Widerspruch Nr. 16/17 Ich - Subjekt - Individuum(1989), S.117

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Widerspruch Nr. 16/17 Ich - Subjekt - Individuum(1989), S.117159
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Karl Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des
Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/Main 1988
(Suhrkamp), 488 S., geb. 68.Der neueste Band Karl Otto Apels
versammelt Aufsätze und Vorträge,
die zum überwiegenden Teil erstmals zwischen 1986 und 1988 erschienen sind. Obwohl die meisten
unter ihnen wohl zufälligen Anlässen ihre Entstehung verdanken, machen sie doch in ihrer Bündelung
das neue Anliegen Apels und die
dabei zugrunde gelegte konzeptionelle Einheit deutlich. Gerade im
Vergleich zwischen den ersten drei
Aufsätzen, die ihre Entstehung in
den siebziger und den frühen achtziger Jahren deutlich verraten, und
den seit 1986 erschienenen Aufsätzen wird der Sprung, um nicht zu
sagen der Neuansatz in der von Apel vertretenen Diskursethik klar
erkennbar. Das bisher vorgetragene
Konzept einer transzendentalpragmatischen Normenbegründung
soll in deutlicher Absetzung von
Habermas und aufgrund der Kritik
ihrer Verkürzung und Mängel in
Richtung einer Verantwortungsethik
erweitert werden. Das Problem, so
Apel, das die Erweiterung der deontologisch-universalistischen Prinzipienethik um eine Interimsethik der
Verantwortung herausforderte, entsprang dem im bisherigen Konzept
ungenügend reflektierten Versuch,
zwischen abstrakter Normenethik
auf der einen und geschichtlicher
Lebenswelt auf der anderen Seite zu
vermitteln. Dieser Schritt, zwischen
einer postkonventionellen Moral
Kantischen Typus’ und den realen
Anwendungsbedingungen jeder Ethik in der sozialkulturellen Wirklichkeit eine Vermittlungsstufe einzuführen, wird nötig durch die auf
die Geschichte bezogene Anwen-
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dung des zugrunde gelegten Moralprinzips. Daß dazu die Phronesis,
die moralische Urteilskompetenz,
die bisher die Aufgabe übernahm,
im Rahmen konkreter situationsbedingter Kontexte die Moral und ihre
in der kontrafaktisch antizipierten
idealen
Kommunikationsgemeinschaft legitimierten Normen anzuwenden, allein nicht hinreicht, ist
der Haupteinwand, den Apel gegenüber Habermas erhebt. Das
Neue an diesem diskursethischen
Ansatz liegt darin, die in dieser
Problemlage geforderte Ergänzungsethik auf der obersten Prinzipienebene selbst mitzubegründen.
Das soll nach Apel dadurch geschehen, daß das bisher allein genügende oberste Universalisierungsprinzip
einer konsensuell-kommunikativen
Ethik
durch ein moralischstrategisches Ergänzungsprinzip erweitert werden soll. Die bisher von
Apel im Einklang mit Habermas geteilte Auffassung, daß zwischen
strategischer Zweckrationalität und
zur Begründung ethischer und politischer Normen allein zureichender
konsensuell-kommunikativer Rationalität strikt zu trennen ist, wird dadurch teilweise revidiert, wenn nicht
sogar ganz aufgehoben. Die sozialen
Selbstbehauptungssystemen inhärente strategische Systemrationalität
und, um mit Hegel zu sprechen, die
in ihnen generierte sittliche Substanzialität und Geschichtlichkeit
macht es erforderlich, die Differenz
zwischen den idealen normativen
Bedingungen der Möglichkeit einer
idealen
Kommunikationsgemeinschaft und den real vorfindbaren,
sozialkulturellen und geschichtlich
geformten Bedingungen realer
Kommunikationsgemeinschaften
anzuerkennen und zu thematisieren.
Um diese spannungsvolle Differenz
zwischen idealtypisch begründeten
ethischen Normen und schlechter
Wirklichkeit einer endlichen Welt, in
der die Menschen, wie Apel zugibt,
zwar nicht schlecht, aber den jeweiligen strategischen Erfordernissen
gemäß handeln, nicht riesengroß
werden zu lassen, muß eine zweistufig konzipierte Ethik einen Weg
öffnen, diesen Hiatus zu schließen.
Einerseits soll diese, wie Apel von
jeder postkonventionellen Moral
fordert, dem Anspruch, universal
gültig zu sein, der mit jeder Letztbegründung erfüllt ist, genügen und
andererseits schon vom Prinzip her
darauf Rücksicht nehmen, daß die
kontingent-geschichtlichen Bedingungen, unter denen Menschen
konkret handeln, selbst jene realen
Bedingungen sind, die von einer
Emanzipationsmoral erst einmal anerkannt werden müssen, um progressiv, den idealen Normen gemäß,
umgewandelt werden zu können.
Diese von Apel gestellte Aufgabe,
zwischen Utopismus und Regression einen dritten Weg zu finden, um
sowohl die Rücknahme und Einplanierung moralischer Sollensforderungen durch die Faktizität der bestehenden, tendenziell sittlichen
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Welt zu verhindern (was er dem
Neoaristotelismus vorwirft) wie andererseits, gegen jeden moralischen
oder gesellschaftlichen Utopismus
gewendet, Rücksicht darauf zu nehmen, daß die Glücksinteressen jedes
Einzelnen nach dem individuell erfüllten guten Leben wie die funktionalen Erfordernisse bestehender
Sozialsysteme erst anerkannt sein
müssen, um darauf basierend Chancen der Emanzipation erkennen
und aktivieren zu können, scheint
durchaus bedenkenswert und als
philosophisches Konzept, das die
Tradition abendländischer Aufklärung fortsetzen und bereits erreichte
Standards moralischen Menschheitsfortschritts nicht preisgeben
möchte, auch politisch relevant. Die
von dieser Position aus vorgeführte
Kritik an postmodernistischen und
neoaristotelischen Strömungen, wie
sie zur Zeit in der Bundesrepublik
vorherrschen, durchzieht wie ein roter Faden alle
in diesem Band versammelten Aufsätze. Wie weit Apel dabei die von
ihm angegriffenen konkurrierenden
philosophischen Positionen versteht, wie weit er die von ihnen implizit gegen seinen Leztbegründungsansatz vorgetragenen Einwände
berücksichtigt und in seiner Argumentation aufnimmt, wird entscheidend dafür sein, ob das von ihm
vorgelegte Programm einer Transformation der Transzendentalphilosophie in der gegenwärtigen Diskussion wieder stärkeres Gewicht zu-
fällt. Daß der Weg, um zu diesem
Ziel zu gelangen, nur über eine
ernsthafte Thematisierung des
Problems „Geschichte“ und nicht
nur auf der Ebene der Anwendung
abstrakter moralischer Normen auf
Konflikte der Alltagswelt führen
kann, scheint gewiß. Fraglich ist
nur, ob der von Apel noch vertretene traditionelle Gegensatz zwischen
apriorischer Moral und historischer
Weltsicht dabei überwunden werden kann. Ob die Hereinnahme der
Geschichte in die Ethik nicht doch
einen modifizierten Historismus
zum Ziel haben muß, und ob dann
nicht die gerade in der deutschen
Philosophie so unfruchtbare Polemik zwischen Historismus und apriorischer Moral beseitigt werden
und einem fruchtbaren Miteinander
weichen muß, wird die Zukunft der
Philosophie, auch gerade die von
Apel vertretene, zeigen.
Ralph Marks
Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, Frankfurt/Main 1988 (Suhrkamp-Verlag), geb., 38.Es sind oftmals die „verrückten“
Menschen oder Forscher gewesen,
verrückt im Sinne von außerhalb
des Konsenses stehend, die neue
„Geschichten“ erzählt bzw. sogar
gemacht, die sich kreativ und innovativ mit den vorhandenen Erwartungen auseinandergesetzt und da-
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nach gestrebt haben, den Konsens
zu verändern. Diese haben, wie z.B.
Bacon, Thomas Morus, Feuerbach,
Fichte und Marx, das „abendländische Gespräch“ bereichert, teils haben sie ihren Worten sogar durch
den Aufbau und die Unterstützung
von Organisationen Nachdruck verliehen. Sie taten das aber nicht mit
Blick auf den tatsächlichen Konsens, sondern mit Blick auf die
Wahrheit und Realität. Sicher könnte man diese Vorgehensweise so interpretieren, als bezögen sich diese
„Denker“ auf eine imaginäre Forscheroder
„Heiligen“Gemeinschaft. Aber, ganz pragmatisch, von imaginären Bezügen geht
keine Unterstützung aus, von der
praktischen Abweichung dagegen
u.U. Verleumdung, Berufsverbot,
Scheiterhaufen und Tod. Bei der
Wahrheit geht es um das stärkere
Argument zugunsten derjenigen, die
für ihre Überzeugung keine materiellen Hilfsmittel zur Verfügung
haben.
Hier zeigt sich, wie interessant der
„Typ Sokrates“ ist, dieser außergewöhnliche Mensch, der noch
nichts für sich zur Geltung bringen
kann und noch nicht in den anerkannten sozialen Rechtfertigungspraktiken eingebunden ist. G.
Böhme stellt einen „Abweichler“
der Geschichte dar, den die athenische Gesellschaft ausgegrenzt hat
bis zum Tode, weil es dem herrschenden Konsens in der praktischen Politik und in der „Forscher-
gemeinschaft“ nicht entsprochen
hat.
Sokrates ist noch ganz der vernunftund sprachbegabte Mensch, die
Vollendung eines Bildes, in dem Aristoteles das „Wesen des Menschen“ bestimmt. Sokrates’ Philosophie ist ein Fragen, in dem Theorie und Praxis noch unmittelbar
verbunden sind, eine praktizierte
Weltanschauung, noch ohne Parteilichkeit, wohl aber mit Hingabe, mit
Liebe zum Menschen, distanziert
und erotisch. Sokrates repräsentiert
einen Typ von Menschsein, den wir
uns nur noch in abschätzigen Bildern von Künstlern und Literaten
vorstellen können.
Warum das Buch von G. Böhme
heute? Nach allen Rollenzwängen
aus Beruf und Bindungen kann mit
Sokrates dem „Personsystem“ wieder zu seinem Recht verholfen werden. Mit ihm kann man aus den
Zwängen ausbrechen und eine „zynische“ Existenz führen. Sokrates
betreibt echte Ideologiekritik, wenn
man den Baconschen Begriff verwendet. Sokrates distanziert sich ironisch, nicht zynisch, nicht abfällig,
nicht mit der mephistophelischen
Maßgabe, alles was entstehe sei
wert, auch wieder zugrundezugehen.
Er ist auch nicht faustisch verbissen. Sokrates zielt nicht auf Erlösung, er folgt lediglich seinem
Stimmchen.
Dies Buch ist laut Klappentext in
einer Zeit der Abenddämmerung
der Vernunftphilosophie geschrie-
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ben worden. Man tut gut daran zu
erinnern, daß Philosophie nicht nur
auf Lehrstühlen zu Hause ist, daß
Philosophie mehr ist als nur Wissenschaft und Theorie von Wissenschaft. Heute würde sich Sokrates
sicher von den gespreizten wissenschaftlichen „Diskursen“ ironisch
distanzieren und würde die berufstätigen Philosophen energisch fragen, was sie denn tun, um die Menschen besser zu machen. Sein fast
schon existentialistisch zu nennendes Leben diente nicht der Verwaltung von Traditionsgütern, von
Kulturgütern. Er zielt auf Wahrheit
ohne Besitzanspruch, bei ihm ist
Wahrheit noch nicht im Privatbesitz
der Wissenschaftler. Er geht mit
seinen Schülern auf die Allmende
zum Weiden. Fast religiöse Momente leuchten bei Sokrates auf, man
könnte in ihm einen „Bettelmönchen“ sehen, der so herrlich unangreifbar geworden ist, weil er
schließlich noch ohne Furcht vor
dem Tode seinen Richtern die
Schau stiehlt.
Sokrates drängt auf Objektivität, auf
den allgemeinen Begriff im Gespräch, hervorgebracht durch das
dialogische Prinzip. Das Gespräch
verbleibt aber nicht auf der einfachen Ebene der intersubjektiven
Übereinstimmung oder eben NichtÜbereinstimmung; er will einen Bildungsprozeß einleiten, den er als
Hebammenkunst begreift. Erst nach
einem solchen Bildungsprozeß soll
Objektivität möglich sein, seine Lie-
be bleibt nicht bei der „Solidarität“
stehen, sie geht über Ironie bis zur
Verachtung des eigenen Lebens.
Bei Sokrates ist das Wahre und damit das wahrhaft „Nützliche“ nicht
im ersten und zweiten Anlauf zu erreichen. Er fährt fort, sog. Wissende
zu verunsichern, bis sein „Daimonium“ keinen Widerstand mehr leistet. Sokrates würde heute im Widerspruch stehen zur liberalen Demokratie der herrschenden Meinung.
Dank an G. Böhme, diesen „Typ
Sokrates“ aus der Versenkung geholt zu haben, überdies angenehm
lesbar.
Wolfgang Teune
Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988 (Suhrkamp), 400 S., 22.Die in dem vorliegenden Sammelband von H. Böhme publizierten
Aufsätze kreisen um das Phänomen
der Verdrängung. War diese bei S.
Freud noch als neurotischer Abwehrmechanismus des einzelnen
Individuums gekennzeichnet, so unternimmt es Böhme, dadurch die
Entwicklung und das Verhältnis
von Natur und Subjekt im aktuellen
Weltzustand generell zu charakterisieren. Analog der von Hegel dargestellten „Dialektik von Herr und
Knecht“,
tendiert
die,
auf
Ausschluß der Naturbasis gegründete Ratio, zur Auflösung ihrer
selbst: Der reine planende Geist der
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(kapitalistischen) Moderne läßt weder die qualitativen Seiten der Natur
noch ein leibhaft gebundenes Subjekt zu und wird dergestalt zu einer
„Furie des Verschwindens“ (Hegel).
Der Autor bleibt sich thematisch insoweit treu, als er bereits in dem
gemeinsam mit seinem Bruder G.
Böhme verfaßten Buch „Das Andere der Vernunft“ (1981) die Gestehungskosten neuzeitlicher Rationalität aufzuweisen versuchte. Gegen
die auch in diesem neuen Band bekräftigte Kritik an der Aufklärung
und der in ihr involvierten Vernunft
könnte der Einwand vorgebracht
werden, daß dieser, vierzig Jahre
nach Horkheimer/Adornos bahnbrechender Studie zur „Dialektik
der Aufklärung“, die Aura des Antquierten anhaftet. Zu Recht entgegnet Böhme darauf mit dem Hinweis, daß die Prozesse der Subsumtion des Einzelnen unter das
Allgemeine bis heute nicht nur ungebrochen fortschreiten, sondern
sich potenzieren. So macht es
durchaus Sinn, wenn er feststellt,
daß es die zeitgenössische kulturkritische
Diagnostik
mit
(be)drängenderen Aussichten und
Zukunfts-Horizonten zu tun hat, als
dies selbst noch für die Klassiker
des Neo-Marxismus zutraf. Insofern
dient das Aufbrechen der Phalanx
des Verdrängten mittels der Erinnerung an das, was in den Begriffen
„Natur“ und „Subjekt“ einmal mitbedeutet war, einer zeitgemäßen
Aufklärung über die Aufklärung.
Man würde die Intentionen Böhmes
falsch verstehen, wenn man seine
Essays als den Versuch interpretieren würde, verlorengegangene Naivität wiederzugewinnen. Nicht um
eine konservative Retrospektion ist
es ihm zu tun, sondern um ein eingedenken angesichts des universalen
und universellen Verschleißes von
Natur und Subjekt: „Jedes Erinnern,
das dem Vergangenen das Unabgegoltene ebenso abgewinnt wie es
das Erinnerte als niemals Wiederkehrendes, vielleicht niemals gewesenes Leben zu verabschieden weiß,
ist ein Gewinn an Zeit: offenerem
Horizont.“ (S.10)
H. Böhme ist Literaturwissenschaftler. Darum konzentriert sich sein
Interesse auf die Entzifferung jener
Spuren, welche sich ihm in Zeichensystemen mitteilen. Daraus resultiert, meiner Ansicht nach, der
problematische Zug seiner Arbeiten: Nicht nur gewinnt der Leser
den Eindruck, daß die Entqualifizierung von Subjekt und Natur ein
primär geistesgeschichtlicher Prozeß
war, sondern die Argumentation
insgesamt verliert an Kraft. Die mit
philologischer Akribie vorgenommene Zuordnung von Signifikaten
und Signifikanten vermag deren erst
zu beweisende Evidenz nicht zu begründen. Darüber hinaus wird die
Stringenz der Argumentation insgesamt durch den anthologischen
Charakter des Buches gebrochen.
Zu vieles wird in ihm angetippt, was
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beim Lesen das Gefühl der Beliebigkeit des Sujets hinterläßt.
