Die Zukunft der Pflege – 2053

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SCHWERPUNKT
Die Zukunft der Pflege – 2053
Ergebnisse eines Szenarioworkshops
von Manfred Hülsken-Giesler, PhilosophischTheologische Hochschule Vallendar, und
Bernd Wiemann, deep innovation München
Aktuelle Strategien zur Bewältigung der Herausforderung Pflege in einer Gesellschaft des
langen Lebens stoßen zunehmend erkennbar
an ihre Grenzen. Um tatsächlich neue Handlungsoptionen zu eröffnen, empfiehlt es sich,
zunächst von bekannten und in der Regel linear verlängerten Problemlösungswegen abzulassen und – systematisch geleitet – einen
erweiterten Blick in die Zukunft zu wagen. Der
vorliegende Beitrag skizziert ein Projektvorhaben, mit dem mögliche Zukünfte der Pflege szenariobasiert entworfen wurden, um auf
dieser Basis systematische Zukunftsdialoge
zu ermöglichen und Optionen für das aktuelle
Handeln abzuleiten. Fragen der Technikentwicklung und -nutzung erhalten demnach in
einer transdisziplinär begründeten Pflegearbeit ganz entscheidende Bedeutung.
Current strategies to meet the challenges of care
in a society of longer living are apparently reaching their limits. To actually open up new options
for action, it is advisable to refrain from known
approaches to solving problems and to – systematically – risk a broad view of the future. This
paper outlines a project in which possible futures
of care were developed on the basis of scenarios and discussed regarding their importance for
systematic dialogues on the future as well as
providing options for current actions. Issues of
technology development and use in care are of
decisive importance here.
Deutschland und immer mehr Länder der Welt
sind auf dem Weg zu „Gesellschaften des langen
Lebens“. Die Vielfalt der Herausforderungen für
den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel treten immer mehr in den Vordergrund. Die
Bearbeitung der damit verbundenen Herausforderungen erfolgt im Bereich der langzeitorientierten
Pflege derzeit vorzugsweise durch Verlängerung
und Optimierung bekannter Problemlösungsstrategien, die insbesondere einer marktorientierten Perspektive entlehnt sind und betriebswirtschaftlich
begründete Konzepte hervorbringen. Die Folgen
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sind bekannt und an dieser Stelle nur in Ausschnitten zu benennen: Privatisierung und Ausdifferenzierung der Leistungsangebote führen zu stetig
steigendem wirtschaftlichem Wettbewerb, zunehmenden ökonomischen Restriktionen sowie steigenden Arbeitsanforderungen und -belastungen in
der beruflichen Pflege. Stringente Qualitätsprüfungen auf der Basis fachlich umstrittener Qualitätskriterien erzeugen enormen Druck auf Unternehmen und Mitarbeiter. Prekäre Arbeitsverhältnisse
forcieren einen ehedem demografisch bedingten
Fachkräftemangel. Mangelnde Kooperationen
zwischen den Versorgungssektoren und unter den
Gesundheitsberufen erzeugen überdies erhebliche Schnittstellenprobleme (vgl. z. B. Brandenburg et al. 2015; Manzei/Schmiede 2014; Slotala
2011). Während also die Grenzen der bisherigen
Problemlösungsansätze immer deutlicher werden,
wächst auf der anderen Seite der Handlungsdruck.
Vor dem Hintergrund dieser problematischen Ausgangslage haben Szenarien zur „Zukunft von Gesundheit und Pflege“ in Deutschland derzeit Konjunktur (vgl. z. B. Vollmar 2014; Rothgang et al.
2012; vbw 2012; Beckert et al. 2008). Dabei verengt sich die Perspektive der Untersuchungen jedoch häufig auf ausgesuchte Teilaspekte (Entwicklung spezieller pflegerelevanter Phänomene [z. B.
Demenz], wirtschaftliche Bedeutung der Pflege,
Bedeutung der technologischen Entwicklung für
Gesundheit und Pflege etc.) und auf Korrekturen
aktueller Fehlentwicklungen und linearer Fortschreibungen der Handlungsoptionen. Eine langfristige Orientierung, die aufzeigt, wie Strukturen
der Langzeitpflege zu denken und welche Entwürfe für eine „Pflege von Morgen“ möglich wären,
bleibt dagegen unscharf. Vor diesem Hintergrund
skizzieren wir einen erweiterten Szenarioprozess,
der das Ziel verfolgt, Perspektiven einer „Gesellschaft des langen Leben“ unter Gesichtspunkten
der pflegerischen Langzeitversorgung zu entwerfen und Orientierungen und Handlungsoptionen
für das heutige Handeln aufzuzeigen.
1 Die „Reise in die Zukunft der Pflege –
2053“
Auf der Messe „Altenpflege 2013“ in Nürnberg
wurde erstmals eine öffentliche „Zukunftsreise“
durchgeführt.1 Sie trug den Titel „Reise in die Zu-
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
SCHWERPUNKT
kunft der Pflege – 2053“, im Folgenden mit „Zukunftsreise“ abgekürzt. Ausgewählte Entscheider
und Verantwortliche aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen wurden dazu eingeladen, in einem dreitägigen Workshop systematisch
geleitet Vorstellungen zur Pflege im Jahr 2053 zu
entwickeln und daraus Impulse für Handlungsempfehlungen für die aktuelle Situation abzuleiten. Das Ziel der „Zukunftsreise“ bestand darin,
gesellschaftliche Transformationen ganzheitlich
zu antizipieren und mit Blick auf Aspekte der
Langzeitpflege in einer Gesellschaft des langen
Lebens zu beschreiben und in möglichst konkreten
Szenarien zu verdichten, um Orientierungen für
eine gesellschaftlich ausstehende Diskussion um
die Zukunft der Pflege in Deutschland zu geben.
Das Vorhaben wurde als transdisziplinärer Prozess angelegt, um Impulse aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen einzuholen, die das
Handlungsfeld der Pflege beeinflussen. Insgesamt
brachten elf verantwortliche Entscheider ihre Expertise in den Prozess ein.
