Untitled - Musikwerk Luzern

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Wassily Kandinsky, Impression III (Konzert), 1911
© Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München
Charlie Chaplin und Arnold Schönberg,
Los Angeles, ca. 1935
MUSIKWERK
LUZERN
Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Freunde
der klassischen Moderne, wir sind sehr erfreut, Ihnen die erste MusikWerk-Saison zu präsentieren!
Dass die künstlerische Ausrichtung von MusikWerk Luzern –
die Musik des 20. Jahrhunderts – eine Nische bleiben wird,
versteht sich ohne viele Worte. Gleichwohl sind wir überzeugt, unser lange gehegtes Wunschprojekt zur richtigen Zeit
in der Musiklandschaft Luzern zu platzieren.
Mit dem neurenovierten MaiHof hat sich ein für unsere
Zwecke idealer Spielort mit guten akustischen Verhältnissen
und einer intimen Grösse in Luzern etabliert.
Überdies zählt Luzern nun seit geraumer Zeit schon zu einer
der führenden Musikmetropolen, in der Liebhaber verschiedenster Stile und Epochen auf ihre Kosten kommen.
MusikWerk Luzern konzentriert sich bewusst auf einen faszinierenden Abschnitt unserer Musikgeschichte und gewährt
seinem Publikum einen Blick durchs Vergrösserungsglas.
Der Protagonist der ersten Saison ist Arnold Schönberg, der
wie kein anderer im letzten Jahrhundert die Gemüter erhitzt
hat. Wir begleiten ihn in fünf Konzerten auf seinem Schaffensweg und stellen ihn anderen wichtigen Komponisten seiner Epoche gegenüber.
Berühmt geworden durch seine 12-Ton Methode, die Thomas
Mann in die Nähe des Dämonischen rückte und die bis heute kontrovers diskutiert wird, tat Schönberg selbst diese am
Ende seines Lebens als eine Frage der Stilistik ab. Die Botschaft dieses krassen Understatements ist klar: er wollte als
Schöpfer der Musik wahrgenommen werden, die er aus einer
starken inneren Überzeugung heraus komponierte hatte – und
nicht als der 12-Ton-Theoretiker, der der Musik ein konstruiertes System aufzwingt. Somit ist unsere Aufgabe umrissen:
wir spielen seine Musik und hören ihr zu. Vielleicht vermag
sie uns heutigen Zuhörer – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – etwas Neues mitzuteilen.
Wir freuen uns, zahlreiche erstklassige Musiker von der Idee
überzeugt zu haben und sie bei uns in verschiedensten Besetzungen zu hören.
Ihr Beni Santora & Adrian Meyer
DER TREFFPUNKT FÜR DIE
KLASSISCHE
MODERNE
1903 wurde die Wiener Werkstätte gegründet, eine Vereinigung bildender Künstler. Ihr Ziel war die Erneuerung der
Kunst im Sinne eines Gesamtkunstwerks: die mit den Mitteln
der Kunst gestaltete Vereinigung aller Lebensbereiche des
Menschen. Führende Architekten, Grafiker und Maler wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Oskar Kokoschka und Gustav
Klimt zählten zu den Gründungsmitgliedern.
Auch MusikWerk Luzern versteht sich als Werkstatt und präsentiert die Werke der klassischen Moderne nicht als museale Rückschau. Unser Ziel ist, die Werke der damaligen Zeit in
ihrem mal gedankenvollen, mal revolutionären Impetus erlebbar zu machen. Die Konzertreihe behandelt die unterschied-
lichsten Einflüsse und Stile, handelt von Standpunkt, Opposition, Grenzüberschreitung und Skandal, Unerbittlichkeit und
Konzilianz, Anarchie und Dogmatismus.
Während Bilder von Picasso, Klee, Kandinsky und Klimt
Höchstpreise erzielende Publikumsmagneten sind, haben
ihre Komponistenkollegen von einst einen schwereren Stand.
Selbst viele Werke von Stravinsky, Schönberg, Bartok und sogar Ravel sind nach wie vor selten auf Konzertprogrammen
zu finden. Musikwerk widmet sich diesen mal unerwartet zugänglichen, dann wieder rätselhaften und komplexen Werken
und stellt sie in dramaturgisch abgestimmten Konstellationen
zu- und gegeneinander. Die Kontroverse von einst wird wieder lebendig.
Die Konzerte werden von herausragenden, international tätigen Musikern gestaltet, die sich mit der Idee von MusikWerk
Luzern identifizieren und regelmäßig im Ensemble Metropolis
– dem exklusiven Ensemble der Konzertreihe MusikWerk Luzern – zusammenfinden.
ARNOLD
SCHÖNBERG
1874 1882 1883 1889 1891 1898 1899 1901 1902 1903 1904 1906 1907 1908 1910 1911 Geburt am 13.9. in Wien als Sohn eines Schuhwaren-Fabrikanten.
autodidaktisches Geigenspiel; erste Kompositionsversuche.
«Als noch nicht neunjähriges Kind hatte ich angefangen, Stücke für zwei Violinen zu komponieren, die ich mit meinem Lehrer oder meinem Cousin zu spielen pflegte.»
Tod des Vaters.
absolviert eine Banklehre; lernt seinen künstlerischen Mentor und
künftigen Schwager Alexander von Zemlinsky kennen.
Veröffentlichung der Lieder op. 1-3; konvertiert vom mosaischen zum
protestantischen Glauben; Aufführung des Streichquartetts D-Dur.
komponiert das Streichsextett «Verklärte Nacht» nach Richard Dehmel
Beginn der Beziehung zu Zemlinskys Schwester Mathilde.
heiratet Mathilde von Zemlinsky; Übersiedlung nach Berlin.
Bekanntschaft mit Richard Strauss; Geburt der Tochter Gertrude.
Bekanntschaft mit Gustav Mahler; beendet die Symphonische
Dichtung «Pelléas und Melisande».
Alban Berg und Anton von Webern werden seine Schüler.
Geburt des Sohnes George; vollendet die 1. Kammersymphonie op. 9.
Tumultartige Szenen bei der Uraufführung des I. Streichquartetts..