Die Stärke des Bandes liegt darin,
daß er konsequent das an Subjekt
und Natur Zerstreute und im kulturellen Prozeß Abgespaltene ins Zentrum rückt. Mittels dieser Perspektive werden qualitative Ansichten von
Subjekt und Natur sichtbar, die bislang bestenfalls in ästhetischen Diskursen benannt wurden. Dementsprechend bildet die Kunst den Mittelpunkt der Aufsatzsammlung, wie
ein Blick auf die in ihr behandelten
Themen zeigt: Sie reichen von einer
Interpretation der „Melancholia II“
Dürers über Goethes Kritik an der
rein
quantitativen
(Natur)Wissenschaft bis zur Ikonographie
der Ruine in den Filmen A. Tarkowskijs.
In den von H. Böhme ausgewählten
Themen zeichnet sich die Disparatheit des gegenwärtigen Zustandes
von Subjekt und Natur exakter ab,
als dies uns die Fortschrittsoptimisten in Ost und West glauben machen wollen. In seinem Buch insgesamt bleibt H. Böhme einer Haltung
verpflichtet, die Brecht wie folgt
ausdrückte:
„Außer diesem Stern, dachte
ich, ist nichts und er
Ist so verwüstet
Er allein ist unsere Zukunft
und die
Sieht so aus.“
Thomas Wimmer
Hanns-Georg Brose / Bruno
Hildenbrand (Hrsg.): Vom Ende
des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen 1988
(Leske + Budrich), Paperback,
286 S., 44.Auch die Soziologie interessiert sich
- neben der Geschichtswissenschaft
- seit geraumer Zeit für das Verhältnis von Lebenslauf, Biographie
und Gesellschaft, da sie sich aus der
Thematisierung der je eigenen Individualität Aufschlüsse über den sich
vollziehenden sozialen Wandel verspricht. Diesem Projekt dient die
Buchreihe „Biographie und Gesellschaft“ (hrsg. von Werner Fuchs,
Martin Kohli und Fritz Schütze), in
der der vorliegende Band erschienen ist. Er vereinigt Forschungsberichte unterschiedlicher Theorieansätze - wie der Kritischen Theorie,
dem Poststrukturalismus oder der
Systemtheorie - mit dem Ziel, „die
auseinanderfallenden Makro- und
Mikro-Ansätze“
(5)
zusammenzubringen sowie „die
Zäune zwischen dem qualitativen
und dem quantitativen Lager“ (6)
Im Abschnitt „Theoretische Koneinzureißen.
zepte“ entwirft M. Kohli das Verhältnis von Normalbiographie und
Individualität als „institutionelle
Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes“, U. Schimank versucht eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität und
T. Luckmann geht den gesellschaft-
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lichen Voraussetzungen von Identität und Lebenslauf nach. A. Hahn
und H.-G. Soeffner beschäftigen
sich anschließend mit der „Entwicklung der Semantik von Individualität
und Selbstthematisierung“, wobei
Soeffner am Fall Martin Luther den
Übergang „von der Kollektivität des
Glaubens zu einem lutherischprotestantischen Individualitätstypus“ demonstriert. Während im
4.Teil dem Problem der Nutzung
von Individualität und Biographie in
Therapieformen und sozialen Organisationen (z.B. an Hand von Interviews mit Psychotherapeuten) nachgegangen wird, schließt der 5.Teil
mit einem Aufsatz von U.
Oevermann, der an einem exemplarischen Fall aufzeigt, wie sehr sich
sozialwissenschaftliche Kategorien
selbst wieder in Identitätsentwürfe
einschreiben und durch ihren subsumtorischen Charakter Gefahr laufen, statt über die Entfremdung
aufzuklären, sie zu potenzieren.
Philosophisch interessant ist vor allem der Einleitungsaufsatz von Brose und Hildenbrand. Sie konstatieren als Ausgangslage eine Zunahme
autobiographischer
Selbstdarstellungen, die mit einem Prozeß der
Individualisierung und einer Erosion kollektiver Lebensformen in Zusammenhang stehen. „Das Phänomen dieses neuen Individualisierungsschubes widerlegt die These
vom Ende des Individuums nur
vordergründig ... Die Vorstellung
einer in der individuellen Lebensge-
schichte gelingenden Vermittlung
von Allgemeinem und Besonderem
wird zurückgenommen auf die in
der jeweiligen Biographie immer
neu herzustellende Einheit der individuellen Lebensgeschichte. Biographie würde damit in doppeltem
Sinne zu einem ‘Fluchtpunkt’ soziokultureller Synthesis.“ (11) Der Moderne kommt das Verdienst zu, den
Menschen aus ständischen und lokalen Bindungen emanzipiert und
durch die Pluralisierung der Lebensverhältnisse einen Geltungsverlust traditioneller Orientierungen
herbeigeführt zu haben. Moderne
wird also als Prozeß der Subjektivierung und Individualisierung verstanden, wobei allerdings inzwischen die bürgerliche Konzeption
von Individualität als überholt gelten kann und einer neuen weichen
muß: der „Individualisierung als
Vergesellschaftungsform“ (17).
A.E. Imhof hat in seiner Untersuchung des bäuerlichen Milieus der
Vormoderne („Die verlorenen Welten“, München 1984) gezeigt, daß
der einzelne stark in „ständische,
lokale und häusliche Zusammenhänge eingebunden war“ (12) und
die Reproduktion des Lebens nur
im Ganzen (des Hofes), unabhängig
vom einzelnen, garantiert werden
konnte. Die Identität bestimmte
sich aus der Geschlechterfolge und
der Religion, nicht in bezug auf sich
selbst. „Die Entwicklung des (städtischen) Bürgertums aber treibt erst
jene Gestalt des autonomen Indivi-
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duums hervor, dessen doppelte
Selbständigkeit als Produzent und
Eigentümer von Waren auf dem
Markt und als Individuum in der
Familie Bezugspunkt der Rede vom
Aufstieg bzw. Ende des Individuums ist.“ (13) Die mit der sozialen Differenzierung der Gesellschaft
einhergehende Trennung von öffentlicher und privater Sphäre sowie
der Abbau einer „verbindlichen
Kosmologie“ zwingen das Subjekt
zu „ständigen eigenen Orientierungsleistungen zur Selbstvergewisserung und zur Bestimmung seines sozialen Ortes, den ihm seine
‘Identität’ nun nicht mehr fraglos
gibt.“ (13) (Der Geniekult als Heroisierung und die Melancholie als
Leiden an der Subjektivität bestimmen als konträre Pole die bildungsbürgerliche Variante der Individualitätskonzeption.) Die Kehrseite der
Individualisierung liegt in der gesellschaftlichen Dissoziation des einzelnen, der Diremtion von Ich und
Welt, deren erneute Synthese nun
allein das autonome, verantwortungsbewußte, moralische Individuum leisten soll, wobei ihm allerdings das zentrale Motiv bürgerlicher
Individuation
diametral
entgegensteht: das der Konkurrenz.
Dieser Widerspruch war immer einer der Gründe, warum die Kritische Theorie nicht nur den Verfall
des Individuums konstatierte, sondern im Gegenteil offensiv auf der
Aufhebung des individuierenden
Prinzips bestanden hat: „Gebot
einmal die Freiheit des Subjekts
dem Mythos Einhalt, so befreite es
sich, als vom letzten Mythos, von
sich selbst. Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts.“
(Th.W. Adorno, Negative Dialektik,
Ffm. 1975, 277)
In einer historischen Situation, in
der die Orientierungslosigkeit bis in
die philosophischen Entwürfe eines
‘anything goes’-Denkens hinein sich
spiegelt, wird die Rolle der Biographisierung von Erleben und Handeln deutlich: „An die Stelle der Identität, deren Herausbildung infolge
der
Abschwächung
identitätssichernder Lebenswelten
und Milieus und mangels trag- und
kopierfähiger realer Identitätsfiguren erschwert wird, treten Selbstbeschreibungen und -darstellungen;
Selbststeuerungen
und
vergewisserungen in bezug auf lebensgeschichtlich relevante Vorgänge. Diese ‘Biographisierungsprozesse’ überdecken die Frage nach der
eigenen Identität.“ (18) Es sind die
gesellschaftlichen Krisen und Widersprüche - Arbeitslosigkeit, Anonymisierung und Atomisierung,
Auflösung von festen Lebensformen zugunsten von Mobilität (fürs
Kapital) -, die, da sie das Individuum ständig mit Auslöschung bedrohen, es zu verstärkten Biographisierungsanstrengungen nötigen:
Die Selbstvergewisserung steht im
Zeichen des Untergangs des Selbst.
Manuela Günter
Bücher zum Thema
Konrad Cramer, Hans Friedrich
Fulda, Rolf-Peter Horstmann,
Ulrich Pothast (Hrsg), Theorie
der Subjektivität, Frankfurt 1987
(Suhrkamp-Verlag) 479 S., 38.Der Band - Festschrift für Dieter
Henrich zum 60. Geburtstag - versammelt Artikel zu einem Thema,
dessen sich Henrich bekanntermaßen besonders angenommen hat,
und bietet in der Fülle seiner Beiträge ein recht getreues Abbild unserer
gegenwärtigen Situation: der „Subjektivität“ zu mißtrauen, und doch
von ihr nicht lassen zu können.
Thematisiert oder nicht - Kants
„Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ ist der
Angelpunkt, in dem sich auch noch
die unterschiedlichsten Geister aufeinander beziehen. Konrad Cramer
widmet diesem Satz eine subtile Interpretation, die herausarbeitet, daß
die systematische Pointe von Kants
Satz darin besteht, im „Ich denke“
sei das „Ich“ nicht nur ein notwendiger Gedanke, sondern ein solcher,
„in dessen Inhalt etwas gedacht
wird, was nur gedacht, aber nicht
angeschaut werden kann“. Das in
diesem Begriff von ‘mir’ Gedachte
sei also notwendig zu denken und
könne doch niemals Gegenstand
werden.
Dieses Kantische „Ich“ markiert
gewissermaßen die vorderste Front,
an der die Beiträge sich abarbeiten.
Wenn das „Ich“ notwendig zu denken ist, aber nicht Gegenstand werden kann, wie läßt sich dann sinnvoll von einem solchen Ich reden?
In seinem Beitrag „Kants Paralogisms: Self-Consciousness and ‘Outside Observer’“ nimmt Peter Strawson zunächst einmal Kant vor dem
psychologistischen Mißverständnis
in Schutz, Kant habe mit „Ich denke“ nur jene Instanz gemeint, die eine Vorstellung, trotz möglichen Irrtums, als die ihrige habe. Und Roderick Chisholm macht die These von
der
notwendigen
Bewußtseinsidentität auch unter den
Bedingungen neuerer physiologischer Experimente stark, die auf
eine geteilte, duale Organisation des
menschlichen Gehirns hinweisen.
Eine andere, an die Transzendentalphilosophie Kants anknüpfende,
Problematik stellt H.F. Fulda in den
Mittelpunkt. Hegel habe Kants Gedanken der transzendentalen Apperzeption in der Weise weitergeführt, daß er jenes „Ich denke“ zu
einem Verfahren der tätigen Aufklärung des reinen Denkens, der
Vernunft, über sich selbst und ihre
Gehalte entwickelt und zur systematischen Erkenntnis des All-Einen
geführt habe. Ob dabei das je einzelne Bewußtseinssubjekt, an das
Kant sein „Ich denke“ zweifellos
gebunden hatte, in Hegels Philosophie im Gang der Phänomenologie
des Bewußtseins ‘aufgehoben’ oder
aber ‘herausgefallen’ ist, ist für Fulda eine offene Frage, die letztlich
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über den Status von Hegels Philosophie entscheidet.
Reiner Wiehl geht in seinem Beitrag
diesem Problem von Vernunft und
Individuum nach. Auf der Grundlage des Satzes „Individuum ineffabile
est“ sieht er in Hegels spekulativer
Philosophie die Vollendung des
Prinzips, daß das Wahre und die
Vernunft das nicht-individuell Allgemeine ist; ein Grundsatz, gegen
den vor allem Heidegger im Rückgang auf das „Selbstsein“ rebelliert
hat. Dessen Darstellung im Rahmen
der Existenzphilosophie konnte aber nur, so Wiehl, bei Preisgabe der
objektiven Gültigkeit zugunsten
subjektiver Willkür geschehen.
Wiehl zieht daraus die Konsequenz,
daß Subjektivität sich nur in der
„Komplementarität von Bewußtsein
und Selbstsein“ entfalten könne.
Die phänomenologische Selbstauslegung des Bewußtseins und das
Verstehen der vorgegebenen Subjektivität in Emotionen und Gefühlen bilden „den elementaren Spielraum für menschliche Vernunft und
Unvernunft“.
Dieser ‘Ausgewogenheit’ von rationaler Selbsterfassung und emotionalem Selbst-Sein dürfte Ulrich Pothast allerdings widersprechen. Sein
Beitrag zielt darauf ab, jeglichen
Versuch der Thematisierung und
Selbsterhellung des Bewußtseins als
vergeblich nachzuweisen. Da der
„Innengrund“ unseres Bewußtseins
sich jeglicher Vergegenständlichung
entzieht, können wir Zugang zu un-
serem Inneren nur in der Aufmerksamkeit auf unseren Organismus
gewinnen, der im Weltbezug sich je
schon „spürend“ orientiert, ohne
daß dies „Spüren“ je zum Bewußtsein gebracht werden könne. Auch
Hermann Schmitz sieht in seinem
Beitrag den Zugang zur Subjektivität nicht in der philosophischen Rekonstruktion eines Fichteschen „Ich
bin“ oder Kantischen „Ich denke“,
sondern „in umgekehrter Richtung:
an Hand der personalen Regression
im affektiven Betroffensein“: durch
die Selbstverstrickung des Menschen in die Welt der Tatsachen
verhalte sich „der Betroffene zu
sich selbst .. in seinem gegenwärtigen Sosein“ (360).
Entgegen solch dezidierter Ablehnung der Theoriefähigkeit von Subjektivität unternimmt es HectorNeri Castaneda in seinem äußerst
elaborierten Beitrag, die Semantik
der Begriffe „Bewußtsein“, „Ich“,
„Selbst“ und „Selbstbewußtsein“, in
der Tradition der analytischen Philosophie, wieder umfassend in ihren
sprachlichen Kontexten zu untersuchen und ihre epistemischen Bezüge
zu analysieren.
Kreisen alle diese Versuche darum,
die Subjektivität irgendwie philosophisch zu fassen, so bleibt es den
amerikanischen Philosophen Hilary
Putnam und vor allem Richard Rorty vorbehalten, das Problem in erfrischender Naivität aus der Philosophie zu eskamotieren. So erläutert
Rorty in seinem Beitrag, daß die
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amerikanische Philosophie den ihr
nachgesagten reduktiven Physikalismus, der die mentalen Vorgänge
auf physikalisch beschreibbare Ereignisse zurückführen wollte, weitgehend überwunden habe, daß sie
gleichermaßen aber nichts mit jenem „inneren, wahren Ich“ anfangen könne, das die „nachkantische
Zeit“ geprägt habe. Die Situation
heute sei in den USA durch das
nicht-reduktive
materialistische
Modell von D. Davidson geprägt,
nach dem der menschliche Organismus als Komplex physikalischchemischer und psychologischer
Ereignisse verstanden wird, die
wechselseitig aufeinander einwirken,
die aber nicht aufeinander rückführbar sind. Das „Selbst“, so Rortys antikantische Pointe, sei nichts,
was Überzeugungen und Wünsche
hat, sondern bilde ein Netzwerk
von Überzeugungen und Wünschen, das sich in steter Veränderung und Neuformierung befindet.
Putnams Beitrag besteht im wesentlichen darin, daß er zwischen die
psychologische und physikalischchemische Ebene noch eine Bewußtseinsebene
(„computational
state“) einschiebt, die physikalischchemische Zustände unterschiedlich
abzubilden vermag.
Angesichts solcher Position der amerikanischen Philosophie wird
denn auch der Seufzer verständlich,
mit dem R.-P. Horstmann die Frage
aufwirft, ob das Selbstbewußtsein
nicht doch ein philosophisches Pro-
blem sei. Sein Beitrag will darauf
verweisen, daß Kant mit jenem wissenskonstituierenden „Ich denke“
dem Selbstbewußtsein eine Funktion zugesprochen hat, die nicht mit
empirisch-psychologischen Mitteln
eingeholt werden kann. Die Antwort auf die Frage nach diesem
Selbstbewußtsein hinge eng mit der
Frage zusammen, welche Leistung
wir heute überhaupt noch von der
Philosophie erwarten, bzw. welche
ihr zugemutet werden kann; ob man
sie auf „die Verfolgung von übergreifenden Erkenntniszielen verpflichtet“ (246) sehen will, die nicht
durch die Vorgabe einzelwissenschaftlicher Beschränkungen definiert sind.
Ein interessantes Beispiel für solche
Ziele gibt in praktischer Absicht
Hans Ebelings Beitrag „Das Subjekt
im Dasein“. Er unterscheidet zunächst in Anlehnung an Henrich die
drei „Ebenen“ der „Selbsterhaltung“, der „Selbstverwirklichung“
und des „Selbstbewußtseins“. Auf
der ersten Ebene der Selbsterhaltung bestimme sich das Subjekt, das
Ebeling sogleich als Gattungssubjekt faßt, als dasjenige, das angesichts des Todes seiner Vernichtung
widerstrebt, als Existenzsubjekt.
