Die Integrationsbemühungen der Türkei aus ökonomischer Sicht Nr

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Die Integrationsbemühungen der Türkei
aus ökonomischer Sicht
von
Ansgar Belke und Nilgün Terzibas
Nr. 230/2003
DISKUSSIONSBEITRÄGE
AUS DEM
INSTITUT FÜR
VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE (520)
UNIVERSITÄT HOHENHEIM
70593 Stuttgart
ISSN 0930-8334
Die Integrationsbemühungen der Türkei
aus ökonomischer Sicht
von
Ansgar Belke und Nilgün Terzibas
Universität Hohenheim
Stuttgart
November 2003
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit soll einige ausgewählte Aspekte der Bemühungen der Türkei zur
Integration mit der Europäischen Union aus ökonomischer Sicht darstellen. Die nunmehr
Jahrzehnte andauernden Gespräche über eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EWG bzw.
EU wurden durch die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat während der Sitzung des
Europäischen Rates in Helsinki Dezember 1999 konkretisiert. Damit einhergehend steht die
Erfüllung der politischen und ökonomischen Kopenhagener Kriterien noch dringlicher im
Mittelpunkt. Seit dem ersten Regelmäßigen Bericht 1998 hat die Türkei einige Fortschritte
besonders im mikroökonomischen Bereich erzielt. Jedoch zeigen die letzten beiden Finanzund Währungskrisen, wie instabil und reformbedürftig das türkische Wirtschaftssystem
immer noch ist. Das Kriterium einer funktionierenden Markwirtschaft erfüllt die Türkei noch
nicht hinreichend. Auch ihre Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
innerhalb der Union standzuhalten ist derzeitig gering. Bei einem Beginn der Verhandlungen
im Herbst 2004 wird ein Beitritt der Türkei zur Union nicht vor 2010 gesehen. Die
verbleibende Zeit will, vor dem Hintergrund der anstehenden Herausforderungen, die auf
beide Seiten zukommen werden, gut genutzt sein. Als ein großes Agrarland mit mehr
Beschäftigten im Agrarsektor als in der gesamten EU-15 wird die Türkei durch die
Übernahme der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) mit umfangreichen Anpassungsproblemen
konfrontiert sein, die durch vorlaufende Mechanismen der Anpassung mit der EU
ausgeglichen werden könnten.
JEL-code:
Keywords:
F15, Q18
Agricultural policies, EU Integration, Turkey, Copenhagen economic criteria
Wir bedanken uns bei Daniel Gros und Frank Baumgärtner sowie bei den Teilnehmern der
Podiumsdiskussion „Kann die Türkei ein Teil der EU sein? Eine Würdigung und Analyse der
Integrationsbemühungen aus ökonomischer und kultureller Sicht“, am 27. Mai 2003, Turmforum
Stuttgart, European Association of Turkish Academics (EATA) Baden-Württemberg und Liberale
Türkisch-Deutsche Vereinigung Baden-Württemberg.) für ihre hilfreichen Kommentare und
Anregungen.
1. Einleitung
Die Erweiterung der EU um die mittel- und osteuropäischen sowie um zwei weitere Länder
ist seit den 90er Jahren ein zentrales Thema der europäischen Integration. Die erste Etappe der
Erweiterung ist mittlerweile in greifbarer Nähe. Im Mai 2004 werden zehn Beitrittsländer
(Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und
Zypern) in die EU aufgenommen. Als Beitrittsdatum für Bulgarien und Rumänien wird das
Jahr 2007 anvisiert. Für die Türkei steht immer noch kein konkreter Beitrittszeitpunkt fest,
obwohl sie lange vor diesen Staaten ein Assoziierungsabkommen mit der EWG geschlossen
hat. Die Diskussion über die Aufnahme der Türkei in die EU dauert nun schon Jahrzehnte.
Seitens der EWG bzw. der EU gab es immer wieder Bedenken gegen eine Vollmitgliedschaft
der Türkei. Gründe hierfür sind die politisch instabile Lage des Landes, die durch die nahezu
alle zehn Jahre aufgetretenen Militärinterventionen augenscheinlich wird oder die schwierig
einzuschätzende Menschenrechtslage. Auch kulturelle Differenzen zwischen der EU und der
Türkei werden - wenngleich im täglichen Diskurs nicht immer offen - als hinderlich
eingestuft. Die aktuelle negative wirtschaftliche Entwicklung der Türkei wirkt hierbei nicht
gerade besonders förderlich. Seit der Sitzung des Europäischen Rates in Helsinki im
Dezember 1999 ist die Türkei als Beitrittskandidat anerkannt und genießt die gleichen Rechte
wie die anderen Aspiranten.
