als 3 Querfinger, hart, gespannter Tympanismus. Abb. 21: Schema Magen hypoton. Quermagen, schlaff, leicht gesenkt, Lumen erweitert, Funktion verlangsamt, Hyposensibilität, unökonomische Hypomotorik; perkutorisch Magenblase über 3 Querfinger dumpf. Abb. 22: Schema Magen atonisch. Extrem erschlaffter Sack, Ptose oft bis in das kleine Becken, sehr träge, unökonomische Funktion, große Magenblase mit Plätschergeräusch („Plätschermagen“). Der hypertone Magen (siehe Abb. 20) zeigt eine verkleinerte, straff kontrahierte Form mit verstrichenen Kurvaturen und verkleinertem Lumen. Daher werden nur kleine Speisemengen auf einmal vertragen. Die Entleerung ist hypermotorisch (beschleunigt). Während der rein hypertone Magen selten anzutreffen ist, finden sich häufig Mischbilder von hypo- und atonischen Mägen mit partiellem aufgepfropftem Hyper- 39 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.6 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr tonus, bedingt durch entzündliche Vorgänge: Gastritis, Gastroduodenitis, Begleitgastritis bei Ulkus und malignen Prozessen. Hier zeigen sich Abwehrspannung über dem Magen, metallisch klingender Perkussionston, Schmerzempfindlichkeit bei Perkussion und Succussio gastrica (siehe S. 105). Der hypotone Magen (siehe Abb. 21) zeigt je nach Erschlaffungsgrad eine Quer- oder Hakenform, ist gesenkt, besitzt vergrößerte Magenblase mit dumpfem (tonusarmen) Perkussionston. Infolge Hyposensibilität ist die Verweildauer der Speisen verlängert. Stärkerer Füllungsdruck oder reizenderer Inhalt wird benötigt, um Tätigkeit anzuregen. Der Speisentransport in das Duodenum ist wegen der gesenkten Form unökonomischer als bei normotonem Magen. Der atonische Magen (siehe Abb. 22) zeigt extreme Erschlaffung und reicht oft in das kleine Becken. Die hochgradig verminderte Sensibilität und Motorik lässt die Speisen sehr lange im „Magensack“ verweilen, wo sie häufig der Zersetzung anheimfallen. Perkussion und Succussio gastrica ergeben wegen weitgehend fehlendem Tonus Hin- und Herschwappen des Mageninhaltes mit Plätschergeräusch. 5.6.3 Der Dünndarm Seine Fixationsstellen sind: 1. Der Durchtritt des Duodenums durch das Querkolongekröse, 2. das unterste Ileum, das vor dem Zökum an der dorsalen Bauchwand fixiert ist, 3. das Dünndarmgekröse mit seinem Zentrum in Nabelhöhe vor der Wirbelsäule; es sorgt wie ein Halfter für sinnvolle 40 Gliederung der einzelnen Darmschlingen untereinander. Der normotone Dünndarm verdankt seine Lage 1. seinen Fixationsstellen, 2. seinem Tonus, der das Darmkonvolut aktiv in seiner Position rund um die Fixationsstellen zusammenhält, und 3. der Kohäsion. Wie 2 Glasplatten, zwischen denen sich etwas Flüssigkeit befindet, miteinander fest verbunden sind, so haften normotone Schlingen innig aneinander. Die sich berührenden kohärenten Schlingen stellen jeweils einen Abklatsch voneinander dar und bilden so eine funktionelle Einheit. Peristaltische Wellen, Druckveränderungen durch Zwerchfelltätigkeit, Körperbewegungen usw. wirken sich daher stets auf das ganze Organ aus. Der Dünndarm, dessen Länge zwischen 5 bis 7 m angegeben wird, bestimmt maßgeblich Relief, Form und Größe des Bauches. Im normotonen Zustand ist er von einer gespreizten Hand umgreifbar. Bedeutung der U-Delle: Die aktive Aufrechterhaltung der Lage des Dünndarms erzeugt im unteren Bauchraum einen negativen Druck. Dieser buchtet die Bauchdecke oberhalb der Symphyse ein und erzeugt die U-Delle (siehe Abb. 5). Dieser Unterdruck ist wichtig, da er die Beckenorgane vor Belastung von oben schützt und den Rückfluss des venösen Blutes aus den unteren Extremitäten und dem Becken durch Sog unterstützt. Tritt jedoch Hypo- bis Atonie des Dünndarms auf, so wandelt sich der negative Druck in einen positiven um. Der schlaffe Darm drückt nach abwärts, verschlechtert die Durchblutung der Unterleibsorgane und fördert bei der