Diss. Lang Verlag 22.5.11.11

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I. Einleitung
Eine literaturwissenschaftliche Studie, die sich an einer fundamentalphilosophischen Denkfigur orientiert, ist heute eher selten. Dies mag zum einen daran liegen, dass das Vertrauen in eine allumfassende philosophische Theorie zu gering
geworden ist, um die eigene Deutung darauf zu gründen, und zum anderen daran, dass das Misstrauen gegenüber klassifizierenden Theorien zum Erbbestand
der Literaturwissenschaft gehört.1 Ein gemeinsamer Grundtenor der verschiedenen Formen von Theorieskepsis indessen liegt im Vorwurf der Vereinheitlichung konkreter Phänomene durch abstrakte Kategorien: Dem dadurch beschädigten Einzelphänomen werde abgezwungen, was es von sich aus nicht sagen will. Dieser Topos wissenschaftlicher Bescheidenheit, der anmahnt, nicht
mehr zwingend das große Ganze zu wollen, sondern am Partikularen vielleicht
einen Abglanz jenes Ganzen zu erhaschen, gehört ohne Zweifel zum Kernbestand einer wissenschaftlichen Hygiene.
Wenn in der vorliegenden Arbeit dennoch eine philosophische Denkfigur,
die der transzendentalen Differenz, den Anspruch erhebt, zum einheitlichen
Leitfaden einer Interpretationsmethode zu werden, dann ist dies dadurch zu
rechtfertigen, dass ihre vereinheitlichende Tendenz mitnichten im Widerspruch
steht zur dynamischen und kontingenten Offenheit historischer Phänomene.
Vielmehr soll sich die Anschlussfähigkeit einer ‚klassischen’ philosophischen
Fragestellung für aktuelle Anthropologie herausstellen, indem am Einzelphänomen, dem Text, gezeigt wird, dass er von sich aus jene Widersprüche und Verweise diskutiert, zu deren Erhellung – so die These dieser Untersuchung – die
Frage nach der transzendentalen Differenz unverzichtbar ist.
Dies impliziert den Rückgriff auf ‚klassische’ Philosophie. In bewusster
Abgrenzung gegen eine weitverbreitete Beliebigkeit im Zeichen postmodernen
Methodenpluralismus’ vertrete ich die Auffassung, dass sowohl die Reflexion
auf die Grundthesen der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants als auch
auf den Begriff der Dialektik bei Hegel nicht einfach umgangen werden kann
durch Berufung auf deren ‚metaphysische’ Prämissen oder gar deren Komplexität, die eine überschaubare wissenschaftliche Verwertung unmöglich mache.
Es geht nicht darum, sich in schwierigen Detailfragen der Philosophie des deut1
War es in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine allgemeine Theorieskepsis, die das literaturwissenschaftliche Interpretieren, insbesondere die
sogenannte ›werkimmanente Interpretation‹ bestimmte, so ist der aktuelle Methodenund Theoriepluralismus postmoderner Analysemodelle auf seine Weise eine Abwehr
einheitlicher Theorie – allerdings in den überwiegenden Fällen mittels satirisch anmutender Übertheoretisierung.
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schen Idealismus zu verbluten. Vielmehr soll die einheitliche Grundannahme
dessen, was Transzendentalität und Dialektik für eine anthropologisch verantwortliche Interpretationspraxis bedeuten, eine klare Richtung anzeigen, inwiefern historische Phänomene – also Texte – philosophisch bewertet werden können, ohne dass man dabei Gott spielen muss.
Transzendentale Differenz sowie Dialektik besagen auf ihre Weise, dass die
Welt nicht ‚fertig’ ist, sondern offen und prozesshaft. Damit betonen sie das
Grundmoment moderner Lebenserfahrung. Allerdings bewerten sie die Offenheit und Kontingenz des Seinsgeschehens als Resultat einer Dialektik zwischen
Subjektspontaneität und einem Anderen, nämlich dem, was sich als Natur oder
als manifest gewordene, institutionalisierte Freiheit zu erkennen gibt. Transzendentale Differenz besagt hier, dass bedingte Welt nur vermittels unbedingter
Subjektkategorien erfahren werden kann, wodurch die Dynamik bereits in die
Erkenntnistheorie verlegt wird. Dialektik besagt hier, dass die Faktizität manifest gewordener ‚Wirklichkeit’ vorläufig ist, da das Bestehende und die vernünftigen Subjekte in einem dialektischen Korrelationsverhältnis stehen.