Damit dieses Interesse an Selbsterhaltung nicht ziellos und Selbstzweck im Luhmannschen Sinne
bleibt, sondern sich bestimmen und
vermitteln kann, bedürfe es der intersubjektiven Vernunft, in der das
Subjekt sein Interesse an Selbstver-
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wirklichung thematisiert und legitimiert. Auf dieser Ebene ist es das
kommunikative Sprachsubjekt. Das
Selbstbewußtsein aber konstituiert
sich, indem es mittels des „transsubjektiven Intellekts“ das Interesse des
Existenzsubjekts an Selbsterhaltung
intersubjektiv einklagt. „Das Interesse des Existenzsubjekts muß sich
vor dem Intersubjekt des Sprachsubjekts bewähren. Das kann es aber nur, wenn das Bewußtseinssubjekt als je einzelnes Widerstandsbewußtsein auch noch
dem falschen Konsens widersteht“
(91). Dieses Selbstbewußtsein als
Widerstandsbewußtsein sei heute
angesichts des möglichen Tods der
Gattung zu fordern.
Diese These vom „transsubjektiven
Intellekt“ des Widerstandsbewußtseins scheint gegen Habermas gerichtet zu sein. Dessen Beitrag „Metaphysik nach Kant“ konzentriert
sich allerdings auf die Kritik solch
subjektivitätstheoretischer Positionen, wie sie Henrich vertritt, von
denen schwer abzuschätzen sei, ob
sie in der Lage sind, den rationalen
Standards der Moderne zu genügen.
Für Habermas jedenfalls findet die
Bildung jeglicher Subjektivität nie
für sich, sondern immer schon im
Rahmen sprachlicher Intersubjektivität statt; Individuierung sei nicht
ohne Vergesellschaftung und Sozialisierung nicht ohne Vereinzelung
möglich. Ob Habermas damit allerdings das Thema, das Ebeling mit
dem Widerstandsbewußtsein einer
„transsubjektiven Vernunft“ angeschnitten hat, seinem System der
kommunikativen Vernunft zwanglos einzufügen vermag, bleibt offen.
Ein solcher von Verantwortung gespeister Widerstand jedenfalls läßt
sich m.E. nicht in die Schublade:
„was landläufig Rousseauismus
heißt“ (443) schieben.
So verweist der Band, der darüberhinaus noch Beiträge von Andreas Kemmerling, Paul Guyer, Ernst
Tugendhat und Hans-Georg Gadamer enthält, fast durchgängig auf
das Problem der Moderne, die demokratischen Ansprüche auf Öffentlichkeit,
Nachvollziehbarkeit
und Konsensfähigkeit mit dem liberalen Recht zu vereinbaren, nur das
zu akzeptieren, dem ich aufgrund
meines Subjektseins, als zurechnungsfähige Person, wie Tugendhat
sie in seinem Beitrag erörtert, beistimme. Ohne unmittelbar politisch
zu sein, repräsentiert dieser Band in
hervorragender Weise den aktuellen
Konflikt zwischen postkonventionellen Moralvorstellungen und den
unhintergehbaren Moralansprüchen
des Ich.
Alexander von Pechmann
Herta Nagl-Docekal und Helmuth Vetter (Hg): Tod des Subjekts? Wien; München: Oldenbourg 1987, 234 S.
Bücher zum Thema
Seit Foucault in dem unbetitelten
Schlußstück von Les mots et les choses
(1966) den „Tod des Menschen“
ausgerufen hatte, wurde die Debatte
um den Ausgang neuzeitlicher Subjektsphilosophie - zuerst in Frankreich, später auch bei uns - von jenen Diskurstheoretikern bestimmt,
die herausfordernd als „Antihumanisten“ auftraten. Das „humanistische“ Beharren auf der Souveränität
des Subjekts, so lautete einer der
Vorbehalte, vollende die Selbstentmächtigung der Menschen gerade
dadurch, daß es ihre Potenzen herausstreiche. Die vielen Tode des
Subjekts bei Autoren wie Lacan,
Foucault, Derrida, Deleuze und Lyotard lasen sich streckenweise wie
Seitenstücke zur Dialektik der Aufklärung, besonders aber zur Negativen Dialektik Adornos, neu waren
sie deshalb nicht. Immer lautete das
Konzentrat: Das Individuum für
sich selbst genommen sei eine Fiktion, das Subjekt nur eine Hypothese, der Humanismus daher bloßes
Postulat.
Die Resonanz war außerordentlich
und ist es noch. Auch die Herausgeber des als Band 2 in der Wiener
Reihe ‘Themen der Philosophie’ erschienenen Sammelbandes zeigen
sich vom Programm des französischen Strukturalismus bzw. Neostrukturalismus sichtlich mehr beeindruckt, als von den Bemühungen
jener, die sich in der Nachfolge der
Kritischen Theorie am neuzeitlichen
Subjektbegriff abarbeiten. Herta
Nagl-Docekal sagt es einleitend
ganz offen: „Wo die französische
Neuformulierung der Subjektkritik
rezipiert wurde, geschah es zunächst
überwiegend auf affirmative Weise.“
So zeichnet Helmuth Vetter in seinem Beitrag „Welches Subjekt
stirbt?’ nur die bekannten Positionen Derridas und Lacans nach, die
sich ihrerseits an Nietzsche und
Heidegger orientieren.
Etwas anders sieht es mit dem Beitrag Manfred Franks (‘Subjekt, Person, Individuum’) aus, der mit seinem 1983 erschienen Buch „Was ist
Neostrukturalismus?“ als einer der
ersten den Versuch einer umfassenden, kritischen Rezeption dieser
Richtung unternahm. Zwar finden
sich auch bei Frank Parallelen zum
Programm der Strukturalisten - etwa
zu Lyotard, aber er nimmt es nicht
widerstandslos hin. Das Problem
des Subjekts verweist für ihn auf
dasjenige des Bewußtseins, „durch
das wir uns als einzigartige Einzelwesen kennen“. Im Zeichen dieser
Problemstellung entwickelt er eine
dreigliedrige Differenzierung, wobei
er zwischen Subjekten als allgemeinen, Personen als besonderen und
Individuen als einzelnen Selbstbewußtseinen unterscheidet. Hinzu
kommt zum erkenntnistheoretischen Modell der Selbstwahrnehmung für ihn die spezifische Zeitlichkeit der Person. Sehr deutlich
gerät bei Frank die Abgrenzung zu
strukturalistischen Modellen wie der
„semantischen Identität“ Derridas,
Bücher zum Thema
dessen Versuch, Bewußtsein und
Selbstbewußtsein aus dem differenziellen Verweis zwischen Zeichen
abzuleiten, sich als zirkulär erweist.
Frank selbst greift dagegen auf das
hermeneutische Modell von Individualität zurück, demzufolge sich das
Individuum „eingefügt in einen intersubjektiven Verständigungsrahmen, sprechend auf den Sinn seiner
Welt hin entwirft“. Frank sieht darin
den Ausweg aus den diagnostizierten Aporien; Individualität ist ihm
die einzige Instanz, „die der rigorosen Idealisierung des Zeichensinnes
zu einem instantanen und identischen Widerstand entgegenbringt“.
Einen entscheidenden Vorzug dieser Konzeption sieht Frank darin,
daß das Individuum, insofern es
sich in der Zeit je und je neu entwirft, „gerade kein Einheitsprinzip
ist“.
Den Versuch das Subjekt als Prinzip
von Gestaltung und Veränderung
einer Binnendifferenzierung zuzuführen, unternimmt Hans Ebeling
in seinem Beitrag ‘Das Subjekt des
Widerstandes. Über das Praktischwerden der Vernunft’. Ebeling geht
davon aus, daß die Vertreter der
These vom Tod des Subjekts in der
Tat „Verächter des Lebens“ sind.
Ihnen gegenüber will er klarstellen,
daß das Subjekt als Widerstand gegen den Tod immer schon vorausgesetzt ist, und zwar auf dreifache
Weise. Demnach ist es jeweils ein
Subjekt als „Zugrundeliegendes“,
welches „1. das sterbliche Leben, 2.
das sittlich-rechtliche Leben, 3. das
moralische Leben produziert“. Ebeling unterscheidet also ein „Existenzsubjekt“, welches sich dem Tod
durch Produktion des sterblichen
Lebens widersetzt, andererseits ein
vernünftiges Subjekt, welches verlangt, „dem Tod gar zu entgehen“.
Letzteres wiederum auf zweifache
Weise, nämlich als „Sprachsubjekt“,
indem es „die sprachliche Sedimentierung
der
Intersubjektivitätsverhältnisse als Verständigungsverhältnisse“ fundiert,
zum anderen als „Bewußtseinssubjekt“, d.h. als moralisch-praktisches.
Hier ist allerdings Vorsicht geboten.
Wenn Ebeling etwa dem „moralisch-praktischen Subjekt des bewußten Seins als des bewußten Sollens“ den Primat zuspricht, also auf
Kantsche Sollensethik rekuriert, fällt
er hinter die Erkenntnisse der Negativen Dialektik zurück: „Daß nämlich das Subjekt in weitem Maße zur
Ideologie wurde, den objektiven
Funktionszusammenhang der Gesellschaft verdeckend und das Leiden der Subjekte unter ihr beschwichtigend. Insofern ist, und nicht
erst heute, das Nicht-Ich dem Ich
drastisch vorgeordnet“, hat nicht
das Bewußtseinssubjekt Ebelings,
sondern die Geschichte das Primat
(ND, Frankf.a.M. 1967, S.76).
Da liest sich Volker Gerhardts
Schlußbetrachtung („Politische Subjekte. Zur Stellung des Subjekts in
der Politik“) wie ein Kommentar
zum Bisherigen: „unverkennbar ist
Bücher zum Thema
es das Subjekt selbst, das sich hier in
Nachrufen auf sich selbst versucht“.
Gerhardt sieht nicht in der Begründung, sondern in der Analyse des
Subjekts die eigentliche Aufgabe.
Was die Konstitutions- und Funktionsbedingungen politischer Subjekte betrifft, lautet sein Resüm‚e:
„Subjekte gibt es mindestens noch
solange, wie es politische Ansprüche
gibt.“
Michael Basse
Norbert Elias „Die Gesellschaft
der Individuen“, Frankfurt a.M.
1987 (Suhrkamp) 37.Der erste europäische Soziologiepreis (Premio Europeo Amalfi) für
ein besonders wertvoll für die Sozialwissenschaft eingeschätztes Werk
wurde im Mai 1988 dem
90Äjährigen Nestor der deutschen
Soziologie Norbert Elias für sein
1987 erschienenes Werk „Die Gesellschaft der Individuen“ verliehen.
Das Werk gliedert sich in drei Teile.
Die beiden ersten wurden bereits in
den dreißiger bis fünfziger Jahren
konzipiert. Der hier untersuchte
dritte Teil wurde als „Wandlungen
der Wir-Ich-Balance“ 1987 erstmals
veröffentlicht. Er kann als Erweiterung und Zusammenfassung der
jahrzehntelangen Denkarbeit an soziologischen Grundproblemen verstanden werden.
Das Denken Elias’ über den Prozeß
der Zivilisation entwickelt ein eigenes Profil und entzieht sich einer
Einordnung eher als andere. Auf
Grund des breit konzipierten Ansatzes eröffnet sich jedoch auch für
den Nicht-Soziologen die Möglichkeit, der Entwicklung der Begriffe
Individuum und Gesellschaft in ihrer sozialen Bedingtheit zu folgen
und einigen Gewinn aus dem Versuch eines „interdisziplinären“ Ansatzes zu ziehen.
In den „Wandlungen der Wir-IchBalance“ fordert Elias die Entwicklung eines Modells interdisziplinär
kommunizierbarer Begriffe zur Erfassung von Entwicklungsprozessen
dynamischer Natur, die den sich
schnell wandelnden Beziehungen
von Menschen zueinander entsprechen.
Methodisch repräsentiert ein solch
prozeß-soziologischer Zugang (233)
eine Synthese von Erklärungen, die
sich nach Elias wesentlich von einem Abstraktionsbegriff individueller Natur unterscheidet. Begründet
wird dies mit der Notwendigkeit,
bestimmte Merkmale oder Beziehungen des zu untersuchenden
konkreten Gegenstandes abstrakt zu
erweitern, um zu allgemeinen Bestimmungen zu kommen. Hierzu
dient die Einführung des nach Elias
noch zu rezipierenden Begriffs der
Ich-Wir-Identität, der an Hand einer
etymologischen und philosophiegeschichtlichen Begriffsbestimmung
Bücher zum Thema
von Individuum und Gesellschaft
ableitbar ist.
Wesentliches Ergebnis ist der
Gebrauch von „individuell“ und
„sozial“ als Gegensatzpaar in neuerer Zeit wie folgt:
Elias zeigt eine Entwicklung von
der Wir-Identität (das, was Menschen miteinander zu tun haben) zu
einer modernen Ich-Identität (das,
was sie voneinander unterscheidet).
Dies wird mit einer Fülle von Beispielen von der Antike bis zur Neuzeit belegt. Während noch im klassischen Latein das Wort Individuum
unbekannt ist, zeigen in der Renaissance Humanisten, Kaufleute und
Künstler Beispiele individuellen
Aufstiegs. Im 17. Jahrhundert
kommt es nach Elias möglicherweise erstmals zu einer Unterscheidung
zwischen dem, was individuell und
dem, was kollektiv getan wird.
Bestimmend für die Entwicklung
einer modernen Gesellschaft ist eine
eigentümliche Verschiebung der
Wir-Identität zu einer Ich-Identität.
Begründet wird dies mit der Wandelbarkeit des Zusammenlebens eines Menschen mit anderen, mit der
ständigen Bewegung menschlicher
Gesellschaften. Eine solche Dynamik läßt nach Elias die gewohnten
sozial- und naturwissenschaftlichen
Problemstellungen nicht mehr als
realitätskongruent erscheinen. Die
traditionell philosophische Diskussion wird hier im einen soziologischen Aspekt des Zusammenlebens
einerseits erweitert und andererseits
als idealisierend in Frage gestellt. Es
wird betont, daß Menschenwissen
nicht aufgrund sachbezogener
Denkprozesse, sondern ein Lernen
durch bittere Erfahrung ist. Beispiele der Gründung von UNO und
Weltbank belegen dies.
In Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition der europäischen Neuzeit beschreibt Elias eine
Schwergewichtsverschiebung
der
Balance von Wir-Identität zur IchIdentität mit Descartes’ Cogito als
entschiedenem Akzent auf dem Ich.
Um zu einer vergleichbaren Bestimmung der Grundzüge einer sozialen Persönlichkeitsstruktur in
zeitgenössischer sozialer Gegebenheit zu kommen, führt Elias den
Begriff des sozialen Habitus ein
(269). Bezugsrahmen ist hier der Integrationsprozeß der Menschheit zu
immer komplexeren Formen des
Zusammenlebens. Der soziale Habitus der Individuen als verschiedene
Ausprägung der Persönlichkeitsstruktur beschleunigt oder verlangsamt je nach dem Wir-Bild und dem
Wir-Ideal die Transformation von
Nationalstaaten zu supranationalen
Gebilden.
Die Fixierung individuellen Empfindens und individueller Verhaltensweisen ist nicht allein ein Problem des Denkens, sondern auch gefühlsstarker
Vorstellungen,
Emotionen, Affekte oder Triebe.
Eigentümlich ist für Elias dabei, daß
die Wir-Identität der meisten Menschen hinter der Realität des tat-
Bücher zum Thema
sächlichen Integrationsniveaus herhinkt.
Das Wir-Bild bleibt weit hinter der
Realität der globalen Interdependenz. Das Verantwortungsgefühl
für die bedrohte Menschheit ist minimal. Die Identifizierung mit begrenzten Teilgruppen bleibt hinter
der Realität der Menschheit als übergreifender Lebenseinheit zurück.
Eine gewisse Hoffnung bezieht Elias aus dem möglichen Aufstieg der
Menschheit zur dominanten Überlebenseinheit. Dies könnte einen
Individualisierungsschub bedeuten
ähnlich dem des Übergangs zum
Primat des Staates im Verhältnis zu
Sippe und Stamm.
Nino Pricoco
Manfred Frank / Gerard Raulet
/ Willem van Reijen (Hrsg.), Die
Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/Main 1988 (Suhrkamp) 434
S., 22.Die in diesem Band versammelten
Beiträge gehen zurück auf Vorträge,
die in den Jahren 1984 und 1985 in
Wien und Amsterdam anläßlich
zweier Kolloquien zum Thema
gehalten wurden.
Manfred Frank geht in seinem Aufsatz „Subjekt, Person, Individuum“
der Frage nach, welche Beziehung
die Begriffe `Subjekt` und `Individuum` untereinander und zum Begriff `Person` haben. Er verfolgt die-
se Problematik unter erkenntnistheoretischer, semantischer und hermeneutischer Perspektive. Seiner
Vorstellung nach sollen die jeweiligen Mängel eines Paradigmas durch
die Vorzüge des nachfolgenden behoben sein. `Subjektivität` in erkenntnistheoretischer Perspektive
sei ein Allgemeines, ein allen
selbstbewußten Wesen gemeinsames Strukturmerkmal, die semantische
Perspektive
(Strawson/Tugendhat) geht zwar der Individualisierungsleistung des `ich` in
der ersten Person singularis nach
und kommt zum `Selbst` und zur
`Person`, aber erst das hermeneutische Verfahren ist offen für die
„welterschließende
Innovativität
selbstbewußten In-der-Welt-Seins“.