2 Methodisches Vorgehen
Die „Zukunftsreise“ wurde als eine Erweiterung
der Szenario-Methode angelegt, die die systematische Bearbeitung komplexer Zukunftsfragen in
Aussicht stellt (vgl. z. B. Kosow et al. 2008). Da-
mit wird der explorative Versuch unternommen,
die Einflussfaktoren auf eine in Frage stehende
Problemstellung zu identifizieren, diese in möglichen Entwicklungslinien sowie in ihrem Zusammenspiel einzuschätzen, daraus Ableitungen
für mögliche Zukünfte mit Blick auf die anvisierte Problemstellung zu beschreiben, um daraus Handlungsoptionen für die Gegenwart abzuleiten. Ein entscheidender Vorteil ergibt sich mit
diesem Ansatz immer dann, wenn der Zeitraum
der anvisierten Zukünfte so weit gewählt wird,
dass sich die Ableitung von Zukunftsszenarien nicht aus der linearen Verlängerung aktuell
etablierter Problemlösungsansätze im Kontext
der gewählten Fragestellung ergibt, bestehende
Denkmuster also aufgebrochen und durch Kreativität, vernetztes Denken und implizite Wissensbestände ersetzt werden müssen. Das konkrete
Vorgehen in Ansätzen der explorativen SzenarioAnalyse wird unterschiedlich beschrieben (vgl.
z. B. Popp/Schüll 2009; Beckert et al. 2008; Kosow et al. 2008; Wilms 2006; MSW NRW o. J.).
Der „Zukunftsreise“ wird ein modifizierter
Ansatz mit acht Schritten zugrunde gelegt: Problem- und Umfeldanalyse, Gegenwartsanalyse,
Einflussanalyse, Projektionsbildung, Alternativenbündelung, Szenariointerpretation, Störfallanalyse, Konsequenzenanalyse verbunden mit
Maßnahmenplanung (Abb. 1).
Abb. 1: Methodische Vorgehen in der „Zukunftsreise“ (modifizierter Szenarioprozess)
Quelle: Eigene Darstellung
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
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SCHWERPUNKT
Phase 1, Problem- und Umfeldanalyse, wurde bereits im Vorfeld der Expertenworkshops erarbeitet und den Workshopteilnehmern in Form
eines Impulspapiers zugeleitet, das einen Rückblick auf die Vergangenheit der Langzeitpflege in
Deutschland erlaubt und die aktuellen Problemlagen systematisch ableitet. Phase 2 setzt sich mit
einer Gegenwartsbeschreibung, also dem Status
der Pflege im Jahr 2013 auseinander. In Phase
3, Einflussanalyse, geht es darum, aktuelle Einflussbereiche und Einflussfaktoren auf die Pflege
zu identifizieren sowie ihr Systemverhalten und
relevante Vernetzungen zu erkennen. Daraus
lassen sich treibende und getriebene Kräfte in
Bezug auf den Untersuchungsgegenstand identifizieren und bewerten (Sensitivitätsanalyse).
Phase 4, Projektionsbildung, fokussiert darauf,
Zukunftsentwicklungen für die identifizierten
Einflussfaktoren zu generieren. Die Benennung
von Alternativen zukünftiger Ausprägungen für
jede Projektion, die nachvollziehbar zu begründen sind, ist die Grundlage für das Zusammensetzen der Szenarien im Folgeschritt. Das Ziel
der folgenden Phase 5, Alternativenbündelung,
besteht darin, die erarbeiteten Alternativen in
konsistente und nachvollziehbare SzenarioStrukturen zusammenzufügen, die in der durchgeführten Studie auf zwei Extrem-Szenarien begrenzt wurden: Szenario A: „Sozial nachhaltiges
Netzwerk – Jeder MUSS ran!“ und Szenario B:
„Leben ohne Alter“ (Abb. 3 und Abb. 4). Aus den
Extrem-Szenarien wurde zusätzlich ein TrendSzenario gebildet, das Schnittmengen der vorgenannten Szenarien enthält und damit eine höhere
Aussagen-Robustheit vermittelt. In Phase 6, Szenario-Interpretation, werden die skizzierten Szenarien lebensnah und möglichst plausibel in ihrer
Dynamik und in ihren Entwicklungsprozessen
beschrieben. Damit soll eine Vorstellung vom
täglichen Leben im Jahre 2053 unter besonderer
Berücksichtigung von Fragen der Pflege ermöglicht werden, damit die Szenarien nachvollziehbar und für die weitere Bearbeitung handhabbar
sind. Das Ziel besteht in dieser Phase nicht darin, die Szenarien vergleichend zu bewerten. Mit
der Störfallanalyse in Phase 7 werden mögliche
Störereignisse identifiziert und in ihren Auswirkungen analysiert, die diese Zukunfts-Szenarien
verhindern könnten. Damit soll der Umgang mit
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Unsicherheiten als Planungskalkül integriert und
Sensibilität für „frühe Signale“ geschärft werde.
Dazu gehören z. B. globale Entwicklungen, Epidemien, wirtschaftliche Umbrüche aber auch Paradigmenwechsel im Bereich von Technik oder
Ethik. In Phase 8, der Konsequenzenanalyse mit
Maßnahmenplanung werden Chancen und Risiken analysiert und beschrieben, die mit den erarbeiteten Szenarien verbunden sind. Besonders
werden konkrete Ansätze gesucht, diese Zukünfte zu gestalten, identifizierte Chancen optimal zu
nutzen und erkannte Risiken nicht nur zu minimieren, sondern bestenfalls in neue Chancen umzuwandeln. Schließlich besteht das Ziel der letzten Phase 8 auch in der Maßnahmenplanung, um
Leitlinien zu konzipieren, die unter den identifizierten Szenario-Rahmenbedingungen greifen.
Im Kontext der durchgeführten Studie konnte für
die letzten zwei Phasen (Störfallanalyse, Konsequenzenanalyse mit Maßnahmenplanung) lediglich vorläufiges Material gesammelt werden. Die
weitere Ausarbeitung erfolgt in entsprechenden
Folgeprojekten.
3 Ergebnisse und Analysen auf dem Weg
zur Szenariobildung (Phase 1–4)
Die Vielfalt der Ergebnisse der „Reise in die Zukunft der Pflege – 2053“ kann an dieser Stelle
nur zusammenfassend präsentiert werden, eine
differenziertere Vorstellung entlang der benannten Arbeitsschritte befindet sich in Vorbereitung
(vgl. deep innovation GmbH 2015a; deep innovation GmbH 2015b).
3.1
Ergebnisse Phase 1: Die Evolution der
Pflege
In der ersten Phase geht es um eine systematische Erfassung der Historie der Langzeitpflege.
Dazu wurden zwei Systematisierungsverfahren
entwickelt, die in alle weiteren Phasen eingeflossen sind:
• Bestimmung und Systematisierung der evolutionären Entwicklung der Pflege,
• Charakterisierung von Determinanten der
Pflege und ihre Entwicklung.
