Musik, Macht und Politik

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Anton Haefeli (Referat 2.11.06 PH Aarau)
Musik, Macht und Politik
(noch besser: «Musik macht Politik oder mit Musik wird Politik gemacht»)
Drei Vorbemerkungen anlässlich der Abgabe des Manuskripts an Interessierte:
1) Zitate sind in dieser Fassung nicht ausgewiesen. Wenn das Referat gedruckt
werden sollte, werden natürlich alle Nachweise nachgeliefert. Wer jetzt schon die
Herkunft eines Zitats wissen möchte, kann mir ungeniert schreiben (anton.haefeli
@mab-bs.ch).
2) Das Thema ist dermassen riesig, dass es in 45 Minuten nicht annähernd erschöpfend und differenziert abgehandelt werden kann. Nur schon die Darstellung und
Untersuchung der Funktionen und Wirkungen von Musik (selbstverständlich keine
Synonyme!) in den verschiedensten menschlichen Kulturen wären Stoff genug für
ein Referat. Darauf muss ich also verzichten, nicht unbedingt mit schlechtem Gewissen, weil in der Vortragsreihe ja noch explizit darauf eingegangen werden wird.
3) Der Exkurs durch die Musikgeschichte im Hinblick auf unsere Fragestellung soll
aufzeigen, dass Manipulation mit Hilfe von Musik und staatlicher Musikpolitik nicht
erst im Nazideutschland oder mit Stalins/Shdanovs «Sozrealismus» beginnt, sondern
die Musik ex ovo begleitet.
Referat:
Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, möchte ich zuerst einige
grundsätzliche Tatsachen zur Musik im menschlichen Leben rekapitulieren, die
aber eine wichtige Voraussetzung für ihr Machtpotential sind.
«Das Gehör [ist] der erste Sinn, welcher im Mutterleibe vollständig ausgebildet
wird»; Alltagsgeräusche, Sprache und Musik haben wir schon als Embryos gehört
und auf sie reagiert, und es könnte sein, «dass das Kind nach der Geburt seine
Mutter nicht erkennen würde, wenn diese nicht zu ihm spräche und diese Stimme
ihm nicht erlauben würde, [sie] anhand der schon vorher im Uterus gehörten und
1
vertrauten Stimme wiederzuerkennen». Keine der künstlerischen Fähigkeiten, die
ein Mensch entwickeln kann, wird so früh (und ab und zu so früh auf so hohem Niveau) manifest wie die musikalischen. Und Werke von zeichnenden oder schreibenden Wunderkindern haben (gemessen an den Standards der Erwachsenen,
zu denen ich natürlich ein Fragezeichen mache!) keinen Bestand, wohl aber
manchmal die von komponierenden.
Die «musikalische Intelligenz» gehört unter Howard Gardners sieben hauptsächlichen «multiplen Intelligenzen» zu den bedeutenden, und diese «hartnäckig
beibehaltene zentrale Stellung [bedeutet] in der menschlichen Erfahrung ein faszinierendes Rätsel, gerade weil sie nicht ausschliesslich der Kommunikation vorbehalten ist. Der Anthropologe [Claude] Lévi-Strauss ist nicht der einzige Wissenschaftler, der behauptet, dass wir möglicherweise den Hauptschlüssel zum
menschlichen Denken fänden, wenn wir Musik erklären könnten
oder umgekehrt
ausgedrückt, dass jede Untersuchung der Bedingungen des menschlichen Lebens
scheitern wird, die Musik nicht ernst genug nimmt.»
Musik ist in Wechselbeziehung zu solchen Befunden ein Urphänomen menschlicher Gesellschaft und gehört zu den ältesten Elementen menschlicher Kultur
überhaupt. Verschiedene Autoren postulieren, «dass man den Menschen
Spezies
als
durch seine musikalische Aktivität definieren muss», dass die ästhetische
Dimension, vorab die musikalische, also «keine zusätzliche Dimension des Menschen [ist], sondern das definitorische Merkmal der Gattung Mensch, durch das
sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet»; dass es «in der uns bekannten Geschichte keine Gesellschaft ohne Musik» gegeben habe und «eine
Gesellschaft ohne Musik humanbiologisch» deshalb in hohem Masse unmöglich
sei. Zudem sei «allgemein bekannt, [dass Musik] der intensivste emotionale Ausdruck, den sich die Menschen mit ihrer Kultur geschaffen haben, [ist], und es ist für
ihre humane Existenz lebensnotwendig, Musik [ ] zu erleben. Daher kann man
am Verhalten zur Musik ebenso den emotionalen Ausdruck des Menschen wie ein
Defizit in der Ausdrucksfähigkeit beobachten.»
Musik in einem ursprünglichen, nichtelitären Verständnis (die EthnologInnen
sprechen von «sonischen Ordnungen») gibt es, im sogenannten Urbesitz in Instru-
2
mentenfunden nachgewiesen, seit mindestens 150'000 Jahren, aber sehr wahrscheinlich noch viel länger. Ganz anders, als ich es in meiner Jugend noch gelernt
habe (Herder, Rousseau und zuletzt Spencer bezeichneten Sprache als Voraussetzung für die Entstehung von Musik!), steht heute fest, dass das Instrumentalspiel
dem artikulierten Gesang vorausging, Rhythmen den Melodien (Hans von Bülow
behauptete: «Am Anfang war der Rhythmus!») und das Geräusch dem Klang. Instrumentalspiel, Lallen und Gesang (in dieser Reihenfolge) kommen also vor der
Wortsprache, die pointiert gesagt, reduzierte und abstrahierte Musik ist (und wieder zu Musik wird oder zumindest als Musik gehört werden kann). Ausser den Elektrophonen, zu denen aber auch schon im 18. Jahrhundert die ersten Versuche
gemacht wurden, sind alle heutigen instrumentalen Geräusch- und Klangerzeugungsprinzipien spätestens vor 50'000 Jahren erfunden worden. Das nötigt mir allerhöchsten Respekt ab, und ich werde wütend, wenn ich auch in neuesten Lexika im Zusammenhang mit den Anfängen der Musik immer noch von «Primitivkulturen» lese.
In früheren Gesellschaften war den Herrschenden bzw. ihren Beratern die bislang geschilderte Bedeutung der Musik und ihres Machtpotentials
komme explizit zu meinem Thema
Sie sehen, ich
sehr bewusst. Vom mindestens 5'000 Jahre al-
ten Ischtar-Mythos über das alte China bis zu den «Posaunen von Jericho» gibt es
unzählige Belege darüber. Tammuz, der altsumerische Frühlingsgott, spielte im Totenreich vor dessen Herrscherin Ereschkigal, damit diese die von ihr gefangengesetzte Göttin der Liebe und auch Schwester Ischtar freilasse. Das gelang ihm mit
der Macht der Musik bzw. mit Liedern voller Sehnsucht und Schmerz. Der Orpheusmythos ist nur ein 2 000 Jahre jüngerer Abklatsch davon, geschweige denn die
Nachwehen im christlichen Mythos.
In China, wo schon vor 6 000 Jahren hochentwickelte Instrumente gebaut
wurden, die in Europa in einer ähnlichen Bauweise erst 4 000 Jahre später anzutreffen sind (die Mundorgel Sheng, Glocken usw.), wurden Musik und Tanz früh als
Mittel zur Beherrschung der Naturgewalten eingesetzt (wie in anderen Kulturen
auch), bald aber auch zur Domestizierung der Menschen und zur Stabilisierung
von Herrschaft, und bereits vor 4'000 Jahren begann der Brauch, dass fremde
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«Staaten» Musikerensembles als Tributgeschenke an die chinesischen Könige und
später Kaiser übergaben. Die Musiktheorie inklusive der Tonsysteme erreichte
mehr als 2'000 Jahre vor Pythagoras (und als die Menschen im Raume der heutigen Schweiz nur zu eigentümlichen Lauten fähig waren) ein hochkomplexes Niveau. Und wie im späteren Griechenland wurde Musik als angeblich vorzügliches
Erziehungs- und Führungsmittel zu nutzen versucht; Hunderte von Beamten unter
einem Musikminister (!) sorgten ab der Zhou-Dynastie (1 050 bis 249 v. u. Z.) dafür.