Urrauführung des 2. Streichquartetts.
Erste Ausstellung eigener Gemälde.
Abschluss der Gurrelieder und der Harmonielehre; Begegnung mit
Wassily Kandinsky.
1912 1913 1915 1916 1917 1918 1922 1923 1924 1925 1928 1932 1933 1934 1936 1940
1942 1944 1945 1946 1949 1950 1951 Abschluss des Pierrot Lunaire; Bekanntschaft mit Igor Strawinsky.
Uraufführung der Gurrelieder in Wien unter der Leitung von Franz
Schreker, großer Erfolg.
Einberufung zum Militär.
Freistellung vom Militär.
Erneute Einberufung zum Militär.
Der «Verein für musikalische Privataufführungen» wird gegründet.
Besuch von Darius Milhaud und Francis Poulenc.
Methode der Komposition mit zwölf Tönen; Tod seiner Frau.
Hochzeit mit Gertrud Kolisch; leitet die Meisterklasse für Komposition
an der Berliner Akademie der Künste; vollendet die Serenade op. 24.
Ehrenmitgliedschaft der Academia Santa Cecilia in Rom.
Furtwängler dirigiert die Uraufführung der «Orchestervariationen».
Antisemitische Widerstände an der Akademie der Künste.
wird von der Akademie ausgeschlossen, Emigration in die USA
(Boston); Rekonversion zum jüdischen Glauben.
Umzug nach Los Angeles, Vorträge an der Universität.
Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles.
Amerikanische Staatsbürgerschaft.
Schreibt die «Ode an Napoleon Buonaparte».
Emeritierung von der Universität aus Altersgründen.
Finanzielle Notlage, gibt Privatstunden.
Herzinfarkt.
Kontroverse mit Thomas Mann über dessen Roman «Doktor Faustus»,
in dem der Tonsetzer Adrian Leverkühn die Zwölftontechnik ‚erfindet‘;
Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Wien.
Entwurf der «Menschenrechte».
Tod am 13. Juli in L.A.
DIE WELT VON
GESTERN
Stefan Zweig aus «Die Welt von Gestern»
Bermann-Fischer Verlag zu Stockholm 1942
Wir witterten in der Tat den Wind, noch ehe er über die Grenze kam, weil wir unablässig mit gespannten Nüstern lebten.
Wir fanden das Neue, weil wir das Neue wollten, weil wir
hungerten nach etwas, das uns und nur uns gehörte – nicht
der Welt unserer Väter, unserer Umwelt. Jugend besitzt wie
manche Tiere einen ausgezeichneten Instinkt für Witterungsumschläge, und so spürte unsere Generation, ehe es unsere Lehrer und die Universitäten wußten, dass mit dem alten
Jahrhundert auch in den Kunstanschauungen etwas zu Ende
ging, dass eine Revolution oder zumindest eine Umstellung
der Werte im Anbeginn war.
Die guten soliden Meister aus der Zeit unserer Väter – Gottfried Keller in der Literatur, Ibsen in der Dramatik, Johannes
Brahms in der Musik, Leibl in der Malerei, Eduard von Hartmann in der Philosophie – hatten für unser Gefühl die ganze
Bedächtigkeit der Welt der Sicherheit in sich; trotz ihrer technischen, ihrer geistigen Meisterschaft interessierten sie uns
nicht mehr. Instinktiv fühlten wir, dass ihr kühler, wohltemperierter Rhythmus fremd war dem unseres unruhigen Bluts und
auch schon nicht mehr im Einklang mit dem beschleunigten
Tempo der Zeit. Nun lebte gerade in Wien der wachsamste
Geist der jüngeren deutschen Generation, Hermann Bahr, der
für alles Werdende und Kommende sich als geistiger Raufbold wütend herumschlug; mit seiner Hilfe wurde in Wien die
‚Sezession‘ eröffnet, die zum Entsetzen der alten Schule aus
Paris die Impressionisten und die Pointilisten, aus Norwegen
Munch, aus Belgien Rops und alle denkbaren Extremisten
ausstellte; damit war zugleich ihren mißachteten Vorgängern
Grünewald, Greco und Goya die Bahn gebrochen.
Man lernte plötzlich ein neues Sehen und gleichzeitig in der
Musik neue Rhythmen und Tonfarben durch Mussorgsky, Debussy, Strauss und Schönberg; in der Literatur brach mit Zola
und Strindberg und Hauptmann der Realismus, mit Dostojweskij die slawische Dämonie, mit Verlaine, Rimbaud, Mallarmé eine bisher unbekannte Sublimierung und Raffinierung
lyrischer Wortkunst.
Nietzsche revolutionierte die Philosophie; eine kühnere, freiere Architektur proklamierte, statt der klassizistischen Überlegenheit, den ornamentlosen Zweckbau. Plötzlich war die alte
behagliche Ordnung gestört, ihre bisher als unfehlbar gehaltenen Normen des ‚ästhetisch Schönen‘ (Hanslick) in Frage
gestellt, und während die offiziellen Kritiker unserer ‚soliden‘
bürgerlichen Zeitungen über die oft verwegenen Experimente
sich entsetzten und mit den Bannworten ‚dekadent‘ oder ‚anarchisch‘ die unaufhaltsame Strömung zu dämmen suchten,
warfen wir jungen Menschen uns begeistert in die Brandung,
wo sie am wildesten schäumte.
Wir hatten das Gefühl, daß eine Zeit für uns, unsere Zeit, begann, in der endlich Jugend zu ihrem Recht kam. So erhielt
mit einemmal unsere unruhig suchende und spürende Leidenschaft einen Sinn: wir konnten, wir jungen Menschen, auf
der Schulbank, mitkämpfen in diesen wilden und oft rabiaten
Schlachten um die neue Kunst.