Frau hormonelle und Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 Lage und Form der Eingeweide Menstruationsstörungen, Entstehung von Entzündungen und Verlagerungen, wie Senkung von Blase und Gebärmutter. Der Druck auf die venösen Abflussgebiete wieder begünstigt Bildung von Hämorrhoiden und Krampfadern. Der hypertone Dünndarm hält sich wie der normotone aktiv, jedoch durch Kontraktion verkrampft in seiner Lage um die Verankerungen an der dorsalen Bauchwand. Dadurch entsteht ein kleiner, eingezogener, „hohler“, harter, jedoch nicht empfindlicher Bauch: der nicht entzündliche Kahnbauch. Hyperton veränderte Darmabschnitte befördern ihren Inhalt hypermotorisch, das heißt beschleunigt, weiter. Darunter leidet die Qualität der Nahrungsaufschließung und die Gründlichkeit des Weitertransportes der Ingesta. Die Selbstreinigung, jener feinsinnige Säuberungsvorgang, der sich in jedem gesunden Darmabschnitt als „Feinputz“ nach Weitertransport des Inhaltes so vollzieht, dass der Darmabschnitt wieder völlig sauber von sämtlichen Inhaltsresten wird, kommt zu kurz. Es bleiben kleinste Partikelchen von Ingesta-Rückständen liegen. Diese „Verschmutzung“ mit nicht rechtzeitig weitertransportierten, stagnierenden Inhaltsresten stellt einen Nährboden für Darmkeime dar, die toxische Substanzen produzieren und die Schleimhäute entzündlich verändern. So entwickelt sich aus dem nicht entzündlichen der entzündliche Kahnbauch (siehe S. 46). Er ist druckempfindlich und größer. Hier finden sich häufig im Röntgenbild Kontrast- mittelreste zu einer Zeit, in welcher der Großteil des Kontrastbreies schon den Dünndarm verlassen hat: Marmorierung, Schummrigkeit. Daraus lässt sich eine mangelhafte Selbstreinigung erkennen, ein Befund, der jedoch wenig Beachtung findet, obgleich er den Anfang und ein diagnostisch leicht erfassbares Zeichen für intestinale Autointoxikation darstellt. Der hypotone und atonische Dünndarm ist erschlafft, dilatiert und elongiert. Er hält nicht mehr aktiv seine Lage ein, sondern fällt in die Ptose. Entsprechend dem Grad seiner Erschlaffung zeigt er verringerte Reflexerregbarkeit (Hyposensibilität), mangelhafte Peristaltik (Hypomotorik) und herabgesetzte Sekretion (Hyposekretion). Vermehrter Füllungsdruck oder -reiz sind nötig, um Tätigkeit anzuregen. Der schlaffe Darm wird daher stets voller als der normotone. Da ihn kleine Inhaltsmengen weder zu motorischen noch zu sekretorischen Leistungen veranlassen, erweist sich das natürliche Selbstreinigungsvermögen als mangelhaft. Als Folge bleiben Inhaltsreste wandständig liegen. Diese „Verschmutzung“ führt zur Dysbiose, Gärungs- bzw. Fäulnisdyspepsie, Toxinbildung, Entzündungsprozessen und Autointoxikation. Der hypotone und der atonische Darm beanspruchen entsprechend dem Grad ihrer Erschlaffung, Erweiterung und Inhaltsvermehrung zusätzlichen Raum für sich. Die Folgen sind Verformungen des Bauches und kompensatorische Haltungsveränderungen. 41 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.6 5.7 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr Die Enteropathie und das Enteropathie-Syndrom Die Wände des erschlafften Darmes sind verschmutzt entsprechend dem Grad ihrer Erschlaffung. F. X. Mayr 5.7.1 Die Enteropathie nach F. X. Mayr Im Mittelpunkt der Studien Mayrs stand die Mangelhaftigkeit der Funktion des MagenDarm-Traktes, wie sie durch Veränderungen von Tonus, Motorik (Kinese) und Sekretion zum Ausdruck kommt. Diese Veränderungen führen im schlauchförmigen Kanalsystem zumindest abschnittweise zu einem verzögerten bis zeitweise stagnierenden Weitertransport der Ingesta. Dadurch wird ihre Verweildauer deutlich verlängert. Mayr hat diese Funktionsstörung als „Darmträgheit“ bezeichnet und in seinem danach benannten Buch [2] als „das folgenreichste, verbreitetste und doch unbekannteste aller Übel“ beschrieben. Weil aber der Laie den Terminus Darmträgheit