Diese Arbeit stellt einige Aspekte der Integrationsbemühungen der Türkei aus ökonomischer
Sicht dar. Der folgende Abschnitt der Arbeit zeigt die bedeutendsten Meilensteine der
Beziehung zwischen der EWG bzw. EU und der Türkei auf. Nach kurzer Darstellung der
Kopenhagener Kriterien im dritten Kapitel wird im vierten Te il der Arbeit der Erfüllungsgrad
der wirtschaftlichen Kriterien durch die Türkei analysiert. Im fünften Teil der Arbeit werden
Wirkungsszenarien eines möglichen Beitritts der Türkei vorgestellt. Dabei wird besonderes
Gewicht auf die Tatsache gelegt, dass die Türkei ein großes Agrarland mit einem hohen
Anteil der Beschäftigung gerade in diesem Sektor ist. Der letzte Abschnitt fasst den Beitrag
zusammen.
2
2. Meilensteine der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei
Bereits 1959 bemühte sich die Türkei um eine Annäherung an die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Verhandlungen über einen Assoziierungsstatus
brachten das Ankara-Abkommen hervor, das am 1.12.1964 in Kraft trat. Dieses Abkommen
hatte zum Ziel, die Türkei und die EWG sukzessive - zuerst durch die Schaffung einer
Zollunion bis hin zu dem Endziel einer Vollmitgliedschaft - näher zu bringen. Dies sollte in
drei Etappen geschehen: In der Vorbereitungsphase von 5-9 Jahren sollte die EWG ihre Zölle
für türkische Importe fallen lassen. Während der Übergangsphase von 12-22 Jahren sollte die
Türkei der Abschaffung der Zölle folgen, um schließlich der Zollunion beizutreten. Für den
Eintritt in die letzte Periode waren die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft zu
erfüllen (Riemer, 2003, S. 41). Zwar erhielt die Türkei von der EWG den vorgesehenen
finanziellen Kreditbeistand; ineffektive Handelskonzessionen mit der Gemeinschaft führten
jedoch zu Ungleichgewichten in den Handelsströmen zu Lasten der Türkei. Die EWG
behinderte zudem durch formale Barrieren den ursprünglich vorgesehenen freien Verkehr von
natürlichen Personen, Dienstleistungen und Kapital. Nichtsdestotrotz bildet das Abkommen
von Ankara immer noch die rechtliche Basis der Assoziierung zwischen der Türkei und der
EU (Republic of Turkey, 2003).
Das Zusatzprotokoll vom 13. November 1970 stellte einen weiteren Schritt in Richtung
Zollunion dar. Es beinhaltet eine detaillierte Aufbauskizze der Zollunion. Neben der
beidseitigen Abschaffung der Zölle sollte sich die Türkei zudem um eine Harmonisierung der
Gesetze mit dem EG-Recht bemühen. Für türkische Agrarprodukte brachte das Protokoll
erhebliche Vorteile. Trotz der später in die EU eingetretenen Länder wie Griechenland,
Portugal und Spanien hat die Türkei heute noch eine privilegierte Position als Handelspartner
(Republic of Turkey, 2003).
Das bereits für 1979 geplante Einreichen des Aufnahmeantrags musste wegen starker
innenpolitischer Instabilität verschoben werden. Auch das Ankara-Abkommen wurde 1982
wegen der im September 1980 durchgeführten Militärintervention von der EG offiziell
ausgesetzt. Dadurch wurde die Türkei von Griechenland (1981) sowie Spanien und Portugal
(1986) durch ihren Eintritt in die EG überholt, was für die Türkei einen herben Rückschlag
bedeutete. Während des Militärregimes 1980-1983 schlug die Türkei einen neuen
wirtschaftspolitischen Kurs ein und wechselte von einer importsubstituierenden Wirtschaft zu
3
einer offenen exportorientierten Marktwirtschaft. Erst nach drei Jahren Militärherrschaft und
den freien Wahlen 1983 kehrte die erstarrte Beziehung der Türkei mit der EG zur Normalität
zurück. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen beantragte die Türkei 1987 die
Vollmitgliedschaft, die jedoch im Dezember 1989 vorerst abgelehnt wurde. Das Scheitern
wird auf die einseitige - auf wirtschaftliche Argumente gestützte - Strategie des
Ministerpräsidenten Özal zurückgeführt (Riemer, 2003, S. 41). Die EG untermauerte jedoch
den Bedarf nach einem umfassenden Kooperationsprogramm, das die Integration beiderseits
fördern sollte. Zudem wurde die Vollendung der Zollunion bis 1995 als Ziel formuliert.