Wo ein Experiment versucht wurde, etwa eine WedekindAufführung, eine Vorlesung neuer Lyrik, waren wir unfehlbar
zur Stelle mit aller Kraft nicht nur unserer Seele, sondern auch
noch unserer Hände; ich war Zeuge, wie bei einer Erstaufführung eines der atonalen Jugendwerke Arnold Schönbergs, als
ein Herr heftig zischte und pfiff, mein Freund Buschbeck ihm
eine ebenso heftige Ohrfeige versetzte; überall waren wir die
Stoßtruppe und der Vortrupp jeder Art neuer Kunst, nur weil
sie neu war, nur weil sie die Welt verändern wollte für uns, die
jetzt an die Reihe kamen, ihr Leben zu leben. Weil wir fühlten,
‚nostra res agitur‘.
Stefan Zweig, «Die Welt von Gestern»
Bermann-Fischer Verlag zu Stockholm 1942
BELLE EPOQUE,
FIN DE SIÈCLE,
JAHRHUNDERTWENDE
1900 Mit dem 2. Flottengesetz nimmt das Deutsche Reich das Wettrüsten mit England auf, wo zeitgleich der erste Schlachtkreuzer fertiggestellt wird | erstmals besteht
direkter Telegraphenverkehr zwischen den USA und Deutschland, ein Unterseekabel
führt von der Nordseeinsel Borkum nach New York | Max Planck prägt die Geburtsstunde der Quantenphysik | Sigmund Freund veröffentlicht die «Traumdeutung» | Auf
der Weltausstellung in Paris wird neben der Rolltreppe und dem noch immer neuen
Medium Film das erste Hybridauto, der Lohner-Porsche, vorgestellt.
1901 Das Jahr 1901 markiert den Beginn des 20. Jahrhunderts | Theodore Roosevelt
wird Präsident der Vereinigten Staaten | die Nobelpreise werden erstmals verliehen |
Auf der Weltausstellung in Buffalo/USA wird das Röntgengerät der Öffentlichkeit vorgestellt | Den ersten Friedensnobelpreis erhält Henri Dunant, der Gründer des Roten
Kreuzes, Wilhelm von Röntgen den ersten Preis in der Sparte Physik.
1902 Der Schweizer Bundesrat beschließt, die neuen deutschen Rechtschreibregeln zu übernehmen | die SBB nimmt ihren Betrieb auf, in Berlin wird die erste U-Bahn
eröffnet und die Transsibirische Eisenbahn macht sich auf den Weg | für den Ge-
schwindigkeitsrekord eines Autos reichen 101 km/h | Uraufführung von Schönbergs
«Verklärter Nacht» und Debussys «Pelléas und Mélisande» | die Weltausstellung in
Turin/Italien ist erstmals allein einem Kunststil gewidmet, sie kennzeichnet den Höhepunkt des Jugendstils
1903 Pulverfass Balkan: der serbische König wird ermordet | Gründung der Ford Motor Company | erster gesteuerter Motorflug der Gebrüder Wright | Sir Arthur Conan
Doyle lässt die tödlich verunglückte Romanfigur Sherlock Holmes nach wütenden
Leserprotesten wieder auferstehen | in Frankreich wird erstmals der Prix Goncourt
vergeben | Uraufführung von Bruckners 9. Symphonie | 1903 findet keine Weltausstellung statt | Pierre und Maria Curie erhalten gemeinsam mit Henri Becquerel den
Physiknobelpreis
1904 Frankreich und Großbritanien gründen die «Entente cordiale» | der russisch-japanische Krieg beginnt | Henry Royce und Charles Rolls wollen künftig zusammenarbeiten | Uraufführung von Wedekinds «Büchse der Pandorra», Janaceks Oper
«Jenufa», Mahlers 5. Symphonie, Weberns «Im Sommerwind», Puccinis «Madame
Butterfly» und Skrjabins 3. Symphonie | Die Weltausstellung und in deren Rahmen die
Olympischen Spiele finden in St. Louis/USA statt
1905 Revolution in Russland, Einberufung der ersten Duma | erstes Treffen des
«Niagara Movements», der Keimzelle der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung | Albert Einstein veröffentlicht die Spezielle Relativitätstheorie | es erscheinen
Heinrich Manns «Professor Unrat» und Christian Morgensterns «Galgenlieder» | die
expressionistische Künstlergruppe «Die Brücke» wird gegründet | Uraufführung von
Schönbergs «Pelléas», Debussys «La mer» und Léhars «Lustige Witwe» | die Lütticher
Weltausstellung führt der Weltöffentlichkeit den Kinematographen sowie eine neue
kriminologische Methode zur Erkennung von Fingerabdrücken vor | Der Friedensnobelpreis geht an Bertha von Suttner.
1906 In Frankreich tritt das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche in Kraft | das
«Große Beben» macht San Francisco dem Erdboden gleich | der Arzt Alois Alzheimer
diagnostiziert erstmals die Alzheimer-Krankheit | die erste Ausstellung der «Brücke»
in Dresden findet wenig Beachtung | Uraufführung der «Miroirs» von Ravel | Die Weltausstellung in Mailand/Italien steht ganz unter dem Zeichen «Verkehr»: Autos, Eisenbahnen, Luftschiffe sowie ein Tunnel werden dem Publikum vorgestellt | Der Friedensnobelpreis geht an Theodore Roosevelt.
1907 Aus der Entente cordiale (Frankreich/Großbritannien) wird durch Beitritt Russlands die «Triple Entente » | das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Italien verlängern ihren «Dreibund» um sechs Jahre, damit haben sich die Achsenmächte des I.
Weltkrieges formiert | das Waschmittel Persil kommt auf den Markt | Maria Montessori eröffnet ihr erstes Kinderhaus | Uraufführung von Strindbergs «Traumspiel» | Die
Weltausstellung findet zu gleichen Teilen in Dublin/Irland und in Hampton Roads/USA
statt | Gewinner des Literaturnobelpreises ist in diesem Jahr Rudyard Kipling.