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
SCHWERPUNKT
Evolutionäre Entwicklung der Pflege
Auf der Basis eines evolutionären Verständnisses
der Pflegehistorie wurde die Entwicklung über
ca. 2000 Jahre grob in drei zeitliche Abschnitte
untergliedert:
• Pflege im vormodernen Pflegesystem (Antike
bis 19. Jahrhundert),
• Pflege im sozialstaatlichen Pflegesystem (19.
Jahrhundert bis 1995),
• Pflege im vermarktlichten Pflegesystem (1995
bis heute).
Diese Einteilung begründet sich entlang grundlegender Umwälzungen im Kultur- und Berufsfeld, die sich stichwortartig unter den Aspekten:
christlich-metaphysische Begründung und beginnende Institutionalisierung der Pflege (vormodernes Pflegesystem), sozialpolitisch motivierte und
beruflich institutionalisierte Pflege (sozialstaatliches Pflegesystem) und marktwirtschaftlich
motivierte und professionell institutionalisierte
Pflege (vermarktlichtes Pflegesystem) zusammenführen lassen. Auf dieser Basis wurde eine
zusammenhängende Beschreibung der Evolution
der Pflege bis heute erstellt, aus deren Merkmalen
Prinzipien erkennbar und Schlüsse für die Weiterentwicklung gezogen werden können.
Die Determinanten der Pflege
Ergänzend wurde ein Vorschlag erarbeitet, den
Untersuchungsgegenstand Pflege aus der Sicht
von sechs verschiedenen Perspektiven (Determinanten) zu analysieren. Dadurch können die
Grundprinzipen und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen als relevante Veränderungen über alle
Abschnitte hinweg herausgearbeitet werden: Mit
der Determinante Leitbilder der Pflege sind demnach die zentralen Handlungsrationalitäten der
Pflegearbeit in einer jeweiligen historischen Phase in den Blick zu nehmen. Die Entwicklung von
Wertesystemen der Pflege verdeutlicht wandelnde
Motive des pflegerischen Handelns. Pflege als gesellschaftliches Handeln stellt sich in der Determinante Öffentliche Wahrnehmung der Pflege in den
jeweiligen Entwicklungsphasen sehr unterschiedlich dar und erfährt verschiedene Formen der Anerkennung. Unter Organisation der Pflege lässt
sich die Entwicklung der gesellschaftlichen und
institutionellen Rahmenbedingungen der Pflege
verfolgen, um schließlich mit Gegenstand der
Pflege und Wissen der Pflege historische Transformationen im Berufsfeld selber aufzuzeigen.
3.2
Ergebnisse Phase 2: Die
Standortbestimmung der Pflege 2013
Mit Blick auf die aktuelle Situation (Phase 2)
identifizierten die Expertinnen und Experten drei
wesentliche Einflussfelder, die die Entwicklung
der Pflege in Deutschland prägen: a) Solidargemeinschaft und marktwirtschaftliche Entwicklung, b) wissenschaftliche und technologische
Entwicklung/Infrastruktur, c) gesellschaftliche
und wirtschaftliche Entwicklung.
Unter Gesichtspunkten von Solidargemeinschaft und marktwirtschaftlicher Entwicklung
wird darauf verwiesen, dass sich Initiativen zur
Stärkung der Solidargemeinschaft aktuell zwar
dynamisch in Diskussion und, regional begrenzt,
auch in modellhafter Erprobung befinden, diese
jedoch nach wie vor durch eine Organisation von
Pflege im Spannungsfeld von sozialgesetzgeberischen und marktbedingten Rahmungen überlagert
werden. Private wie gemeinnützige Anbieter fokussieren vorzugsweise auf isolierte Bedarfe der
Nachfrager, lokal vernetzte Angebote sind seltener zu finden. Die Nachfrage erfolgt dabei heute
zunehmend von informierten und kritischen Leistungsnehmern, die an individuellen und flexiblen
Dienstleistungen interessiert sind und über ein hohes Kosten- und Leistungsbewusstsein verfügen.
Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung wirkt sich derzeit wesentlich über Veränderungen und Innovationen im Bereich der
medizinisch-gesundheitlichen Versorgung, der
Technik- und Technologieentwicklung sowie der
Wohninfrastruktur auf die Pflege aus. Medizinische
Spezialisierungen (z. B. im Bereich der Onkologie,
Kardiologie, Diabetologie, Palliativmedizin) sind
von Relevanz, insofern sie die Unterscheidung
zwischen Allgemeinmedizin und Altersmedizin
zunehmend einebnen. Unklar ist jedoch, inwieweit
sich diese Entwicklung auf aktuelle Professionalisierungsprozesse der Gesundheitsberufe im Allgemeinen und der Pflege im Besonderen auswirken.
Die technologische Entwicklung (z. B. Assistive
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
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SCHWERPUNKT
Technologien, Robotik, I&K-Technologien) birgt
durch Möglichkeiten der unmittelbaren Unterstützung des Leistungsgeschehens, der Weiterentwicklung von Arbeitsprozessen sowie der Vernetzung
relevanter Akteursgruppen Potenziale, „Raum und
Zeit“ für die Pflege zu schaffen (technologische
Personalisierung), zeigt aktuell aber auch Tendenzen einer technologischen Fragmentierung,
insofern Technologien zum Einsatz kommen, die
lediglich Teilaspekte der Pflegearbeit unterstützen.
Überdies sind Gefahren einer technologischen Deprofessionalisierung erkennbar, insofern sich Effekte der Entfremdung zwischen Pflegenden und
Hilfeempfängern durch reduzierte Kontaktzeiten
einerseits und der Überformungen von Entscheidungsprozessen durch akteursübergreifende Datenflüsse andererseits andeuten. Auf der Ebene der
Infrastruktur der pflegerischen Versorgung ist zu
beobachten, dass Pflegearbeit zunehmend in neuen
Umgebungen und Konstellationen gedacht wird.
Innovative Konzepte etwa des generationenübergreifenden, barrierefreien und/oder intelligenten
Wohnens suchen das Potenzial neuer Sozialräume zur Unterstützung der Pflegearbeit auszuloten.
Kritisch wird diskutiert, dass sich entsprechende
Strukturen derzeit vorzugsweise „drittmittelgetrieben“ realisieren, die Analyse und Bewertung von
Ausgangssituationen und Innovationsansätzen jedoch unter Gesichtspunkten der Einwerbung von
Fördermitteln ggf. einer eigenen Logik folgen und
damit die Gefahr besteht, dass die konkreten Erfordernisse und Unterstützungsbedarfe im Versorgungsfeld aus dem Blick geraten.