Einer Hermeneutik des Selbstverständnisses, die die Kategorie der
Individualität aufnimmt, sei es vorbehalten, die Unableitbarkeit singulärer Sinnentwürfe (auch im Rahmen einer Lebensgeschichte) zu
bewahren und trotzdem ein synthetisches Einheitsprinzip nicht auszuschließen. Der Autor bezeichnet
seine Darlegungen als tentativ und
ihre Ausarbeitung soll das Werk zukünftiger Generationen sein!
Willem van Reijen propagiert in seinem Aufsatz die Unrettbarkeit des
„monopolistischen Ichs“ des Cartesianismus, der Aufklärungsphilosophie und des Deutschen Idealismus:
„Es gibt keinen archimedischen
Punkt mehr, keine Grundlage, von
der aus alles geordnet, gedacht oder
Bücher zum Thema
durch meßbare Effekte beeinflußt
werden könnte. Es gibt keine feststehenden Kriterien mehr für die
Wahrheit von Urteilen, die Rechtfertigung des Handelns, die Aufrichtigkeit von Intentionen ...“ Das
alte `Ich` habe dem Terror der Vernunft gedient mit all seinen historisch-politischen Folgen einschließlich den Greueln der Geschichte.
Der Versuch, alles in den Griff zu
kriegen, habe zur Vergewaltigung
des Besonderen durch das Allgemeine geführt. Das Neuartige, das
neue Element der aktuellen Situation besteht für van Reijen darin, daß
beides nebeneinander existiert: der
alte Sinn, die alten Sicherheiten und
die Liquidation der symbolischen
Ordnung, die Auflösung in Allegorien.
Die neue (alte Negativ-) Utopie Gerard Raulets setzt in erster Linie auf
Baudrillards
Medienphilosophie.
Raulets „positive Barbarei“ verstärkt
den totalen Verlust der Bezüge und
Kriterien und er glaubt tatsächlich
„jede zielstrebige Prozeßhaftigkeit
ist zu Ende“. Fiktion und Realität
seien nicht mehr trennbar, die Anomiepotentiale, durch die neuen
Technologien in Gang gesetzt, unüberwindbar. Ihm dient das Kreditkartensystem als Beispiel: „Was bedeutet noch der Buchungstag, wenn
mit der weitverbreiteten Kreditkarte
das Geld systematisch mit Lichtgeschwindigkeit von einem Ort zum
Anderen wandert ...“ Und wohl ebenso die Subjekte, sie seien nur
noch „operativ“. Was dem Geld als
allgemeinem Äquivalent widerfährt,
geschieht auch schicksalhaft mit
dem menschlichen Individuum:
Seine Stellung im „Rhizom“ sei gleichermaßen austauschbar wie arbiträr. Raulet mit den Worten Baudrillards: „Wir nehmen nicht mehr am
Drama der Entfremdung, sondern
an der Ekstase der Kommunikation
teil.“ Hier hofft der Rezensent, diese Ekstase und die zugehörige
„weiße Obszönität“ im Universum
medialer Transparenz möge den Leser bei der Lektüre von Raulet /
Baudrillard nicht zu sehr aus der
Bahn werfen. Raulet kommt zu dem
Ergebnis, daß wir mit dem Verschwinden der Unterschiede zwischen Realem und Fiktivem in den
Animismus zurückkehren und er
schließt, ehrlicherweise, seinen eigenen Diskurs über die potentiellen
Wirkungen der neuen Technologien
nicht aus.
In dem spannend zu lesenden Aufsatz von Friedrich Kittler wird der
„Tod des Subjekts als Beamter“
wissensoziologisch bearbeitet. Alle
Wiederbelebungsversuche scheinen
überflüssig, wenn die Neudefinitionen von Subjektivität fortführen,
was Kittler als die „Philosophie simultaner Bildungsreformen und das
heißt Sozialsteuerungsprozesse“ um
1800 und später aufzeigt. Indem er
die sozialhistorischen Räume, z.B.
die Strategien, nach denen deutsche
Staaten ihre Schulen, zumal ihre
höheren reformierten, erforscht,
Bücher zum Thema
und belegt, wie hier das Subjekt als
Erziehungsbeamter eines Bildungsstaates - einerseits unterworfen, andererseits frei - entsteht, bezeichnet
er auch den historischen und gesellschaftlichen Ort des Deutschen Idealismus. Der Typus des Subjekts
als universaler Beamter kommt mit
dem „Zerbrechen des Schriftmonopols an technischen Medien“ zu
seinem Ende. Die Frage nach diesem Subjekt wird obsolet.
Denken, das an der Zeit ist, beschäftigt sich offensichtlich auf sehr
unterschiedliche Weise mit der Frage nach dem Subjekt, wie schon die
hier getroffene Auswahl aus der
Aufsatzsammlung
verdeutlichen
mag. Allen alten und neuen Fragestellern ist dieses Buch zu empfehlen.
Udo Wieschebrink
Manfred Frank/ Anselm Haverkamp (Hrsg.): Individualität
(Poetik und Hermeneutik XIII),
München 1988 (Fink Verlag),
XX, 678 S., 7ÿAbb., kart., 68.„Ende des Individuums - Anfang
des Individuums?“ lautete das Thema, dem sich die Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik auf ihrem
Kolloquium im Jahre 1986 widmete
und dessen Vorträge und Diskussionen als 13. Veröffentlichung der
gleichnamigen Reihe nun vorliegen.
Der traditionsgemäß voluminöse
Band, der in inhaltlich lockerer Beziehung zu „Poetik und Hermeneutik VIII: Identität“ steht, versammelt Beiträge philosophischer, theologischer, psychoanalytischer und
literaturwissenschaftlicher
Provenienz und schließt mit zwei Aufsätzen zur Individualität in der Porträtmalerei.
Motiviert wird die Themenstellung
durch die Herausforderung des
französischen Poststrukturalismus,
der die Inhalte dessen, was traditionell mit dem Begriff Individualität
bezeichnet wird, grundsätzlich in
Frage stellt; so spricht M. Foucault
vom Menschen als einer „Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige
Ende.“ Für J. Derrida ist das
selbstbewußte Individuum immer
nur in der anwesenden Abwesenheit
seiner selbst faßbar: Subjektivität als
„Auto-Affektion konstituiert das
Selbst (auto), indem sie es teilt. Der
Entzug der Präsenz ist die Bedingung der Erfahrung, das heißt der
Präsenz.“ - Die Teilnehmer des
Kolloquiums sind hauptsächlich
damit beschäftigt, in positiver wie
negativer Kritik der französischen
Kritiker den Wandel von Individualitätskonzepten nachzuzeichnen und
im Anschluß daran aktuelle Ansätze
auszuarbeiten.
Das zugrundeliegende Paradigma
vieler Beiträge, das M. Frank und A.
Haverkamp in ihrer Einleitung anführen und das die Diskussion wie
Bücher zum Thema
ein Subtext begleitet, ist Foucaults
Beschreibung des „Erscheinens“
des Individuums nach dem Zerfall
der klassischen episteme am Ende
des 18.Jahrhunderts. In „Les mots
et les choses“ (1966) leitet Foucault
die Entstehung der Humanwissenschaften im 19.Jahrhundert aus der
Möglichkeit der Selbstthematisierung des Menschen her, die so vorher nicht gegeben war. Diese Selbstthematisierung vollzieht nach Foucault
erstmalig
die
Transzendentalphilosophie Kants
und in der Folge alle Entwürfe der
Bewußtseinsphilosophie, die das
Individuum wesentlich als Selbstbewußtsein fassen.
Gerade diese Konzeptionen des Individuums als mit sich selbst identischem Einzelsubjekt werden nun
aber von den französischen Theoretikern hinterfragt. Bereits Foucault
wies darauf hin, daß Kants Ansatz
eine unüberbrückbare Kluft aufreißt
zwischen einem transzendentalen
und einem empirischen Subjekt, so
daß die Identität des selbstbewußten
Ich durch eine irreduzible Differenz
allererst ermöglicht wird und
zugleich eine beständige Kritik provoziert, angefangen bei den Frühromantikern und andauernd bis in
die Gegenwart. Die Abkehr von den
„Identitätsmodellen“ der Bewußtseinsphilosophie und die Hinwendung zu einem hermeneutisch oder
sprachphilosophisch begründeten
Individualitätsbegriff ist die Argumentationsbasis der Diskutanten -
gestützt auf Entwürfe von Schleiermacher und Humboldt sowie auf
die „Differenzmodelle“ von Lacan,
Derrida und de Man. Es bilden sich
im wesentlichen zwei Ansätze von
Individualität jenseits der Identität
heraus, die freilich auch miteinander
verbunden werden:
Zum einen wird Individualität als
Unverfügbarkeit gefaßt. Bei M.
Frank ist es die Unverfügbarkeit des
Individuums der Sprache als Allgemeinheit gegenüber, durch die es im
hermeneutischen Prozeß des Verstehens und in der Möglichkeit zu
semantischen Innovationen im
Sprechakt seine Freiheit und Eigenheit bewahrt. R. Warning versteht
Individualität mit Derrida als eine
Logik der Supplementarität, die in
einer ständigen Bewegung von Substitution und Ergänzung ein Individuum zu restituieren sucht, das es
als völlig gegenwärtiges nie gegeben
hat. Wo Frank meint, noch einen
Kern von Individualität festhalten
zu können, entgeht sie bei Warning
jeder Fixierung und mündet in eine
unendliche Folge von Supplementen einer Individualität, die selbst
keinen Ort mehr beanspruchen
kann. In ähnlicher Weise spricht
W.Iser vom Individuellen als einer
„Quelle kognitiver Mythen“, die
von der produktiven Illusion gespeist werden, des Wesen der Individualität benennen zu können,
während diese selbst sich auf den
Status einer Ermöglichung von Dis-
Bücher zum Thema
kursen über Individualität zurückzieht.
Eine andere Diskussionslinie betrachtet Individualität als Ergebnis
eines - im weitesten Sinne - Bildungsprozesses, der indessen nicht
mehr, wie in der Klassik, als ein
prinzipiell abschließbarer gedacht
wird. „Individualität ist etwas, das
aus der sozialen Genese entspringt“
und sich über das Medium der
Sprachlichkeit konstituiert, so L. Jäger mit Humboldt; im ständigen
Austausch mit dem Allgemeinen
gewinnt das Individuum die Unverwechselbarkeit einer Biographie.
Auch J. Küchenhoff betont in seinem auf die Psychoanalyse Lacans
rekurrierenden Beitrag das prozessuale Moment der Individualität.
Die imaginären, statischen Identiätsentwürfe des Ich werden von
der sprachlich-symbolischen Ordnung, in der sie sich artikulieren
müssen, destruiert, so daß die individuelle Freiheit gerade in der Beweglichkeit zu immer neuen, jedoch
auch notwendig immer wieder imaginären und illusorischen Ichentwürfen besteht. Individualität wäre
demnach anzusiedeln im „Realen“,
das Lacan als „Fuge“ zwischen dem
Imaginären und dem Symbolischen
beschreibt.
„Aus psychoanalytischer Sicht
scheint Individualität nur als Prozeß
zu retten, als Rhythmus in einer offenen Bewegung, deren Kontinuität
nur in der Erinnerung erzeugt wird,
die Identität erst schafft; darum ist
das Futurum II die Zeit psychoanalytischer Erkenntnis: Ich werde erst
im Nachhinein sagen können, wer
ich gewesen sein werde. Identität ist
immer Ergebnis der Konstruktion
vom gegenwärtigen Standpunkt aus,
die immer schon überholt ist, die
aber auch als Illusion wirkmächtig
wird.“ (Küchenhoff, 647-648)
Billiger als mit derart gewiß nicht
simplen Konstruktionen scheint das
Individuum der Moderne nicht zu
haben zu sein. Doch wird damit
nicht ein wesentlicher Bestandteil
der klassischen IndividualitätsVorstellung, die Autonomie nämlich, preisgegeben? Wenn Frank die
Freiheit des Individuums als eine
semantische, nicht aber als eine in
die Welt eingreifende, mithin praktische Freiheit gelten läßt, unterliegt
dann dieses Individuum nicht der
Gefahr, ein verinnerlichter, dem
drohenden Solipsismus ausgelieferter Mensch zu sein? Frank, der seinen Individualitätsbegriff fernab
von jeglichem „bürgerlichen Individualismus“ rückt, würde diese Konsequenz sicherlich nicht zugestehen.
Doch O. Marquard beschreibt gerade diesen Individualismus als weitgehende Kontingenz der Individuums, das sich gegenüber dem allgegenwärtigen
Konformismus
durch Originalität, die sich vom Usuellen abhebt, auszeichnet. Diese
Reduktion des Individuellen auf die
unwesentliche Abweichung - die gerade den Inhalt der konformitätsfördernden Ideologie der westlichen
Bücher zum Thema
Freizeitgesellschaft ausmacht - ergibt sich für Marquard zwingend
aus seiner Absage an jedwede „Totalitätsillusion der Universalgeschichte“ (24). Denn wenn die bestehende Ordnung das letzte Wort
ist - und bei Marquard ist sie es -,
dann wird das Individuum tatsächlich nur mehr als das Originelle
sichtbar. Wird jedoch das gegenwärtige Gesellschaftssystem als ein zu
überwindendes begriffen, in dem
bereits die Spuren des Neuen wirken, so muß auch an der praktischen Komponente der Individualität festgehalten werden.
Foucault hat das Zeitalter des Menschen zugleich als das der Geschichte benannt. Jenseits des Relativismus, den er mit dieser Bestimmung
verbindet und der sich aus seiner
epochenimmanenten
Betrachtungsweise ergibt, wäre gerade am
Individuum als einem wesentlich
historischen festzuhalten, das als
Grundlage und - mehr oder weniger
bewußtes - Subjekt dieser Geschichte zu verstehen ist. Denn ohne das
tätige Individuum kann eine Zukunft, die Individualität als - wie
auch immer vermittelte - Identität
faßt, nicht gedacht werden. Insofern
bleibt die idealistische Konzeption
der Individualität als Identität eine
Aufgabe, deren Verwirklichung
noch aussteht - und die zu leisten ist
von unvollständigen, beschädigten
und entfremdeten Menschen. Möglich ist dies jedoch nur, wenn weder
das transzendentale noch das empi-
rische Subjekt zugunsten des jeweils
anderen aufgegeben wird, sondern
der Mensch als Ganzheit sowohl
den theoretischen Ausgangspunkt
als auch das praktische Ziel darstellt.
In der Gegenwart meint Individualität weder eine „Zwangsvorstellung“
(A.M. Haas), von der es sich zu befreien gilt, noch ein Alibi, dessen
Ort bislang noch nicht gefunden
wurde, sondern eine Utopie, der ein
Ort allererst zu schaffen ist.
Günter Butzer
Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte.
Der klassische Dandy im Spiegel
der Weltliteratur, Stuttgart 1988
(Metzler) 348 S. geb., 36,Zufällig sah ich dieser Tage wieder
einmal Jean-Pierre Melvilles Film
„Der eiskalte Engel“. Der Typ, den
Alain Delon hier darstellt, wie die
ästhetische Konzeption des Films
scheinen prototypisch die Attribute
des dandyistischen Schönheitsideals
zu vereinen: Eleganz, impassibilit‚,
den immoralischen beobachtenden
Blick, die Ästhetisierung des Verbrechens, die Ablehnung der herrschenden Moral und das Handeln
nach einem inneren undurchschaubaren Gesetz, die erotische Aura
von Macht, die den melancholischen solitaire umgibt, die vollkommene Künstlichkeit und Stilisierung, die sogar die Inszenierung des
eigenen Todes einschließt. Der Film
Bücher zum Thema
zog Generationen von Cineasten in
seinen Bann. Die Permanenz der
Faszination des Dandyismus fragt
nach einer Erklärung.
Die vorliegende Untersuchung der
Literaturwissenschaftlerin Hiltrud
Gnüg bietet dazu einen wichtigen
Ansatz. Ihr Erkenntnisinteresse gilt
dem klassischen Dandyismus. Zurecht weist die Autorin darauf hin,
daß der Dandy als Sozialtypus des
19. Jahrhunderts sich von neumodischen Imitatoren durch den Habitus
eines geistigen und ästhetischen Aristokratismus, durch den er sich
der Menge, in der er sich incognito
aufhält, unsichtbar entzieht, unterscheide. Dem entspricht sein Modestil einer unauffälligen Eleganz. Ch.
Baudelaires Maxime - „Der Dandy
muß sich bestreben, sublim zu sein
ohne Unterbrechung. Er muß leben
und schlafen vor einem Spiegel“ weist ins Zentrum dandyistischen
Selbstverständnisses: Affektkontrolle und Überwachheit des Bewußtseins, die durch permanente
(Selbst)-Beobachtung und Agilität
des Intellekts konstituierte Überlegenheit des Subjekts, die Leben als
selbstvergessenen, erfüllten Augenblick nicht zuläßt. Beim modischen
Narziß der Gegenwart, der sich in
den Spiegeln des New Wave Caf‚s
betrachtet, habe sich dieser Habitus
zur äußerlichen Attitüde verkehrt.