1908 Die Bosnische Krise (Annexion Bosnien und Herzegowinas durch Österreich-Ungarn) führt zu verschärften Spannungen in Europa | in London finden Olympische Sommerspiele statt | Theodor Tobler und Emil Baumann erfinden die «Toblerone» | der erste Zeichentrickfilm entsteht | Gustav Mahler wird Chefdirigent an der
New Yorker Metropolitan Opera | Robert Walsers Roman «Der Gehülfe» erscheint |
1908 findet keine Weltausstellung statt | Rudolf Eucken ist Träger des Literaturnobelpreises
1909 Das Deutsche Reich anerkennt die Vormachtstellung Frankreichs in Marokko
| Bethmann-Hollweg wird deutscher Reichskanzler | die Vorläuferfirma von L’Oréal
entsteht | die Chemotherapie wird erstmals eingesetzt | Begründung des Futurismus
| Die Weltausstellung verläuft in Seattle/USA unter dem Titel «Alasca-Yukon-Pacific-Exposition» | Der erste Briefmarkenautomat der Welt wird vorgestellt | Selma Lagerlöf erhält den Literaturnobelpreis.
1910 Beginn des Wettlaufs zum Südpol zwischen Roald Amundsen und Robert F.
Scott | Strawinskys «Feuervogel» wird in der Choreographie Sergej Djagilews in Paris
gezeigt | Weltausstellung in Brüssel | der italienische Autobauer Alfa Romeo entsteht |
der Atomphysik gelingt der experimentelle Nachweis von Atomkernen | in einer franz.
Zeitung erscheint der letzte Teil von Gaston Leroux Fortsetzungsroman «Das Phantom der Oper», Karl Mays «Winnetou IV» erscheint | eine Vorstellung der New Yorker
Met ist die erste Übertragung einer Oper im Radio | in München wird Mahlers VIII.
Symphonie uraufgeführt.
1911 Initiiert von Clara Zetkin findet erstmals ein Internationaler Frauentag statt
| Deutschland und Frankreich befinden sich in der Zweiten Marokko-Krise | der
«1911er» gilt in Deutschland als Jahrhundert-Wein | Roald Amundsen erreicht als erster Mensch den geographischen Südpol | Wassily Kandinsky und Franz Marc gründen
die Künstlervereinigung «Der Blaue Reiter» | triumphale Uraufführung des «Rosenkavalier» von Richard Strauss | Max Reinhardt bringt Hugo von Hofmannthals «Jedermann» zur Uraufführung | erste Rallye Monte Carlo.
1912 Europas Konflikte verstärken sich: kein Abkommen zur Beschränkung der Flottenaufrüstung zwischen Deutschen und England, 1. Balkankrieg, das Deutsche Reich
verlängert den «Dreibund» mit Österreich-Ungarn und Italien und berät einen künftigen Krieg gegen Russland, Frankreich und England | Untergang der Titanic | Olympische Sommerspiele in Stockholm | in St. Petersburg erscheint die erste Ausgabe der
«Prawda» | in Basel tagt der Internationale Friedenskongress der Sozialisten | Uraufführung der Oper «Der ferne Klang» von Franz Schreker | Gerhart Hauptmann erhält
den Literatur- Nobelpreis
1913 der Deutsche Reichstag beschließt die Aufstockung des Heeres | Norwegen
führt als erster souveräner europäischer Staat das Frauenwahlrecht ein | Weltausstellung in Gent, Belgien | Henry Ford probt die Fließbandherstellung seines Modell T
| der Lötschbergtunnel wird in Betrieb genommen | der Schweizer Oskar Bider überquert als erster Flugzeugpilot die Alpen | in Manhattan wird das Woolworth Building
eröffnet | Strawinskys «Sacre du Printemps» macht Skandal in Paris.
1914 am 28. Juni werden der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz
Ferdinand und seine Frau von dem Serben Gavrilo Princip erschossen.
Wassily Kandinsky Endgültiger Entwurf für den Umschlag
des Almanachs der Blaue Reiter, 1911 © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München
SAISON 2015 DER FALL
24.01.2015 • Der MaiHof Luzern • 19.30 Uhr
«Die Welt von Gestern»
Arnold Schönberg (1874-1951)
Streichquartett in D-Dur, 1897
Gustav Mahler (1860-1911) - Arnold Schönberg
Lieder eines fahrenden Gesellen für Bariton und Kammerensemble, 1896 (1920)
Franz Schreker (1878-1934)
Nachtstück aus der Oper «Der ferne Klang», 1910 (bearb. Michel Roth)
Anton Webern (1883-1945)
Rondo für Streichquartett, 1906
Johann Strauss (1825-1899) - Arnold Schönberg
Lagunenwalzer op. 411, 1883 (1921)
Johann Strauß, Franz Schreker und Gustav Mahler sind noch Repräsentanten der Belle Epoque von deren Einflüssen Schönberg, Webern und Berg nie ganz lassen konnten. Die ‚Erneuerer‘ tun beides: sie suchen nach neuen Wegen und halten gleichzeitig
an der Tradition fest.
ARNOLD SCHÖNBERG
11.04.2015 • Der MaiHof Luzern • 19.30 Uhr
«Luft vom anderen Planeten »
Arnold Schönberg (1874-1951)
II. Quartett op. 10 fis-Moll für zwei Violinen, Viola, Violoncello und Sopran 1908
Charles Ives (1874-1954)
The Unanswered Question für Trompete, 2 Flöten, Oboe, Klarinette und Streicher
Alexander Skrjabin (1872-1915)
Klaviersonate Nr. 4 Fis-Dur op. 30 (1903) / Vers la flamme
Erik Satie (1866-1925)
Musique d’Ameublement für Salonorchester
ca. 21.30 «Concert Lunaire»
Arnold Schönberg (1874-1951)
Pierrot Lunaire op. 21 für Sprechstimme und Kammerensemble (1912)
Mit wenigen Worten fängt Stefan George 1907 in einem Gedicht aus dem Zyklus «Der
siebente Ring» das Gefühl für den Wandel zum Neuen ein. Fast schon symbolisch
wirken diese Worte im letzten Satz von Schönbergs II. Streichquartett, das exemplarisch für den Aufbruch in den Spätexpressionismus steht. Zeitgleich werden an
unterschiedlichen Punkten der Erde Ansätze der Moderne gefunden: in Paris von Erik
Satie, in Connecticut von Charles Ives und in Moskau von Alexander Skrjabin.