Infolgedessen wurde das Ankara-Abkommen 1988 wieder in Kraft gesetzt und es wurde über
die Zollunion verhandelt. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Gemeinschaft
intensivierten sich und die Kommission versprach ein Kooperationspaket, das jedoch wegen
des griechischen Vetos im Rat nicht angenommen werden konnte (Republic of Turkey, 2003).
Die nahezu zeitgleichen einschneidenden politischen Ereignisse in Mittel- und Osteuropa, der
„Fall des eisernen Vorhangs“, zogen das Interesse der EU sehr schnell von der Türkei ab. In
den ersten Jahren des Umbruchs ging die EU zahlreiche wirtschaftspolitische Vereinbarungen
mit den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) ein. 1 Der wichtigste Schritt der
ökonomischen Annäherung war die Assoziierung der Staaten gemäß Art. 310 EG-Vertrag
durch die so genannten Europaabkommen, die bis heute die juristische Grundlage für das
Verhältnis der MOEL zur EU sind und analog zum Ankara-Abkommen gesehen werden
können. Die charakteristische Asymmetrie der Marktöffnung zugunsten der assoziierten
Staaten wurde auch bei den MOEL verwirklicht. 2 Die Tagung des Europäischen Rates in
Kopenhagen im Juni 1993 war der politische Auftakt der EU-Osterweiterung. Dort wurde
erstmals von Seiten der EU-Staaten die grundsätzliche Bereitschaft zur Aufnahme von
Ländern Mittel- und Osteuropas erklärt. Diese wurde jedoch mit einem Katalog von
Bedingungen - den so genannten Kopenhagener Kriterien – verknüpft (Republic of Turkey,
2003).
Durch die im Jahre 1994 stattfindenden Verhandlungen mit der EU über die Zollunion
erhoffte sich die Türkei wieder Dynamik in den Prozess zur Erlangung einer
1
Hierzu gehörten die Koordination des multilateralen PHARE-Programms, der Abschluss von ‚Handels- und
Kooperationsabkommen‘, die Aufnahme der MOEL in das ‚Allgemeine Präferenzzollsystem‘ der EU und die Aussetzung
von nicht-tarifären Handelshemmnissen.
2
Die EU öffnete nach Inkrafttreten der Verträge ihren Markt zwischen dem 1. und 4. Jahr, während die assoziierten Staaten
diesen Schritt erst zwischen dem 3. und 7. Jahr vollzogen. Vgl. Belke und Hebler (2002), S. 51ff.
4
Vollmitgliedschaft zu bringen. Die Gespräche endeten im März 1995 mit der Gründung der
Zollunion; darüber hinaus reichende Fortschritte wurden nicht erzielt. Auch hatte die
Zollunion keine gravierenden Effekte auf das Handelsvolumen zwischen der Türkei und der
EU (Esfahani, 2003). Zudem funktioniert sie bislang nicht optimal. Viele Fragen sind noch
offen, die während des Integrationsprozesses gelöst werden müssen: Warum wird die Türkei
an den Gesprächen der EU mit Partnerländern über Handelsabkommen nicht beteiligt? Wie
werden Zolleinkünfte verteilt? Wie sollen Re- Exporte und der Dreiecksha ndel beispielsweise
mit den Mittelmeeranrainerstaaten behandelt werden?
Im April 1997 bestätigte der Europäische Rat die Eignung der Türkei für die
Vollmitgliedschaft
und
beauftragte
die
Kommission,
einen
Strategievorschlag
zur
Heranführung der Türkei an die EU zu erstellen. Parallel hierzu wurde auf der Grundlage der
Kopenhagener Kriterien von der EU-Kommission im Fortschrittsbericht vom Juli 1997 die
Empfehlung ausgesprochen, zunächst nur mit Estland, Polen, Ungarn, Slowenien und
Tschechien Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Der Europäische Rat folgte auf seiner
Sitzung in Luxemburg im Dezember 1997 diesem Vorschlag, bestätigte die im
Aktionsprogramm „Agenda 2000“ vorgestellte Erweiterungsstrategie und nahm am 30. März
1998 die Verhandlungen mit den genannten fünf MOEL (und Zypern) auf. Die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit den anderen fünf MOEL wurde mit der Begründung, dass in
diesen Staaten noch keine funktionierende Marktwirtschaft etabliert sei, vorerst abgelehnt.