Die Kultivierung einer ästhetischen
Lebenshaltung als Charakteristikum
des Dandyismus ermöglicht H.
Gnüg, ihn nicht nur sozialgeschicht-
lich, sondern als folgenreiches ästhetisches Paradigma des 19.
Jahrhunderts zu begreifen. Diese
These bestimmt die Gliederung des
Buchs
in
einen
begrifflichsystematischen Teil und einen Teil
konkreter Werkanalysen, in dem die
Autorin die verschiedenen Facetten
und die innere Verfallslinie des
Dandyismus, wie sie sich in der
Literaturgeschichte spiegeln, nachDie Metaphorik der Kälte, die ihre
zeichnet.
polare Entsprechung in der „Wärme- und Glutmetaphorik der Romantik“ hat, zeigt den entscheidenden Bruch der dandyistischen mit
der traditionellen Ästhetik an: die
Absage an das idealistische Paradigma einer Versöhnung von Intellekt und Natur, die Aufhebung der
Entzweiung des Subjekts, die noch
in der Ästhetik der Romantik wenn auch gebrochen - den utopischen Fluchtpunkt bildet. Für den
Dandyismus ist der unauflösliche
Widerspruch von Geist (spiritualit‚)
und sinnlich-triebhafter Natur (animalit‚) existentielle Bedingung.
Dandyistische Ironie ist die Reflexion der eigenen naturbedingten Unfreiheit, der Wille zur absoluten
Künstlichkeit und Selbststilisierung
Ausdruck des Triumphs der Form
über die Materie.
Dem Dandy ist die äußere und innere Natur suspekt. Sein Domizil ist
der Salon und die moderne Großstadt als erweitertes Interieur. Konsequent lehnt der Dandy das romantische Ideal sublimierter Sinnes-
Bücher zum Thema
liebe ab. Gnüg zeigt, leitmotivisch in
der erotischen Sphäre, die innere
Spannung der dandyistischen impassibilit‚ zwischen Langeweile und
selbstzerstörerischer Passion auf.
Diese Spannung prägt auch das Bild
der Frau, die als „animalit‚“ für den
Dandy Gefahr wie Verlockung darstellt: evident in der schillernden
Metapher der „Wildkatze“, die
zugleich auch dandyistische Attribute der Erhabenheit und Eleganz
verkörpert - Phantombild einer
„femme dandy“, als Produkt einer
„literarisch stilisierten Männerphantasie“. Changierend zwischen leidenschaftslosem Beobachter und
„Dompteur“, sei der Dandy, so
Gnüg, unbewußter Träger der „Überlistmentalität“
„bürgerlicher
Technik“ (Bloch). Diese These illustriert die Autorin eindrucksvoll in
einer Analyse von Balzacs Erzählung „La fille aux yeux d’or“.
Die dem dandyistischen Subjektentwurf zugrundeliegende Naturverachtung verlangt in ihrer Widersprüchlichkeit gesehen zu werden.
In ihr gelangt eine Revolte zum
Ausdruck gegen das herrschende
Bewußtsein gesellschaftlicher und
künstlerischer
Naturwüchsigkeit,
gegen Utilitarismus, Philistertum,
Konformität und moralische Bigotterie der bürgerlich-kapitalistischen
Leistungsgesellschaft. In der Ablehnung aller bürgerlichen Wertvorstellungen, die die Authentizität des
Subjekts, die Einheit des Lebens nur
noch in der Sphäre des ästhetischen
Scheins, „jenseits von Gut und Böse“ zulassen - als Sphäre der „Prostitution“, des „mal“, des Satanischen, des schönen Verbrechens zeigt sich der Dandyismus als Vexierbild des schlechten Bestehenden. Gnüg weist auf die Parallelen
zur Philosophie Nietzsches hin.
Sein elitärer Anarchismus, der den
Dandy außerhalb der Gesellschaft
stellt, ist politisch-ideologisch zwiespältig. Potentiell ist er ein Sympathisant der „Entrechteten“ (Baudelaire, Walter Serner), wie eines
rechtsextremen Putschismus (Ernst
Jünger).
Obwohl Gnüg zuzustimmen ist, daß
mit der Durchsetzung der bürgerlichen Massengesellschaft, der Kultur- und Bewußtseinsindustrie der
Dandy von der Bildfläche verschwunden ist, ist doch zu entgegnen, daß die dandyistische Vision
als ästhetischer Topos in der Kunst
des 20. Jahrhunderts bis heute präsent geblieben ist. So sieht z. B. S.
Neumeister (Der Dichter als Dandy,
München 1973), in Thomas Bernhard (!) einen zeitgenössischen literarischen Repräsentanten des Dandy.
Georg Koch
Werner van Haren: Grundrisse
einer Theorie der Intellektuellen.
Zu Funktion, Geschichte und
Bewußtsein von Intellektuellen,
Bücher zum Thema
Köln 1988 (Pahl-Rugenstein) 297
S., 35.Mit seiner Arbeit greift van Haren
die - zwischenzeitlich liegengebliebene - „Intelligenzdebatte“ zu Beginn der 70er Jahre in der Linken
wieder auf. Damals ging die Diskussion um die sozialökonomische
Charakterisierung der Intelligenz,
die sich durch den Ausbau der
Hochschulen sprunghaft vermehrt
hatte: werden die „geistigen Lohnarbeiter“ ein Teil der Arbeiterklasse
sein oder eine eigene „Mittelschicht“ bilden, und wohin werden
sie sich gesellschaftlich orientieren zur Arbeiterklasse oder zur Bourgeoisie? Auch wenn diese Auseinandersetzung in der Praxis heute
keineswegs abgeschlossen ist, wie
die Schwierigkeiten der Gewerkschaften mit der Organisierung dieser „neuen Mittelschichten“ demonstrieren, - van Haren stellt sich
mit seiner Arbeit einem damals verdrängten Problem: dem Unterschied
zwischen der „Intelligenz“ und den
„Intellektuellen“.
Wie schon der Titel andeutet, tritt er
für eine eigenständige Behandlung
des Begriffs „Intellektueller“ ein.
Dieser sei nicht auf die sozialökonomische Kategorie der „Intelligenz“
zurückführbar, wenngleich Intellektuelle evidenterweise auch geistige
Tätigkeiten ausführen. In einer historischen Skizze zeigt er, daß das
Wort Ende des 19. Jahrhunderts in
der Sphäre des politischen Kampfes
entstanden und als Selbstbezeichnung französischer Aufklärer und
Republikaner verwandt worden ist,
und daß in diesem Sinne der Begriff
weit zurück auf die Humanisten der
Renaissance-Zeit weist. Ja, van Haren geht soweit, auch die Priester,
Philosophen und Geschichtsschreiber der Antike und des Mittelalters
unter dem Begriff „Intellektuelle“
zu fassen. In Übernahme des Politik-Konzepts
des
italienischen
Marxisten Gramsci definiert er
dabei den Begriff funktional in
bezug auf diejenigen geistigen
Tätigkeiten, die der Eroberung und
der Erhaltung der politischideologischen Hegemonie einer
Klasse über die anderen dienen.
Kleriker
und
Aufklärer,
„Linksintellektuelle“ wie konservative Ideologen gelten als „Intellektuelle“, weil und insofern sie durch ihre geistig-konzeptionelle Tätigkeit
Einfluß auf eine Öffentlichkeit
nehmen, in der sich politischideologisch die Hegemonie einer
Klasse herstellt.
Interessant
und m.E. ausbaufähig
sind seine Ausführungen über die
soziale Psychologie des Intellektuellen, die er ausgehend von den Arbeiten des sowjetischen Psychologen Leontjew und des französischen
Philosophen SÜve entwickelt. Die
spezifische Tätigkeit des Intellektuellen bringe einen Typus hervor, der
einen besonderen - über Theorien
statt durch unmittelbare Erfahrung
vermittelten - Wirklichkeitsbezug
besitzt, durch geistige Bedürfnisse
Bücher zum Thema
bestimmt ist und daher einen für
Außenstehende oft befremdlichen
weltanschaulichen und ethischen
Rigorismus vertritt, und der sich
über eine relativ homogene, exklusive soziale Umwelt definiert. Eine
Politik, so van Haren, die Intellektuelle ansprechen und integrieren
möchte, muß diese sozialen Faktoren berücksichtigen.
Weniger gelungen erscheinen mir
die Teile seines Buches, die das Verhältnis von Intellektuellen zu den
beiden großen Klassen, der Bourgeoisie und der Arbeiterbewegung,
beinhalten. Dies weniger, weil etwa
die
Sozialdemokratie
recht
umstandslos der Bourgeoisie zugeschlagen wird, sondern weil hier die
theoretische Analyse des Verhältnisses sich allzusehr mit den eigenen
moralischen Wertungen und politischen Zielsetzungen vermengt: zugespitzt gilt ihm als „schlechter“ Intellektueller der Apologet des Bestehenden; als „guter“ derjenige, der
sich in die Reihen der Partei der
Arbeiterklasse einreiht, weil diese
die allgemeinmenschlichen Werte
der Erkenntnis, der Moral und der
Humanität vertritt. Zwar verhehlt er
keineswegs das durchaus spannungsreiche Verhältnis, das zwischen der Arbeiterbewegung und
den Intellektuellen bestanden hat;
als Maßstab gilt ihm, in der Tradition Gramscis, jedoch der „organische Intellektuelle“, der durch seine
konzeptionelle Tätigkeit sich als Teil
der organisierten Arbeiterbewegung
einfügt. Was gänzlich fehlt, ist eine
Darstellung der Stellung des Intellektuellen im realen Sozialismus, für
die nach über 70 Jahren genügend
Material vorhanden sein müßte. So
wird man beim Lesen den Eindruck
nicht los, daß weite Passagen noch
vor der Zeit des „neuen Denkens“
im Marxismus konzipiert worden
sind.
Ein ganz anderer, neuer Wind weht
dann auch im letzten Kapitel, wo
van Haren eindrucksvoll die neue
„intellektuelle Verantwortung“ für
die Menschheit angesichts der globalen,
menschheitsgefährdenden
Probleme beschwört und den Intellektuellen nicht weniger als die Aufgabe zuschreibt, unsere Grundbegriffe von Natur, Mensch und Gesellschaft einer Überprüfung zu
unterziehen. „Für die Zukunft“,
schreibt er hier, „braucht die
Menschheit den ihr verpflichteten
Intellektuellen.“ Ob sich allerdings
diese Bestimmung des Intellektuellen nahtlos mit jenem von ihm zuvor entwickelten Typ des „organischen Intellektuellen“ der Arbeiterbewegung deckt, bleibt im Buch
eine offene Frage.
Der Impuls van Harens Arbeit liegt
denn auch darin, einen theoretischen Ansatz im Rahmen des Marxismus entwickelt zu haben, der
aufhört, den „Intellektuellen“ auf
die sozialökonomischen Kategorie
der „Intelligenz“ zu reduzieren und
ihm seinen Platz dort anweist, wo er
aufgrund seiner Tätigkeit hingehört:
Bücher zum Thema
in den politisch-ideologischen Bereich. Darüberhinaus ist die Lektüre
seines flüssig geschriebenen und
kenntnis- und ideenreichen Buches
ein Anlaß zur Selbstreflexion und
eine Quelle der produktiven Auseinandersetzung jedes Intellektuellen
mit sich selbst, mit seiner Psyche
und seinen Konflikten, mit seiner
sozialen Stellung und Funktion.
Alexander von Pechmann
Albert O. Hirschman: Engagement und Enttäuschung - Über
das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl,
Frankfurt/Main
1988
(Suhrkamp) 170 S., 16.Nach seinem 1977 veröffentlichten
Buch „Leidenschaften und Interessen“ legt der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman mit „Engagement und Enttäuschung“ einen
weiteren Versuch vor, den „gesellschaftlichen Wandel“ (7) zu erklären. Ein Aspekt dieses Wandels ist,
daß sich „die Bürger“ manchmal
vermehrt privaten Interessen „zuwenden“, zu anderen Zeiten wieder
vermehrt
öffentlichen
Fragen
(Hirschman nennt hier z.B. die „öffentlichen Aktionen“ von 1968).
Die Beschreibung dieses „Schwankens zwischen Privatwohl und Gemeinwohl“, seine Ursachen und die
Art und Weise, wie aus einer Vielzahl privater Akte eine gesellschaft-
lich relevante Bewegung entsteht,
bilden die Themen des Buchs.
Im Mittelpunkt des Versuchs steht
„der Bürger“ als Subjekt des gesellschaftlichen Wandels. Seine „wirtschaftliche Ratio“ bestimmt als Teil
seiner Natur den Weltlauf. Das gesellschaftliche Ganze ist dann die
Bündelung der in freier Konkurrenz
ablaufenden Handlungen der Subjekte, ein Bild, das erklärtermaßen in
der Tradition der Grenznutzenlehre
von J.A. Schumpeter steht (siehe
dazu Alfred Sohn-Rethel, der diese
Theorie in seiner Dissertation widerlegte). Der Kreis der Bürger, für
die sich Hirschman interessiert, ist
allerdings eingeschränkt: Berufspolitiker und Parteifunktionäre sind
ebensowenig gemeint wie Bürger,
deren politische Tätigkeit sich auf
das Ankreuzen von Wahlzetteln beschränkt. Es bleiben Revolutionäre,
die irgendwann die Lust an der Revolution verlieren, oder Menschen,
die irgendwann auf die Straße gehen
und sich irgendwann wieder ins Privatleben zurückziehen.
Wie sieht nun das Erklärungsmodell
für diese Bewegungen zwischen privater und öffentlicher Sphäre aus?
Gegenüber dem „begrenzten exogenen Blickwinkel bisheriger Erklärungsansätze“ (13) - er nennt dafür
neben Naturkatastrophen auch
Kriege - will Hirschman sich ganz
auf die „inneren Triebkräfte“, also
auf endogene Ursachen des Wandels konzentrieren. Für diese endogenen Ursachen hat Hirschman den
Bücher zum Thema
Schlüsselbegriff gefunden: Es ist die
Enttäuschung, die den Übergang
von der privaten zur öffentlichen
Sphäre ebenso steuert wie den Übergang in umgekehrter Richtung.
Beginnen wir mit der Privatsphäre.
Den Produktionsbereich klammert
Hirschman von vorneherein aus,
denn die „Unzufriedenheit im Beruf“ erklärt sich für ihn „nicht so
sehr, wie allgemein angenommen
wird, aus den Merkmalen des Berufs
oder Arbeitsplatzes selbst, sondern
hängt eher mit dem Grad der allgemeinen Zufriedenheit zusammen“
(33). Privates Handeln ist für den
Autor in erster Linie Konsum. Nun
beinhalten alle Güter und Dienstleistungen ein mehr oder weniger
großes „Enttäuschungspotential“,
und so führt der Konsum zwangsläufig zur Enttäuschung, denn „der
Mensch ist im Gegensatz zum Tier
niemals wirklich zufrieden“ (19).
Der Mensch reagiert auf diese Enttäuschungen letzten Endes mit einem Präferenzwandel: Er wechselt
„in die politische Arena“ (69) und
beteiligt sich „an irgendwelchen (!)
Formen politischen oder kollektiven
Handelns“ (85). Dieser Wechsel
wird folgendermaßen beschrieben:
Es ist, wie wenn jemand sowohl
Äpfel als auch Apfelsinen kauft, die
Apfelsinen weniger zufriedenstellend als die Äpfel findet und deshalb das nächste Mal mehr Äpfel
kauft.
Wie die Geschichte weitergeht,
kann man schon ahnen: Auch in der
politischen Arena wird der „ruhelose, seinen Leidenschaften ausgelieferte Mensch“ enttäuscht. Und zwar
aus zwei Gründen: Einmal aus Über-Engagement (dazu wird der
dumme Satz von Oscar Wilde zitiert, wonach der Sozialismus nicht
funktioniere, weil er zuviele freie
Abende kostet), zum anderen aus
Unter-Beanspruchung. So erklärt
Hirschman in einem kleinen Exkurs
(116 ff.), warum gerade Demokratien so langweilig sind (was unter
anderem auch zum Terrorismus
führe): Bei demokratischen Wahlen
hat jede Stimme gleiches Gewicht,
damit findet die Intensität der politischen Überzeugungen des einzelnen Wählers keinen angemessenen
Ausdruck, die Enttäuschung ist institutionell garantiert. Ganz anders
in repressiven Staaten, wo sorgfältig
abgestufte Strafsanktionen einen getreuen Maßstab für die Intensität
des politischen Willens darstellen.
Der nächste Schritt leuchtet sofort
ein: Nach dem Ausflug in die politische Arena treibt die Enttäuschung
den Bürger zurück an den Start - in
den privaten Konsum. Auf diesem
Weg macht der eine oder andere
noch einen kleinen Abstecher: Die
häufig auftretende Korruption im
öffentlichen Bereich erklärt der Autor, ganz nebenbei, ebenfalls aus der
Frustration blauäugiger Politneulinge.
Hirschmans erster Programmpunkt
war es, eine Phänomenologie des
Schwankens zwischen privater und
Bücher zum Thema
öffentlicher Sphäre zu entwerfen.