Dabei war man in der sogenannten «klassischen» Zeit der Überzeugung, dass die
Riten «Disziplinierung und Ordnung» im hierarchischen Gefüge gewährleisten, Musik dagegen «Anpassung und Ausgeglichenheit» in der menschlichen Psyche. In
der Tang-Dynastie (ab 618 n. u. Z.) waren 30'000 Musiker am Kaiserhofe angestellt;
Musik und Musikpflege wurden also in toto vereinnahmt und kontrolliert, notabene
auch die fremder Völker, und die Hofmusik wurde zu einem erstrangigen Statussymbol für den Herrscher. Ja, in gewissen Abschnitten der chinesischen Geschichte herrschte die Überzeugung, dass Musik selbst das Gesetz bilde und eigentliche
Gesetze überflüssig mache. Und um meinem Diskussionspartner Material zu liefern:
Militärmusiken existierten in China bereits vor ca. 3 000 Jahren; sie pushten die
Soldaten indes nicht in die Schlacht und in den Tod, sondern spielten nur bei Siegesfeiern und anderen repräsentativen Anlässen zur Verherrlichung von Heldenmut und männlicher Tapferkeit auf und zogen dafür auch Sänger bei (eine Anregung für die schweizerischen Armeemusiken ...).
Die «Posaunen von Jericho» endlich, nochmals ein militärisches Beispiel, müssen nicht nur unbedingt symbolisch verstanden werden, sondern könnten auch
real für die Gewalt der Musik als puren zielgerichteten Schalls stehen, denn wie
Laserstrahlen vermögen gebündelte und starke Schallwellen Materie zu zerstören,
was als militärische Waffe und zu Folterzwecken schon seit längerem genutzt wird.
Die europäische Musikgeschichte und der Begriff «Musik» wurzeln indes im griechischen Altertum. Damals umfasste «Musik»
eigentlich h mousikh tecnh1 = «die Musi-
sche Kunst» oder «die den Menschen von den Musen geschenkte Kunst»
1
Die diakritischen Zeichen kann ich mit meinem Computer nicht schreiben.
4
ein
grösseres Spektrum, als unser heutiger Wortgebrauch es suggeriert, und stand für
die Einheit von Wort, Ton, instrumentaler Untermalung und Bewegung. Auch wenn
sich in der christlichen Musik die instrumentale und tänzerische Ebene bald davon
lösen sollten und mussten, war ein Komponist aber noch bis weit in die Renaissance hinein zugleich auch Dichter und als solcher oft berühmter denn als Tonschöpfer (etwa Guillaume de Machaut). Im Weltbild und Bildungssystem des antiken
Griechenland kam dieser breit verstandenen musikè ein hoher Stellenwert zu. Sie,
die in den Mythen als von göttlichem Ursprung ausgewiesen wurde, begründete
Pythagoras von Samos im 6. Jahrhundert v. u. Z. als naturwissenschaftliche und
kosmologische Disziplin, die als solche bis in die europäische Neuzeit Gültigkeit
hatte und auch im Bildungskanon lange eine erstrangige Stellung einnahm. Dabei
überstrahlte die Musiktheorie die Musikpraxis bei weitem, und noch um 1'000
n. u. Z. beschimpfte Guido von Arezzo Sänger (Instrumentalisten galten sowieso
als des Teufels), die nicht wüssten, was sie tun, wenn sie singen, d. h. die Musiktheorie und die Gesetze der Musik nicht beherrschten, als auf der Ebene von Tieren
sich Befindende.
Sokrates, Platon und Aristoteles wollten das erzieherische Potential der musikè
für das staatliche und private Leben nutzen. In der Politeia lesen wir hierzu erstaunliche Thesen. Die musikalische Erziehung müsse sehr früh beginnen und der
gymnastischen vorangehen, dann aber mit ihr zusammen den senkrechten
Staatsbürger formen. Im optimalen Zusammenspiel der eben genannten Parameter der musikè entstehe das Ethos, das in die Seele der Hörer (von den Frauen ist
bei Platon nur negativ die Rede, und Aristoteles bezweifelte ja allen Ernstes, ob
Frauen überhaupt zum menschlichen Geschlecht gezählt werden könnten ...) eindringe und sie bilde. Dafür kämen eigentlich nur die (für simple einstimmige Melodien taugende! AH) männlich-besonnenen und massvollen Lyra und Kithara (Harfentypen) sowie die dazugehörige Tonart Dorisch in Frage. (Ich verwende etwas
ahistorisch den modernen Begriff Tonart, Dorisch hingegen im altgriechischen Verständnis, was etwas ganz anderes bedeutet als das viel spätere byzantinisch-kirchentonartliche Dorisch!) Der aufreizende und überaus laute Klang des Doppelaulos, oft von wilden Bacchantinnen gespielt, und die damit korrespondierende
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barbarische Tonart Phrygisch werden von Sokrates/Platon als ungriechisch und
geradezu unsittlich verworfen. Und dann folgt der Hammer oder ein krasses Exempel für die apriorisch gesetzte Macht der Musik: Die althergebrachten Tonarten
und ihre Instrumente zu verändern bedeute, die staatliche Ordnung zu gefährden. Der angebliche Revolutionär Sokrates (oder doch wohl eher Platon, der seinem Lehrer vielleicht seine eigenen reaktionären Haltungen in den Mund legte,
denn wie Pythagoras und Christus hat ja Sokrates kein einziges Wort schriftlich
festgehalten), Platon also erweist sich als Innovationsverächter sowie als philosophischer Propagator und Bewahrer der herrschenden Verhältnisse. Im Wortlaut
und als Conclusio nach einem langen sokratischen Scheindialog lesen wir in der
Politeia (ich übersetze): «Daran müssen die Leiter der Stadt festhalten und dürfen
es nicht in Vergessenheit und Verfall geraten lassen, sondern müssen unbedingt
darüber wachen, dass keine gegen die Ordnung verstossende Neuerung eingeführt werde in bezug auf die musikè, sondern dass es bei dem Bestehenden verbleibe. Denn eine neue Art von musikè einzuführen, muss man sich hüten, weil es
das Ganze gefährdet. Denn nirgends werden die Arten der musikè verändert, ohne die wichtigsten staatlichen Gesetze zu verändern.» Seit der Politeia sollten solche Mahnrufe übrigens immer wieder erschallen, in den letzten hundert Jahren
beim Aufkommen des Jazz, der atonalen Musik, des Rock and Roll oder des HipHop. Inwieweit Musik als Macht- und Disziplinierungsmittel im griechischen Alltag
indes tatsächlich funktionierte, ist umstritten. Es handelte sich wohl eher um eine
akademisch-philosphische Diskussion ohne praktischen Nutzen. Über die reale Musik in jener Zeit wissen wir herzlich wenig; was auf uns gekommen ist, sind Fragmente, die alle zusammen ca. fünfzig Minuten dauern. (Musikbsp.)