Auch wurden mit den zehn Beitrittskandidaten die Be itrittspartnerschaften beschlossen. Zur
Umsetzung der Anforderungen der Beitrittspartnerschaften, entwickelten die MOEL so
genannte „Nationale Programme zur Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes“. 3 Die
Türkei
wurde
jedoch
im
Bericht
der
Kommission
„Agenda
2000“
über
den
Erweiterungsprozess außen vor gelassen. Von der EU wurden zwar einige Vorschläge
bezüglich der Handelsliberalisierung von Dienstleistung und Konsumentenschutz u. a.
gemacht; jedoch wurden zur Erfüllung dieser Vorschläge immer wieder politische Argumente
als Bedingung formuliert. Die Türkei kritisierte diese Haltung der EU und weigerte sich, über
Aspekte, die außerhalb der beabsichtigten Vereinbarungen lagen, zu diskutieren. Damit
einhergehend nahm die Türkei auc h nicht an der Europäischen Konferenz im März 1998 teil.
Die von der Kommission veröffentlichte Empfehlung für eine „Europäische Strategie“ vom 4.
3
Auf dem Weg zur Mitgliedschaft werden die Kandidatenländer somit durch eine auf Gemeinschaftsebene formulierte
Heranführungsstrategie unterstützt, die aus den Assoziationsabkommen (Europaabkommen), Vorbeitrittshilfen im
Rahmen des PHARE-Programms und den oben angeführten Beitrittspartnerschaften besteht. Vgl. Vgl. Belke und Hebler
(2002), S. 3ff.
5
März 1998 war schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt, weil die hierfür erforderlichen
Finanzmittel nicht zur Verfügung standen. Seitens der Türkei wurde dieses Verhalten der EU
als Rückschritt in den Beziehungen gesehen. Obwohl die EU immer wieder betonte, dass alle
Kandidaten gemäß objektiver Kriterien beurteilt werden, sah sich die Türkei durch die
Entscheid ung der Kommission diskriminiert (Republic of Turkey, 2003).
Erst während des Gipfeltreffens in Cardiff im Juni 1998 verbesserten sich die Beziehungen
aufgrund der engagierten Bemühungen, eine Lösung für die Finanzierung zu finden. Trotz der
zunehmenden Unterstützung eines Türkei-Beitritts, insbesondere durch die neu gewählte rotgrüne Regierung in Deutschland, kamen die Verhandlungen nicht weiter. Erst nach den
Erdbeben im Sommer 1999 lockerte sich die Beziehung zwischen der EU und der Türkei
aufgrund vo n Gesprächen über Hilfsgelder auf.
Während der Sitzung des Europäischen Rates in Helsinki am 10. und 11. Dezember 1999
wurde die Türkei schließlich als Beitrittskandidat anerkannt. Dies wurde durch die
Empfehlung der Kommission vom Oktober 1999 ermöglicht. Hervorzuheben ist hier, dass an
diese Erklärung keine Bedingungen geknüpft sind, aber auch keine Zeitperspektive gegeben
wurde. Mit diesem Status erhält die Türkei Finanzmittel zur Beitrittsvorbereitung. Damit
verbunden ist auch eine Beitrittspartnerschaft, die mit einem Nationalen Programm für die
Übernahme des Acquis communautaire verbunden ist. Für diese doch letztlich
überraschende Entscheidung der EU werden unterschiedliche Gründe genannt. Zum einen
sollte die schlechte politische Beziehung der EU zur Türkei verbessert werden. Die positive
Entwicklung der Beziehung der Türkei mit Griechenland war hierbei sicherlich förderlich. Ob
jedoch der vor allem wohl geostrategisch motivierte Druck der USA auf die EU, die Türkei
als Beitrittskandidaten zu klassifizieren, wirklich ein weiterer Faktor war, ist umstritten.