Die gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung ist heute nicht mehr unabhängig
von tief greifenden Umwälzungen einer modernisierten und globalisierten westlichen Zivilisation zu diskutieren. Demografische und
epidemiologische Veränderungen, Individualisierungsprozesse, Wertewandel, Rationalisierungs- und Globalisierungstendenzen u. a. m.
greifen ineinander, bedingen und potenzieren
sich. Mit diesen Prozessen sind Chancen und
Gefahren verbunden. Mit Blick auf Fragen der
Pflege kommen dabei Transformationen von der
Industrie- zur Wissensgesellschaft ebenso zum
Tragen wie die Auflösung ehedem gesamtgesellschaftlich getragener Wertvorstellungen in
Richtung eines Wertepluralismus. Digitalisie-
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rung und Computerisierung führen zu immensen
Wissens- und Informationszuwächsen, die heute
– auch in der Pflege – Probleme der Informationsselektion und -bewertung erzeugen und vor
diesem Hintergrund spezifische verarbeitungsfreundliche und systemkompatible Wissensformen und -bestände begünstigen. Auch mit Blick
auf die Werteentwicklung lassen sich ambivalente Prozesse beobachten, die etwa am Beispiel
von Individualisierung und Flexibilisierung von
Lebensstilen einerseits und zunehmendem Bewusstsein für gesellschaftliche und soziale Verantwortung andererseits oder auch von paradoxen Bewegungen zwischen Globalisierung und
Lokalisierung der Lebensführung zu skizzieren
sind. Auf der politischen Ebene erfolgt eine inhaltliche Neubestimmung von (sozialrechtlich
legitimer) Pflege bislang eher zögerlich, die
Bemühungen konzentrieren sich einerseits darauf, Anreize für mehr Eigenverantwortung auf
Seiten der Bürger zu schaffen, und andererseits
Qualitätsentwicklung im Pflegewesen voranzutreiben. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
ist die Entwicklung zu einer „Gesellschaft des
langen Lebens“ vor allem mit der Erschließung
neuer Märkte verbunden. Der Pflegemarkt wird
als Wachstumsmarkt betrachtet, dessen Besonderheit allerdings darin besteht, dass Teile der
Dienstleistung über das Dreieck „Leistungsanbieter“, „Leistungsnehmer“ und „Sozialversicherungsträger“ auszuhandeln sind, die Prinzipien
der freien Marktwirtschaft hier also an Grenzen
stoßen. Neben inhaltlich motivierten Aspekten
einer verbesserten interdisziplinären Zusammenarbeit lassen sich in diesem Umstand auch neue
Verflechtungen zwischen Anbietern professioneller Pflegeleistungen einerseits und medizinischen, medizintechnischen, pharmazeutischen
sowie weiteren Anbietern andererseits beobachten. Um den neu etablierten Pflegemarkt ist vor
diesem Hintergrund eine Lobby entstanden, die
ihre Interessen in die zukünftige Entwicklung
der Pflege einzubringen versucht.
Um die aktuellen Problemstellungen 2013
zu charakterisieren und zu pointieren, wurden
mittels 20 Kontradiktionen die heute erkennbaren Widersprüche zwischen Anspruch der Pflege
und Pflegerealität gegenübergestellt und analysiert. Die Ergebnisse dieser Arbeiten fließen in
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
SCHWERPUNKT
Aktivachse
Abb. 2: Sensitivitätsdiagramm Pflege
tern und Nachfragern ist dagegen
besonders abhängig gegenüber
diesen aktiven Einflussfaktoren,
sie bleiben hinsichtlich der Gestaltung des Handlungsfeldes eher
passiv (Abb. 2).
18
17
16
15
14
13
12
3.4
Ergebnisse Phase 4:
Deskriptoren und Projektionen
11
10
9
8
F
G
E
A
Die Phase 4 der „Zukunftsreise“ widmet sich auf der Basis der
C
5
identifizierten Einfluss-, AbhänD
4
gigkeits- und Problemfelder von
3
2
2013 der Entwicklung von Pro1
jektionen für das Jahr 2053. Dazu
1
2
3
4
5
6
7
8
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
wurden die Eingangsgrößen von
Passivachse
2013 mit Blick auf ihre Veränderungsdynamik bis 2053 untersucht
A = Anbieter; B = Nachfrager; C = Technologie/Infrastruktur;
D = Medizin; E = Wirtschaft; F = Gesellschaft; G = Politik/Gesetzgebung
und zweistufig in alternativen Paarungen detaillierter Projektionen
Quelle: Eigene Darstellung
beschrieben. Tabelle 1 gibt die 26
alternativen Projektionen wieder,
die Gestaltung der Zukunftsprojektionen ein,
aus denen in der folgenden Phase 5 durch Aussollen aber auch der Fortschrittsbeschreibung in
wahl die konsistenten Szenarien für 2053 gebünder Pflege dienen. Diese Standortbestimmung
delt wurden:
der Pflege 2013 stellt den Ausgangspunkt der
7
6
B
Entwicklung hin zu den Szenarien für 2053 dar.
3.3
Ergebnisse Phase 3: Einflussanalyse,
Sensitivitätsanalyse (treibende und
folgende Faktoren)
Die in der Standortbestimmung skizzierten Einflussfaktoren auf die Pflege in Deutschland wurden im Rahmen der „Sensitivitätsanalyse“ (Phase 3) in Beziehung gesetzt und von den Expertinnen und Experten (quantitativ) bewertet. Es
wurden die treibenden, die abhängigen und die
blockierenden Faktoren ermittelt. Die Überführung dieser Einschätzungen in eine Sensitivitätsmatrix erlaubt Feststellungen darüber, welches
die gestaltenden Kräfte sind und wie sensibel das
Feld der Pflege auf Veränderungen wirkt. Dabei
wurde deutlich, dass den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren eine besondere Bedeutung in der aktiven Beeinflussung
der Pflege zukommt. Das Verhalten von Anbie-
Tab. 1:
Projektionsbildung und Alternativenbündelung
Einflussfeld
Gesellschaft
Alternative 1
vs.
Professionelle
vs.
Pflege
Multi Value System vs.
