Politik

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Kontroverse
Tine Stein
Die Bergpredigt als das ganz Andere der –
modernen – Politik
Kann man plausibel von der Bergpredigt als einer
»Politik« des Evangeliums reden? Wenn die Bergpredigt als »Politik« des Evangeliums angesprochen wird, so wie in der (mit einem Fragezeichen
versehenen) Überschrift des Beitrags von François Vouga, dann liegt es nahe, darunter ein Programm für die ordnende Gestaltung der Gesellschaft zu verstehen im Sinne einer regulativen Anleitung für menschliches Verhalten. Und die Bergpredigt enthält grundlegende Anweisungen für
das zwischenmenschliche Verhalten, die die hergebrachten ablösen sollen: Im Kern sind es Gebote, die Friedfertigkeit, Vergeltungsverzicht und
ein Verhalten der unbedingten Solidarität, ja sogar
Liebe gegenüber dem Anderen einfordern. Nicht nur der
Inhalt, auch die Form von
Matthäus 5-7 als Rede weist
entsprechende Elemente auf,
die die Assoziation mit Politik wachrufen. Für das öffentliche Wirken Jesu ist
dieses Instrument eher ungewöhnlich, da er seine
ethische Lehre vornehmlich entweder durch Praxis vermittelt hat, indem er in dem sorgenden
Umgang mit den Schwachen, Kranken, Armen
und generell sozial Deklassierten ein Beispiel
gegeben hat, oder indem er mit dem Mittel des
Geschichten-Erzählens die ethischen Maßstäbe in
Gleichnissen entwickelte. Doch in der Bergpredigt ist als Vermittlungsform der ethischen Lehre
die programmatische Rede gewählt und so stellt
sich eine gedankliche Verbindung zur Politik ein,
da diese Form für die Politik typisch ist. Dass es
sich um eine Rede handelt, wird zu Beginn und
am Ende markiert, wenn das Verhältnis des Sprechers zu den Zuhörern Thema ist. Zu Beginn wird
deutlich, dass hier ein Anführer zu seiner Gefolgschaft spricht, allerdings mit einer über die Gefolgschaft hinausweisenden Botschaft (Mt 5,1),
und zum Ende wird betont, dass dieser Anführer
nicht einer der traditionellen Schriftgelehrten ist,
der eine religiöse Belehrung dargeboten hat, sondern aus eigener Vollmacht heraus spricht beziehungsweise Macht hat (Mt 7,29).
48
Aber das grundstürzend Neue des gesamten
Kontextes, in dem diese Rede steht, ist, dass es
dem Sprecher gerade nicht darum geht, diese Autorität einzusetzen, um die vorhandene weltliche
Machtordnung als solche und wie ein politischer
Führer zu übernehmen. Denn mit dem Evangelium als der geoffenbarten Verheißung auf das
kommende Gottesreich wird eine Unterscheidung
von Politik und Religion getroffen, die in der
Konsequenz auch eine institutionelle Trennung
von weltlich-politischer Ordnung und religiöser
Gemeinschaft nach sich zieht. Freilich bedeutet
diese gedankliche Unterscheidung und institutionelle Trennung auf der anderen Seite nicht, dass
die Offenbarung über die
göttliche Schöpfung der Welt
und des Menschen, seine Bindung an das göttliche Gesetz
sowie die Aussicht auf das
Gottesreich ohne Belang für
die Politik seien. Dafür ist der Inhalt der frohen
Botschaft wie auch der Normen für das menschliche Verhalten zu revolutionär – so ungeheuerlich,
so umstürzend müssen die Worte der Bergpredigt
den Zuhörern erschienen sein, dass diese »außer
sich gerieten« (Mt 7,28). Das kann nicht ohne
Wirkung auf die Politik bleiben. Aber deswegen
sollte man nicht den Inhalt der Botschaft mit
Politik verwechseln. Die Bergpredigt mit ihrer
Verbindung von Gesetz und Evangelium kann
sowohl das Verhältnis der christlichen Religion
zur weltlichen Politik als auch die Bedeutung der
ersteren für letztere wie mit einem Vergrößerungsglas erhellen. Das ist im Folgenden in drei
Schritten zu zeigen, in denen deutlich werden
sollte, dass hier die Grundthese von François
Vouga bekräftigt und vertieft wird, wonach nämlich die Relevanz der Bergpredigt für die Politik
nicht darin liegt, ein politisches Programm oder
eine politische Strategie bereitzuhalten, sondern
in den Konsequenzen, die von dem dort zu bergenden Menschenbild und Weltverhältnis für die
Politik ausgehen. Eine weiterführende These von
Jay Haley, die Vouga eingangs zitiert, nach der
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
Tine Stein
Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik
Foto: WZB / D. Ausserhofer
Tine Stein
Prof. Dr. phil.; geb. 1965, Professorin für Politikwissenschaft an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der
Universität Köln, M.A. und Promotion ebd.,
Habilitation an der FU Berlin. 1996 / 7 Visiting
Scholar an der New School for Social Research,
New York, 2005-2007 Vertretungsprofessorin
für Politische Theorie an der Universität Bremen,
2007-2008 Forschungsprojekt am WZB; WS 08 /
09 Vertretungsprofessorin für Vergleichende
Regierungslehre an der Universität Hamburg.