Nach dem Helsinki- Gipfel bereitete die EU-Kommission eine Beitrittspartnerschaft für die
Türkei vor, die am 8. März 2001 übernommen wurde, woraufhin die Türkei ihr Nationales
Programm für die Übernahme des Acquis communautaire am 26. März 2001 verkündete. Es
wurden bereits innerhalb der Sitzungen des Türkei-EU-Beitrittsrates die Harmonisierung der
türkischen Gesetze mit dem Acquis communautaire analysiert und die ersten Schritte im
Nationalen
Programm
festgelegt.
Die
Türkei
sieht
in
der
Eröffnung
der
Beitrittsverhandlungen den nächsten wichtigen Schritt. Davor gilt es jedoch das politische
Kopenhagener Kriterium zu erfüllen (siehe Abschnitt 3). Der Europäische Rat in Laeken war
6
ein weiterer Meilenstein für die europäisch-türkischen Beziehungen. Hier wurden erstmals die
Beitrittsverhandlungen erwähnt und die Türkei nahm - wie auch die anderen Beitrittsländer am Konvent über die Zukunft Europas teil (Republic of Turkey, 2003).
Der regelmäßige Fortschrittsbericht 4 wurde auch 2002 für die Türkei erstellt und beim Gipfel
von Kopenhagen vorgelegt. Jedoch konnte die Türkei während des Gipfels keinen
bestimmten Termin für den Verhandlungsbeginn erhalten. Erst im Dezember 2004 soll der
Europäische Rat auf der Grundlage eines weiteren Berichts über die Erfüllung der politischen
Kopenhagener Kriterien und einer Empfehlung der Kommission über den Beginn von
Beitrittsverhandlungen entscheiden.
3. Kopenhagener Kriterien
Die Bereitschaft der EU, neue Mitglieder aufzunehmen, wurde mit einem Katalog von
Bedingungen - den so genannten Kopenhagener Kriterien - verknüpft, die von Seiten der
beitrittswilligen Staaten als Voraussetzung für den Beitritt zu erfüllen sind.
„Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als
Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte
sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben (politisches Kriterium,
Anmerkung d. Verf.); sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit,
dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten (wirtschaftliches
Kriterium, Anmerkung d. Verf.). Die Mitgliedschaft setzt ferner voraus, dass die einzelnen
Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich
auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen
können (Kriterium der Übernahme des Acquis communautaire, Anmerkung d. Verf.)“ (Europäischer
Rat, 1993).
Der Werdegang der Beziehungen zwischen den Beitrittsländern und der EU und der
Fortschritt der Aspiranten auf dem Weg zum Beitritt werden seit November 1998 in einem
regelmäßig erstellten Bericht der Europäischen Kommission ausführlich bewertet. Dieser
Bericht, auch Fortschrittsbericht genannt, ist gemäß der oben genannten Kopenhagener
4
Seit 1998 veröffentlicht die EU-Kommission jedes Jahr im Herbst jährliche Erweiterungsberichte („Enlargement
Commission Reports“) über die Fortschritte der Kandidaten bei der Umsetzung der Beitrittspartnerschaften. Neben den
Berichten der Kommission nehmen die Studien der Weltbank über die wirtschaftliche und soziale Lage der EUKandidatenländer hinsichtlich der Beurteilung der EU-Beitrittsfähigkeit dieser Länder an Bedeutung zu.
7
Kriterien gegliedert: politisches Kriterium, wirtschaftliche Kriterien und Kriterium der
Übernahme des Acquis communautaire (Belke und Hebler, 2002, S. 5ff.).
Da sich dieser Beitrag mit den wirtschaftlichen Aspekten des Beitritts der Türkei zur EU
befasst, werden wir im Folgenden hauptsächlich auf die wirtschaftlichen Kriterien eingehen.
Hierzu
gehören
eine
funktionierende
Marktwirtschaft
und
die
Fähigkeit,
dem
Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten.