Schon auf dieser Ebene des bloßen
Beschreibens merkt man allerdings,
daß Enttäuschung bestenfalls beim
Wechsel ins Private eine wesentliche
Rolle spielt, kaum aber beim Wechsel in die Öffentlichkeit: Niemand,
der auf die Straße geht, macht dies
aus Enttäuschung am Konsum, eher
schon, weil er von diesem ausgeschlossen ist. Ebensowenig hat
Konsumkritik als Teil von Gesellschaftskritik ihre Wurzel in der Enttäuschung am Konsum. Mit der
Entdeckung eines begleitenden Gefühls „Enttäuschung“ ist natürlich
noch nichts erklärt. Es bleibt die
Frage nach den Ursachen dieser
Enttäuschung und vor allem nach
den Gründen ihres simultanen Auftretens. Hier muß Hirschman sehr
schnell sein ursprüngliches Vorhaben aufgeben, sich ganz auf endogene Ursachen zu konzentrieren; er
nähert sich wieder dem Bereich, den
er eigentlich abtrennen wollte: dem
gesellschaftlichen Sein. Die „äußeren Ereignisse Vietnamkrieg oder
eine individuelle Neurose“ (81)
werden als letzte Auslöser wieder
eingeführt (inwieweit allerdings individuelle Neurosen äußere Ereignisse sind, bleibt ein Geheimnis des
Verfassers). Die Rückführung der
Enttäuschung auf „die ökonomische Struktur und Entwicklung“
(20) wird zwar angekündigt, die Ergebnisse bleiben aber widersprüchlich und erklären damit nichts. So
führt nach Hirschman einerseits
wirtschaftliches Wachstum zu besonders
starken
Konsumenttäuschungen und damit
zu einem Wechsel in den
öffentlichen Bereich, andererseits
vergrößern
aber
auch
„wirtschaftliche
Wachstumsschwierigkeiten“ das Interesse an
der öffentlichen Sphäre und staatliche Repression führt einerseits zu
stärkerem politischem Engagement,
andererseits aber zu vermehrtem
Rückzug
Was
kannins
man
Private
auch(11).
von einer Theorie erwarten, die mit der Rede von
„dem Menschen“ alle politischen
Unterschiede unterschlägt (siehe
dazu Günther Anders in „Ketzereien“), die jede inhaltliche Diskussion
vermeidet und etwa den Ausbruch
eines Krieges u.a. mit „irgendeinem
(!) Bedürfnis der Bevölkerung, sich
in größerem Maße als zuvor, für öffentliche Angelegenheiten zu begeistern“ (12) begründet? Es bleibt
die Frage, warum sich Hirschman in
die Öffentlichkeit begeben und das
vorliegende Buch geschrieben hat.
Die Schlüsse, die er am Ende seiner
„Fabel“ zieht, machen es deutlich:
1) Es gibt auch Konsum ohne Enttäuschung: den Konsum von Geld
(34). Für alle, die sich darunter
nichts vorstellen können, oder denen dieser Weg mangels Geldes versperrt ist, gilt:
2) Die Wechsel zwischen privater
und öffentlicher Sphäre sind nicht
in sich schlecht, sie können sogar
der Gesellschaft zugute kommen
(Hier müssen neben Kierkegaard
Bücher zum Thema
der Hinduismus und die Heilige
Schrift herhalten: „Alles zu seiner
Zeit“ (146).
3) Von Übel ist allerdings ein zu
starkes Schwanken, z.B. „erregte
Anfälle von Öffentlichkeitsseligkeit“
(146), deshalb sollte man
4) die „Abspaltung des Privaten
vom Öffentlichen“ (oder auch die
„Dissoziation von Arbeit und Liebe“) verringern. Tritt nun, etwas
überraschend, doch die Arbeit ins
Blickfeld, so ist auch Hirschmans
Vorschlag zur „Versöhnung“ nicht
gerade originell: „mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz könnte z.B.
ein Schritt zur Überwindung der
Spaltung sein“. Sie „würde die Arbeitszufriedenheit steigern“ (147).
Ziel ist offensichtlich der konsumfähige, kontrolliert-politische Bürger
in einem modernisierten Kapitalismus, wo im Zeichen der Beliebigkeit aller Inhalte Sphärenwechsel
zur Sphärenharmonie führen. Der
Autor leistet mit seinem Buch einen
Beitrag zur Rechtfertigung dieses
Ziels. Es bleibt als Fazit: Das Buch
ist eine Enttäuschung - das könnte
nach Hirschman dazu führen, das
Bücherlesen zu lassen, um statt dessen z.B. wieder mehr Äpfel zu kaufen, es könnte aber auch den Leser
ärgern und ihm damit einen Anstoß
geben, den Dingen ohne dieses
Buch auf den Grund zu gehen - und
dann hätte Hirschman ja doch
recht, wenn
er der Enttäuschung eine so große
Bedeutung als Triebkraft gesellschaftlicher Prozesse beimißt.
Carl Freytag
Georg Kohler, Handeln und
Rechtfertigen. Untersuchungen
zur Struktur der praktischen Rationalität, Frankfurt/Main 1988
(Athenäum), 256 S., 78.Georg Kohler, Philosophiedozent
in Zürich, bietet in seinem Buch eine aktuelle Zusammenschau der
Ergebnisse der analytischen Handlungstheorien des angelsächsischen
Raums mit den bundesdeutschen
Diskussionen über Diskurs und Dezision, die vor allem von Habermas
und Lübbe als Antipoden geführt
worden sind.
Ins Zentrum stellt Kohler einen
Begriff von Handeln, der sich gleichermaßen von seiner behavioristischen Auflösung in Verhalten wie
von seiner vorschnellen Bindung an
moralische Postulate distanziert. Er
versucht die beiden Begriffe, die
dem Buch den Titel geben, definitorisch aufeinander zu beziehen:
Handeln bedeute ein Verhalten, das
prinzipiell rechtfertigungs- und damit diskursfähig ist, für das also
prinzipiell Gründe angebbar sind.
Handeln, so Kohler, sei aber immer
auch die Antwort auf die praktische
Frage: Was tun? und sei als solches
das Resultat von (impliziten oder
Bücher zum Thema
expliten) Entschlüssen. Die Diskursfähigkeit und die Dezisionsnotwendigkeit seien, so Kohlers
Pointe, keine Gegensätze, sondern
notwendige Elemente der Handlungsstruktur.
Die mit dem Wort „prinzipiell diskursfähig“ angegebene Breite des
Handlungsbegriffes ermöglicht es
Kohler, auch die Phänomene der
Lüge bzw. Verstellung der „wahren“ sowie der Unsicherheiten und
Korrekturen der eigenen Handlungsmotive in sein Konzept zu integrieren. Entscheidend für ihn ist,
daß sie als im Prinzip rechtfertigungsfähig und -bedürftig angesehen werden. Die Grenzen der Beliebigkeit zieht Kohler, indem er die
Formen der Selbstlüge - wenigstens
auf Dauer - als ausgeschlossen erachtet. „Wer auf die Frage: ‘Warum
tust du das?’ antwortete: ‘Weil ich es
selbst für unrichtig halte’ ... verlöre
die Einheit mit sich, noch bevor er
an der Welt scheitern müßte. Man
kann sich, ohne seinen Selbst-erhalt
zu gefährden, nur auf das hin entwerfen, was man selbst für wahr, für
rechtfertigbar hält“ (181). Wenngleich dies keinesfalls bedeute, daß
jede Handlung - nicht einmal die
meisten - der faktischen Rechtfertigung bedürfe.
Die Stärke von Kohlers Arbeit liegt
in der Breite seines Handlungsbegriffs, die es ihm erlaubt, die unterschiedlichen Diskussionen über
Normenbegründungen, über die Intentionalität, die Richtigkeit und die
Begründbarkeit von Handlungen
ohne vorschnelle Ausgrenzungen zu
integrieren. Unproblematisch erscheint es mir auch, wenn Kohler
das Handeln mit der Existenzweise
der Menschen in der Weise verknüpft, daß es eben dem Menschen
- im Unterschied zum Tier - zukommt, den „Hiat zwischen Motivleben und Handlungsvollzug“ durch
den Einsatz von Rationalität, zu überwinden, d.h. zu handeln. Kaum
zu bestreiten ist ebenfalls seine These, daß die Menschen aufgrund ihres Instinktverlustes zum Handeln
gezwungen sind.
Keineswegs ausgewiesen ist jedoch
seine Annahme, daß diese Unausweichlichkeit zu handeln die „existentielle Notwendigkeit“ des Menschen sei, die sich nicht weiter erklären oder begründen ließe. Kohler
springt hier recht unverhofft von
der Analyse des Handlungsbegriffs
in den Bereich der Fundamentalontologie bzw. der philosophischen
Anthropologie und nimmt unproblematisiert Anleihen bei Heidegger
und Tugendhat. M.E. besteht keine
Notwendigkeit, das Handeln als existentiellen Zwang zu bestimmen,
sondern kann mit gleich guten
(wenn nicht besseren) Gründen,
z.B. evolutionstheoretisch, als geschichtliche Tat der Befreiung des
Menschen von den natürlichen
Schranken oder als treibende Kraft
der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft interpretiert werden.
Bücher zum Thema
Kohlers philosophischer Blickwinkel führt ihn denn auch dazu, zugunsten der Handlungsgründe bzw.
-begründungen die objektiven Resultate menschlicher Handlungen
wie Zivilisation oder Kultur sowie
die Probleme der Konflikte zwischen den Motiven und den Resultaten der Handlungen, die mit dem
Problem der „Entfremdung“ verbunden sind, zu vernachlässigen.
Ein Mangel, der jedoch nicht nur
diese Arbeit charakterisiert. Bei aller
Detail- und Diskussionsfreude, die
das Buch auf den thematisierten
Feldern auszeichnet, scheint mir
diesem Ansatz doch ein zu enges
Verständnis des menschlichen Handelns zugrunde zu liegen.
Alexander von Pechmann
Richard Rorty: Solidarität oder
Objektivität? Stuttgart 1988 (Reclams Universalbibliothek), 125 S.,
DM 5,20.
Wer heutzutage linker Theorie anhängt, ist gewohnt, von alten, liebgewordenen Bekannten Abschied
zu nehmen: vom Glauben z.B., daß
alles schon irgendwie seinen sozialistischen Gang gehen werde. Den
zu beschleunigen, hätten sich die
Produktivkräfte in diesem Jahrhundert doch gewiß ausreichend entwickelt, doch statt des Kapitalismus
kam nur die Natur aus dem Gleichgewicht. Natürlich, wir sind mit der
Vernunft im Bunde, aber die ist ins
Gerede gekommen, spätestens seit
sie in ihrer Gestalt als Zweckrationalität für den Fortschritt bei der
Ausbeutung von Mensch und Natur
verantwortlich gemacht werden
konnte. Womöglich ist die Vernunft
auch noch der Diktatur verdächtig,
der Gewaltherrschaft über Gefühle,
Triebe und sonstige Regungen, welche auszuleben dem Vernunftwesen
Mensch häufig versagt bleibt. Manche Denkfigur linker Theorie ist
brüchig geworden, manches ist
nicht mehr zu retten - was Wunder,
daß andere aus der Misere Kapital
schlagen. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty ist so einer: ein
kluger Pragmatiker, der in seinem
Essayband „Solidarität oder Objektivität?“ die Fragwürdigkeit so hehrer Begriffe wie Wahrheit, Objektivität, Vernunft und Individuum
für seine Zwecke nutzt. Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes Gemisch aus Biederkeit und Geistesgegenwart, dem eine Apologie der,
wie Rorty es nennt, „liberalen Demokratie“ (Vorbild sind die USA)
entsteigt. Und das alles auf dem aktuellen Stand der Philosophie - mal
mit Habermas, mal mit Foucault,
mal mit Derrida.
Richard Rorty steht in der Tradition
des amerikanischen Pragmatismus
eines Charles Sanders Peirce oder
William James, besonders aber wandelt er in den Spuren John Deweys,
dessen Denken er „mit den Gedanken Wittgensteins, Davidsons,
Bücher zum Thema
Rawls’ einerseits und Freuds sowie
der postnietzschischen Philosophie
Europas andererseits“ aufzumöbeln
trachtet. Gemäß dem pragmatischen
Credo, Denken und Erkennen nach
dem Maßstab der Nützlichkeit für
das menschliche Handeln zu beurteilen, grübelt Rorty im Titelessay
über der Frage, ob es denn zweckmäßig sei, die Organisation menschlicher Gesellschaften auf „objektiven Erkenntnissen“ der Natur des
Menschen zu gründen. Zu diesem
Behufe, schließt er messerscharf,
müsse man in der Lage sein, letzte
Wahrheiten über das menschliche
Wesen zu formulieren, was leider
nur zum Preis des Abgleitens in die
Metaphysik zu haben sei. Weil die
Philosophie „nur Hypothesen aufstellen“ (Dewey) könne, weil ihre
Urteile „durch historische Zufälligkeit bedingt sind, weil es auch keine
prinzipiellen Unterschiede zwischen
Wissen und Meinung gebe, dürfe
man auch bei der Frage nach der
rechten Organisation menschlicher
Gemeinschaft den Ruf nach Objektivität getrost überhören. „...wir sollten uns den menschlichen Fortschritt nicht als das Zusteuern auf
einen für die Menschheit irgendwie
im voraus eingerichteten Ort denken.“ Für die „liberale Demokratie“
sprächen dann auch nicht letzte
Gründe oder ewige Wahrheiten:
„Die einzige Gestalt, die eine pragmatische Rechtfertigung der Toleranz, der Forschungsfreiheit und
des Strebens nach unverzerrter
Kommunikation annehmen kann,
ist ein Vergleich zwischen Gesellschaften, die diese Gewohnheiten
aufweisen, und Gesellschaften, in
denen sie nicht existieren.“ Schön
gesagt - und wer liefert den Maßstab?
Über das Individuum oder das Ich
emphatisch zu reden, vermag der
einigermaßen Sensible heutzutage
nicht ohne Bauchgrimmen. Liefert
die Konzeption des Individuums als
mit sich selbst identischem Ich
nicht schon den Strick, der dem
empirischen Ich zur Fessel wird?
Birgt nicht die Mahnung, Individuum zu sein, mit sich identisch zu
werden, sein Selbst zu finden, den
Appell zur Fügsamkeit, zur Einfügung in gesellschaftlich sanktionierte Muster, zur Disziplin gegenüber
einer sozial oder moralisch vorformulierten Rolle? Mit Freud als
Kronzeugen empfiehlt Rorty, Theorien zu begraben, die von einem
„wahren Ich“, einem Ich mit einem
Zentrum ausgehen. In seinem Aufsatz „Freud und die moralische Reflexion“ attestiert er dem Altvater
der Psychoanalyse, mit seiner Theorie das traditionelle Bild des einen
Intellekts, der sich mit einer Schar
irrationaler Bestien herumschlägt,
durch ein Bild komplizierter
Transaktionen zwischen zwei und
mehr „Intellekten“ ersetzt zu haben.
Damit habe Freud der Illusion eines
transzendentalen Subjekts, dem
Wunschbild von einem ahistorischen Wesen des Menschen den
Bücher zum Thema
Garaus gemacht. Es erübrigt sich
folglich, dem Vorwurf eines festgefügten Selbst hinterherzuhecheln;
stattdessen liegt das Heil im „ästhetischen Leben“, einem Leben „der
nie endenden Neugierde ... das seine
Grenzen zu erweitern strebt, anstatt
sein Zentrum zu finden“. So unhaltbar es sei, die Organisation
menschlicher Gesellschaften mit der
Autorität letzter Wahrheiten auszustatten, so widersinnig seien Bemühungen, die gesellschaftlichen Individuen auf ein „kohärentes Selbstbild“ zu verpflichten, „das der
ganzen Gattung gemäß ist“.
Der Konsequenz seiner Konzeption
folgt Rorty bis zum bitteren Ende dem Ende jeglicher Philosophie, die
noch irgendetwas Wesentliches für
die gesellschaftliche Praxis zu formulieren beansprucht. Wenn alle
Theorie der Gesellschaft und des
Individuums schlußendlich nur Meinung, nicht aber Wahrheit liefern
kann, darf man ruhig darauf pfeifen,
wenn es um die politische Ordnung
geht. „Wird die Wahrheit platonisch
gesehen, nämlich als Erfassen einer
vorgängigen Ordnung ..., dann ist
sie schlicht belanglos für die demokratische Politik, heißt es im Essay
mit dem programmatischen Titel
„Der Vorrang der Demokratie vor
der Philosophie“. In Frage stellt
Rorty mancherlei - nur nicht die „liberale Demokratie“ nach amerikanischem Muster. Sie ist da, sie ist
erstrebenswert, sie ist nützlich; und
weil sie sich ebensowenig philoso-
phisch begründen läßt wie jedes andere System, sollen die Philosophen
halt gleich die Finger davon lassen.