Der römische Gelehrte und Staatsmann Varro (116 27 v. u. Z.), wichtiger Vermittler
des griechischen Wissens an sein Land, setzte die musica als Teil der «artes liberales» durch, der Disziplinen, die zu studieren eines freien Römers würdig waren.
Ebenso in der griechischen Tradition standen in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten Ptolemaios, Boëthius und Augustinus, der explizit vorschlug, Musik als Erziehungsmittel in den Dienst der Katholischen Kirche zu stellen. Und das machte
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diese auch bald mit z. T. durchschlagendem Erfolg: Europäische Kunstmusik entwickelte sich in der Folge als rein katholische Kirchenmusik mit ausserordentlich rigiden Vorschriften und verteidigte ihre Position als solche bis zur Reformation. Diese Aussage bezieht sich auch auf die musikalische Ausbildung: «Soweit Musik
durch Unterricht kontrolliert, entwickelt und vermittelt wurde, geschah dies unter
ihrer exklusiven Inanspruchnahme ad maiorem gloriam dei
et ecclesiae.»
Einige Stichworte zu den kirchlichen Musikvorschriften:
·
Musik darf allein das Wort Gottes unterstützen, hat also keine autonome Dimension und dient wie immer schon dem Kult und der Repräsentation.
·
Musik ist idealiter einstimmig, unbegleitet, einfach und freirhythmisch
sich dem Wort anschmiegend: der sogenannte «Gregorianische Choral», der nach kirchlicher Lehre Papst Gregor direkt vom Heiligen Geist
ins Ohr gesungen wurde; aufschreiben musste diese Gesänge aber
ein Mönch, denn Päpste und Könige pflegten lange Zeit nicht lesen
und schreiben zu können geschweige denn die Notenschrift zu beherrschen, die allerdings zur Zeit von Gregor dem Grossen noch gar
nicht erfunden war ... In Tat und Wahrheit hatte Gregor (wie weiland
David mit den sogenannten Psalmen Davids) mit dem Choral schöpferisch gar nichts zu tun; dieser war eine gigantische Kollektivleistung
anonymer Mönche und Nonnen mit weltlichen Einflüssen und vor allem Wurzeln, die allesamt vorchristlichen mediterranen (jüdischen, syrischen, hellenistischen usw.) Kulturen entsprossen. (Musikbsp.)
·
Instrumente, an Tanz erinnernde Rhythmen und die Beteiligung der
Frauen sind in der Kirchenmusik strikt verboten. Sie werden nur in der
auf tiefstem Niveau stehenden und von der Elite verachteten Volksund Tanzmusik geduldet. (Musikbsp.) Damit wird die Einheit der musikè aufgegeben und die jahrtausendlange zentrale Musikausübung
von Frauen sistiert. Die Frauenverachtung kommt wie gesagt philosophisch von Aristoteles her, nicht etwa von Paulus, der allerdings eben-
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falls ein armer Sexualneurotiker war («mulier taceat in ecclesia»); aber
auch alle Kirchenväter warnten vor der Süsse der Frauenstimmen, die
nichts weniger als das Lob Gottes im Sinne hätten, sondern einzig die
frommen und sittsamen Männer verführen wollten mit Hilfe der mächtigen Musik ... Die Angst vor der Frau führte später zum Kastratenunwesen, denn auf hohe Töne wollte man mit der permanenten Ausweitung des Tonraumes nicht verzichten; damit wurde das Verbrechen an den Frauen zum Verbrechen an Knaben ausgedehnt. In Italien wurden zwischen 1500 und 1871 mehr als hunderttausend Knaben kastriert, meistens nur auf Vorrat, weil sie ihre schöne Knabenstimme nicht ins Erwachsenenalter hinüber retten konnten, und Frauen durften ebendort erst im 20. Jahrhundert in den Kirchenchören mitsingen.
·
Nur die Kirchentonarten sind gestattet, ihre Veränderung ist strikte verboten (Platon lässt grüssen), Chromatik und Transposition sind ebenso
des Teufels wie bestimmte Intervalle (Tritonus = «Diabolus in musica»!);
die Melodien dürfen eine Oktave nicht überschreiten usw. usf. Unbotmässige Komponisten standen immer unter dem Damoklesschwert
der Exkommunikation als mildester Strafe.
·
Die erste Mehrstimmigkeit entwickelte sich pointiert gesagt aus der
Angst der Mönche vor dem Teufel bzw. eben vor dem Tritonus, denn
die ersten Gesetze zur echten Mehrstimmigkeit behandeln nur Stimmführungen, mit denen der Tritonus vermieden werden kann. Bis Ende
des 16. Jahrhunderts musste alle grosse Musik zudem mit perfekten Intervallen beginnen und schliessen, im Ganzen wie in Teilabschnitten.
Wiederum lässt Pythagoras grüssen. Die fortlaufende Verfeinerung der
Musik lässt sich übrigens als gewaltige Sublimierungsleistung der Mönche deuten, denen ausser exzessivem Essen fast alles verboten war,
was Genuss bereitet, und die ihre Wünsche und überschüssigen Energien deshalb in prächtigster Musik und Illumination der Handschriften
realisierten und auslebten. (Musikbsp.)
8
·
Interessantweise kamen aber Eingriffe in die Kirchenmusik nicht nur
von Päpsten, sondern auch von weltlichen Herrschern. Es ging immer
darum, den künstlerischen Wildwuchs zu beschneiden und auszurotten, um mit einer einheitlichen Liturgie samt Kirchenmusik auch die
Einheit in Kirche und Reich zu gewährleisten (Gregor, Karl der Grosse,
Karl V., Konzil von Trient usw.). Karl der Grosse etwa war von grösstem
Einfluss für die Entwicklung der europäischen Musik, weil er alle damals existierenden gregorianischen Dialekte verbot und einen einzigen zur musikalischen Hochsprache erhob, eigentlich ein Verbrechen, aber auch die Grundlage für eine europaweit ausstrahlende
geballte Entwicklung der Musik. Zudem ermöglichte seine Schriftreform letztlich auch die Erfindung der Notenschrift, die erste von nur
zwei Revolutionen in der europäischen Musikgeschichte. Vereinheitlichung und Einschränkung provozieren immer auch ein Neuschaffen,
eine Anstachelung der kompositorischen Phantasie durch den Widerstand von und gegen Regeln und Grenzen. Regeln im Verein mit Notationsmöglichkeiten bilden zudem die Voraussetzung für die Verbreitung und das Erlernen von Standards, wie sie dazu herausfordern, gebrochen zu werden.
·
In der Praxis wurde deshalb trotz der Verbote immer transponiert,
chromatisiert, wurden Instrumente einbezogen, was durch ihre sporadische Verdammung in päpstlichen Bullen belegt wird, und die strikten Intervallvorschriften durchbrochen. Die grössten KomponistInnen,
die allesamt bis in die Neuzeit geistlichen Standes waren (Frauen durften natürlich nicht komponieren, mit einer Ausnahme: wenn sie Nonnen waren; nach der grossen Hildegard von Bingen war es aber auch
damit vorbei, denn sie wurde den Männern zu mächtig), zeichneten
sich dadurch aus, dass ihnen die Quadratur des Zirkels gelungen ist,
nämlich Kirchenmusik zu schreiben und dennoch ihre künstlerische
Autonomie zu wahren. Längst war der Ton nicht mehr die gehorsame
Tochter des heiligen Worts, sondern die Differenzierung und Verkom-
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plizierung der musikalischen Strukturen liessen den Text bis zur Nichtverstehbarkeit in den Hintergrund treten. Die Päpste, nicht immer
dumm, haben die subtil-häretischen Absichten gemerkt
gute Berater
oder hatten
und pfiffen die Verwegenen immer wieder zurück (z. B.
durch die Bulle Johannes XXII. Docta sanctorum von 1322 als Bannstrahl gegen die sogenannte «ars nova»). (Zwei Musikbsp.)