Das Offene und Unverfügbare ist somit nicht der Feind des Theorems.
Transzendentalität und daraus resultierende Dialektik erzeugen vielmehr jene
‚Freiheit’ historischen Geschehens, die nur deshalb chaotisch und unberechenbar erscheint, weil sie vom klassifizierenden Verstand nicht begriffen werden
kann. Diese Differenz zwischen einem Verstand, der das Entweder-Oder zum
Richtmaß hat und einer Vernunft, die das Sowohl-als-Auch in ihre Metareflexionen aufnimmt, bildet bekanntlich eine Grundfrage des von Kant herkommenden deutschen Idealismus. Vorliegende Arbeit möchte anhand von Einzelinterpretationen aus drei Epochen aufzeigen, inwiefern jenes dialektische Spannungsverhältnis von Verstand und Vernunft – die transzendentale Differenz also
– innerhalb des Subjekts eine maßgebliche Rolle für die philosophische Ästhetik
spielt.
Es ist das Ziel der Studie, die ästhetische Gestaltung von freiheitlicher Subjektivität innerhalb der deutschsprachigen Literatur von der Aufklärung bis zum
poetischen Realismus zu untersuchen und zu bewerten. Der Übergang vom naturrechtlich-physikotheologisch geprägten Paradigma der bürgerlich-empfindsamen Texte Sophie von La Roches über das Freiheitsparadigma KantSchillerscher Provenienz hin zu dessen Problematisierung in einer Novelle von
Conrad Ferdinand Meyer bildet dabei den Forschungsgegenstand. Die Arbeit
orientiert sich an der Frage, wie das Verhältnis von freiheitlicher Spontaneität
und vorgegebenem Naturbegriff in der erzählenden Dichtung jeweils stofflich
artikuliert und formal gestaltet wird. Die von Immanuel Kant innerhalb der Subjektphilosophie transzendental begründete Differenz von Verstand und Ver-
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nunft, die der Begriff der „transzendentalen Differenz“ bezeichnet und von der
eingangs bereits die Rede war, bildet dabei den Leitfaden der Untersuchung.2
Methodisch ist die vorliegende Studie einer transzendental ausgerichteten
Hermeneutik verpflichtet.3 Eine solche Hermeneutik stellt zum Zwecke der
Sinnstiftung Fragen an die Dichtung. Diese ergeben sich zum einen aus der
Transzendentalphilosophie, wie sie insbesondere von Immanuel Kant und Friedrich Schiller für die philosophische Ästhetik formuliert worden ist, zum anderen
aus deren dialektischer Interpretation.4 Wie gestalten poetische Texte verschiedener Epochen das Verhältnis von Natur- und Freiheitsbegriff? Wird die Differenz von freiheitlichem Selbstbewusstsein und historischer Faktizität artifiziell
erfasst? Inwiefern wird Subjektivität als Voraussetzung und Resultat von Geschichte begriffen? Welche Diskussion des Freiheitsbegriffs ergibt sich daraus?
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Ich verwende den Begriff der „transzendentalen Differenz“ in der Interpretation des
Wiener Philosophen Erich Heintel. Vgl. Erich Heintel: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 1991, S. 59: „Ich nenne den Unterschied zwischen dem, was unmittelbar gegeben ist, und jenem Ich, das die Vermittlung selber ist, die ‚transzendentale
Differenz’. […] Die transzendentale Differenz besagt, daß ganz generell Vermittlung
nicht in der Weise gedacht werden kann wie das Gegebene, daß in ihr jeweils vermittelt
wird. Auf die Erfahrungserkenntnis angewendet, ergibt sich von hier aus die Einsicht
Kants, daß Erfahrung nicht selbst als ein Vorgang in der Erfahrung angesetzt werden
kann.“ Vgl. auch ders.: Grundriß der Dialektik. Band 1 und 2. Zwischen Wissenschaftstheorie und Theologie. Darmstadt 1984. Bd. 1, S. 202f.