Forschungsgebiete: Politik und Religion, Politik
und Natur, Rechtliche Grundlagen der Politik,
Kosmopolitismus.
Wichtigste Veröffentlichungen: Himmlische
Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main / New York 2007; Interessenvertretung der Natur in den USA. Mit vergleichendem Blick auf die deutsche Rechtslage,
Baden-Baden 2002; Demokratie und Verfassung
an den Grenzen des Wachstums. Zur ökologischen Kritik und Reform des demokratischen
Verfassungsstaates, Opladen 1998.
Jesus auch die politische Macht in Palästina habe
ergreifen wollen, überzeugt allerdings nicht, was
es zunächst zu zeigen gilt.
1.
Unterscheidung und Trennung der
weltlichen von der geistlichen Sphäre
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der
erste Eindruck eines politischen Führers, der das
Formmittel der programmatischen Rede wählt,
im Verlauf der Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu nicht vertieft wird. Anders als am Berg
Sinai wird auf dem Berg am See Genezareth nicht
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
die Verkündung der Heilsbotschaft und die Darlegung religiöser Normen mit der Gründung
einer politischen Gemeinschaft verknüpft. Der
Bundesschluss am Sinai lässt die Stämme Israels
zu einem Volk werden, das auf ein Ziel hin orientiert ist, nämlich das gelobte Land zu erreichen,
und das sich durch den gemeinsamen, nämlich
»einmütigen« und »wie mit einer Stimme« gesprochenen (Ex 19,8; 24,3) Willensentschluss, den
Bund mit Gott einzugehen und seine Gebote zu
achten, als Volk unter den besonderen Schutz
Gottes gestellt weiß. Das Versprechen Gottes an
das Volk Israel für die Einhaltung des Bundes verknüpft durchaus eine materielle Dimension, nämlich den exklusiv für das auserwählte Volk vorgesehenen Ort zu erreichen, der ihm eine Heimat
geben soll, mit einer immateriellen Dimension,
nämlich dass sich das Volk gerecht verhalten und
damit dieses verheißenen Landes auch würdig
erweisen soll. Als die Israeliten es nach den langen
Jahren der Wanderschaft endlich erreichen, ist das
Land bekanntlich nicht so großartig wie ausgemalt. Denn es sind nicht nur gerechte Menschen,
die das Land neu besiedeln, da sie den Bund mit
Gott nicht mehr durchgängig einhalten. Ja, einige
nehmen sogar Züge der ägyptischen Sklavenhalter
an. Es kommt aber, wie Michael Walzer in seiner
Studie über Exodus und Revolution herausgestellt
hat, darauf an, nicht nur das Land physisch in
Besitz zu nehmen, sondern sein Verhalten nach
den göttlichen Geboten auszurichten: »Das Land
würde nie das sein, was es sein könnte, bis seine
neuen Bewohner all das waren, was sie sein soll1
ten.« Damit aus dem versprochenen Land auch
wirklich das gelobte Land der Verheißung werden
kann, müssen sich die Israeliten gerecht verhalten.