20.06.2015 • Der MaiHof Luzern • 20.30 Uhr
«Paris Gare de l’Est – Budapest Keleti»
Arnold Schönberg (1874-1951)
Serenade op.24 für Klarinette, Baßklarinette, Mandoline, Gitarre, Violine,
Viola, Violoncello und eine tiefe Männerstimme
Maurice Ravel (1875-1937)
Trois poèmes de Stéphane Mallarmé für Singstimme, zwei Flöten,
Klarinetten, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Klavier (1913)
Béla Bartók (1881-1945)
Streichquartett Nr.2 Sz. 67, Op. 17 (1917)
Claude Debussy (1862-1918)
Première Rhapsodie für Klarinette und Klavier (1909/10)
Was passiert in Wiens benachbartem Budapest und in Paris der 10er Jahre? Arnold
Schönbergs expressionistisches Pierrot Lunaire, die drei impressionistischen Poèmes de Mallarmé Ravels, und das frühe expressionistisch-folkloristische II. Streichquartett von Béla Bartók bieten drei mögliche Lösungsansätze eines musikalischen
Dilemmas: Restauration oder Auflösung der Tonalität?
24.10.2015 • Der MaiHof Luzern • 19.30 Uhr
«Atonality Retroactive »
Arnold Schönberg (1874-1951)
Kammersymphonie Nr. 1 in E-Dur für 15 Soloinstrumente (1906)
Alban Berg (1885-1935)
Adagio aus dem Kammerkonzert für Violine, Klarinette und Klavier (1924/25)
Anton Webern (1883-1945)
Sechs Bagatellen für Streichquartett op.9 (1911-13)
Ernst Krenek (1900-1991)
wird später bekanntgegeben
ca 21.30 Uhr Nachtkonzert
Josef Kost, Luzern
Neues Werk, Uraufführung
Ernst Krenek zieht mit seinem Essay Atonality retroactive in der musikwissenschaftlichen Fachzeitschrift «Perspectives in new music» eine historische Parallele zur
frühen Renaissancemusik, die nicht im Sinne einer konventionellen klassischen DurMoll Tonalität verstanden werden kann. Somit ist die Atonalität keine Innovation des
ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Der Luzerner Josef Kost blickt mit seiner neuen Komposition retroaktiv auf Schönbergs 1. Kammersymphonie zurück und fasst die kompositorische Essenz dieses
grandiosen Werks in einem Auftragswerk neu zusammen.
05.12.2015 • Der MaiHof Luzern • 19.30 Uhr
«Brentwood, CA -Treffpunkt Exil»
Arnold Schönberg (1874-1951)
Ode to Napoleon Buonaparte (Lord Byron) op.41 für Sprecher, Streichquartett und
Klavier (1942)
Igor Stravinsky (1882-1971)
Septett für Violine, Viola, Violoncello, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier (1953)
Hanns Eisler (1898-1962)
Septett Nr. 2 «Circus» (1947) nach einem Stummfilm von Charlie Chaplin für
Flöte, Klarinette, Fagott und Streichquartett
Erich Wolfgang Korngold (1897-1957)
Vier kleine Karikaturen für Kinder op. 19 (1931) für Klavier
…& Drinks with George Gershwin (1898-1937)
Der Olymp europäischer Geistesgrößen scheint aufgrund des aufgezwungenen Exils
in Kalifornien gelegen zu haben. Aber die Temperamente und ihre künstlerischen Ideale sind zu unterschiedlich, als dass es zu einer Symbiose kommen könnte.
Schönberg und Rachmaninoff - unterschiedlicher könnten musikalische Idiome nicht
sein. Und der genialische Stravinsky irgendwo dazwischen, der «mit grossen Augen
durch die Welt der Musik reist wie ein Tourist und jederzeit bereit ist, alles auszuprobieren und an allem teilzunehmen» (Glenn Gould).
Den Abschluss der Saison bildet Schönbergs bewunderter Freund und Schöpfer einer
eigenständigen amerikanischen Musiksprache: George Gershwin. Das kuriose Paar,
das sich zur Erholung von schöpferischer Tätigkeit auf den Tennisplätzen Hollywoods
trifft.
Pierrot Lunaire,
Andras Marton
(Budapest, 1988)
GEDANKEN BEIM
HÖREN SCHÖNBERGSCHER MUSIK
Dem musikgeschichtlichen, analytischen und soziologischen Schreiben über Arnold
Schönberg ist schwerlich Neues hinzuzufügen. Unüberschaubar viel wurde über ihn
von Musikerkollegen, wohl- und übelmeinenden Journalisten und Kritikern und Musikwissenschaftlern publiziert.
MusikWerk beschränkt sich auf die Rolle des Interpreten, Zuhörers und Veranstalters. Aus diesem Grund lautet für uns gleichermaßen die relevante Frage; was vermag Schönberg für uns heutige Hörer noch auszudrücken?
Schönbergs frühe Tonschöpfungen wie Verklärte Nacht, Pelléas und Melisande, die
Gurre-Lieder, jene Werke des noch der Tradition verpflichtenden expressionistischen
Stils, halten für jeden Spätromantiker einiges bereit. Über alle Maßen bedeutend und
zur gleichermaßen heftig verehrten und angegriffenen Symbolfigur wurde Schönberg
mit seinen frühen atonalen und den darauffolgenden, in Zwölfton-Manier komponierten Werken.
Das Missverständnis im ‚Fall Schönberg‘ wurde zum Teil auch durch Schönberg selbst
gefördert. Die musikhistorische Gestalt Arnold Schönberg war spätestens ab seinem
Werk Pierrot Lunaire konnotiert mit den Begriffen «Atonalität» und deren Fortsetzung
«Zwölfton-Technik», wodurch es schwierig wurde, den Komponisten vom Theoretiker
zu trennen. Somit wurde ihm ein- für allemal jegliche Sinnlichkeit abgesprochen.
Arnold Schönberg, Rockingham Avenue, LA, 1948 Photo: Richard Fish ©
Arnold Schönberg Center, Wien
Die historische Figur Schönberg fasziniert bis heute, aber über seine Musik herrscht
Unklarheit. Denn es darf kein Widerspruch sein, Theoretiker und kreativer Schöpfer
zu sein (Bartók war als bedeutender Musikethnologe im gleichen Dilemma gefangen),
obwohl sich diese Meinung auch heute noch hartnäckig hält.