Vgl. Dieter Kimpel: Transzendental-hermeneutische Literaturwissenschaft. In:
Methodische Praxis der Literaturwissenschaft. Modelle der Interpretation. Hrsg. v.
Dieter Kimpel und Beate Pinkerneil, Kronberg 1975, S. 85-117; ders.: Zur Bedeutung
empirischer Verfahren im Rahmen der transzendental-hermeneutischen Literaturwissenschaft. In: Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik. Hrsg. v. Ulrich
Nassau. München 1979, S. 10-47; ders.: Die Hermeneutik des „als-ob“. Zur transzendentalistischen Begründung der sprachästhetischen Erfahrung. In: Literaturwissenschaft. Probleme ihrer theoretischen Grundlegung. Hrsg. v. Volker Bohn. Stuttgart (u.a.)
1980, S. 66-105; sowie ders.: Historismus, Realismus und Naturalismus in Deutschland.
In: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der Westlichen Welt.
6 Bde. Bd. 5: Das bürgerliche Zeitalter 1830-1914. Berlin 1984, S. 303-334.
Theoretisches Fundament einer solchen Herangehensweise bildet die transzendentale
philosophische Ästhetik in ihrer fundamentalphilosophischen Interpretation durch den
Wiener Philosophen Erich Heintel (1912-2000). Vgl. Erich Heintel: Naturzweck und
Wesensbegriff. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer.
Hrsg. v. Dieter Henrich und Hans Wagner. Frankfurt 1966, S. 163-188; sowie ders.: Die
beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens. Bd. 1. Wien u. München 1968; sowie
ders.: Grundriß der Dialektik. Band 1. Zwischen Wissenschaftstheorie und Theologie
und Band 2. Zum Logos der Dialektik und zu seiner Logik. Darmstadt 1984.; sowie
ders.: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 1991.
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Im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vollzieht sich im philosophischen Diskurs die Problematisierung des naturrechtlichen Koordinatensystems.5
Die normierenden und fixierenden anthropologischen Schätzungen über das
Wesen des Menschen und seiner Geschichte weichen vermehrt dynamischen
Konzepten, welche die Qualität von Individualität, Spontaneität und Historizität
neu bewerten.6
Dabei erweist sich die Formierung eines spezifisch historischen Bewusstseins als eine der folgenschwersten Krisen der abendländischen Geistesgeschichte.7 Denn die Möglichkeit der Integration historischen Geschehens sowie
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Der Begriff des Naturrechts ist vielseitig und widersprüchlich. Für Friedrich Meinecke
liegt das Wesentliche der naturrechtlichen Denkweise in einer generalisierenden Auffassung vom Wesen des Menschen begründet: „Der Mensch mit seiner Vernunft und
seinen Leidenschaften, seinen Tugenden und Lastern sei, so meinte man, in allen Zeiten, die wir kennen, im Grunde derselbe geblieben. [...] Es war insbesondere die von der
Antike her herrschende naturrechtliche Denkweise, die den Glauben an die Stabilität der
menschlichen Natur, voran der menschlichen Vernunft, einprägte.“ Der Naturrechtsbegriff wird in Abgrenzung zum Historismus gefasst. Vgl. Friedrich Meinecke: Die
Entstehung des Historismus. Hrsg. und eingeleitet von Carl Hinrichs. München 1965, S.
3. Vgl. auch den aufschlussreichen Aufsatz von Sebastian Kaufmann: Die stoischciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der
europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der
Antike bis zur Moderne. Hrsg. v. B. Neymeyr, J. Schmidt, B. Zimmermann, Band 1.
Berlin 2008, S. 229-292, hier besonders S. 280ff.: „Auch im Mittelalter spielt die Gedankenfigur eines Naturzustandes eine gewisse Rolle für das Naturrechtsdenken, indem
dieser mit dem paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall identifiziert wird […]. In
der Neuzeit gehört der Rekurs auf einen Naturzustand zu jeder Naturrechtstheorie.“ Die
Begriffe „Naturrecht“ und „naturrechtlich“ werden in vorliegender Arbeit in dem von
Meinecke geprägten Sinne verwendet. Es geht weniger um den Aspekt der Regulation
positiven Rechts, der ja ein Grundmoment des Naturrechtsdenkens ausmacht, als vielmehr um die naturrechtliche Auffassung einer ontologisch bestimmten Natur, die sich in
der Geschichte manifestiert. Indem die Moderne den Naturbegriff in einer vorher nie
dagewesenen Weise problematisiert, wird auch der aufklärerische Begriff des Naturrechts fragwürdig, da in ihm Natur und Vernunft nicht zureichend, d.h. transzendental
differenziert sind.