Es geht also nicht allein um ein Territorium, das
den Israeliten als rettendes Handeln Gottes versprochen ist, sondern um eine Ordnung, die sich
durch die Geltung von Gottes Geboten als
2
gerechte Ordnung erweist. Aber das verheißene
Land ist durchaus ein irdisch bestimmbarer Ort.
Von anderer Qualität ist die Verheißung des
Reiches Gottes in der Bergpredigt, welche dort in
der Verknüpfung mit dem göttlichen Gesetz im
Mittelpunkt steht. Das Reich Gottes, dessen
Kommen die Christen im Vaterunser erbitten,
weist nicht die irdische Qualität eines verheißenen
Landes auf, das sich mit einem topographisch
bestimmbaren Ort verbindet. Hier wird keine
49
Kontroverse
politische Gemeinschaft im Sinne eines exklusiv
3
erwählten Volkes begründet, sondern die Botschaft ist eine universale, die sich an alle richtet
und die die Völker zu einer Gemeinschaft, zur
Menschheit umgreift. Vor allem ist der Inhalt der
Botschaft nicht politisch im engeren Sinne. Denn
trotz des revolutionären Charakters der Forderungen ist die Intention nicht, ein weltlich-politisches Reich zu begründen. Die Unterscheidung
von geistlicher und weltlich-politischer Sphäre
wird im Verlauf der Berichte über Wirken und
Leben Jesu vertieft. So sind die Anforderungen,
die sich hinsichtlich des Reiches Gottes stellen,
ganz anderer Art, als die, die es dem weltlichpolitischen Reich gegenüber zu erfüllen gilt. In
der Zinsperikope bringt es Jesus auf die viel zitierte Formel, dass dem Kaiser zu geben sei, was des
Kaisers ist und Gott, was Gottes ist (Mk 12, 1317; Mt 22, 15-22): Steuern sind dem Kaiser zu entrichten, damit die weltlich-politische Ordnung
ihre Aufgaben erfüllen kann, aber keine Anbetung. Denn dem Kaiser kommen weder göttliche
Qualitäten zu, noch kann die weltlich-politische
Ordnung legitimerweise eine Aufgabe übernehmen wollen, die auf die »letzten Fragen« des
Lebens zielt. Der johanneische Jesus lässt diese
Unterscheidung noch deutlicher hervortreten. In
der Gerichtsszene erwidert er Pilatus auf dessen
Frage, ob er denn nun der König der Juden sei,
dass sein Reich beziehungsweise Königtum nicht
von dieser Welt sei (Joh 18,36). Auf das Insistieren
des Pilatus, ob er denn nun doch ein König sei –
und damit eine Bedrohung für den Machtanspruch des römischen Reiches darstellte –, gibt
Jesus eine Antwort, die Pilatus als Zeichen seiner
Unschuld werten wird: »Du sagst es, ich bin ein
König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt
gekommen, dass ich Zeugnis gebe für die Wahrheit. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf
meine Stimme« (Joh 18,37). Wahrheit ist keine
Kategorie, die in den Zuständigkeitsbereich der
Politik fällt, was, wie es scheint, selbst Pilatus anerkennt, der auf seine Frage »Was ist Wahrheit?«
eine Antwort gar nicht erst ab- beziehungsweise
erwartet. Wahrheit wird im Johannes-Evangelium
als der Weg, der zum Heil, zum Vater führt, vorgestellt (Joh 14,6). Das Heil fällt damit in den
Kompetenzbereich des Himmelreiches, wohingegen eine weltlich-politische Ordnung irdische
Zwecke zu erfüllen hat.