Ein großes Problem für die Kommission war die äußerst vage Formulierung der
Kopenhagener Kriterien. Zum Beispiel ist es keineswegs unumstritten, was eine
funktionierende Marktwirtschaft ausmacht. Dieses Kriterium war trotzdem ausschlaggebend
dafür, mit welchen Staaten zuerst Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden. Die
Kommission entwickelte zur Evaluierung der Fortschritte der Kand idaten die folgenden
Unterkriterien:
Das Bestehen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft wird auf Basis folgender Faktoren
bewertet:
•
Die makroökonomische Stabilität ist gewährleistet, einschließlich einer angemessenen
Preisstabilität und tragfähiger öffentlicher Finanzen und Außenwirtschaftsbilanzen;
•
Das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage wird durch das freie Spiel der
Marktkräfte hergestellt; die Preise sowie der Handel sind liberalisiert;
•
Der Finanzsektor ist ausreichend entwickelt, um die Spargelder in produktive
Investitionen zu lenken;
•
Nennenswerte Schranken für den Markteintritt (Gründung von Unternehmen) und den
Marktaustritt (Konkurse) bestehen nicht;
• Breiter Konsens besteht über die Eckpunkte der Wirtschaftspolitik;
• Der Rechtsrahmen ist geschaffen, einschließlich der Regelung der Eigentumsrechte; die
Durchsetzung der Gesetze und Verträge ist gewährleistet (EU-Kommission, 1998, S. 8).
Als Voraussetzung für die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
innerhalb der Union standzuhalten, sieht die Kommission folgende Faktoren als notwendig
an:
•
das Vorhandensein einer Marktwirtschaft und eines stabilen makroökonomischen
Rahmens;
8
•
ausreichendes Humankapital;
•
materielle Mittel einschließlich Infrastrukturen;
•
die Beeinflussung der Wettbewerbsfähigkeit durch Politik und Rechtsetzung und
•
die Integration des Handels mit der Union.
Im nächsten Abschnitt soll die ökonomische Entwicklung und aktuelle Lage der Türkei
gemäß der von der Kommission vorgenommenen Einteilung näher beleuchtet werden.
4. Wirtschaftlicher Status quo der Türkei
Neben der entscheidenden Frage, ob die Türkei die politischen Kriterien erfüllt, um der EU
beizutreten, spielt die wirtschaftliche Situation der Türkei auch eine große Rolle. Im
Folgenden soll das Kriterium einer funktionsfähigen Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem
Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, für die Türkei
geprüft werden.
4.1. Funktionsfähige Marktwirtschaft
Die Europäische Kommission führt makroökonomische Stabilität mit einer angemessenen
Preisstabilität
und
tragfähigen
Außenwirtschaftsbilanzen
als
öffentlichen
unterstützendes
Finanzen
sowie
ausgeglichenen
Element
einer
funktionierenden
Marktwirtschaft an.
Seit der wirtschaftspolitischen Wende im Jahre 1980 wandelte sich die Türkei von einer
importsubstituierenden Wirtschaft mit staatlichen Eingriffen zu einer Marktwirtschaft mit
Exportorientierung. Diese fundamentale Umgestaltung wurde damals mit dem Internationalen
Währungsfonds (IWF) ausgearbeitet und deren Durchführung von ihm begleitet. Zu den
umfassenden Maßnahmen gehörten die Freigabe der Wechselkurse, die Liberalisierung des
Außenhandels und die Förderung des Exports. Mit der Neuorientierung der Volkswirtschaft
erlebte die Türkei in den achtziger Jahren anhaltend hohe Wachstumsraten: In der Periode
zwischen 1980 und 1987 wuchs die Wirtschaft mit einer jährlichen Durchschnittsrate von real
9
5,4 % und verzeichnete damit die höchste Wachstumsrate der OECD-Staaten (Steinbach, 2003,
S. 50).
Diese positive Entwicklung wurde jedoch durch die aufkommende innenpolitische Instabilität
Ende der achtziger Jahre gebremst. Die nachlässige und expansive Finanzpolitik führte zu
hohen Budgetdefiziten, die zusammen mit der Ankurbelung der Notenpresse hohe
Inflationsraten mit sich brachten. Die Wirtschaft ist seit Ende der achtziger Jahre durch eine
so genannte Boom-and-Bust-Ökonomie, d. h. eine zeitliche Abfolge überhitzter Konjunkturen
mit hohen Wachstumsraten und tiefen Rezessionen, gekennzeichnet (siehe Schaubild 1). Die
starken Schwankungen der Wachstumsraten zeigen die Empfindlichkeit der Volkswirtschaft
gegenüber externen und internen Schocks auf. Jedoch war die türkische Wirtschaft bisher als
Kehrseite der Medaille auch fähig, sich schnell und sogar „überschießend“ zu erho len.
Trotzdem bietet der volatile Charakter der Volkswirtschaft den Wirtschaftssubjekten keine
hinreichende Basis für eine gesunde und nachhaltige Wirtschaftstätigkeit, denn die hohe
Sicherheit über Ertragsraten dämpfte unter anderem die Investitionstätigkeit („Optionswert
des Wartens bei Unsicherheit“).