Alternative 2
zivilgesellschaftliche Pflege
Einheitliches Wertesystem
vs. Freie Marktwirtschaft
Wirtschaft
Solidarökon. System
Kollektives Modell
Politik
Medizin
Technologie
Anbieter
Nachfrager
vs. Individuelles Modell
Wohlfahrtsmodell
vs. Marktmodell
Zentralmodell
vs. Lokalmodell
Mit dem Alter leben vs. Abschaffung des
Alters
Inklusion
vs. Exklusion
Technik als Sklave vs. Technik als Master
Globale Träger
vs. Lokale Träger
Komplette
vs. Komplette AmbuVerheimung
lantisierung
Autonomie &
vs. Satt und Sauber
Teilhabe
Nachfrage gering
vs. Nachfrage hoch
Quelle: Eigene Darstellung
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
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SCHWERPUNKT
Abb. 3: Szenario „Jeder MUSS ran“
Gesellschaftliches
Pflegesystem:
Werte-Kodex:
Multi-Value-System
Zivilgesellschaftlich
Technische
Assistenzsysteme:
Inklusion
Geringe Konsumbereitschaft für
Gesundheit und Pflege
Sozial nachhaltiges
Netzwerkmodell:
Jeder MUSS ran!
Versorgungssetting:
Komplette Ambulantisierung
Anspruch an Versorgung:
Altersmedizin:
„Mit dem Alter leben“
Solidarökonomisches
Modell
Konsumbereitschaft:
Technik als „Sklave“
Leben im Alter:
Marktmodell:
Akteure:
Individualität ‒ Autonomie –
Teilhabe
Lokalmodell
Ordnungspolitisches
Konzept:
Träger:
Wohlfahrtsmodell
Lokale Träger
Finanzierungsmodell:
Kollektive Finanzierung
Quelle: Eigene Darstellung
4 Ergebnisse Phase 5: Die Szenarien
Zur Ausarbeitung der Szenarien im Rahmen der
„Szenariobildung“ werden die zentralen Deskriptoren der Projektionen in Beziehung gesetzt und
gebündelt. Vor diesem Hintergrund formulierte
die Expertengruppe zwei konträre, aber in sich
konsistente und intersubjektiv nachvollziehbare
Szenarien, die die mögliche Entwicklung der Pflege in 2053 skizzieren: Szenario A: „Sozial nachhaltiges Netzwerk – Jeder MUSS ran!“ und Szenario B: „Leben ohne Alter“ (Abb. 3 und Abb. 4)
4.1
Szenario A: „Sozial nachhaltiges
Netzwerk – Jeder MUSS ran!“
Das Szenario A „Sozial nachhaltiges Netzwerk –
Jeder MUSS ran!“ beschreibt eine Gesellschaft,
in der es gelungen ist, ein Bewusstsein für die
Bedeutung von sozialem Engagement und sozialer Verantwortung zu etablieren und die Gesellschaftsmitglieder dazu zu motivieren, dieses
aktiv und freiwillig einzubringen. Herausfor-
Seite 52
derungen der Pflege werden im Rahmen eines
zivilgesellschaftlich orientierten Pflegesystems
bewältigt, bürgerschaftliches Engagement erhält
Vorrang vor professioneller Initiative, und diese
greift erst, wenn netzwerkgestützte informelle
Arbeit an ihre Grenzen kommt.
Im Mittelpunkt steht der Versuch, gesellschaftliche Teilhabe durch die aktive Einbindung
aller Bürger in die Etablierung einer modernen
Sozialgesellschaft zu erreichen. Inklusion, sowohl der Alten, Gebrechlichen und Pflegebedürftigen in das soziale Leben, als auch der Jungen
und Leistungsfähigen in die konkrete Bewältigung sozialer Problemstellungen, gilt in dieser
Gesellschaft als Recht und als Pflicht für jeden
Bürger. Dabei wird akzeptiert, dass sich die Menschen sehr unterschiedlichen Wertesystemen
verpflichtet fühlen und die Präferenzen für die
konkrete Ausgestaltung einer selbstbestimmten
Lebensführung (auch bei Hilfebedarf) damit sehr
verschieden ausfallen. Dies gilt auch für die potenziellen Helfer, die ihr soziales Handlungsfeld
(Pflege, Erziehung, soziale Arbeit etc.) und auch
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
SCHWERPUNKT
das konkrete Gegenüber einer Hilfeleistung frei
wählen können und sollen. Soziales Engagement
kann freiwillig erbracht, sollten entsprechende
Initiativen bei Bürgern aber nicht erkennbar sein,
auch durch Repressionen durchgesetzt werden.
Die Wiederbelebung eines sozialen Pflichtjahres und/oder die gesellschaftliche Ächtung von
Bürgern, die soziales Engagement grundsätzlich
verweigern, wären denkbare Varianten zur gesellschaftlichen Durchsetzung dieser Vorstellung. Es
wird ein verbindlicher Mindestzeitraum definiert,
für den sich jeder Bürger sozialen Aktivitäten zu
widmen hat. Pflegearbeit wird vorrangig durch
zivilgesellschaftlich organisierte Gruppen geleistet und kann damit kostengünstig und individuell
angeboten werden. Pflegearbeit wird grundsätzlich gemeindenah, in der häuslichen Umgebung
pflegebedürftiger Menschen erbracht. Familienmodelle, ehrenamtliche Aktivitäten, nachbarschaftliche Solidarität, Mehrgenerationeninitiativen, lokale Interessen- und Nutzergemeinschaften – Ansätze dieser Art differenzieren sich dazu
je nach lokalen Gegebenheiten zu unterschiedlichsten Unterstützungssystemen aus.
Neue Technologien können aufgrund hoher
Nutzerakzeptanz und -kompetenz sowie staatlicher Förderung gut in die Netzwerkarbeit integriert werden und unterstützen sowohl Aspekte
der unmittelbaren Versorgung als auch der Qualitätssicherung.
Um gesellschaftliches Engagement im Rahmen dieses Modells sinnvoll zu bündeln, erhält
die Entwicklung und Aufrechterhaltung von lokalen Netzwerken eine große Bedeutung. Die Organisation, Koordination und Beratung lokaler sozialer Netzwerke wird dabei als zentrale Aufgabe
der Kommunen betrachtet, der sie mit Unterstützung gemeinnütziger Leistungsanbieter nachkommen. Die Kommunen zeichnen dafür verantwortlich, dass sichergestellt ist, dass alle Bürger,
unabhängig vom gesundheitlichen oder sozialen
Status, ihrer Verpflichtung zum bürgerschaftlichen Engagement nachkommen. Sie unterstützen
darüber hinaus die soziale Netzwerkarbeit durch
Bereitstellung der erforderlichen (z. B. technischen) Infrastruktur und sichern die Finanzierung
von notwendigen Materialien (z. B. Pflegehilfsmittel). Die Bereitstellung dieser Leistungen über
die Kommunen sorgt dafür, dass die jeweiligen
Modelle die lokalen Besonderheiten und gewachsenen Traditionen berücksichtigen und in enger
Abstimmung mit den Bürgern erstellt werden.