·
Es fruchtete jeweils nur kurze Zeit etwas und galt nur für Italien, denn je
näher beim Papst, desto gehorsamer die Komponisten! Erst mit dem
Konzil von Trient im 16. Jahrhundert gelang es der Kirchenhierarchie,
ihre Vorstellungen von Kirchenmusik auf Dauer durchzusetzen, weil in
der Reformationszeit einmal mehr Musik und Liturgie für die Vereinheitlichungstendenz und als Bollwerk gegen die neuen Religionen herhalten musste. Mehr als 5'000 Sequenzen, das grösste wirklich neue Repertoire innerhalb der katholischen Einstimmigkeit, das sich über 600
Jahre aufgebaut hat, wurden damals verboten, nur vier zugelassen,
ein ungeheuerliches Verbrechen an der menschlichen Phantasie und
Individualität. (Musikbsp.) Resultat der rigiden Trienter Reform: Die katholisch-approbierte Kirchenmusik, bislang Trägerin des trotz aller Eingriffe kompositorischen Fortschritts über Jahrhunderte, vor allem in der
Entwicklung der Mehrstimmigkeit, einer einmaligen, wenn auch
elitären Kulturleistung, die als solche von Petrarca neben die gotischen Kathedralen gestellt wurde
diese an sich grossartige Kirchen-
musik koppelte sich sofort von der weiteren Entwicklung ab und sank
schnell in die Bedeutungslosigkeit, in der sie bis heute verharrt. Die
Lockerung der strengen Tridentiner Norm wurde erst im Vaticanum II
möglich, der neue Papst Ratzinger von Altötting
lich lesen
Sie konnten es kürz-
will hingegen zum Tridentiner Modell zurückkehren
alle
Reaktionäre innerhalb der Kirche freuen sich schon jetzt.
Was hier anhand der Katholischen Kirche vorgebracht wurde, gilt auch für andere
institutionalisierte Religionen. Martin Luther erkannte wie die bislang genannten
10
Philosophen die volkserzieherischen Möglichkeiten der Musik und bezog sie geschickt in seine Arbeit ein: «Musica ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so
die Leute gelinder und sanftmüthiger, sittsamer und vernünftiger machet. [
] Mu-
sicam habe ich allzeit lieb gehabt. Man muss Musicam von Noth wegen in Schulen behalten. Ein Schulmeister muss singen können, sonst sehe ich ihn nicht an.»
Ob in der Kirche oder später in der Volksschule: Musik wurde bis vor kurzem nicht
als autonome Kunst und autonomer Bildungswert gelehrt, sondern als «Zuchtmeisterin» eingesetzt und, in der Lutherischen Kirche, auf die Unterweisung im Kirchengesang als einem wichtigen Mittel sowohl für die Ausbreitung der Reformation wie für die sonntägliche Liturgie reduziert. Mit Musik kämpfte man also sowohl
für die Reformation wie für die Gegenreformation! Und die Legitimation für den
Musikunterricht im schulischen Fächerkanon heute folgt immer noch der lutherischen Argumentation: Musik mache sozialer, friedfertiger, intelligenter, konzentrierter und weiss der Kuckuck was noch alles.
In der «Schule der Nationalerziehung und volkstümlichen Bildung» im 19. Jahrhundert wurde die kirchliche Indoktrination mittels Musik von der politischen Indoktrination mittels Musik abgelöst oder ergänzt. Der einstmals aufgeklärte und
revolutionär gesinnte Ehrenbürger der Französischen Republik, Johann Heinrich
Pestalozzi, schrieb: «Dass die Jahrtausende der Kunst uns noch nicht einmal dahin
gebracht haben, an den Ammengesang für den Säugling eine Stuffenfolge von
Nationalgesängen anzuketten, die auch in den Hütten des Volks sich vom sanften
Wiegengesang bis zum hohen Gesang der Gottesverehrung erheben würden.
Doch ich kann diese Lüke nicht ausfüllen, ich muss sie nur berühren.»
Eine andere Tatsache, die mit der Schweiz zu tun hat: Alphornblasen war um
1848 überall in der Schweiz praktisch ausgestorben wie bald darauf die Steinbökke. Trotz langen Suchens auf Geheiss der ersten Bundesräte fand man nur noch
sechs Spieler in der ganzen Eidgenossenschaft. Als schweizerisches Identifikationsmittel wurde das Alphorn im jungen Bundesstaat sofort planmässig gefördert, von
Staates wegen und mit Hilfe der sechs letzten Mohikaner gelehrt und so allmählich wieder hochgekurbelt. (Die Franzosen hatten im Mittelalter die komplexeste
Musik aller Nationen, die Schweizer die einfachsten Töne und Melodien, die des
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Alphorns, Musik also als Spiegel des Entwicklungsstandes eines Volkes oder einer
Nation ... Und dazu passt, dass sich Bundesräte gerne im Umfeld banalster Musik
feiern lassen.)
Oder: In der deutschen Volksschule sollten gegen Ende des 19. Jahrhunderts
mehr und mehr mit Hilfe von Volks- und (neu) Militärliedern patriotische Untertanen herangezüchtet werden. Es hat offenbar nicht viel gefruchtet: Im Sommer
des Kriegsjahres 1915 veröffentlichte der österreichische Landesschulrat einen Erlass über den Gesang beim Heere. Es heisst darin: «Während des Kriegszustandes
ist von allen Seiten die betrübende Wahrnehmung gemacht worden, dass gerade die deutsch-österreichischen Soldaten im Vergleiche zu denen anderer Länder
liederarm genannt werden müssen. Es sind nur wenige Lieder, die sie anstimmen
können, und selbst bei diesen wenigen versagt die Kenntnis des Textes schon bei
der zweiten und dritten Strophe. Daher singt überhaupt nur ein kleines Häuflein
unter den marschierenden Truppen, und auch dies verstummt bald oder hilft sich
durch Anstimmen von Gassenhauern, die zur Stimmung, in welcher die Soldaten
marschieren, durchaus nicht passen. Die Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass
der Gesangsunterricht in den Volks- und Bürgerschulen nicht überall planmässig
und zielbewusst betrieben wird. Die Bezirksschulräte werden daher angewiesen,
[...] einen sorgsam ausgewählten Schatz von Volks-, insbesondere von Marschund Soldatenliedern festzustellen und dahin zu wirken, dass von diesen Liedern
alle Strophen [
] gesungen und fest eingeprägt werden.» Der Erlass kam zu spät,
denn bekanntlich ging der Krieg für Deutschland-Österreich verloren ... In der
Schweiz wurde solches begeistert aufgenommen und auch lange praktiziert; ich
selbst habe an einer aargauischen Bezirksschule zwei Jahre lang mit wenigen Ausnahmen im Singunterricht die ewiggleichen Soldatenlieder, meistens in Nazideutschland komponiert, singen müssen. Jede Woche (ich übertreibe nicht) Lasst
hören aus alter Zeit und Heisst ein Haus zum Schweizer Degen u. ä. singen zu müssen kann aber nur mit systematischer Folter verglichen werden. Nun, ich habe
trotz dieses zugunsten systematischer Doktrinierung nichtstattgefundenen Singunterrichts geschweige denn Musikunterrichts später dennoch Musik studiert ...