Schaubild 1:
Die Türkei: Eine Boom-and-Bust-Ökonomie
%
15
10
5
0
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
-5
-10
Wachstumsrate des BIP
Durchschnittliche Wachstumsrate
Quelle: CBRT (Central Bank of the Republic Turkey ) und SIS (State Institute of Statistics)
Daneben war die anhaltend hohe Inflation das größte Sorgenkind der Wirtschaftspolitik. Sie
entwertete das Vermögen der Sparer und schaffte soziale Spannungen. Verschiedene
10
Stabilisierungsmaßnahmen5 wurden durch inkonsequente Finanzpolitik untergraben. Die
Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist für die Türkei immer noch ein schwieriges
Unterfangen (siehe Schaubild 2). Zum Teil scheiterten bisherige Versuche an externen
Faktoren, wie die Erdbeben 1999 und die Finanzkrise 2000/2001 mit der darauf folgenden
Neustrukturierung des Bankensektors, sowie zum großen Teil durch die laxe und
inkonsequente Handhabung durch die regierenden Parteien. Das gesamtstaatliche Defizit, das
hauptsächlich durch hohe Zinszahlungen bestimmt wird, schwankte sehr stark. Die Aussicht
auf einen EU- bzw. EWWU-Beitritt der Türkei, könnte durch die Schaffung von
Glaubwürdigkeit zu sinkenden Zinsen und somit auch zu sinkenden Zinslasten des Staates
führen. Dies konnte ebenfalls in der Pre-Euro-Phase für Italien beobachtet werden.
Schaubild 2:
Öffentliche Finanzen der Türkei
120
0
-5
100
-10
80
-15
60
-20
40
-25
20
-30
0
-35
1997
1998
1999
2000
2001
Konsolidierter Bruttoschuldenstand in Prozent des BIP
Konsolidierter Finanzierungssaldo des Staates in Prozent des BIP
Quelle: EU-Kommission, 2002
Die Inflationsrate betrug zwischen 1988 und 2002 durchschnittlich etwa 70 % (siehe
Schaubild 3). Mit dem Stabilisierungsprogramm, das Anfang 2000 im Rahmen eines
Wechselkurssystems mit gleitender Paritätsanpassung („Crawling peg“) gestartet wurde,
sollte die Senkung der Inflation vorangetrieben werden. Dies wurde auch 2000 mit dem
anfänglichen Vertrauen der Märkte in das Programm erreicht. Da jedoch die Liquidität der
Geldmärkte durch dieses System stark von Kapitalzuflüssen und -abflüssen abhing und mit
abnehmendem Vertrauen die Kapitalabflüsse zunahmen, fanden sich die türkischen
5
Siehe hierzu Ertugrul und Selcuk, 2001.
11
Finanzmärkte Ende 2000 in einem signifikanten Liquiditätsengpass wieder (Europäische
Kommission 2002, S. 59f.).
Die hierauf folgende Wirtschafts- und Währungskrise zwang die Politik, den Wechselkurs frei
floaten zu lassen, was wiederum eine erhebliche Abwertung der türkischen Lira und
Inflationsraten von über 100 % mit sich brachte. Bis Ende 2002 konnte die Inflation soweit
wieder stabilisiert werden. Mit einer Teuerungsrate von 29,8 % zum Jahresende wurde das
Inflationsziel von 35 % deutlich unterschritten (Europäische Kommission, 2003, S. 54). Diese
positive Tendenz konnte auch in diesem Jahr beobachtet werden. Jedoch bleibt die Inflation
immer
noch
ein
unberechenbarer
Aspekt
in
der
türkischen
Wirtschaft,
der
Wirtschaftssubjekten kein geeignetes Tätigkeitsumfeld bietet.