Moderner Technologie kommt im Kontext
netzwerkgestützter Hilfeleistungen eine besondere Funktion zu: Sie trägt insbesondere dazu
bei, dass die komplexe Abstimmung von Unterstützungsbedarfen und Unterstützungsangeboten
optimiert werden kann. Eine Gesellschaft, in
der „sozial nachhaltige Netzwerke“ eine tragende Funktion übernehmen, hat gelernt, moderne
Technologien in einer Weise zu entwickeln und
zu verwenden, die primär der Unterstützung
der zentralen Aufgaben des gesellschaftlichen
Handelns dient. Entwicklung und Verwendung
moderner Technologien erfolgen grundsätzlich
entlang gesellschaftlich formulierter Ziele. Technologien gelten erst dann als innovativ, wenn sie
dazu führen, dass die Gesellschaft der Realisierung ihrer Zentralziele näher kommt.
In der „Jeder MUSS ran“-Gesellschaft geht
es darum, dass jede Generation und ganz konkret
jeder Bürger soziales Engagement in das gesellschaftliche Leben einbringt, andererseits aber auch
von der sozial engagierten Gesellschaft profitieren
kann. Jüngere Generationen profitieren von der
Lebenserfahrung der Älteren, die gesellschaftlich
an Bedeutung gewinnt. Darüber hinaus bringen
sich Ältere aber auch ganz konkret in das gesellschaftliche Leben ein und unterstützen mit ihren
vielfältigen Erfahrungen das Alltagsleben jüngerer Familien. Die älteren Generationen profitieren,
indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ein
Leben und Sterben in der biografisch gewachsenen bzw. individuell gewünschten Umgebung bei
hoher gesellschaftlicher Integration zu führen und
dabei ggf. sinnstiftende Aktivitäten bis ins hohe
Alter ausüben zu können. Selbst pflegebedürftige
Menschen können vor diesem Hintergrund noch
für ein soziales gesellschaftliches Engagement gewonnen werden. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, Alter und schließlich auch Tod und Sterben als
natürliche Phänomene zu akzeptieren und in das
gesellschaftliche Leben zu integrieren. Vor diesem
Hintergrund wird den Menschen ermöglicht, den
Altersprozess, ggf. mit Unterstützung von Rehabilitations- und Versorgungsteams, bewusst zu gestalten,, ggf. auch zu genießen und sich aktiv mit
dem eigenen Sterbeprozess auseinanderzusetzen.
Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
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SCHWERPUNKT
Die Bereitstellung freiwilliger sozialer Ressourcen führt dazu, dass die Engführung der Pflegedebatte auf rein finanzielle Aspekte überwunden wird. Die Einsicht, dass Pflegearbeit nicht
auf somatisch-funktionale Aspekte zu reduzieren
ist, sondern komplexe soziale und lebensweltlichbiografische Facetten wesentlich einzubinden
sind, findet gesellschaftliche Anerkennung. Es
wird jedoch davon ausgegangen, dass entsprechende Aktivitäten (Prävention, Gesundheitsförderung, Unterstützungsleistungen etc.) über kollektive Sach- und Geldleistungen und nicht über
den privaten Konsum zu finanzieren sind. Das solidarökonomische Marktmodell der Pflege wird
wesentlich über kollektive Finanzierungsleistungen sichergestellt. Jeder Bürger zahlt in eine Versicherung entsprechend seiner wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit ein und erhält umgekehrt auch
Leistungen aus dem Solidarsystem. Die Versorgung eines jeden wird damit durch aktives soziales und finanzielles Engagement eines jeden Bürger der Solidargemeinschaft sichergestellt – Pflegeleistungen sind zwar innerhalb des jeweiligen
Unterstützungsnetzwerkes individuell auszuhandeln, es wird aber darauf Wert gelegt, dass dabei
individuelle Präferenzen nicht zu qualitativen
Unterschieden in der Versorgung führen.
4.2
Das Szenario B: „Leben ohne Alter“
Das Szenario „Leben ohne Alter“ kann aufgrund
folgender Konstellation der projizierten zentralen
Einflussfaktoren beschrieben werden (Abb. 4).
Es entwickelt sich eine Gesellschaft, in der
Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit
höchste Priorität erhalten und alle Beteiligten
zu besonderen Investitionen in Gesundheit und
Vitalität bereit sind. Leistungsfähigkeit und Vitalität gehören zum Habitus des modernen Menschen, der sich selbst auf Jugend, Gesundheit,
Dynamik und Leistungsbereitschaft verpflichtet.
Das gesellschaftliche Leben sowie gesellschaftliche Investitionen konzentrieren sich nahezu
ausschließlich auf die Lebensphasen und Lebensbereiche, an denen aktive, leistungsstarke
und vitale Bürger beteiligt sind.
Abb. 4: Einflussgrößen Szenario „Leben ohne Alter“
Gesellschaftliches
Pflegesystem:
Professionelle Pflege
Werte-Kodex:
Marktmodell:
Einheitliches Wertesystem
Freie Marktwirtschaft
Technische
Assistenzsysteme:
Konsumbereitschaft:
Hohe Konsumbereitschaft für
Gesundheit und Pflege
Technik als „Master“
Leben im Alter:
„Leben ohne Alter“
Versorgungssetting:
Exklusion
Komplette „Verheimung“
Altersmedizin:
Anspruch an Versorgung:
„Abschaffung des Alters“
Ordnungspolitisches
Konzept:
Marktmodell
Akteure:
Zentralmodell
Träger:
Globale Träger
„Satt & Sauber“
Finanzierungsmodell:
Individuelle Finanzierung
Quelle: Eigene Darstellung
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Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24. Jg., Heft 2, August 2015
SCHWERPUNKT
Öffentlich sichtbare Alterserscheinungen
sind in dieser Gesellschaft überwunden, gesellschaftlich gilt das Alter als abgeschafft, es ist in
der Öffentlichkeit nicht mehr präsent und gesellschaftlich auch nicht erwünscht. Eine hoch
potente lebenswissenschaftlich orientierte Forschung unterstützt diese Entwicklung durch Bereitstellung von technologischen und medizinischen Innovationen im Bereich der funktionalen
und ästhetischen Optimierung des menschlichen
Körpers (z. B. „Functional Food“, Transplantationen, technische Implantate, Genmanipulationen
etc.). Die Lebenserwartung kann mit diesem Modell deutlich verlängert werden. Krankheit, Alter
und Pflege werden als gesellschaftliche Bürde
erfahren, gesellschaftliche Aufwendungen für
diese Phänomene werden entsprechend auf ein
Minimum reduziert.