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Militärmusik und -lieder habe ich genannt. Nun, es gab schon früh Instrumente, die als Militärinstrumente in höchstem Ansehen standen und durch Handel
nicht erworben werden konnten, sondern nur als Geschenk bei Staatsbesuchen
oder als Beute in einer Schlacht die Landesgrenzen überquerten. Ein Beispiel dafür
sind die alten Tuben, die schon im alten Persien bekannt waren, ein anderes ab
dem Mittelalter die Trompeten, die nur im Krieg oder bei Repräsentationsveranstaltungen eingesetzt werden durften und bald strengen Zunftregeln unterworfen
wurden. Übrigens: Die Orgel, im alten Rom alles andere als ein kirchliches Instrument, bekam Pippin der Kleine, der Vater Karls des Grossen, bei einem Besuch
vom oströmischen Kaiser geschenkt und brachte sie heim ins Frankenreich, von
wo sie sich sofort in ganz Europa ausbreitete und zum einzigen von der Kirche geduldeten Instrument wurde. Wurden im Circus maximus einst zu Orgelklängen
Christen zu Tode gebracht, erfreute das Instrument jetzt die Christen in der sonntäglichen Liturgie. Pointiert kann man sagen, dass Musik und Instrumente jahrtausendlang entweder von religiösen oder staatlichen inkl. militärischer Institutionen
oder von beiden vereinnahmt wurden. Um eine persische oder hebräische Tuba
blasen zu dürfen, musste man Priester oder Offizier sein!
Germanische und eidgenössische Soldaten waren bekannt für ihr markerschütterndes Geschrei; sie haben die Feinde manchmal bereits damit in die Flucht geschlagen, bevor sie also mit der Waffe zulangen mussten. Militärmusik begann hier
auf einem tiefen Niveau, und, Achtung Provokation, blieb meistens auf diesem sitzen! (Ich möchte nicht missverstanden werden: Auch wenn ich gegen jegliche
Militärmusik, und spiele sie in der friedlichen Schweiz, bin, schätze ich natürlich gewisse Musik für zivile Blasorchester!) Kunstcharakter hingegen reklamierten
Schlachtenmusiken, die seit der berühmten La Bataille (oder La Guerre de Marignan) von Clément Janequin (sie wird im ersten Konzert zu dieser Reihe aufgeführt und lobpreist den Sieg von François I. über die Schweizer Söldner bei Melegnano, eher bekannt als Marignano)
die seither also formal alle gleich ausse-
hen: 1) Beschreibung des Anlasses, Nennung der Kontrahenten, deren Aufzug,
2) Nachahmung der Schlacht und des Schlachtenlärms (bei Janequin mit rein vo-
13
kalen Mitteln, bei Beethoven und Tschaikowsky mit echten Gewehr- und Kanonenschüssen, 3) Siegeshymne. Bei Janequin hört man allerdings ganz am Schluss
noch das Wimmern der verletzten Söldner in verballhorntem Schweizerdeutsch,
dem ersten in der Kunstmusik und lange Zeit einzigen bis zur Engelberger Talhochzeit. (Musikbsp.) Eine ungemeine kunstvolle Chanson (allem, was danach kommt,
haushoch überlegen) und dennoch eine höchst fragwürdige, denn vielleicht haben Sie gemerkt, dass ich jeden Missbrauch der Musik, jede Missachtung ihrer Autonomie, jede Inanspruchnahme und jedes Ausnützen ihrer grossartigen biophilen Kraft für das Gottes- oder Herrscherlob, für die Aufstachelung der Soldaten im
Krieg, für die Lenkung der Menschen generell ablehne, wenn ich es auch historisch nachvollziehen kann und wenn es auch Beispiele gibt, die gerechtfertigt sein
mögen, aber das ist gefährliches Terrain. Den stumpfsinnigen und die Soldaten als
Schlachtvieh in den Krieg und den Tod pushenden Militärmärschen ist es auf der
anderen Seite zu verdanken, dass sie auf hohem Niveau in die Kunstmusik eindrangen und bei Mahler und Berg mit negativen Vorzeichen zu erschütternden
Anklagen gegen Gewalt, Krieg und Unterdrückung mutierten.
Ich habe bislang allerdings auch Fragezeichen zur behaupteten direkten Macht
der Musik als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel gemacht, obwohl sie in der Katholischen Kirche nachweislich lange Zeit so funktioniert hat. Die direkte Auswirkung eines einzigen Liedes (das Geheul der Schweizer Söldner wollen wir mal nicht
als Lied oder wohlgeordnete Musik bezeichnen, auch nicht die späten Ableger
davon in den Anfeuerungsrufen bei Fussballgesängen, die zeigen, wie schnell mit
Hilfe der gefährlichen Musik
gefährlich, weil sie ohne Text semantisch undefinier-
bar bleibt und deshalb leicht zu Manipulationszwecken eingesetzt werden kann
der Verstand ausgeschaltet werden kann und Zehntausende von Menschen in
kurzer Zeit zu einem Kollektiv zusammengeschweisst werden können)
die direkte
Auswirkung also mindestens eines Liedes, eines Marschliedes gar, vor den Liedern
in der Arbeiterbewegungen steht für die Marseillaise fest. Sie gehört zu jener raren
Musik, die widerständig und revolutionär wirken konnte, aber hier leider aus Zeit-
14
gründen nicht behandelt werden kann, obwohl ich mich für sie besonders interessiere.2 (Musikbsp.)
Die weltliche Kunstmusik, die sich in Europa massgeblich erst nach der Reformation entwickeln konnte, war bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert im wesentlichen eine Angelegenheit der schmalen weltlichen Herrschaftsschicht, der in Musik oft mit Erfolg dilettierenden Aristokratie, die immer das Neueste hören wollte
und dieses meistens auch als solches wahrnehmen konnte. Tausende von Eingriffen in die kompositorische Arbeit sind indes auch hier belegt; die Knebelung der
menschlichen Phantasie und künstlerischen Arbeit ging also munter weiter. Die
Komponisten, nun meistens nicht mehr geistlichen Standes, hatten zwar wie die
Mönche früher eine gesicherte Existenz, müssen sich aber wie diese genauso immer wieder unterordnen und Eingriffe in ihre künstlerische Autonomie gefallen lassen und versuchen dennoch immer wieder, dagegen anzuschreiben. Monteverdi,
Bach, Haydn und der junge Mozart sind hier die wichtigsten Beispiele. Einige kamen bei Dienstvergehen ins Gefängnis (z. B. Bach), wurden gar zum Tode verurteilt, oder ihnen, waren sie ausübende Musiker (z. B. Trompeter), wurden die Zähne herausgeschlagen ...
Die Verachtung der Frauen und ihr Ausschluss von der Musikausübung ging in
allen anderen Religionen und auch in der Bourgeoisie munter weiter (die französische Aristokratie war hier hingegen relativ liberal; der Sonnenkönig zählte in seinem nur mit China zu vergleichenden Musikapparat eine Komponistin zu seinen
LieblingstonschöpferInnen). Die aufgeklärten Engländer haben zwar gegen das
Kastratenwesen gekämpft, setzten aber in der Kirche und im Konzertsaal Knabensoprane und falsettierende Altisten ein, sicher aber keine Choristinnen. Das Kastratenunwesen griff auf die Oper über, und der absolute Star auf der Bühne war bis
zu Rossini und Donizetti der Kastrat mit Honoraren, die sich durchaus mit denen
der heutigen Superstars messen können. Die freie Existenz des Künstlers nach der
Französischen Revolution war nur eine scheinbare; der bürgerliche Geschmack,
von keiner Fachkenntnis getrübt, regredierte, das Musikmuseum wurde erfunden
und die wichtigsten lebenden Komponisten daraus verbannt. Oder anders ge2
Ein Auszug aus einem grossen Aufsatz d. Verf.s über die Marseillaise findet sich am Schluss des
Referattextes.