50
Damit wird die Politik relativiert und begrenzt
und die religionspolitische Einheit der römischen
Welt mit ihrer Verschmelzung von Religion und
Polis, die für das antike politische Denken kennzeichnend ist, aufgebrochen. Im römischen Imperium übernahm die (später so genannte) Zivilreligion eine Funktion für die Integration des Reiches. Einer solchen Funktionalisierung der Religion für politische Zwecke steht das jesuanische
Denken entgegen. Die christlich geprägte Geschichte der Spätantike und des Hochmittelalters
hat bekanntlich die umgekehrte Fluchtrichtung
aufgewiesen, nämlich die der Einbindung der
weltlich-politischen Ordnung für religiöse Zwecke, genauer: der Zuweisung einer Aufgabe im
Rahmen der Erreichung des Seelenheils. Die »res
publica christiana« und das Ringen um die Vormachtstellung zwischen Papst und Kaiser darf
freilich nicht den Blick darauf verstellen, das mit
dem christlichen Denken eine grundlegende
Unterscheidung von Politik und Religion Einzug
gehalten hat, die in der Konsequenz auch eine
institutionelle Trennung nach sich zieht. Die Notwendigkeit einer institutionellen Trennung ist
auch eine Konsequenz aus dem biblischen Menschenbild, was nun in einem zweiten Schritt im
Fokus auf die Bergpredigt zu erörtern sein wird.
Für den ersten Punkt bleibt festzuhalten, dass die
eingangs von François Vouga vorgetragene These
Haleys, wonach Jesus die paradoxe Taktik der
Ent-Mächtigung der Machtvollen durch die
Schwachen nicht bloß im Sinne einer generellen
Irritation angewandt habe, um den Mächtigen in
seiner Seins-Gewissheit zu erschüttern, sondern
um schließlich selbst die Macht in Palästina zu
ergreifen, nicht plausibel erscheint.
2.
Menschenbild
François Vouga ist zuzustimmen: Das Menschenbild, das in der Bergpredigt öffentlich präsentiert
wird, hat seinen ethischen Kern in der Anerkennung des Anderen als Person. Das stellt eine im
antiken Kontext ungeheure Veränderung dar:
Dass die Hinwendung zum Anderen nicht von
dessen sozialem Status abhängig ist. Denn damit
geht eine Abwertung der den sozialen Status begründenden Kriterien, nämlich Macht, Reichtum,
Weisheit einher. Die Anerkennung des Anderen
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
Tine Stein
Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik
ist unbedingt, denn seine besondere Qualität als
Mensch – jedes Menschen – ist in Gott verankert,
da alle Menschen gleich in ihrer Geschöpflichkeit
und Ebenbildlichkeit zu Gott sind. Es ist für den
Wert des Menschen daher unerheblich, ob er
reich, glücklich oder mächtig ist: Denn selig sind
die, die arm, traurig, machtlos sind (Mt 5, 3-5).
Die Unbedingtheit der Anerkennung wird in der
Bergpredigt insbesondere in zwei Dimensionen
entfaltet, sie ist erstens nicht auf Reziprozität angewiesen und sie gilt zweitens selbst den Feinden.
Zunächst zur Überwindung der Reziprozität:
Gewiss beruht die ideale Ordnung der Gemein4
schaft auf der »Gleichheit wechselseitiger Hilfe«
und etwa nicht auf Hierarchie. Auch soll man das
Verhalten, das man selber gerne erfahren würde,
selbst gegenüber anderen an den Tag legen, wie es
in der Goldenen Regel formuliert ist, die in allen
Weltreligionen eine Entsprechung findet: »Alles
nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen,
das tut ihnen auch!« (Mt 7,12).5 Aber das Besondere an dem ersten ethischen Imperativ der Bergpredigt ist, dass die Hilfe für den Anderen nicht
bedingt durch sein Hilfsangebot ist – es ist kein
Tauschgeschäft. Die Zurückweisung der Reziprozität wird mit dem Gebot der Feindesliebe verknüpft. Denn in den Antithesen stellt Jesus dem
alttestamentlichen Liebesgebot das umfassendere
Gebot der Feindesliebe gegenüber, nach dem auch
die zu lieben sind, von denen man selbst verfolgt
wird (Mt 5,44), um dann die Begründung gleich
nachzuliefern: »Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht
dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu
euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?« (Mt
5,46-47). Auch die vorangehende Antithese geht
über die dort insinuierte alttestamentliche Äquivalenz des Talionsprinzips, des Auge-um-AugeZahn-um-Zahn-Prinzips hinaus: »Und wenn
jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock
nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn
dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh
mit ihm zwei« (Mt 5,40-41). Eine sprachliche
Erinnerung an das Talionsprinzip blitzt allerdings
in der Vaterunser-Bitte auf, nun jedoch in ganz
anderer Konstellation, in der zwischen Gott und
den Menschen: »Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« (Mt
6,12). Die Menschen untereinander versprechen
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
sich also, die Schuld des jeweils anderen zu vergeben – ohne aber, dass eine Entschädigung, Wiedergutmachung oder entsprechende Bitte um Vergebung Voraussetzung ist. Die angesprochene
Schuld wird gemeinhin im moralischen Sinn
verstanden, worauf auch der nach dem Vaterunser
stehende Vers hinweist: »Denn wenn ihr den
Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird
euch euer himmlischer Vater auch vergeben« (Mt
6,14). Aber daneben sollte auch die Bedeutung
von Schuld im ökonomischen Sinne nicht vergessen werden, womit eine Kontinuität gegenüber
den alttestamentlichen Bestimmungen gegeben
ist, die vor Not und Armut durch Verschuldung
6
schützen sollen.