Der Theoretiker Schönberg ist mehr im Sinne eines Expeditionisten und Abenteurers
zu verstehen, der sich einen Weg durch ein unwirtliches Terrain schlägt und dabei
nicht präzise weiß, wohin es ihn letzten Endes verschlägt. Der geschlagene Pfad ist
eng und reicht gerade für ihn allein. Dass nicht jede Entdeckung bleibenden Wert hat,
dass auf dem Weg nicht immer nur alltagtaugliches herauskommt, ist verständlich.
Das ist das Schicksal eines Expeditionisten.
Tatsächlich ist die Musik Schönbergs aus seiner Zwölfton-Phase nicht mehr für jedermann. Um die komplexeren Werke wie z. B. das Bläserquintett op.25 aus jener Zeit
wirklich im Moment des Erklingens nachvollziehen zu können, wäre es erforderlich,
sein Gehör auf eine andere Ebene zu transformieren, um die Musik in einem alltäglichen Sinne geniessen zu können. Das würde entweder Übung oder aber Beschäftigung mit der Musik erfordern, wie sie kein Mensch aufbringen wird, der Musik nur
zum Wohlgenuss konsumiert.
Das Trugschlüssige dabei ist, dass die fast schon dogmatische Gesetzmäßigkeit der
anfänglichen Zwölfton-Methode (auch für ihn war sie neu, ein unerprobtes Feld), nicht
gleichzusetzen ist mit Komplikation. Die nachvollziehbare Logik in ihr ist im Grunde
einfacher zu verstehen als z. B. die Musik eines Wagners, die weniger auf einer inneren Gesetzmässigkeit beruht. Einfacher und doch schwieriger zu hören!
Nun, um es mit Glenn Goulds Worten auszudrücken, die Wirkung dieser neuen Klangwelt war, die Hörerschaft vom Komponisten zu trennen. Das klingt nicht sehr schmeichelhaft, liegt der Wahrheit aber nicht ganz fern. Dass er aber im herkömmlichen
Sinne ‚schön’ komponieren konnte, hat Schönberg mit seinen früheren spätromantischen Werken eindeutig bewiesen.
Interessant ist aber, dass die sogenannt atonale Musik, also Musik ohne Bezug zur
konventionellen Harmonik unter anderen Umständen von uns vorurteilsfrei akzeptiert
wird. Ab den 50er Jahren schleicht sie sich unmerklich in ein Medium ein, dass von
Millionen Zuhörern konsumiert wird. Die Filmmusik dringt in avantgardistische Sphären vor und benutzt als berühmtes Beispiel z. B. Ligetis Atmosphères – im Konzertsaal
wahrlich kein Werk für oberflächliche Genießer – in Stanley Kubricks «Odyssee im
Weltraum».
Auch Schönberg schrieb Musik zu einem leider nie realisierten Filmprojekt, bekannt
geworden unter dem Titel «Begleitmusik zu einer Lichtspielszene». Fällt es uns leichter, atonale Musik in Kombination mit Bildern zu akzeptieren?
Adorno beleuchtet es aus einer anderen Perspektive; die vermeintlich neue Dissonanz schreckt die Menschen deswegen, weil sie von ihrem eigenen Zustand reden:
einzig darum seien sie ihnen unerträglich.
Wieso nimmt man es nicht einfach gelassen und nimmt die Möglichkeit wahr, sein
Gehör zu schulen? Denn eins ist sicher: Hat man sich einmal darauf eingelassen, in
Schönbergs Musik einzutauchen, wächst unser Verständnis für die in den vorangegangenen Jahrhunderten geschriebenen Werke noch um einiges.
Arnold Schönberg mit Hund Roddie,
Rockingham Avenue, LA, 1937.
© Arnold Schönberg Center, Wien
ZWÖLFTONSYSTEM
Ernst Krenek «Erfahrungen mit dem Zwölftonsystem» (1934)
Wird über das «Zwölftonsystem» diskutiert, so geschieht dies meist theoretisch in
der Weise, daß seine zwingende Ableitung aus der Entwicklung dargetan wird, die die
tonale Musik seit den entscheidenden Taten Richard Wagners genommen hat. Diese
Betrachtungsweise, an sich völlig gerechtfertigt und überzeugend, vermag trotzdem
nur dem ganz einzuleuchten, der von der Einsicht ausgeht, daß die schöpferischen
Individualkräfte nicht geschichtsfrei, sondern eingeordnet in die historische Dialektik
des musikalischen Materials, aus dem Erahnen und Erkennen dieser Prozesse heraus
sich betätigen können.
Diese Einsicht ist indessen den meisten Laien und auch vielen Musikern nicht geläufig; in der Annahme, daß das Kennzeichen kunstschöpferischer Kraft ihre totale
Verwurzelung in der Sphäre des Gefühls sei und das Kennzeichen dieser Sphäre wiederum ihre völlige Unabhängigkeit von außerhalb ihr stehenden, besonders gedanklichen und historisch fixierten Gehalten, stellen sie, im übrigen durchaus ernsthaft, die
naive Frage, warum man denn nicht eigentlich ebenso erfreulich weiterkomponieren
könne, wie sich dies in den Werken der Vergangenheit zeige. Sie überschätzen damit
die Freiheit des Künstlers, indem sie seine Bindung an das unaufhaltsame geschichtliche Werden übersehen, sie unterschätzen sie gleichzeitig, dass sie nicht merken,
wie sehr sie ihn einengen wollen. Das ist ganz begreiflich, da die Einsicht in die wahren Verhältnisse von Freiheit und Bindung nicht nur in der Kunst zu den schwierigsten
Problemen gehört, die dem Menschen gestellt sind.