15
sagt: Die Bourgeoisie liess sie in Freiheit zugrundegehen. Mozart ist kein gutes Beispiel dafür, denn er hat als freier Komponist Unsummen verdient, sie aber für Unsinn ausgegeben, u. a. verspielt. Schubert hingegen ist vielleicht das betrüblichste
Beispiel dafür, wie ein grosser Komponist auf dem «freien» Markt unterliegen konnte, gerade weil er nicht den Massengeschmack befriedigte, sondern mit seiner
Musik hohe Ansprüche stellte und die herrschenden Verhältnisse attackierte. Händel stellte im Gegensatz dazu das erfolgreichste und früheste Beispiel für einen
freien Komponisten dar. Ausnahmen waren auch Beethoven und Wagner, die
grossen Schnorrer (im jiddischen Sinne) und Pumpgenies: Sie lehnten Aristokratie
und Bourgeoisie zwar vehement ab (Beethoven sympathisierte mit der jakobinischen Revolution, Wagner war lange Zeit Bakuninanhänger und hat 1848 gemeinsam mit ihm auf den Barrikaden Dresdens gekämpft), liessen sich aber ungeniert
von ihnen aushalten.
Dann kam die zweite Revolution, die Elektrifizierung der Musik und der Übergang
zur ihrer massenmedialen Verwertung. Musik wurde zur Ware und den Marktgesetzen unterworfen. Und als solche hat sie nun seit einigen Jahrzehnten die grösste
Macht, seit es Menschen überhaupt gibt. Mit Musik lässt sich sehr viel Geld verdienen, und das Geschäft mit der Musik gehört zu den wichtigsten in den kapitalistischen Ländern. Mit Musik kann man heute die Menschen indes auch äusserst subtil gängeln, beeinflussen, lenken, abdämpfen, ruhig halten, entpolitisieren, unterdrücken. (Das schildert beeindruckend die grosse kanadische Schriftstellerin in ihrem Report der Magd).
Und immer noch greifen Herrschaftssysteme direkt in die Musik ein, massregeln die Komponisten, verordnen den Musikgeschmack. Sei es die Musikpolitik im
Dritten Reich, der Sozrealismus der Sowjetunion oder die Bestrebungen in der chinesischen Kulturrevolution: Überall wurden abweichende, autonome, kühne KomponistInnen gemassregelt, auf den staatlichen Kurs gebracht, zur Emigration gezwungen oder gleich eingesperrt oder getötet. Musikalischer Unverstand, Populismus, Kitsch triumphierten; ich bringe kein Beispiel von erlaubter Musik aus diesen
Diktaturen, weil ich Ihnen und mir diese Ungeheuerlichkeit nicht zumuten will. Aber
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Achtung: Der sogenannte freie, vom Markt geregelte Musikgeschmack in den
ach so freien Demokratien ist der gleiche wie der in den genannten Diktaturen.
Fast niemand kennt im Westen die vierte Symphonie von Schostakowitsch, für die
er fast zum Tode verurteilt worden wäre, wenn er sie nicht zurückgezogen hätte,
aber sehr viele hören sich im Westen mit grösster Begeisterung die Fünfte an, die
«Antwort eines Sowjetkünstlers auf berechtigte Kritik», die auch Stalin über alles
gefiel und dem eben Gemassregelten den höchsten Orden dafür verlieh (ev. Musikbsp.). Und was einflussreiche Musikpolitiker in der Schweiz wie Paul Sacher und
Willy Schuh nach dem Zweiten Weltkrieg mit Komponisten machten, die zwölftönig schrieben, ist absolut vergleichbar mit den Eingriffen in den bekannten Diktaturen und beruht auf dem gleichen Geschmack, der komplexe Musik als «entartet» bezeichnete und verdammte.
Immer noch dient Musik Repräsentationszwecken bei Staats- und Sportanlässen, dem Militär, der Selbstdarstellung der Herrschenden. Die Oper ist seit vierhundert Jahren die teuerste musikalische Ideologie-, Herrschaftsbehauptung- und
Selbstdarstellungsmaschine überhaupt. (Siehe die eben zu verfolgende Diskussion
um die absurd hohe Subventionierung des Zürcher Opernhauses, das ganz und
gar den bürgerlichen Massengeschmack widerspiegelt, widerspiegeln muss, sollen die Sponsoren weiter für ihre Selbstdarstellung und den ehemaligen Olivettiverkäufer Pereira zahlen. Das Opernhaus Hannover hat hingegen aufrüttelnd-kritische Inszenierungen vor vier oder fünf Jahren zu produzieren begonnen und verlor danach in kurzer Zeit Tausende von AbonnentInnen!) Politiker wie unsere Bundesräte haben, wenn überhaupt, indes einen simplen Musikgeschmack und freuen sich ungemein, wenn sie einen eigenen Marsch bekommen und das Armeespiel dann noch selbst dirigieren dürfen. Die Zeiten, wo ein Herrscher wie Friedrich
der Grosse viel von Musik verstand und auch ab und zu ein anspruchsvolles Buch
las, sind längst vorbei, aber jene Zeiten waren auch nicht besser, die Unterdrükkung nicht geringer ... Ich könnte endlos weiterfahren, muss aber schleunigst zum
Schluss kommen.
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Musik ist heute stärkste ästhetische und sozioökonomische Wirklichkeit und betrifft
alle Menschen
einerseits durch die vielfältigen Möglichkeiten aktiven Musizie-
rens, bewussten Hörens von Musik verschiedenster Art und anderer Verhaltensweisen, andererseits durch ihre stetige Verfügbarkeit, massenmediale Allgegenwart
und ihre manipulativen Möglichkeiten. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, fast
überall von Musik umgeben und begleitet: von der Wiege bis zur Bahre, vom täglichen Erwachen bis zum Einschlafen, im Einkaufszentrum, bei der Arbeit, im Flugzeug und beim Zahnarzt; wir sind gezwungen, im Restaurant mit Musik zu essen,
und müssen sie gar auf dem stillen Örtchen hören
und die meiste Musik konsu-
mieren wir bei Fernsehsendungen, Werbespots und Spielfilmen. Das läppert sich
für die überwiegende Mehrheit der Menschen jeden Tag zu einigen Stunden bewusster und insbesondere unbewusster Musikaufnahme zusammen. Nur wer in seinen eigenen vier Wänden bleibt und die Apparate ausschaltet, kann ihr entfliehen, es sei denn, die Wände seien so dünn, dass sie die Musik der Nachbarn
durchlassen ... Man könnte weiterfahren: Mit Musik, vorwiegend von Antonio Vivaldi oder Wolfgang Amadé Mozart, geben Kühe angeblich mehr Milch, und, wie
Frances Rauscher herausgefunden haben will, lernen Ratten, vorausgesetzt, sie
werden schon pränatal mit Mozart beschallt, als Babies schneller und orientieren
sich besser als Artgenossen, die in den ersten Lebenswochen ohne Musik waren
usw.