Wie die in der Bergpredigt im Zentrum stehende Forderung nach Nächstenliebe die zwischenmenschlichen Beziehungen in sozialer Hinsicht strukturieren soll, wird im WeinbergGleichnis und in der Geschichte vom barmherzigen Samariter illustriert. Im Weinberg-Gleichnis
soll auch derjenige vom Weinbergbesitzer den
Lohn für einen ganzen Tag erhalten, der nur eine
Stunde gearbeitet hat, denn dieser Lohn ist als
Existenzminimum notwendig, um eine Familie zu
7
ernähren (Mt 20,1-16). Damit wird das Prinzip
der Leistungsgerechtigkeit (gleicher Lohn für
gleiche Arbeit) hier nicht nur im übertragenen
Sinn, nämlich in religiöser Hinsicht relativiert,
dass also gerade »die Letzten« auf die göttliche
Gerechtigkeit und einen Platz im Himmelreich
hoffen können, sondern auch in irdischer Hinsicht: Auch die, denen bislang keine Arbeit für
einen ganzen Tag angeboten wurde, haben allein
aufgrund ihres Menschseins Anspruch auf die
Sicherung ihrer Existenz. In der Geschichte vom
barmherzigen Samariter lässt sich eine eindringliche Antwort finden, wer denn der Nächste ist,
den es zu lieben gilt (Lk 10,25-37). Jesus dreht
hier nämlich die Relation um: Auf die Frage des
Pharisäers, wer denn sein Nächster sei, gibt er am
Ende die Frage zurück, und fragt den Gesetzeslehrer, wer sich als der Nächste desjenigen erwiesen habe, der in Not war und dem selbstlos und
fürsorglich geholfen wurde, und das ist, wie auch
der Pharisäer zugeben muss, ausgerechnet ein
Vertreter jener Gruppe, die als Häretiker und
8
damit feindlich galt. Der Überfallene wird im
Übrigen nicht näher nach Gruppenzugehörigkeit
identifiziert. Für die gebotene Hilfeleistung soll
51
Kontroverse
also die soziale Nähe oder Ferne desjenigen, der bild, was dann in der Vernunftmetaphysik Kants
9
in Not ist, zu dem, der die Hilfe erbringen kann, eine säkulare Entsprechung gefunden hat. Die
politische Bedeutung des in der Bibel bewahrten
keine Rolle spielen.