Die demokratische Politik kommt
„an erster Stelle, die Philosophie
erst an zweiter“. Und wehe dem,
der sich nicht daran hält! Wehe beispielsweise dem im Freud-Aufsatz
als Anwalt des Spielerischen gefeierten Nietzsche: „Wir Erben der Aufklärung halten Feinde der liberalen
Demokratie wie Nietzsche und Ignatius von Loyola gewissermaßen
für verrückt, denn es besteht keine
Möglichkeit, sie als Mitbürger unserer konstitutionellen Demokratie zu
sehen, als Personen, deren geplante
Lebensläufe durch Scharfsinn und
guten Willen mit denen der anderen
Bürger in Einklang gebracht werden
können.“ Punktum.
Wenn es um die liberale Demokratie geht, kennt Rorty keinen Spaß.
Im Zweifelsfall hat die Philosophie
das Feld zu räumen, damit es die
demokratischen Politiker nach Gutdünken bestellen können. Wer das
bedauerlich findet, mag sich mit
dem Hinweis trösten, daß ein übertriebener Einfluß der Philosophie
auf die Politik gegenwärtig ohnehin
nicht zu beklagen ist. Die Politiker
lassen sich eben nicht ins Handwerk
pfuschen - diesem Faktum verleiht
Rorty die philosophischen Weihen.
Seine scheinbar spielerische, ästhetische Attitüde, mit der er zur „philosophischen Oberflächlichkeit und
Leichtigkeit“ aufruft, ist ohne
Charme. Sie hat nichts vom Leicht-
Bücher zum Thema
sinn des Dandys, aber alles vom
Ernst des Verantwortungsträgers.
Sie ist der Schleier der Furcht, die
Theorie könnte der liberalen Demokratie schaden, wenn sie allzu
tief schürft. Soll das wirklich das
letzte Wort zum Kapitalismus amerikanischer Prägung sein: daß er
„die Menschen in Ruhe ... (läßt) und
ihnen die Möglichkeit ...(gibt), ihre
privaten Vollkommenheitsträume in
Frieden auszuprobieren“? Als gäbe
es nicht die handfesten ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse, als
gäbe es nicht das Räderwerk der industriellen Maschinerie, das zu einem ganz anderen Takt als dem des
ästhetischen Lebens zwingt. Es hat
schon seinen Sinn, wenn Rorty eine
vom „‘reichen Ästheten, dem Manager und dem Therapeuten’ dominierte Kultur“ gutheißen würde:
Wer nicht gerade Manager, Therapeut oder Ästhet ist, kann wenigstens als Opfer des einen auf der
Couch des anderen mit den Poemen
des dritten getröstet werden.
Wolfgang Görl
Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.):
Metamorphosen der Aufklärung.
Vernunftkritik heute, Tübingen
1988 (edition diskord)
In 11 Aufsätzen und einer Collage
untersuchen die AutorInnen, ob die
Aufklärung noch für sich selbst und
andere Philosophien verwendbar
sei. Vernunft sei, so G. Schmid
Noerr in der Einleitung, als Nachfahrin des göttlichen Lichtgedankens Ursache des heutigen Zustands
der Welt. Dieser mißfällt nicht nur
den AutorInnen.
Vernunft und Aufklärung - etwa
nach der Kant’schen Formulierung verwerfen oder untersuchen, ob
das, was als Vernunft gefeiert oder
geschmäht wird, diese Bezeichnung
verdient, heißt das Programm der
AutorInnen. Gesucht wird die vernünftige Vernunft.
Für die Beibehaltung der „Struktur“
der Aufklärung plädiert H. Schnädelbach in seinem Beitrag „Was ist
Aufklärung?“. Die Theorie der eigenen Rationalität sei ihr bester
Schutz vor der Liquidation durch
sie selbst oder andere.
Wieso wir sie noch brauchen? G.
Böhme (in seinem Essay „Permanente Aufklärung“) ist sich sicher:
Die Kant’sche Aufforderung, doch
bitteschön den eigenen Verstand zu
gebrauchen (und nicht den des vorliegenden Buches), habe seine Gültigkeit. Und aufzuklären gäbe es
noch so vieles. Er denkt an den
„wissenschaftlich-militärischindustriellen“, den „medizinischpharmazeutischversicherungswahnsinnigen“
und
„arbeitsadministrativen“ Block. Sein
Programm der heutigen Aufklärung
enthielte die Punkte: Kritik der Sicherheit, Arbeit und Natur.
Näher zum Thema der Vernunftkritik kommt G. Gamm in „Die Wie-
Bücher zum Thema
derkehr des Verdrängten. Über einige Motive der Aufklärungskritik“.
Aufklärung über Aufklärung heißt,
die Motive hinter deklarierter Vernunft aufzuspüren. Die Vernunft
der klassischen Aufklärung könne
nicht vernünftig sein, könne keine
rationale Begründung der Zwecke
erstellen, zu deren Verwirklichung
sie eingesetzt wird. Vernunft als übergelaufene Rebellin gegen Herrschaft oder immer schon Doppelagentin für Herrschaft ist die Frage.
Gamm würdigt Nietzsche als Relativierer der Aufklärung und hält dieser klar vor: Wille zur Wahrheit ist
Wille zur Macht.
In ähnlicher Richtung stellt Ph. Rippel in „Giacomo Leopardis vernunftkritische Aktualität in der italienischen Postmoderne“ Leopardi
als vernünftigen, Vernunft kritisierenden Schriftsteller vor. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
scheint sich Leopardi in ähnlicher
Situation gefühlt zu haben wie
Horkheimer und Adorno mit ihrem
Satz über die vollends aufgeklärte
Erde, die in vollendetem Unheil erstrahle. Ohne mythisch-religiöses
Denken zu bemühen, beharrt L. auf
der Konstruktion eines paradoxen
Wahrheitsbegriffes unter Einschluß
alogischer Komponenten.
Der Kritik der Aufklärung, wie sie
Horkheimer/Adorno formulierten,
widmet sich G. Schmid Noerr in
„Das Eingedenken der Natur im
Subjekt: Jenseits der Aufklärung?“
Ein neuer Mythos sei mit dieser
Schrift entstanden. Mit dem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ als
dem Argumentationstrick gedachten
sich die Autoren von den fürchterlichen Folgen der Aufklärung abzusetzen, ohne in romantische Naturphilosophie zu verfallen. Geist als
Inbegriff der Macht aufgefaßt, gebildet aus einem ominösen Schrecken vor Natur und deren trickreicher Unterwerfung, bedürfe (so
G.S.N.) einer weiteren Begründung
durch Lust, um seiner instrumentellen Verfügbarkeit zu entgehen. Ein
wertvolles Fragment Aufklärungsskepsis sei dieser Rettungsversuch
der Aufklärung. Doch sehr widersprüchlich seien auch einige in ihm
verwendeten zentralen Definitionen, wie „Natur“ und „Arbeit“.
H. Kimmerle bezeichnet in seinem
Beitrag „Die Dialektik der Aufklärung als Ausgangspunkt einer Bifurkation der philosophischen Denkwege? Zu Habermas’ Deutungsschema der Philosophie der
Moderne“ die Bifurkation philosophischer Denkwege nach Adorno
als Wiederholung der Bifurkation in
Links- und Rechtshegelianer. Beide
Richtungen hätten gleich Unrecht,
seien falsche Interpretationen, für
die es keine ausreichende Begründung mehr gäbe. Und somit: Keine
Bufurkation nach Adorno.
G. Raulet beschäftigt sich mit dem
Anwendungsversuch Habermas’ einer kritischen (Aufklärungs)Theorie
auf die veränderte sozioökonomische Situation und postmoderne
Bücher zum Thema
Philosophien. Je konsequenter dessen Theorien des kommunikativen
Handelns angewendet würden, desto anfälliger würde sie für pragmatisch-beliebige Standpunkte.
Für die Selbstaufklärung der Aufklärung zu gebrauchen ist Luhmanns
Systemtheorie nach Ansicht von
Ch. Bender im gleichnamigen Beitrag nicht. Abklärung statt Aufklärung lautet dessen eigene Schlagzeile zu seinem Vorhaben der Vernunftkritik. Als Vernunftkritik sieht
er funktionales Wissen zur Wirklichkeitsbewältigung an. Im Grunde
doch wieder instrumentelle Vernunft?
Kritisch ablehnend stellt sich B.
Brick in „Die Aufgabe des Leibes
zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Eine Kontroverse in der
bürgerlichen Frauenbewegung des
deutschen Kaiserreiches“ zu einer
integrativen Frauenpolitik. Sie sieht
dies in ähnlicher Weise sich heute
ereignen und führt diese Diskussion
anhand der alten Debatte zwischen
H. Lange („Institutionelle Einbindung von Mütterlichkeit in staatliche Maßnahmen“) und H. Stöcker
(„Radikaldemokratische Maßnahmen“) aus. Nach Auffassung Stöckers könne nur ein umfassender
Aufklärungsbegriff der Funktionalisierung einer bürgerlichen Frauenbewegung entgegenwirken.
Licht richten J. Belgrad et al. auf die
Rede Richard von Weizsäckers in
ihrem Beitrag „Von unschuldigen
Deutschen und ihren Opfern. Über
die Wirkungsformen einer ‘großen
Rede’: Richard von Weizsäcker und
der 8. Mai 1945“ und akzentuieren
so manche dunkle Figur in dessen
Rede. Mehr Tabuisierung, süßes
Einlullen in nationalistische Rauschgedanken als intellektuell redliche
Stellungnahme sehen die Autoren.
Die Opfer nochmals zu opfern um
die Täter zu entlasten sowie alte
Predigerrituale weisen die Autoren
nach. Diesen Beitrag zum Zeitpunkt
der Rede zu veröffentlichen wäre
praktische Aufklärung gewesen.
Dem steht wohl der publizistische
Presseblock entgegen.
Mit diebischer Freude frozzelt Ch.
Türcke in „Ausverkauf der Radikalität“ an den modernen Theologen
herum. Scheibchenweiser Ausverkauf des zentralen Dogmas sei der
Versuch moderner Theologen (wie
Uta Ranke-Heinemann), die Leute
noch bei der Kirchenstange zu halten. Man möchte meinen, moderne
theologische Rebellionen kämen direkt aus der Public Relations Abteilung der Fa. Ratzinger & Co.
Ein lesenswertes Buch mit Beiträgen für philosophische Amateure
ebenso wie professionelle Begriffsbastler.
Michael Krug
Oswald Schwemmer, Ethische
Untersuchungen. Rückfragen zu
einigen Grundbegriffen, Frank-
Bücher zum Thema
furt/Main
221 S., 16.-
(Suhrkamp-Verlag),
„Wer in angemessener Weise nach
der besten Staatsverfassung suchen
will, muß zuerst bestimmen, welche
Lebensform die wünschenswerteste
ist; denn solange man das nicht
weiß, kann man auch nicht dahinterkommen, was die beste Verfassung ist.“ Mit diesen Worten vom
Beginn des 7. Buches seiner „Politik“ stellt Aristoteles einen Zusammenhang zwischen Ethik und Politik her, der für das europäische
staatsphilosophische Denken weitgehend verbindlich war, wie auch
die praktische Philosophie des Aristoteles bis zur französischen Revolution und der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft
überhaupt als gültig betrachtet wurde. In unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft, in der jedem
seine persönlichen Präferenzen zugebilligt werden, können Ethik und
Staat nicht mehr in so direkter Abhängigkeit stehen. Folgerichtig wird
in der Philosophie der letzten Jahrzehnte zwischen Ethiken verschiedener Reichweite unterschieden: der Ethik im weiteren Sinn,
welche die Prinzipien für das Handeln der Individuen enthält, und der
Ethik im engeren Sinn, welche als
Sozialmoral das Zusammenleben
der Menschen regeln soll.
In diesem Rahmen sind Schwemmers „Ethische Untersuchungen“
angesiedelt. Sie enthalten in syste-
matischer (nicht chronologischer)
Anordnung acht Aufsätze bzw.
Vorträge, die zwischen 1978 und
1986 entstanden sind. Bei der Analyse von Kants kategorischem Imperativ kommt er zu einem paradoxen Ergebnis: Indem Kant Handlung auf die Gesinnung des
Handelnden reduziert, durch Zusammenfassen von Handlungen zu
Maximen eine bloß gedachte rationale Welt, in der diese Maximen eine Rolle spielen, konstruiert und
durch die Unteilbarkeit der Vernunft, die in dieser Überwelt waltet,
alle Vernunftwesen (Menschen)
gleichschaltet, entfaltet seine Philosophie eine emanzipatorische Wirkung, da der „Anspruch auf Anerkennung der allgemeinen Vernunftfähigkeit“ (172) zur Einforderung
politischer Grundrechte führt. Insofern als Folge davon jedes Individuum den Anspruch auf Vernünftigkeit seiner Einsichten erheben
kann, entsteht das Problem. wie über die konkurrierenden Meinungen
entschieden werden soll, das nun,
als der realen Welt angehörig, nicht
mit Methoden der Welt der reinen
Vernunft gelöst werden kann. Damit hat Kants Ethik eine Entwicklung befördert, die ihr selbst (wie
der des Aristoteles) den Boden entzieht. Schwemmer sieht daher das
Heil in der Entwicklung einer „Ethik des wirklichen Gesprächs“
(180).
Einen Ansatz dazu bringt die Marburger Antrittsvorlesung von 1984
Bücher zum Thema
(57ff); hier untersucht Schwemmer
den Unterschied von „gut“ und
„recht“ und von theoretischen (d.h.
naturwissenschaftlichen) und praktischen Erfahrungen und legt dar,
daß individuelle ethische Einsichten
kein verallgemeinerbares Wissen,
daß intersubjektive Verständlichkeit
einer Argumentation nicht schon
Verbindlichkeit erzeugt, daß also ein
gesetzlicher Rahmen allgemein anerkannt werden muß, innerhalb dessen individuelle ethische Entwürfe
eines „guten“ Lebens verwirklicht
werden können.
Ein anderer Ausgangspunkt führt
zu einem ähnlichen Ergebnis: Praktische Vernunft muß empirisch
nachgewiesen werden (77ff). Da
nun menschliches Handeln als eine
Geschichte bestimmt werden kann,
die erst nach ihrem Abschluß die
Identität des Handelns erkennen
läßt, zweckrationales Handeln mithin eine Legendenbildung ex eventu
ist, kann praktische Rationalität,
wenn überhaupt, nur in der „Anerkennung fremder Subjektivität“ (73,
94, 122) liegen. Damit ist aber
gleichzeitig wieder eine rationale
Begründung für normative staatliche Bestimmungen gegeben, die
„dem Kampf der Überzeugungen“
(96, vgl. 74) vorbeugen.
Schwemmer schneidet gewiß zentrale Fragen heutiger ethischer Reflexion an und wendet sich mit Recht
gegen Szientismus und Positivismus. Ich vermisse bei ihm allerdings
eine Auseinandersetzung mit den
gegenwärtigen Spielarten des Utilitarismus, der sich jetzt mit weit subtileren Methoden als zu Mills Zeiten
der von Schwemmer aufgezeigten
Probleme annimmt (z.B. P. Singer,
G. Patzig). Ich teile auch nicht
Schwemmers Abneigung gegen
normative Ethiken, die ja den, der
sich mit ihnen beschäftigt, nicht wie
Religionsgemeinschaften
gängeln
müssen, sondern gerade dem in einer pluralistischen Gesellschaft orientierungslos gewordenen Individuum eine Hilfe bieten können, den
Entwurf eines guten Lebens rational
auszugestalten.
Hartmut Längin
G. Vattimo: Jenseits vom Subjekt, Graz-Wien 1986 (BöhlauVerlag).
Vattimos Buch muß als Dokument
gelesen werden und dies gleich in
mehrfacher Hinsicht. Es bezeugt
nämlich erstens, daß sich das
„postmoderne Denken“ nicht auf
Frankfreich allein beschränkt und
belegt zum zweiten nachdrücklich
die mögliche Verbindungen jenes
Denkens zu kulturkonservativen
Positionen. Irritierend bis provokant dürfte für speziell die deutschen Leser sein, daß der Verfasser,
vom linken politischen Spektrum
her, seine Thesen auf zwei Philosophen stützt, die - mehr oder minder
berechtigt - dem Verdacht der Be-
Bücher zum Thema
gründung faschistischer Ideologie
ausgesetzt sind: F. Nietzsche und
M. Heidegger.
Die Stelle, an der sich nach Vattimos Interpretation die Denkbewegungen Heideggers und Nietzsches
berühren, ist die „Ontologie des
Verfalls“. Damit verbindet der Verfasser keine „dekadente Beschreibung“ des gegenwärtigen Zustandes, wie dies beispielsweise in Adornos Formel von der „Logik des
Zerfalls“ intendiert war, sondern
wertet sie als den „Verweis auf eine
Konzeption von Sein, die sich nicht
an der unbeweglichen Objektivität
der Wissenschaftsobjekte orientiert
..., sondern am Leben, das Auslegungsspiel, Wachstum und Sterblichkeit, Geschichte ist“(33). Jenes
„verfallene“ Seins, welches sich jeder soziologischen, psychologischen
oder historisch-kulturellen Lektüre
entziehen soll, ist, der Prämisse und
dem Resultat des Autors gemäß,
„reines Ereignis“ und insofern Gegenstand der hermeneutischen Interpretation von überlieferter Tradition. Aus dem von Nietzsche notierten „Zerfall der Werte“ heraus,
glaubt Vattimo in der Unendlichkeit
des hermeneutischen Zirkels ein angemessenes methodisches Konzept
zu besitzen, welches ihm erlaubt,
eine Konzeption von Sein darzulegen, die er als „schwach“ bezeichnet: Nicht das durch (metaphysische) Wertsetzungen begründete
„starke“ Sein ist der Gegenstand
seiner Spekulationen, sondern eine
„schwaches Sein“, welches sich
durch seinen „schwingenden Charakter“ auszeichnet. - Die vorgetragene Skizze der Argumentationslinie
Vattimos zeigt mehreres an: Sie teilt
mit Heidegger die kontemplativaffirmative Orientierung von Theorie und vermag deshalb über die
reale Zersetzung von Mensch und
Natur keinerlei Aussage zu machen.