Die mehrdeutige musikalische Realität, ästhetisches, intellektuelles und sinnliches Potential der Musik hier, gigantische Manipulationsmöglichkeiten durch Musik dort, begründet geradezu ein Menschenrecht auf musikalische Bildung, auf Unterricht in Musik, um musikalische Fremdbestimmung zu bekämpfen, Freiheit der
Wahl zu gewinnen und differenzierte Auseinandersetzung mit und selbstbestimmten Genuss von Musik in vielen bewusst ausgeübten Formen zu fördern. Die meisten von Ihnen haben mit Bildung zu tun; ich kann Sie nur dazu aufrufen, dafür zu
kämpfen, dass die Musik im Bildungskanon aus autonomen und humanen Gründen wichtig bleibt bzw. wird, damit sie ihre biophile Kraft für alle entfalten kann
und mit ihr, abgesehen von der Urzeit, endlich nicht mehr manipuliert und unterdrückt werden kann. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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ANHANG: Zur Marseillaise3
«Hymnen, das sind jene abscheulichen Ausflüsse nationaler Borniertheit, jene musikalischen Inkarnationen reaktionärer Gemeinschaftlichkeit, wie sie in beinahe allen Ländern der Erde bei offiziellen Anlässen zum höheren Lobe niederen gesellschaftlichen Bewusstseins zelebriert werden. Kaum eine ist darunter, die musikalisch von Interesse wäre, kaum eine, die nicht an den Stumpfsinn, dem sie sich
verdankt, auch musikalisch appellieren würde.» An diesem von Konrad Boehmer
trefflich gegeisselten Hymnenunwesen4 hat die Marseillaise wenig teil: Sie ist die
einzige historische Nationalhymne, die spontan
wohl in der Nacht vom 25. zum
26. April 1792, kurz nach der Kriegserklärung Frankreichs an das die Invasion vorbereitende Österreich
entstanden war, nicht irgendeiner Obrigkeit huldigte, son-
dern die Sache des Volkes vertrat, deshalb auch sofort von unten , von breitesten
Volksschichten übernommen, verändert und zum Ausdruck der eigenen kollektiven Bedürfnisse gemacht wurde sowie in Text und Musik einen aufrührerischen
Impetus hatte, der heute noch nachempfunden werden kann. Musikalisch von
(für Hymnen ebenfalls rarem) hohem Rang, war sie also nicht nur das säkularisierte
Te Deum, sondern, um Ernst Blochs Wort über das Trompetensignal im Fidelio abzuwandeln, weit mehr Dies irae für die Mächtigen und Tuba mirum spargens sonum für die Unterdrückten und Freiheitsdurstigen. Endlich eröffnete sie
org Knepler festgestellt hat
wie Ge-
als «genialer Entwurf» die Entwicklung zu einem neu-
artigen leidenschaftlich-pathetischen Ton in den französischen Revolutionsliedern
und in der europäischen Musik des 19. Jahrhunderts.
Ihre begeisternde Kraft war gewaltig, und ihre anstachelnde Funktion, äusserlich offenbar nur mit dem Schlachtgebrüll z. B. der Schweizer in grauer Vorzeit
vergleichbar, muss von militärischer Bedeutung gewesen sein. Im Lied La Veuve
du Républicain heisst es, dass durch den Gesang der Marseillaise «das Donnern
3
4
Anton Haefeli: «Zwischen absolutistischem Signal und revolutionärem Signet: Die Marseillaise
und ihre Folgen», in: Musik/Revolution Bd. 2 (= Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag, hg. von Hans-Werner Heister), Hamburg 1997, S. 63 113, hier S. 63 70.
Die zwingendste Kritik mit rein musikalischen Mitteln am Hymnenunwesen (und natürlich auch
an einer verbrecherischen Politik) dürfte wohl Jimi Hendrix mit seiner Zerfetzung der USAHymne, einem sensationellen Stück, geübt haben.
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der Kanonen übertönt» worden sei, und ein preussischer Offizier schrieb im Herbst
1792: «Die französischen [Soldaten] begrüßten die Morgendämmerung [
] mit
der schrecklichen Hymne der Marseiller. Die Wirkung dieser Hymne zu schildern,
gesungen von Tausenden von Stimmen [und in so furchterregender Art begleitet], ist menschenunmöglich.»
Viele Zeugnisse woben an der Legende, dass während der Abwehrkämpfe
der jungen Republik gegen die konterrevolutionären Armeen halb Europas und
dann leider auch während der Kriege, die Napoléon I. zum Herrscher über Europa
werden liessen, die Marseillaise mitgeholfen habe, die französischen Heere von
Sieg zu Sieg zu führen. Lazare Carnot jedenfalls versicherte dem Wohlfahrtsausschuss: «La Marseillaise a donné 100 000 défenseurs à la patrie», und andere Generale schrieben von der Front nach Hause: «Senden Sie tausend Mann Verstärkung oder tausend Exemplare der Marseillaise. [
] Ohne die Marseillaise werde
ich mich mit einem doppelt, mit der Marseillaise mit einem viermal so starken
[Feind] schlagen. [
] Wenn es nottat, eine feindliche Batterie im Sturm zu neh-
men; wenn es galt, ein palisadenbewehrtes und mit Kanonen bestücktes Vorwerk
zu stürmen; wenn unsere Regimenter vom Feuer der feindlichen Geschütze zerschlagen waren; wenn die Reihen der Infanterie zu wanken [ ] oder sogar zu
weichen begannen, stellte sich ein Abgeordneter mit der Trikolore um den Leib
oder ein General, [den Hut auf den Degen gespiesst], an die Spitze und stimmte
mit starker Stimme die bekannte Strophe an: Allons enfants de la patrie oder die
Strophe [ ] Amour sacré de la patrie. Und die Soldaten, von wilder Begeisterung
gestärkt, wiederholten das Lied, schlossen wieder die Reihen, warfen sich in den
Kampf und eroberten die feindlichen Bastionen.»
Als Rouget de Lisle, der Schöpfer der Marseillaise, 1797 nach Hamburg kam,
fühlte Friedrich Klopstock sich veranlasst zu fragen, warum ein so «schrecklicher
Mann wie Rouget» Deutschland betreten dürfe, da «sein Gesang doch 50 000
Deutsche erschlagen hat», und prophezeite, dass die Senseschneide der französischen Revolutionshymne als Schnitterin Tod «noch keineswegs abgestumpft» sei.
Ähnlich klagte August von Kotzebue den Marseillaise-Autor an: «Er ist ein grausamer Barbar, der mit seinem Lied unzählige meiner deutschen Brüder umgebracht
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hat.»
Die Tendenz, die Marseillaise zu instrumentalisieren und zu personalisieren,
wird in den folgenden Zitaten noch deutlicher. So rapportierte Napoléon als junger General dem Direktorium ebenso stolz wie differenziert: «J ai gagné la bataille, la Marseillaise commandait avec moi.» Das hinderte ihn allerdings nicht daran,
sie einige Jahre später zu verbieten! Napoléon III. fürchtete sie geradezu, erinnerte sich aber 1870 an ihre aufreizende Wirkung und liess sie, um ihre Macht für seine
Armee zu nutzen, vor dem deutsch-französischen Krieg wieder zu. Die oppositionellen Sozialisten jener Zeit reagierten mit Recht enttäuscht und verbittert, wenn
auch etwas irrational: «Man lässt die Marseillaise singen, wie man vor der Schlacht
Schnaps verteilt, um die Soldaten betrunken zu machen. Sollen sie doch die Marseillaise singen, wir wollen sie nicht mehr. Sie ist zum Feind übergelaufen.» Ebenso
entsetzt schrieb der Schriftsteller Jules Vallès: «Sie erfüllt mich mit Abscheu, Eure
Marseillaise von heute. Sie ist zum Lobgesang des Staates geworden. Sie reisst keine Freiwilligen mit, sie führt Truppen an. Das ist nicht das Sturmläuten der wahren
Begeisterung, das ist das Gebimmel am Halse des Schlachtviehs.»