Die ethische Forderung nach der Anerken- Menschenbildes, welches in der Bergpredigt als
nung des Anderen als Person hat ihr begründen- unbedingte Forderung nach Anerkennung des
des Fundament in der gleichen Geschöpflichkeit Anderen als Person und Verantwortung für desdes Menschen, die in der Menschwerdung Gottes sen Wohlergehen konkretisiert wird, zeigt sich in
in Jesus Christus bekräftigt wird. Diese Gleich- solchen Entscheidungen über die rechtlichen
heit ist unhintergehbar und sie schließt auch jene Grundlagen, die unser Zusammenleben ordnen –
und die auch anders hätten
ein, die von der Heilsbotausfallen können. Damit soll
schaft nicht berührt sind. Der
»Die politische Bedeutung des in
keineswegs behauptet werWert eines Menschen ist auch
der Bibel bewahrten
den, dass die Idee einer dem
nicht von den äußeren LeisMenschenbildes
(…)
zeigt
sich
in
Menschen als Menschen zutungen und Eigenschaften absolchen Entscheidungen über die
kommenden unantastbaren
hängig, schließlich lässt Gott
rechtlichen Grundlagen, die
Würde und daraus abzulei»seine Sonne aufgehen über
unser Zusammenleben ordnen –
tenden Rechten nur exklusiv
Böse und Gute und lässt regund die auch anders hätten
mit einem biblischen Vernen über Gerechte und Ungeausfallen können.«
ständnis unterfüttert werden
rechte« (Mt 5,45). Das ist ein
kann, noch dass diese Entkategorial anderes Menschenbild als eines, bei dem nur jene Träger von Würde scheidungen etwa wegen einer überwiegend
sind, die sich um das Gemeinwesen verdient christlichen Prägung der Akteure (was im übrigen
gemacht haben beziehungsweise aus solchen bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenverdienstvollen Familien kommen. Die römische rechte auch nicht der Fall gewesen ist) quasi mit
Begriffsbestimmung dignitas drückt in der Tat die Notwendigkeit so ausfallen mussten. Aber eine
Anerkennung für die für das Gemeinwesen wesentliche Quelle, der eine Bedeutung für die
erbrachte Leistung aus und wurzelt damit, wie Fortdauer dieses Menschenwürdeverständnisses
François Vouga richtig anspricht, in der Imma- als Schutz der Schwachen zukommt, stellt die
nenz der sozialen Ordnung. Aber das Interessante Sicht auf den Menschen in der Bergpredigt schon
ist ja, dass heute neben der Bedeutungsdimension dar. Damit ist der dritte und letzte Schritt der
von »Amt und Würden«, würdevollem Auftreten Erörterung erreicht.
und eben solchen auf Verdiensten und Leistung
beruhenden Würdezuschreibungen es eine weiteDie Bedeutung der Bergpredigt als
re und ganz andere Würdeauffassung gibt, näm- 3.
Spannungspol zur weltlich-politischen
lich jene, die das Wesen der menschlichen Person
Ordnung
in seiner unantastbaren Würde liegen sieht und
zwar allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur
Die Kontroverse über das rechte Verständnis der
Gattung Mensch.
Dieses Würdeverständnis ist für viele Rechts- Bergpredigt zwischen Programmschrift oder
ordnungen heute leitend, es zeigt sich besonders Utopie, zwischen kollektiver Handlungsanfordeeindringlich im deutschen Grundgesetz und auch rung für das Christenvolk oder Individualethik,
in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrech- zwischen unmittelbarem Verbindlichkeitsante. Von dem vorchristlichen römischen auf Leis- spruch oder in jedem Kontext neu zu bergendem
tung und Verdienst beruhendem Begriff dignitas Sinngehalt der Normen ist so intensiv geführt,
führt dahin kein Weg. Das Verständnis der Würde dass es erscheinen mag: Es ist zum Thema alles
als jedem Menschen qua Menschsein zukommen- gesagt. Entsprechend vielschichtig und beeindrude Auszeichnung hat vielmehr seine Wurzeln in ckend sind die Interpretationsvorschläge, die das
der Transformation des vorchristlich-römischen Dilemma zwischen der so wahrgenommenen moBegriffs durch das christliche Menschenbild mit ralischen Überforderung des Einzelnen einerseits
der Bestimmung des Menschen als Gottes Eben- und einer die Bergpredigt zur Beliebigkeit ver52
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
Tine Stein
Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik
dammenden Lesart andererseits entschärfen wol- Kritikfolie zu einem politischen Handlungsmuslen, und die auch eine Antwort suchen auf die ver- ter bereithält, das auf dem zweckrationalen Kalmeintliche oder tatsächliche Unangemessenheit kül der Nutzenorientierung der Beteiligten beruht und dabei die Frage nach
insbesondere der Forderung
der Güte und Gerechtigkeit
nach Gewaltlosigkeit für das
»Die Frage nach dem Sinn von
des Nutzens nicht mehr stellt.