Vgl. zur Ideengeschichte Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus; sowie
Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979.
Zur Ideengeschichte vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v.
Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII,
sowie ders. zusammen mit Reinhart Herzog (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269-282, sowie Isaiah Berlin: Wirklichkeitssinn. Ideenge-
dessen Voraussetzung, die motivierte menschliche Praxis, in ein naturrechtlich
oder schöpfungstheologisch abgesichertes Paradigma erlischt spätestens mit der
breiten Rezeption der Kantischen Philosophie. Dessen Begründung eines transzendentalen Subjektbegriffs erweist den Menschen sowohl als Voraussetzung
epistemologischer, moralischer und ästhetischer Diskurse als auch als deren
Produkt. Innerhalb historischer Kausalität ist menschliche Existenz somit immer
schon Voraussetzung und Resultat von Geschichte. Damit wird einerseits der
durch die Aufklärung vorbereitete Subjektbegriff in seiner prinzipiell möglichen
Spontaneitätsdimension abgesichert, gleichzeitig dessen ungeschichtliche Hypostasierung vermieden. Durch die transzendentalen Konstitutionsbedingungen
von Subjektivität steht menschliches Bewusstsein sowohl in als auch über der
Geschichte. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer transzendental-hermeneutisch fundierten Selbstkonstitution, d.h. die Möglichkeit, Geschichtliches verstehend einzuholen, kritisch zu durchdringen und letztlich vernünftig motivierte
Praxis zu vollziehen, deren finale Kausalität vom gesetzesfixierten Verstand
nicht identifiziert werden kann. Etwas einfacher ausgedrückt meint transzendental-hermeneutisch fundierte Selbstkonstitution somit den Aufbau einer integrierten Persönlichkeit in Verantwortung vor Vergangenheit und Zukunft. 8
Vorliegende Arbeit untersucht anhand ausgewählter Interpretationen von
Texten Sophie von La Roches, Friedrich Schillers und Conrad Ferdinand Meyers jenen Problembefund der transzendental-hermeneutisch ausgerichteten Subjektphilosophie: Inwiefern werden menschliche Praxis und die daraus abgeleiteten geschichtsphilosophischen Motive in der nicht zu fixierenden Sonderstellung zwischen historischer Faktizität und qualifizierter Spontaneität im poetischen Text gestaltet und begriffen? Bürgerliche Aufklärung, Transzendentalismus und der Realismus des 19. Jahrhunderts sollen dabei anhand von Einzelinterpretationen auf jenen problematischen Prozess innerhalb der Herausbildung
geschichtsphilosophisch relevanter Poesie hin untersucht werden, der bis heute
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schichtliche Untersuchungen. Hrsg. v. Henry Hardy. Berlin 1998, sowie ders.: Die
Wurzeln der Romantik. Hrsg. v. Henry Hardy. Berlin 2004.
Vgl. Dieter Kimpel: „Meine Gedanken verklagten und entschuldigten sich untereinander.“ Zur Bedeutung des Gewissens in C.F. Meyers Novelle „Das Amulett“. In: „Spielende Vertiefung ins Menschliche“. Festschrift für Ingrid Mittenzwei. Hrsg. v. Monika
Hahn. Heidelberg 2002, S 109-124, hier S. 123f.: „Dem deutschen Idealismus von Kant
bis Hegel, von der Weimarer Klassik bis hin zu Hölderlin, Kleist und der Romantik war
der Gedanke selbstverständlich, dass die Freiheit des Gewissens dem Menschen nicht
geschenkt ist, sondern im Gesamtraum geschichtlicher Lebenswirklichkeit erworben
werden muss; daß das sich aufklärende und emanzipierende Subjekt seine natur- und
traditionsgebundene Existenz zu reflektieren habe, um tätige Substanz in der Geschichte
überhaupt erst entfalten und aus dem Bewusstsein der Differenz enggeführte Grenzen
als solche überschreiten zu können.“
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