Innovative Technologien spielen in diesem
Gesellschaftssystem eine zentrale Rolle, insofern
sie u. a. auch für den reibungslosen Datenfluss
zur Kontrolle und Steuerung von Vital- und Gesundheitsdaten erforderlich sind. Technologische Systeme sind weiterhin zentral an Entscheidungsprozessen zur Bestimmung des „gesellschaftlichen Wertes“ eines konkreten Menschen
beteiligt und geben automatisiert Hinweise zur
„Gesellschaftstauglichkeit“ der Individuen.
Der einzelne Bürger ist grundsätzlich aufgefordert, seine Leistungsfähigkeit permanent zu erhalten und ggf. auch nachzuweisen. Medizinische
Rehabilitationsprogramme sind zwar freiwillig,
aber gesellschaftlich hoch akzeptiert, sie werden
von den Bürgern rege in Anspruch genommen,
um sich bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen
rasch wieder in das Berufsleben zu integrieren.
Präventions- und Gesundheitsleistungen werden
über einen freien und globalen Gesundheitsmarkt
angeboten, der vielfältige kommerzielle Angebote
zur Unterstützung und zum Erhalt der Leistungsfähigkeit hervorbringt und damit die Sozialkassen
erheblich entlastet. Freier Wettbewerb und private
Finanzierung von Vital- und Gesundheitsleistungen führen auch zur Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung von neuen Gesundheitsberufen
(z. B. Revitalisierungscoach etc.). Die Konsumbereitschaft für Vital- und Gesundheitsleistungen
auf Seiten der Bürger ist hoch und stabilisiert den
neu entstehenden Markt.
Im Aufbau ist ein hoch differenziertes, medizinisch optimiertes Revitalisierungssystem
auf der Basis eines technikgestützten Revitalisierungsmonitorings. Ein implantierter Revitalisierungsmonitor erkennt im Einzelfall, wann ein
Mensch einen Revitalisierungsschub benötigt
und leitet die Informationen an ein Care-Center
weiter. Damit wird es möglich, die periodisch
notwendigen Revitalisierungsbedarfe zu erkennen und überdies einzelfallorientierte Maßnahmen anzubieten, die das Leben bei spontanen
Revitalisierungsbedarfen substanziell verbessern
und die erwünschte Leistungsfähigkeit herstellen. Revitalisierungsmaßnahmen sind aus medizinischen Gründen regelmäßig durchzuführen,
ein Verzicht darauf führt zu einer schnellen Degradation der Lebensfunktionen.
Reagieren die Vitalparameter einer Person
bei einem Revitalisierungsprozess nicht wie erwünscht, wird mit dem Einverständnis der betreffenden Person der Sterbeprozesses eingeleitet, der
zeitlich auf eine kurze Periode reduziert werden
kann. Diese kurze Sterbephase wird so angenehm
wie möglich („Restlebensglück“), aber auch gesellschaftlich so unauffällig wie möglich gestaltet.
Menschen, die sich grundsätzlich nicht in
das gesellschaftlich etablierte Revitalisierungssystem einbinden wollen, haben die Möglichkeit,
auf eine „Lebensinsel“ verbracht zu werden. Dies
ist ein Lebensraum, der international sanktioniert
und genutzt wird, wirtschaftlich unabhängig ist
und in dem keine Revitalisierungen erfolgen.
Personen, die diesen Weg gehen, sind auf diese
Weise gesellschaftlich isoliert, exkludiert und öffentlich unsichtbar gemacht.
In der Übergangsphase bis zur Etablierung
des Revitalisierungssystems bis 2053 ist alten,
gebrechlichen und pflegebedürftigen Menschen
– aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit – das
Recht auf Wertschätzung abhandengekommen.
Eine „Satt & Sauber-Pflege“ bis zum Lebensende entspricht dem gesellschaftlichen Status
dieser Menschen. Gleichzeitig wird aber für eine
gute Versorgung und ein angemessenes soziales
Umfeld von Sterbenden gesorgt. Sterben und Tod
entziehen sich der öffentlichen Wahrnehmung
und sind gleichzeitig auch nicht mehr Teil des
gesellschaftlichen Lebens. Globale Träger ermöglichen durch Implementierung international
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etablierter Versorgungs- und Qualitätsstandards
eine Betreuung bis zum Lebensende. Altern,
Pflegebedarf, Gebrechen, Sterben und Tod verschwinden durch komplette Institutionalisierung
(„Verheimung“) und ggf. durch die Überführung der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen
in kostengünstigere Drittländer weitgehend aus
dem Bewusstsein der Bevölkerung und sind im
gesellschaftlichen Alltag nicht mehr präsent.
5 Schlussbetrachtungen
Der vorliegende Beitrag skizziert einen Szenarioprozess zur Zukunft der Pflege. Die Teilnehmer
der „Zukunftsreise“ haben sich dazu, systematisch geleitet, über die Grenzen der aktuell vorliegenden Faktenlage hinausbewegt. Das Ziel der
„Zukunftsreise“ besteht weder darin, die Zukunft
von gesellschaftlich relevanten Entwicklungen
konkret vorherzusagen, noch darin, eine Bewertung der generierten Zukunftsszenarien herbeizuführen, um die Realisierung von wünschenswert erachteten Zustände vorzubereiten. Es geht
vielmehr darum, die Bandbreite möglicher Entwicklungen aufzuzeigen und damit den Blick für
zukünftige Problemstellungen zu schärfen und
Anregungen für Handlungsoptionen zu liefern.
Die Vorstellung der Ergebnisse der „Reise in
die Zukunft der Pflege – 2053“ wurde im vorliegenden Beitrag auf die Betrachtung der Entwicklungsphasen und der zwei konträren Szenarien zur
Zukunft der Pflege beschränkt. Für die Vorstellung des Trend-Szenarios und die bildhafte Beschreibung der Szenarien, die auch Teil der Szenarien-Interpretation gemäß Phase 6 sind, wird
auf weiterführende Veröffentlichungen verwiesen
(Wiemann et al. 2015a und b). Weiterhin wird auf
Ausführungen zu den Rückwirkungen der identifizierten Szenarien auf die gegenwärtige Situation zunächst verzichtet, da die Materialbasis zu
den Phasen „Störfallanalyse“, „Konsequenzenanalyse“ und „Maßnahmenplanung“ (vgl. Schritte 7 und 8 in Abb. 1) weiter zu verdichten ist, um
zu belastbaren Aussagen zu gelangen. Eine jüngst
angelaufene Studie an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen
Hochschule Vallendar wird diesbezüglich substanzielle Beiträge zu gewinnen suchen, indem die
Diskussionsgrundlage durch Einbindung von öf-
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fentlichen und fachöffentlichen Diskursen deutlich verbreitert werden soll.