gesellschaftliche und politi10
allem: Danach, woher wir
Die Politik bedarf dieser gesche Leben. In all den herkommen, warum wir hier sind
wissermaßen von einem exismeneutischen Aneignungstentiell anderen Standpunkt
versuchen, von der katholiund wohin wir gehen (…)
formulierten Perspektive, die
schen Zweistufen-Ethik über
wird nicht von der Politik
sie selbst nicht hervorbringen
die Luther’sche Unterscheibeantwortet.«
kann, da sie sich nur um vordung von Amt und Person
letzte Fragen kümmern kann
und den damit korrespondierenden unterschiedlichen ethischen Anforderun- und soll. Die Frage nach dem Sinn von allem: Dagen, von der Verinnerlichung der wahren Gesin- nach, woher wir kommen, warum wir hier sind
nung, auf die es ankomme, über die demütige Er- und wohin wir gehen, welche es uns ermöglicht,
kenntnis der eigenen Sündhaftigkeit zur Vermei- das Ganze unserer Existenz zu interpretieren,
dung von Selbstgerechtigkeit, bis hin zur Lesart wird nicht von der Politik beantwortet. Insofern
des Ausnahmezustands in Erwartung des nahen in der Bergpredigt von der eschatologischen Idee
Weltenendes und bis hin zur Betonung der kriti- des Reiches Gottes die Rede ist – die ja keine Utoschen Funktion, die in dem gelebten Radikalis- pie im Sinne eines futuristischen Nirgendwo,
mus derer liege, die nach der Bergpredigt zu leben eines nicht erreichbaren Zustands ist, sondern
suchten – in all diesen Interpretationsversuchen eine gegebene Verheißung, welche mit der
sei ein Wahrheitsmoment enthalten, sagen theolo- Menschwerdung Gottes bereits begonnen hat –
11
gische Stimmen. Mit diesen Interpretationen hat und dies mit der radikalen Kritik an bestehenden
man sich in der sozialwissenungerechten Zuständen verschaftlichen und politiktheobunden wird, kann mit ihr
»Aber entgegen den säkulariretischen Literatur gar nicht
der Politik der Spiegel des
sierten Heilsideen umfassender
erst lange aufgehalten, wie
ganz Anderen vorgehalten
gesellschaftlicher Lehren drängt
überhaupt das schwache Intewerden, das »Es-soll-andersdieses ›Es-soll-anders-sein‹ der
resse dort für die Bergpredigt
sein«. Aber entgegen den säBergpredigt nicht darauf,
als einen für die so genannte
kularisierten Heilsideen umdie Blaupause für die
abendländische Geschichte so
fassender gesellschaftlicher
Organisation der weltlichbedeutsamen Text erstaunlich
Lehren drängt dieses »Espolitischen Ordnung abzugeben.« soll-anders-sein« der Bergist. Dies hängt auch mit einem
herausragenden und einflusspredigt nicht darauf, die Blaureichen Denker des 20. Jahrhunderts zusammen. pause für die Organisation der weltlich-politiMax Weber hielt der Bergpredigt vor, sie stifte zu schen Ordnung abzugeben. Das ist der kardinale
einer Gesinnungsethik an, mittels der die Folgen Unterschied zu den totalitären säkularen Heilsetwa eines Gewaltverzichts ausgeblendet werden botschaften des 20. Jahrhunderts, die die Diffeund nur die vermeintliche Reinheit des eigenen renz von Immanenz und Transzendenz versuchHandelns relevant ist. Gerade in der Unbedingt- ten einzuebnen und damit auch die abendländiheit der Forderungen, die nicht nach den Umstän- sche Grundspannung als einer Gewaltentrennung
den fragt, sieht Weber das Problem der Bergpre- von weltlich und geistlich, die Jacob Taubes als
digt, die somit ungeeignet als ethische Richt- entscheidend für diese vom biblischen Denken
13
schnur für die Politik sei, da es dort immer darum geprägte Kultur angesehen hat. In der Bergpregehe, die jeweilige Situation zu bedenken und von digt wird noch eine andere Spannungsdimension
12
greifbar, nämlich die, die mit dem verheißenen
den Konsequenzen des Handelns her zu denken.