mit Stuhlverstopfung identifiziert, sprechen wir heute lieber von chronischem Verdauungsschaden oder Enteropathie nach Mayr. Denn die beschriebene Peristaltikträgheit kann, aber muss nicht immer zu Stuhlverstopfung führen. Wenn sich nämlich im stockenden Darminhalt Gärungsprozesse abspielen, können sogar weichbreiige bis durchfallartige Stühle auftreten. Nicht selten werden sie neben starken Blähungen („erst Wind, dann Wetter“) so explosionsartig „hinausgefeuert“, dass die Betroffenen kaum schnell genug die Toilette aufsuchen können (siehe Abb. 23). Es können sich aber auch regelmäßige, tägliche „normale“ Stuhlentleerungen zeigen, die aber oft um Tage zu spät zum Vorschein kommen (latente Obstipation). Eine Klarstellung liefert ein Verdauungs-Verweiltest. 1. Tag: normales Essen, aber ohne Gemüse und Obst 2. Tag: Frühstück wie am 1. Tag, mittags als Beilage eine große Portion Spinat; abends nur eine Milchspeise Bei normaler Darmtätigkeit zeigt der Stuhl am nächsten Tag einen schwarz-grünlichen und davon gut abgrenzbar einen gelblichen Anteil. In einem hohen Prozentsatz wird aber die Grünfarbe erst verspätet zum Vorschein kommen, oft sogar durch etliche Tage hindurch. Einfacher ist noch der Test mit abendlicher Einnahme einer großen Portion roter Rüben (Randen). Nach 24 Stunden dürfte die entsprechende Stuhlverfärbung nicht mehr verlangsamt und fest schnell und dünn Abb. 23: Hier bleiben in erweiterten Dickdarmbuchten Speise-/Kotreste wandständig liegen, während in der Mitte breiig-weicher Stuhl beschleunigt ausgetrieben wird. (nach Weiss [9]) 42 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5 Die Enteropathie und das Enteropathie-Syndrom auftreten. Denn die Darmpassage beträgt normalerweise 18 bis 24 Stunden. Aber bei Enteropathie kann sie bis zu 200 Stunden (!) dauern [9]. Ein Kennzeichen für ein so darniederliegendes Selbstreinigungsvermögen, also für die Verschmutzung des Darmes, stellt auch das Haftenbleiben von zähklebrigen Stuhlresten an der Toilettenschüssel, die sich auch durch die übliche WC-Spülung mit 20 bis 25 Liter Wasser nicht gänzlich beseitigen lassen. Dazu werden Bürste oder chemische Reinigungsmittel benötigt. Was aber schon so zäh wie ein „Alleskleber“ an der glatten Schüssel haftet, das kann noch viel zäher in der tausendfach gefalteten Darmschleimhaut kleben bleiben, den Darm verschmutzen und einen Brutboden für wuchernde Darmkeime bilden (Dysbiose). Auch bei täglicher „normaler“ Stuhlentleerung und bei durchfälligen Ausscheidungen kann eine erhebliche Verschmutzung bestehen. Das von Mayr beschriebene bunte Bild der ubiquitären chronischen Darmträgheit, d. h. also der Enteropathie nach Mayr, wurde mit den häufigsten und markantesten Kriterien von Bartussek folgendermaßen zusammengefasst [22]: 1. Hypotonie beträchtlicher Darmanteile, 2. mangelhafte Selbstreinigung mit Auftreten von Ingesta-Rückständen, 3. Ptose von Dünndarmanteilen, 4. Dysbakterie mit Dyspepsie und Toxinbildung, 5. partielle Entzündungen. Die Enteropathie kann oft durch lange Zeiträume subjektiv völlig symptomlos verlaufen. Häufig geht sie aber auch mit intestinalen Beschwerden einher, mit Obstipation, Durchfällen, Gärungs- oder Fäulnissympto- men, breiigen Stühlen, Meteorismus, Flatulenz, Völlezuständen, gastrischen Beschwerden, Appetitstörungen, Heißhunger, Übelkeit, Brechreiz, Krampfzuständen, Roemheld-Syndrom usw. Auch eine sehr breite Palette von intestinal-toxisch verursachten Symptomen kann in Erscheinung treten, so im Bereich des Herzens, der Gefäße, des Kopfes, der Nieren, der Wirbelsäule, der Haut usw. In allen Fällen geht die Enteropathie mit minderwertiger Nahrungsaufschließung (Maldigestion) und Resorption (Malresorption) einher und führt durch die intestinale Toxinbildung zu einer erheblichen Belastung der Leber. Die Existenz stagnierter Inhaltsreste im Darm lässt sich bei der Mehrzahl