Mit den Hinweisen auf Napoléon I. und III. ist schon angetönt, was am Anfang
der Republik der Musiksachverständige im Rat der Fünfhundert, Leclerc, ahnungsvoll voraussagte: «Die Marseillaise und das Lied Ça ira werden unsterblich bleiben,
ganz gleich, welches Schicksal die Musik erfahren und welche Revolutionen sie erleben sollte. [ ] Gewiss, der Usurpator, der in zwanzig Jahren die gegenwärtige
Regierung zu stürzen beabsichtigt, wird
schick besitzt
sofern er auch nur das geringste Ge-
damit beginnen, die erwähnten elektrisierenden Gesänge ihrer Le-
benskraft zu berauben, und, um sie besser ins ewige Vergessen zu tauchen, die
Prinzipien umwerfen, nach denen sie komponiert wurden.»
Leclerc bekam gleich doppelt recht: Diktatoren wollten die Marseillaise ausradieren oder mit ihr ihre Herrschaft affirmieren lassen; ab und zu wurde sie auch
von bürgerlich-konservativen Reaktionären für chauvinistische Zwecke missbraucht; 1879 mauserte sie sich unter Berufung auf ein Gesetz von 1795 endgültig
zur französischen Nationalhymne
und blieb trotz dieser Vereinnahmungen tö-
nendes Symbol für den Kampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrückung.
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Auch das hat Goethe schon erkannt, wenn er es auch etwas salopp ausdrückte,
dass das Lied Allons, enfants etc. in keiner Sprache wohlhabenden Leuten ansteht, sondern bloß zum Trost und Aufmunterung der armen Teufel geschrieben
und komponiert ist».
Zwar war die Marseillaise als einigender Kriegsgesang entstanden; sie rief
aber zur Gegengewalt, zur Verteidigung der Freiheit gegen die Söldnerheere europäischer Monarchien auf, und als solche richtete sie sich an die vom Verlust der
jungen Souveränität bedrohten Massen selber, die in ihrem eigenen Interesse sich
zum Volksheer zusammenschliessen sollten:
Aux armes, citoyens!
Formez vos bataillons!
Marchez, marchez!
Zu den Waffen, Bürger!
Bildet eure Bataillone!
Marschiert, marschiert!
Es ging also letztlich nicht um männliche Kriegslust und männliches Auftrumpfen,
sondern um den Drang aller nach Freiheit, und das spürte Napoléon I., erst einmal
an der Macht, ganz genau, als er mit vielen Errungenschaften und Symbolen der
Revolution auch die Marseillaise abschaffen und durch eine andere Hymne ersetzen wollte. Mit Ausnahme einer kurzen Zeit unter dem «Bürgerkönig» Louis-Philippe und eben 1870 war es bis 1879 in Frankreich unter Androhung strenger Strafen
verboten, die Marseillaise in der Öffentlichkeit zu singen. Auch diejenigen Menschen, die beim Begräbnis von Rouget de Lisle dessen Marseillaise vortrugen,
machten etwas Gesetzwidriges! Nur in den Revolutionsjahren 1830, 1848 und 1871
(hier zusammen mit der ähnlich spontan entstandenen, künstlerisch wertvollen
und symbolträchtigen Internationalen) wurde das Verbot bezeichnenderweise
durchbrochen und die Marseillaise ebenso erneut zum Symbol der aufbegehrenden Französinnen und Franzosen, wie sie ihren Kampfgeist anzufachen wusste.
Eduard Hanslick fasste die Wellenbewegung in ein treffendes Bild: «Von allen Regierungen niedergehalten, schnellte das Lied mit verdoppelter Federkraft bei jeder neuen Revolution empor, um dann mit dieser Revolution selbst wieder gemassregelt zu werden.»
Berlioz erzählt in seinen Mémoires, wie er in der Julirevolution 1830 einmal auf
der Strasse einige Menschen aufforderte, die Marseillaise zu singen, und wie als22
bald eine tausendköpfige Volksmenge mit solchem Enthusiasmus einstimmte, dass
er selbst, von dem Eindruck überwältigt, ohnmächtig (sic!) zu Boden gefallen sei.
Sein hypertrophes, aber kongeniales Arrangement der Marseillaise für grosses Orchester, Solisten und Doppelchor ließ er mit der Aufforderung «Tout ce qui a une
voix, un c
ur et du sang dans les vains» und der Widmung «À l auteur de cet
hymne immortel» wenige Wochen nach der Julirevolution in Paris drucken. Hanslick wiederum erlebte 1878 persönlich mit, wie das Volk das Singen der Marseillaise
sich buchstäblich erzwang: «Die Blechmusik auf dem Wagen intonierte die Marseillaise, und das Volk, (zu Tausenden) Kopf an Kopf dichtgedrängt, singt sie begeistert mit. Jubelnder Hurrahruf nach jeder Strophe
ich weiss nicht, wie oft die
Hymne wiederholt wurde. Auf anderen Plätzen dasselbe Schauspiel bis in die tiefe
Nacht hinein.»
Oder ein anderer Augen- und Ohrenzeuge: «Die Wirkung war unbeschreiblich! Es war, als ginge ein einziger, mächtig magnetischer Strom durch die vielen
hunderttausend menschlichen Wesen; als hätten mit einem Male nur die Gefühle
der Freude, des Glücks und Entzückens Raum in ihrer Brust, als Alt und Jung, Gross
und Klein in den Refrain mit einstimmten. Es war ein entzückendes Chaos jubelnder, schluchzender, einander umarmender, küssender Wesen; Männer und Frauen im Festkleid und Bluse, Greise und Jünglinge [
] umarmten sich im Übermasse
ihrer Freude, als seien sie von nun an von dem furchtbaren Alpe der Reaktion und
Tyrannei befreit.»
Weitere Belege dafür, dass die Botschaft der Marseillaise von den Herrschenden gefürchtet wurde und schwerlich für ihre Zwecke umfunktioniert werden
konnte, aber auch dafür, dass ihr subversiver Sinn supranational und (bislang) zeitlos ist, sind ihre unzähligen Kontrafakturen weit über Frankreich hinaus. Unter den
Hunderten von Neutextierungen
nachgewiesen
nur schon bis 1804 sind mehr als zweihundert
gibt es kaum reaktionäre oder gar faschistische, dafür um so
mehr Adaptionen der Arbeiterbewegungen verschiedener Länder. In Deutschland, wo das Singen der Marseillaise wie in Österreich bis 1848 auch untersagt
war, entstanden so beispielsweise 1849 die Reveille («Frisch auf, zur Weise von
Marseille») von Ferdinand Freiligrath, 1864 die Arbeitermarseillaise von Jakob Au-
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dorf und ungefähr in der gleichen Zeit die Achtstunden-Marseillaise von Arbeiterdichter Ernst Klaar. Diese Textautoren mögen dabei vielleicht den Gedanken von
Heinrich Heine aufgegriffen haben, der in Die Tendenz, dem dreizehnten seiner
Zeitgedichte, 1842 aus Paris die deutschen Dichter mahnte:
Deutscher Sänger! sing und preise
Deutsche Freiheit, dass dein Lied
Unsrer Seelen sich bemeistre
Und zu Taten uns begeistre,
In Marseillerhymnenweise!
Girre nicht mehr wie ein Werther
Welcher nur für Lotten glüht
Was die Glocke hat geschlagen,
Sollst du deinem Volke sagen,
Rede Dolche, rede Schwerter
Sei nicht mehr die weiche Flöte,
Das idyllische Gemüt
Sei des Vaterlands Posaune,
Sei Kanone, sei Kartause,
Blase, schmettre, donnre, töte!
Blase, schmettre, donnre täglich,
Bis der letzte Dränger flieht
Singe nur in diese Richtung,
Aber halte deine Dichtung
Nur so allgemein als möglich.
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