Darum mag es nicht uninteressant sein, die Fragen der Zwölftonkomposition einmal
von der Praxis her zu beleuchten, so als ob man die Wahl hätte, auch anders zu verfahren, und die Vor- und Nachteile dieser Arbeitsweise abzuwägen. Als bekannt sei
dabei vorausgesetzt, worauf es im wesentlichen ankommt: daß einem Musikstück
eine in ihrer Reihenfolge unverändert bleibende Reihe zugrunde gelegt wird, die alle
zwölf in unserem Tonsystem das Intervall der Oktave erfüllenden Töne und jeden
von ihnen nur einmal enthält; daß weitere drei Formen der Reihe: ihre Umkehrung,
ihre rückläufige Gestalt (Krebs) und deren Umkehrung verwendet werden; daß man
schließlich die Versetzungen dieser vier Formen auf alle Stufen der chromatischen
Skala einführt, wodurch man im ganzen 48 Formen der Reihe zur Verfügung hat. wesentlich ist, daß die Reihe nicht etwa ein Ersatz oder eine andere Form der bisher
verwendeten Dur- und Molltonleiter oder irgendeiner anderen Skala ist. Dazu fehlt
ihr das wichtigste Kennzeichen einer solchen: der Grundton nach dem sich das musikalische Geschehen orientiert, und die Funktion anderer Töne als Stufen, welchen
Charakter sie wiederum nur unter der Voraussetzung der Existenz eines Grundtons
haben könnten.
Die Reihe ist aber auch kein musikalisches Thema; denn dieses wird erst aus ihr, im
übrigen vollkommen frei, gebildet. Die Bindung, die sie auferlegt, besteht lediglich
darin, daß in dem gesamten Ablauf des so komponierten Musikstücks die von der
Reihe festgelegte Folge von Tönen maßgebend ist. Praktisch gesprochen also: wenn
wir etwa irgendwo in der Melodielinie oder in einer anderen Stimme oder wo immer
drei Töne aufeinanderfolgend finden, die zum Beispiel dem vierten bis sechsten einer
Form der Reihe entsprechen, so müssen ihnen der erste bis dritte vorangehen, der
siebente bis zwölfte folgen. Da auch mehrere aufeinanderfolgende Töne der Reihe
gleichzeitig erklingen können, so ergibt sich von selbst, daß der Melodiebildung keinerlei Hemmungen auferlegt sind. Es muß nur dafür gesorgt sein, daß die in der Melodie etwa übersprungenen Töne anderswo untergebracht werden. Damit ist einem
wesentlichen Einwand begegnet, der gegen diese Arbeitsweise oft erhoben wird. Sie
ist durchaus keine Zwangsjacke der schöpferischen Phantasie, sondern gibt dieser
alle Möglichkeiten, deren sie bedarf.
Ist aber nicht eben dieser Zwang zur «Unterbringung» der Töne ein unerträglicher?
Wie kann man da frisch und unbefangen, wie beispielsweise Schubert, drauflos komponieren? Dagegen ist vor allem zu sagen, daß wir, in der Zeit der schon völlig aufgelösten Tonalität aufgewachsen, offenbar etwas übertriebene Vorstellungen von
Unbefangenheit entwickelt haben. Sie schien darin zu bestehen, daß jederzeit alles
passieren, unvermittelt alles neben allem stehen konnte. Die Frische und Unbefangenheit, die wir bei Schubert mit Recht bewundern, betätigt sich dort in einem ganz
außerordentlich begrenzten Rahmen. Wir sind das tonale System nur schon so sehr
gewöhnt, daß wir es als Begrenzung gar nicht mehr empfinden. Die Schwerelosigkeit
und Selbstverständlichkeit der «Forelle» zum Beispiel beruht aber nicht etwa darauf,
daß in diesem Kompositionsverfahren alles erlaubt und möglich war, sondern auf der
Genialität des Einfalls, der die Begrenzung zur Tugend macht; und nur darauf kommt
es an. Bestand die Bindung dort zwar nicht in dem Zwang zur Einhaltung der Reihe, so
war sie nicht minder gewaltig in der Beschränkung auf eine äußerst strenge harmonische Systematik. Ist diese, aus welchem Grunde immer, nicht gegeben, so muß eine
andere Art der Bindung aus geistesökonomischen Erwägungen unbedingt begrüßt
werden, sollen wir aus jenem Chaos herauskommen, das uns längst unbehaglich ist
und die Musik der Gegenwart mit Recht verdächtig gemacht hat.
Praktisch wirkt sich die neue Bindung zunächst etwa so aus, daß ein spontan gefaßter Einfall unter dem Zwang seiner Einordnung in das Reihensystem eine bestimmte
Weiterführung erfahren muß.
Wenn man wieder bedenkt, daß 48 Formen zur Verfügung stehen, auf die man das
vom Einfall Gelieferte beziehen kann, so ist das wahrlich Freiheit genug. Verlangte
aber nicht auch im tonalen System ein Einfall eine Weiterführung in einer Weise, die
den Gesetzlichkeiten jenes Systems entsprach? Erst als dieses schon aufgelöst war
– dies muß immer wiederholt werden – , schien es, als sei jede Verbindlichkeit aufgehoben und als könne nun in völliger Anarchie weitergewirtschaftet werden, was sich
eben als verderblich erwiesen hat.
Da, wie schon gesagt, der unerschöpfliche Formenreichtum einer Reihenordnung
praktisch jede Möglichkeit bietet, Elemente jeder Art melodisch und harmonisch zu
kombinieren, ist auch der Fall denkbar, streng nach dem Reihenprinzip zu arbeiten
und doch tonale Gesetzmäßigkeiten (Kadenzwirkungen und dergleichen) zur Geltung
zu bringen. Ob man das tun wird, hängt von Erwägungen anderer Art ab. Es spricht jedenfalls im Prinzip nichts dagegen, da die tonalen Elemente innerhalb des Reihensystems eine ganz andere konstruktive Bedeutung haben als außerhalb, und es beweist
nur die Weite und den Reichtum des Prinzips.