Aber was Weber dabei nicht in den Blick nimmt, Gottesreich verbunden ist, das »noch nicht« da,
ist, dass die Bergpredigt eine fundamentale aber zu erwarten ist, und das doch »schon« aufZNT 24 (12. Jg. 2009)
53
Kontroverse
scheint in dem menschlichen Verhalten der Friedfertigkeit, des Vergeltungsverzichts, der unbedingten Solidarität und Liebe zu dem Anderen als
gleichem Menschen. So hält die Bergpredigt das
14
ethische Feuer in jedem einzelnen Gläubigen
wach, um sowohl das eigene, individuelle Verhalten kritisch zu prüfen, wie auch die weltlich-politische Ordnung mit der Frage nach der wahren
Gerechtigkeit zu konfrontieren. Das gehört auch
zu den berühmten Voraussetzungen, die der
freiheitliche säkularisierte Staat nicht selbst garan15
tieren kann.
7
8
9
10
11
12
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
54
M. Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt a.M.
1995, 109.
Mit dieser Kontrastierung der Weisung am Berg Sinai
mit der Weisung am Berg des See Genezareth soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass die christliche Eschatologie keine jüdische Vorgeschichte habe,
insbesondere in der endgeschichtlichen Vorstellung,
wie sie in der Apokalyptik des Buchs Daniels entwickelt ist. Dort ist auch vom Menschensohn die Rede,
der am Ende der Tage mit den Wolken des Himmels
kommt (Dan 7,13). Es ist aber eine sehr ferne Zukunft,
in der der Messias kommen wird, und es ist eine diesseitige Vorstellung.
Allerdings lässt sich die Erwählung des Volkes Israels
auch im Sinne einer Stellvertretung für die Menschheit
deuten; dass es also nicht darum geht, andere auszuschließen, sondern das Volk Israel als Repräsentant
aller Menschen handeln zu sehen; siehe zu dieser Deutung H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen
des Judentums, Wiesbaden ³1995 (erstm. 1918), 278f. u.
502.
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien
christlicher Rechtsethik, Gütersloh ²1999, 133.
Vgl. dazu die Chicagoer »Erklärung zum Weltethos«
des Parlaments der Weltreligionen, Chicago 1993.
Vgl. dazu auch F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und
Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes,
13
14
15
München 1992, 268f: »Wer, wie die Bitte vorher zeigt,
um sein tägliches Brot bangt, für den sind Schulden
nichts bloß Spirituelles.«
Vgl. zu dieser Interpretation des Weinberg-Gleichnisses G. Roellecke: Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2004), 17-22.
Vgl. hierzu H. Geißler, Glaube und Gerechtigkeit.
Ignatianische Impulse, Würzburg ²2005, 33f.
Vgl. zu den begriffshistorischen Wegstationen m.w.
Lit. T. Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht.
Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin / New York 2007, 235ff.
Vgl. umfassend zu den Interpretationen der Bergpredigt M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre
Rezeption als kurze Darstellung des Christentums
(NET 2), Tübingen / Basel 2001.
G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen ³2001, 351f.
»Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen
Liebesethik heißt: ›dem Übel nicht widerstehen mit
Gewalt‹, – so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz:
du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist
du für seine Überhandnahme verantwortlich. (…) [E]s
ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –:
›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: daß
man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns
aufzukommen hat.« M. Weber, Politik als Beruf,
München / Leipzig 1919, 56f.
»Sie merken ja, was ich will von Schmitt – ihm zeigen,
daß die Gewaltentrennung zwischen weltlich und
geistlich absolut notwendig ist, diese Grenzziehung,
wenn die nicht gemacht wird, geht uns der abendländische Atem aus. Das wollte ich ihm gegen seinen totalitären Begriff zu Gemüte führen.« Taubes berichtet hier
von einem Gespräch, das er mit Carl Schmitt geführt
hat, siehe J. Taubes, Die Politische Theologie des
Paulus, München ²1995, 181.
Vgl. R. Leicht, Ihr seid das Salz der Erde, Gütersloh
1999.
E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als
Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und
christlicher Glaube in den Herausforderungen der
Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster 2004, 213-230 (erstm.
1967): 229.
ZNT 24 (12. Jg. 2009)
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