Zu den wesentlichen Erkenntnissen des vorliegenden Beitrags wird dagegen gezählt, dass
– unabhängig von der konkreten Belastbarkeit
der hier generierten Szenarien – die Zukunft der
Pflege in Deutschland voraussichtlich ganz erheblich mit gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen verknüpft sein wird. Die Zukunft der Pflege
ist abhängig von in sich komplexen und komplex
zusammenwirkenden Faktoren, die sich in der
gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt, insbesondere aber in der wirtschaftlichen sowie der
wissenschaftlich-technologischen Entwicklung
begründen. In welche Richtung sich die Gesellschaft bewegen will – sei es in Richtung einer
leistungs-, vitalitäts- und gesundheitsorientierten,
sei es in Richtung einer zivilgesellschaftlich und
sozial orientierten Gesellschaft – wird wesentlich
davon abhängen, ob es gelingt, Fragen der langfristigen Entwicklung öffentlich und nachhaltig
zur Diskussion zu stellen, Zukunftsgestaltung
also zu einer öffentlichen Aufgabe zu machen.
Szenarien der ästhetischen und gesundheitlichen Selbstüberwachung und Selbstkorrektur
im Sinne der Selbstoptimierung konkretisieren
und realisieren sich derzeit bereits ebenso (vgl.
Harrasser 2013) wie Entwürfe der „Sorgenden
Gemeinschaft“ (vgl. Klie 2014). Auch die damit
verbundenen Herausforderungen werden deutlicher: Während der eine Trend Selbstoptimierung
ins kollektive Bewusstsein hebt und auf diese
Weise einen Kulturwandel vorantreibt, der die
Freiheit des Individuums oberflächlich betrachtet
zwar erweitert, letztlich aber Handlungszwänge
(auch im Bereich der Pflege) entlang normativer gesellschaftlicher Kategorien deutlich verschärft, sucht der gegenläufige Entwurf Pflegearbeit in eine beziehungs- und alltagsorientierte,
zivilgesellschaftlich aufzufangende Sorgearbeit
und eine spezialisierte und problemlösende, professionell zu erbringende Versorgungsarbeit aufzuspalten und verliert damit das Potenzial einer
Pflegearbeit aus dem Blick, für das Wohlergehen
der Hilfeempfänger konstitutive Transformationsleistungen an der Schnittstelle von Gesundheitssystem und Lebenswelt zu erbringen. Die
Möglichkeiten und Begrenzungen der derzeit anvisierten Zukünfte der Pflege im Lichte der mög-
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lichen Zukünfte zu reflektieren und vor diesem
Hintergrund Handlungsoptionen für eine „Gesellschaft des langen Lebens“ auszuloten, bleibt
damit eine zentrale Aufgabe.
Anmerkung
1) Das Projekt wurde mit Mitteln des Bayerischen
Finanzministeriums, der Hans Sauer Stiftung, des
Vincentz Verlags und der deep innovation GmbH
finanziert. Weitere Informationen zum Projekt
„Reise in die Zukunft der Pflege – 2053“ sind über
http://www.zukunftsreise-pflege.de und über die
Projektpartner deep innovation GmbH München,
Lehrstuhl für Gemeindenahe Pflege der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, mcquadrat Berlin und v. Reibnitz St Paul – de Vence
zugänglich.
Literatur
Beckert, B.; Goluchowicz, K.; Kimpeler, S. et al.,
2008: Die IT- und Medienwelt in Baden-Württemberg
im Jahr 2020. Vier Basisszenarien. Stuttgart
Brandenburg, H.; Güther, H.; Proft, I. (Hg.), 2015:
Kosten kontra Menschlichkeit. Herausforderungen an
eine gute Pflege im Alter. Ostfildern
deep innovation GmbH (Hg.), 2015a: Reise in die
Zukunft der Pflege – 2053. Autoren: Wiemann, B.;
Hülsken-Giesler, M.; Diemer, R. et al. München
Popp, R.; Schüll, E. (Hg.), 2009: Zukunftsforschung
und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft
und Praxis. Berlin
Rothgang, H.; Müller, R.; Unger, R., 2012: Themenreport „Pflege 2030“. Was ist zu erwarten – was ist zu
tun? Gütersloh
Slotala, L., 2011: Ökonomisierung der ambulanten
Pflege. Eine Analyse der wirtschaftlichen Bedingungen und deren Folgen für die Versorgungspraxis ambulanter Pflegedienste. Wiesbaden
vbw – Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft e.V.,
2012: Pflegelandschaft 2030. Eine Studie der Prognos
AG im Auftrag der vbw; http://www.prognos.com/
fileadmin/pdf/publikationsdatenbank/121000_Prognos_vbw_Pflegelandschaft_2030.pdf
(download
17.2.13)
Vollmar, H.Chr. (Hg.), 2014: Leben mit Demenz im
Jahr 2030. Ein interdisziplinäres Szenario-Projekt zur
Zukunftsgestaltung. Weinheim
Wilms, F.E.P. (Hg.), 2006: Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft. Bern
Kontakt
Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler
Pflegewissenschaftliche Fakultät
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Pallottistraße 3, 56179 Vallendar
E-Mail: [email protected]
deep innovation GmbH (Hg.), 2015b: Pfade in die Zukunft der Pflege – Ausgewählte Handlungsräume in
Bayern. Autoren: Wiemann, B.; Hülsken-Giesler, M.;
Diemer, R. et al. München
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Harrasser, K., 2013: Körper 2.0. Über die technische
Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld
Klie, T., 2014: Wen kümmern die Alten? Auf dem
Weg in eine sorgende Gemeinschaft. München
Kosow, H.; Gaßner, R.; Erdmann, L. et al., 2008:
Methoden der Zukunfts- und Szenarioanalyse. Überblick, Bewertung und Auswahlkriterien. Berlin
Manzei, A.; Schmiede, R. (Hg.), 2014: 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen. Wiesbaden
MSW NRW – Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), o. J.:
Die Szenario-Methode. Grundgedanke, Ziele, Merkmale, Typen. Landesprogramm Bildung und Gesundheit; http://www.bug-nrw.de/cms/upload/pdf/struktur.
pdf (download 2.7.15)
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