Einer der Hauptgesichtspunkte der
Kritik an Vattimos Buch muß deshalb sein, daß es zu Heidegger keine
Distanz gefunden hat. Es übernimmt die existential-ontologische
Position völlig unvermittelt. Was
der Verfasser dergestalt theoretisch
anzubieten hat, erinnert mehr an
den
Geist
der
Geisteswissenschaften der 50er Jahre, als an
die gegenwärtig virulente Frage
nach dem, was nach „dem Ende der
Moderne“ kommen kann oder soll.
Somit bleibt an der vorliegenden
Textsammlung primär die Tatsache
interessant, daß sie von einem Autor verfaßt wurde, der sich selbst
der politischen Linken zurechnet.
Es wäre, auch für die bundesdeutsche Linke, eine lohnende Aufgabe,
einmal zu prüfen, inwieweit sie mit
einem theoretischen Instrumentarium operiert, das auch Prämissen
von „Eigentlichkeit“ fußt. Vielleicht
bedarf es dazu solcher Anregungen
aus dem Ausland, wie sie diejenige
G. Vattimos darstellt.
Thomas Wimmer
Bücher zum Thema
Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim
1988, 3.Aufl. (Acta humaniora)
344 S.
Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege
aus der Moderne. Schlüsseltexte
der
Postmoderne-Diskussion,
Weinheim 1988 (Acta humaniora)
264 S.
Peter Koslowski, Reinhard Löw,
Robert Spaemann (Hrsg.), Moderne oder Postmoderne? Zur
Signatur des gegenwärtigen
Zeitalters, Weinheim 1986 (Civitas Resultate Bd.10) 292 S.
Die theoretische Verantwortung
ernstnehmend werden in den philosophischen Feldern ständig neue
Denkformen entwickelt. „Das völlig
Neue, das von uns gefordert wird“
(K.O.Apel), wird zu seinem Antriebselement - „das Entzogene, das
Nicht-Artikulierte, auch das nicht
Artikulierbare
oder
Dunkle“
(D.Henrich) ist nicht nur seine
Grenze, vielmehr auch eine innere
Bedingung für Klarheit: der akademische Diskurs der philosophischen
Suche hat immer einen menschheitlichen Sinn das Ganze der Strukturen als Ziel und kann an sich das
ganze „Projekt der Menschheit“ für
sich
in
Anspruch
nehmen/repräsentieren: „Wenn es ein
Projekt gibt, das für alle und für alle
Epochen, die Moderne und Post-
moderne, verbindlich sein könnte,
dann ist es das Projekt der Menschheit.“ (P.Koslowski) Der menschheitliche Sinn verlangt nach einem
ewigen Streben, d.h. nach einem
„System der unendlichen Vervollkommnung“ (F.Schlegel). Dieses
unendliche Streben bedarf natürlich
der Variation und ab und zu eines
Neuen - so anything goes?
Der kritische Diskurs entwickelt
solch notwendige Signaturen (wenn
auch nicht nur fürs philosophische
Seminar, nein gleich für das ganze
Zeitalter) und verwickelt einen „jeden Begriff in eine unendliche Kette
von Differenzen“ (J.Derrida) .. ... ....
Bei diesem ewigen Streben zeigen
sich entsprechende Kuriositäten,
Kontroversen, Abgrenzungen und
Ausgrenzungen. Das ganze Firmament des Sinnes leuchtet - doch
welcher Stern ist nun der einzige,
welcher uns zum ersehnten Neuen
leitet?
Solange diese Frage ungeklärt,
macht sich der moderne, der postmoderne als auch der postmoderne
moderne Theoretiker das Leben über hunderte von Seiten hinweg
schwer mit seiner Schreibweise. Alltägliche Textproduktion ist vielfach
sicherlich auch mühsam, allerdings
erst die philosophische Verfahrensweise verbindet gerade das Wesentliche mit dem Zufälligen und Transitorischen - benötigt Identität, Präsenz,
Ontisches
für
Ihre
Verschiedenheit:
Bücher zum Thema
Vive la différance - oder reicht auch:
vive la difference!
Bemüht sich der Theoretiker um
seine Schreibweise, setzt er sich und
seinen Diskurs ins Werk. „Der Text,
den er schreibt, das Werk, das er
schafft, sind grundsätzlich nicht
durch bereits fest stehende Regeln
geleitet. ... Diese Regeln und Kategorien sind vielmehr das, was der
Text oder das Werk suchen.“ (Lyotard: Post- moderne für Kinder)
Die hier zu besprechenden Texte
der oben angezeigten Buchtitel sind
über weite Strecken nicht nur Suche, auch recht lesbar, demonstrieren Vielfalt, beleuchten Übergänge,
Randgänge, Bruchstellen mit argumentativer Klarheit. Die Suche nach
den Formen der Vernunft und des
Denkens und der Lebenswelten versucht, aus der Vielzahl der Diskussionen und Beiträge eine Schnittlinie
(Transversale) zu entwickeln. Die
Beleuchtung der Gedanken sei immer Eigenlicht. „Das alte SonnenModell - die eine Sonne für alles
und über allem - gilt nicht mehr, es
hat sich als unzutreffend erwiesen.
Wenn man diese Erfahrung nicht
verdrängt, sondern wirksam werden
läßt, gerät man in die `Postmoderne’. Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural.“ (Welsch, 5)
W. Welsch geht davon aus, daß unsere Moderne die „postmodern“
geprägte sei. „Wir leben noch in der
Moderne, aber wir tun es genau in
dem Maße, in dem wir `Postmoder-
nes’ realisieren.“ (Welsch, 6, vgl.
101ff) Dies sei strikt `nachneuzeitlich’, sofern die Moderne
sich gegenüber der vorausgegangenen Neuzeit profiliere. Mit der Orientierung an der Moderne des
20.ÿJahrhunderts sei die Postmoderne als `radikal-modern’ zu bezeichnen. Diese neue Blüte der Moderne verabschiedet den Modernismus und öffnet sich der Pluralität
und dem Reichtum der Formen.
Um den Kontroversen, Kuriositäten, Klischees und Reichweiten der
Termini beizukommen untersucht
W. Welsch die Genealogie der Ausdrücke
Postmoderne
und
Posthistoire in der Kunst und Architektur, in der Soziologie und Literaturwissenschaft. Anschließend
werden die Begriffe Neuzeit, Moderne ... differenziert. Anhand des
„prominentesten Artikulationssektors“ - der Architektur - wird der
Absolutismus der Moderne sowie
Chancen und Gefahren von Postmodernität dargestellt. Der genuin
philosophische Disput liefert ein
zeitgemäßes Panorama philosophischer Positionen. Alle Edlen, Tugendhaften und Lasterhaften erscheinen auf der Leinwand der akademischen Diskurse. Die Einstellungen
reichen
von
der
„Verwindung der Moderne“ über
„Plötzlich diese Übersicht“ bis zum
„essentialistischen Postmodernismus prämoderner Inspiration“ (über R. Spaemann). Danach wird die
Leinwand zum Ultraschallmonitor:
Bücher zum Thema
der Protagonist und Kontrahent
Lyotard wird vom Ganzen her aufgelöst und seine Legitimation überprüft und variiert. In bester philosophischer Tradition setzt das Ganze bei Hegel an, führt über
mancherlei Einlösungs- und Auflösungsformen durch „GanzheitsMelancholie“ zur anderen Utopie.
Die Leinwandbilder folgen dem
Gang des Neuen durch die Moderne von der Sensation zur Selbstverständlichkeit.
Nach einem ersten Intermezzo über
das „Geviert“ und Heideggers Bezüge zu postmodernen Gedankengängen folgt sogleich ein zweites
über ein „Kooperationsmodell von
Postmoderne und Technologie“.
Aus dem bisherigen Gang der Darstellung, ihren Konvergenzen und
Kontroversen wird eine postmoderne Version von Aufklärung entwickelt anhand der Schärfen von
Lyotards Widerstreit-Konzeption
(Le Diff’erend, Paris 1983, dt.:
München 1987). Im weiteren Fortschritt auf dem „Königsweg der
Vernunft“ wird im Vollzug der Übergänge ein Mittelweg als Ausweg
aus den Thesen von Moderne und
Postmoderne gesucht (Welsch,
296ff). Eine solche „transversale
Vernunft“ ziele auf einen Modus
von Verbindungen und Übergängen, der durch seine Pluralität sowohl Habermas’sche als auch Lyotard’sche Intentionen vermitteln
könne (Welsch, 313f). Eine solche
Vision
eines
philosophischen
ISDN-Netzwerks ermöglicht eine
Breitbandkommunikation
von
wahrlich zukunftsweisenden Ausmaßen. Die interdisziplinäre und
wortreiche Gelehrsamkeit führt zur
Synthese aus These und Antithese
im quasi klassischen Dreischritt.
Das informations- und facettenreiche Werk differenziert und synthetisiert die Differenzen unserer Gegenwart und führt in seiner Pluralität über das „postmoderne Wissen“
hinaus zur neuesten Variation des
Neuen.
Ohne postmodernes Flair werden in
interdisziplinären Übergängen Diagnose- und Therapiemuster untersucht. Aus diesen Übergängen können Überschreitungen entwickelt
werden aus standardisierten, fachspezifischen Mustern. Die Offenheit und Vielheit der Muster ermöglicht dem denkenden und handelnden Individuum, über Schnittstellen
die Bruchstücke von Diskursen zu
einem realisierbaren, wenn auch
schwierigen Ganzen zu formen.
„Ganzheit - die alte und unverzichtbare Aufgabe philosophischer
Reflexion - ist gerade postmodern
aktuell. Wirkliche Ganzheit kann
aus Strukturgründen einzig durch
ein Denken der Pluralität eingelöst
werden (allerdings eines, das nicht
nur auf Vielheit setzt, sondern auch
Übergänge kennt). Die holistische
und die plurale Option ... sind
postmodern eigentlich in einer ungewohnten Form zu verbinden: Die
holistische Intention wird genau
Bücher zum Thema
durch die plurale Option eingelöst“
(Welsch, 63, vgl.297ff).
Wenn eine Offenheit und Vielheit
der Lebensformen gegeben ist,
bleibt doch zu fragen, unter welchen Bedingungen sich das schwierige Ganze realisiert bzw. realisieren
könnte - ist dieses allein auf den ökonomischen Diskurs zu beziehen
oder auf ein „Projekt der Menschheit“ als Einheit unserer Kulturen?
Werden durch ein solches Projekt
nicht Subjekt und Substanz zum alleinigen Mittelpunkt, wobei die Realität der umgebenden Natursysteme
vernachlässigt wird? (siehe P. Koslowski: Die postmoderne Kultur.
München 1987, 27ff; vgl. Koslowski
u.a. (Hrsg), 79ff).
In der sichtbaren Realität erscheint
mit Architektur, Kino, Literatur,
Werbung, Computertechnologie u.a.
eine wirkliche Pluralität als Nebeneinander von Verschiedenem, als
Dialog der Diskurse und Sprachen,
als multikulturelle Semantisierung ohne allgemeinverbindliche Metasprache. In der Realität der EDVLandschaften herrscht eine Pluralität von Standards, Sprachen und
Systemen. Die Softwaremarktentwicklung geht von den Individuallösungen hin zu Standardsoftwareanwendungen, die mit ihren einheitlichen Musterlösungen gleichwohl
eine Anpassung an individuelle Anwenderproblemstellungen ermöglicht - also eine Konfiguration von
Vielheit und einheitlichem Ganzen.
An der Neuen Staatsgalerie in Stuttgart oder dem Salisbury Wing der
Tate Gallery in London oder dem
Kunstmuseum Abteiberg in Mönchengladbach werden die pluralen
Möglichkeiten postmodernen Bauens erleb- und sichtbar. Diese Bauwerke integrieren unterschiedliche
Wirklichkeitsentwürfe und Lebensformen.
Schon 1966 plädierte R. Venturi für
eine „komplexe und widerspruchsreiche Architektur..., die von dem
Reichtum und der Vieldeutigkeit
moderner Lebenserfahrung zehrt.“
Die Differenzen und Widersprüche
der Diskurse und Lebensformen
werden sichtbar und Basis für ein
neues Ganzes. „Eine Architektur
der Komplexität und des Widerspruchs hat aber auch eine besondere Verpflichtung für das Ganze ...
Sie muß eher eine Verwirklichung
der schwer erreichbaren Einheit in
Mannigfaltigen sein als die leicht reproduzierbare Einheitlichkeit durch
die Elimination des Mannigfachen.“
(Robert Venturi: Complexity and
Contradiction in Architecture. New
York 1966, dt. Braunschweig 1978,
23f; siehe Welsch, 119).
Zwischen der scheinbaren Alternative von strukturierter Komplexität
und funktionaler Einheit geht es
dem Architekten um die Verpflichtung „auf das schwierige Ganze“,
um eine offene Einheit von verschiedenen Diskurselementen. Ihre
Realisation wird nicht durch ein ekklektisches Puzzle oder die willkür-
Bücher zum Thema
liche Deformation umgesetzt, durch
eine spannungsreich-agonale, vielschichtige, oftmals auch irritierende
Komplexität wird die Realisation zu
einem „prekären Ganzen“ (siehe
Welsch, 120ff; vgl. Heinrich Klotz:
Moderne u. Postmoderne, Architektur der Gegenwart 1960 - 1980.
Braunschweig 1984; siehe auch die
Beiträge von Jencks, Klotz u. Venturi in: Welsch (Hrsg.)).
Die Gebäudesegmente und einzelne
Bauelemente können zurückhaltend
oder auch konventionell schön sein,
doch sie sind durch ihr modernes
Material und ihre Variationen keine
einfachen Nachahmungen. „Sie sagen: `Wir sind schön wie die Akropolis oder das Pantheon, aber wir
sind aus Beton und Betrug gebaut.’“
(Ch.Jenks: Post-Modern und SpätModern. in: Koslowski u.a. (Hrsg),
212; zur Genealogie der postmodernen Architektur vgl. Koslowski u.a.
(Hrsg), 217).
Das postmoderne Projekt als eine
Geschichte der Geschichten der
Welt wird als eine Serie von vielfältigen Perspektiven in dem CivitasResultate-Band „Zur Signatur des
gegenwärtigem Zeitalters“ dargestellt und diskutiert. Neben dem
oben zitierten Beitrag von Jencks zu
Architektur und Kunst der Postmoderne finden sich Beiträge von den
Herausgebern R. Spaemann, P.
Koslowski und R.ÿLöw sowie von
O.ÿMarquard,
K.ÿHübner,
H.ÿKrings, C.ÿOffe, H.G.ÿVester
u.a. Neben den verwischten Spuren
des Subjekts in Kultur, Kunst und
Literatur wird in sehr lesenswerten
Darstellungen und Diskussionen die
Krise der gesellschaftlichen Modernisierung, `Modernität` als politisches Gütekriterium sowie das Verhältnis von Kirche und modernem
Bewußtsein, die Modernitätskritik
der Kirchen thematisiert. In den
Beiträgen von Hübner und Löw
wird das Verhältnis von Wissenschaft, Mythos und postmoderner
Theorie aufgearbeitet. Die Differenz von formaler Begriffsbildung
und wissenschaftlicher Theoriebildung vermische sich im Diskurs der
Wissenschaften selbst mit Wahrheit
und Mythos. Diese Differenz weise
auf den Zwiespalt hin, welcher in
den Zusammenhang von Lebensformen und dem wissenschaftlichen
Wissen hierüber einfließe. Wissenschaftliche Erfahrungen und Selbstentfaltung der Rationalität können
Handlungsanweisungen hervorbringen und über den wissenschaftlichen Diskurs weit hinausreichen,
dies könnten ebenso mythologische
Aussagesysteme leisten.
Wer eine Einführung oder eine Übersicht sowie eine sehr gute Bibliographie zu den vielfältigen Möglichkeiten der Postmoderne sucht, dem
kann der Band „Wege aus der Moderne“ weiterhelfen. Die von
Welsch zusammengestellten Texte
reichen von A. Gehlen und D. Bell
über J. Habermas und A. Wellmer
bis zu U. Eco und J.F. Lyotard. Daß
Texte oder Darstellungen von Ser-
Bücher zum Thema
res, Foucault, Deleuze, Baudrillard
fehlen, hat sicher eher was mit den
Möglichkeiten des Umfangs zu tun
als mit der Ausgrenzung solcher
Autoren aus dem Diskurs über Moderne und Postmoderne.
Rüdiger Brede
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