aller durchgeführten Fasten- und Darmreinigungskuren nachweisen: oft treten durch längere Zeitabschnitte missfarbige, auffallend übelriechende Darmentleerungen auf, nicht selten finden sich darin auch Kerngehäuse, Apfel- und Tomatenschalen oder andere Speisereste, die vor Wochen zum letzten Mal genossen worden sind. Mitunter gelangen auch verkrustete, mit Schleimhautanteilen verbackene alte Sterkoralien und Kotsteine zur Ausscheidung, gelegentlich erst nach mehrwöchiger Kurdauer. Vor der Entleerung solcher Rückstände können durch teilweise Resorption Vergiftungszustände auftreten: Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen, Tachykardien, Kollaps, Schweißausbrüche usw. Nach der Entleerung folgt schlagartige Zustandsverbesserung. Das vordem extrem blass bis graugrünlich verfärbte Gesicht wird wieder rosig, auch Euphorie tritt auf. Ein Enterologe erklärte einmal dem Verfasser, dass nach 3-tägigem Purgieren jeder Darm völlig leer sei. Aber nach 50-jähriger Praxis mit tausenden Darmreinigungs- 43 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.7 Die Tonuslehre nach F. X. Mayr kuren kann der Verfasser die Sätze Mayrs bestätigen: „Die Wände des hypotonen und hypomotorischen Darmes sind stets verschmutzt entsprechend dem Grad seines Hypotonus. Solcher Darm ist selbst nach mehrtägigem strengen Fasten noch nicht leer von alten Speiseresten.“ Als therapeutische Konsequenz erinnert Mayr an das alte Ärztewort: Bene curat, qui bene purgat! Dabei sei das zweite „bene“ besonders zu betonen. Es bedeutet nach Mayr nicht ein Purgieren mit chemisch angreifenden Laxanzien, nicht mit volumenerzeugenden Quellmitteln und nicht mit besonders zellulosereicher Kost. Es bedeutet vielmehr den vor allem durch Fehler der Ernährungsweise überforderten und übermüdeten Darm zu schonen, damit er sich erholen und gesunden kann, um selbsttätig seine Funktionen, und damit auch seine Selbstreinigung wieder „bene“ vollziehen zu können. 5.7.2 Das Enteropathie-Syndrom nach F. X. Mayr Die chronische Verdauungsstörung ist die Mutter der meisten Krankheiten. L. Kuhne Ein Syndrom stellt bekanntlich einen Symptomenkomplex von verschiedenen zusammengehörigen Symptomen dar. Die Zusammengehörigkeit muss nicht auf den ersten Blick erkennbar sein. Dies trifft besonders auf das Enteropathie-Syndrom nach F. X. Mayr zu. Es wurde von Bartussek mit Aufzählung der folgenden Trias präzisiert: 1. Enteropathie nach F. X. Mayr (mit abnormer Bauchform) 44 2. Haltungsveränderung (als Folge von 1) 3. Intestinale Autointoxikation (erkennbar an humoraldiagnostischen Kriterien; auch als Folge von 1) 5.7.3 Die 3 Stadien der Enteropathie Man kann die Enteropathie mit ihren Auswirkungen in 3 Stadien einteilen: Das 1. Stadium gehört noch dem Krankheitsvorfeld an. Es zeigt mit der Mayr-Diagnostik einen mäßigen Grad messbarer Kaliberveränderungen des Verdauungsrohres, stellenweise leichte Entzündung der Darmschleimhaut oder sonstige geringgradige Veränderungen von Bauchorganen. Subjektiv bestehen keine Beschwerden. Das 2. Stadium lässt einen ausgeprägten Grad an abdominellen Veränderungen feststellen, Ptose mit partieller Darmentzündung, Leberschwellung, Radix- und Mesokolon-Ödem, Meteorismus und deutlich messbarer Haltungsveränderung. Dazu kommen noch Zeichen der intestinalen Autointoxikation. In diesem Stadium muss man bereits vom Enteropathie-Syndrom sprechen. Subjektiv bestehen meist verschiedene abdominelle Beschwerden und/ oder Fernsymptome aus dem Darm. Das 3. Stadium weist ausgeprägte krankhafte Veränderungen mit organisch erfassbaren Leiden auf wie Ulcus duodeni, LeberGalle-Prozessen, Divertikulitis, Enterokolitis, Malignomen o. a. Leiden innerhalb und außerhalb des Bauchraumes. Bei ihrer Entstehung hat die Enteropathie eine oft hintergründige, aber meist maßgebliche ursächliche Rolle gespielt. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5