Damit ist auch ein Verdacht entkräftet, den wahrscheinlich jeder, der sich damit beschäftigt, zuerst instinktiv empfindet: da das Zwölftonsystem zuerst von Schönberg
ausgebildet wurde, befürchtet man zunächst, seine Anwendung werde automatisch
den «Schönberg-Stil» ergeben, jene charakteristische Häufung von Dissonanzen und
übermäßig gespannten Melodieschritten. Schon der erste Versuch ergibt, daß dem
nicht so ist. Das Reihenprinzip ist kein «ideologischer Überbau» zur theoretischen
Begründung der Ausdruckseigentümlichkeiten eines bestimmten Meisters, sondern
beläßt jedem die eigenen tonsprachlichen Charakteristika. (Im übrigen existiert ja der
«Schönberg-Stil» auch außer und vor dem Zwölftonsystem.)
Schließlich ist dem Einwand zu begegnen, daß dieses Verfahren, als ein rein arithmetisches, das Komponieren unmöglich und überflüssig mache, da es an seine Stelle eine mechanisch erlernbare Zählmethode setze. Jedem wirklichen Musiker muß
klar sein, daß dies ganz falsch ist, da das geschilderte Arbeitsverfahren außer einer
Ordnungsvorschrift für die Atome des musikalischen Organismus (Töne) keinerlei
Bindungen oder Erleichterungen vorsieht. Insbesondere bleibt das Harmonische vollkommen frei und nach wie vor dem schöpferischen Instinkt überlassen. Hier bedarf
es weiterhin der Ohren, um zu hören, des Gemüts, um zu empfinden, des Talents, um
richtig zu wählen, wie eh und je.
Kein Rezeptierbuch überhebt dieser wahren Aufgabe künstlerischer Begabung, das
Reihenprinzip leiht ihrer Betätigung aber immerhin einen gewissen sicheren Boden.
Es erweist sich somit nach dem Maß dessen, was es ordnet und wieviel es frei läßt,
als ein echt künstlerisches Ordnungsprinzip, das in einem amorph gewordenen Material gewisse neue Grundlinien der Gestaltungmöglichkeiten aufweist. Seine innere
ästhetische Wahrheit wird von der hochgradigen «Stimmigkeit» der nach ihm komponierten Musik erwiesen, die durch die außerordentliche Einheitlichkeit und Geschlossenheit bei größtem Formenreichtum und die beinahe astronomische Entsprechung
und Harmonie der Elemente einen besonderen Eindruck von Ernst und Würde hervorruft und so an die echtesten und schönsten Traditionen des Abendlandes anknüpft.
Ernst Krenek «Erfahrungen mit dem Zwölftonsystem» (1934)
ÜBER ARNOLD
SCHÖNBERG
Es gibt wohl kaum einen Komponisten – und die ganze Musikgeschichte dürfte kein
ähnliches Beispiel aufweisen – , dessen wesentliche Werke relativ so selten gespielt,
in ihrer tönenden Gestalt so wenig bekannt sind wie die Werke Arnold Schönbergs
und der dabei doch einen so tiefgreifenden und verwandelnden Einfluß auf seine gesamte Zeitgenossenschaft ausgeübt hätte wie dieser Meister.
Ernst Krenek
Welcher Ansicht man auch über die Musik Arnold Schönbergs sein mag – um einen
Komponisten als Beispiel zu nehmen, der sich auf der Grundlage entwickelte, die
technisch wie ästhetisch von der meinigen völlig verschieden ist und dessen Werke
oft heftigen Widerspruch oder ironisches Lächeln hervorgerufen haben – wer eine
wahre musikalische Kultur hat und ehrlich ist, wird fühlen, daß der Komponist des
Pierrot lunaire genau sich dessen bewußt ist, was er tut und daß er niemanden irreführt.
Igor Strawinsky
Schönbergs Musik tut dem Hörer Ehre an, in dem sie ihm nichts konzediert.
Theodor W. Adorno
Schönberg ist in seiner Art ein konservativer Geist zu nennen, weil das, was als sein
Fortschritt gilt, nur die restlose, treueste Erfüllung des Gesetzes, niemals dessen verantwortungslosen, leichtfertigen Bruch bedeutet.
Ernst Krenek
DAS ENSEMBLE
METROPOLIS
Die Konzerte werden vom exklusiven Ensemble Metropolis in ständig wechselnder
Besetzung – vom Duo bis zum Kammerorchester - gespielt. Das Ensemble besteht
aus hochkarätigen Musikern der führenden Schweizer Orchester, aus internationale
Preisträger sowie aus gefragten Kammermusikern und Solisten, die sich speziell als
Interpreten der Musik des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht haben.
DER MAIHOF
Der MaiHof bietet einen einzigartigen Ort mit idealen akustischen Voraussetzungen
für das Repertoire von MusikWerk Luzern. Die Kombination aus Stein und Holz, die
differenzierte Beleuchtung und die aufgelockerte Sitzordnung verleihen dem Konzert
eine besondere Intimität. Nach dem Konzert lädt die Bar Gäste und Musiker zum Austausch ein.
Der MaiHof Luzern • Weggismattstrasse 9, 6004 Luzern
KÜNSTLERISCHE
LEITUNG
Beni Santora Der Luzerner
Beni Santora wird seit seiner
Zeit beim Bayerischen Staatsorchester München als Solocellist von führenden Orchestern
in Europa eingeladen. 2006 war
er Mitglied des Lucerne Festival
Orchestra unter der Leitung von
Claudio Abbado. Er war Migros-Stipendiat und gewann Preise an zahlreichen internationalen
Wettbewerben. Seit 2007 ist er
auch als Dirigent tätig und setzt
sich intensiv mit den Ideen der
Musikgeschichte auseinander.
Adrian Meyer Nach Abschluss seiner Studien mit Auszeichnung ist Adrian Meyer als
Klarinettist im Luzerner Sinfonieorchester tätig. Gleichzeitig
unterrichtete er bereits an den
Musikschulen Küssnacht am Rigi
und Einsiedeln und baute diese
Tätigkeit in den letzten Jahren
weiter aus. Seit 2014 ist er auch
in der Projektleitung der Martinů
Festtage in Basel tätig.
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Inhalt & Texte: Beni Santora, Christian Reichart
Fotos: Ingo Hoehn
Design: Kaspar Allenbach
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