Schaubild 3:
%
Türkei: Anhaltend hohe Inflation
160
140
120
100
80
60
40
20
Ja
n8
M 9
ay
-89
Se
p-8
9
Ja
n9
M 0
ay
-9
Se 0
p-9
0
Ja
n9
M 1
ay
-9
Se 1
p-9
1
Ja
n9
M 2
ay
-9
Se 2
p-9
2
Ja
n9
M 3
ay
-93
Se
p-9
3
Ja
n9
M 4
ay
-9
Se 4
p-9
4
Ja
n9
M 5
ay
-9
Se 5
p-9
5
Ja
n9
M 6
ay
-9
Se 6
p-9
6
Ja
n9
M 7
ay
-97
Se
p-9
7
Ja
n9
M 8
ay
-9
Se 8
p-9
8
Ja
n9
M 9
ay
-9
Se 9
p-9
9
Ja
n0
M 0
ay
-0
Se 0
p-0
0
Ja
n0
M 1
ay
-0
Se 1
p-0
1
Ja
n0
M 2
ay
-0
Se 2
p-0
2
Ja
n0
M 3
ay
-03
0
Veränderungen des Verbraucherpreisindex
Veränderungen des Großhandelspreisindex
Durchschnittliche Inflationsrate (VPI)
Quelle: CBRT und SIS
Die türkische Zahlungsbilanz unterliegt seit Ende der achtziger Jahre einer starken Volatilität
(siehe Schaubild 4). Die Wechselhaftigkeit der Handels- bzw. Leistungsbilanz zeigt sich
besonders in den letzten Jahren. Im Jahr 2000 wies die Leistungsbilanz ein Defizit von knapp
10 Milliarden US-Dollar auf, im darauf folgenden Jahr gab es bereits einen Überschuss von
ca. 3,4 Milliarden US-Dollar und letztes Jahr verzeichnete die Türkei erneut ein Defizit in
Höhe von etwa 1,8 Milliarden US-Dollar. Das Verhältnis zwischen dem Leistungsbilanzsaldo
und dem Bruttoinlandsprodukt zeigt ein analoges Bild: Im Jahr 2000 wurde die Bilanz mit
einem Defizit von 4,9 % abgeschlossen und im darauf folgenden Jahr mit einem Überschuss
12
von 2,3%. Im Jahr 2002 wies die Leistungsbilanz ein geringfügiges Defizit aus, das sich in
diesem Jahr fortsetzt. Diese Entwicklung ist unter anderem auf die starken Schwankungen des
Wechselkurses und die starken Produktionsschwankungen, die durch die Wirtschafts- und
Finanzkrise verursacht sind, zurückzuführen. Den Grund für die Verschlechterung der
Zahlungsbilanz in diesem Jahr sieht die Europäische Kommission hauptsächlich in der
Erholung der Wirtschaft. Die höheren Ölpreise während des Irakkriegs, die anhaltende
Tendenz zur Aufstockung der Lagerbestände und die Erholung der türkischen Währung
werden für die gestiegene Importe verantwortlich gemacht (EU-Kommission, 2003, S. 53).
Schaubild 4:
Leistungs- und Handelsbilanz der Türkei, in Mio. US Dollar
6000
4000
2000
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
0
-2000
-4000
-6000
-8000
-10000
-12000
Leistungsbilanz
Handelsbilanz
Quelle: CBRT und SIS
Auch die Beschäftigung ist von der Wirtschaftskrise 2000/2001 stark betroffen (siehe
Schaubild 5). Die Arbeitslosenquote wuchs von 6,6 % im Jahre 2000 auf 8,5 % im folgenden
Jahr. Für das Jahr 2002 und in der ersten Jahreshälfte von 2003 kann zwar eine hö here
Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt verzeichnet werden, diese wird jedoch durch eine
gleichzeitige Zunahme der Erwerbsbevölkerung mehr als ausgeglichen, womit die
Erwerbsquote von 50,6 % Mitte 2002 auf 49,4 % Mitte 2003 sank (EU-Kommission, 2003, S.
53). Da die offiziellen Statistiken noch nicht alle Beschäftigten bzw. Arbeitslosen erfassen,
kann jedoch auch wegen des großen informellen Sektors von einer viel höheren Rate
ausgegangen werden. Dieser Aspekt ist vor dem Hintergrund des EU-Beitritts der Türkei von
13
großem Interesse, da ähnlich wie bei den zehn Beitrittsländern auch bei der Türkei die
Diskussion um potenzielle Migrationsströme aufkommen wird.
Zusammenfassend kann für die Aspekte Preisniveau- und makroökonomische Stabilität sowie
öffentliche Fina nzen und Außenwirtschaftsbilanzen konstatiert werden, dass die türkische
Wirtschaft
immer
Wirtschaftssubjekte
noch
starken
Schwankungen
Unsicherheiten
induziert.
unterliegt
In
und
Anbetracht
somit
des
für
die
laufenden
Stabilisierungsprogramms können erste Erfolge verzeichnet werden. Ob diese von
kurzfristiger Natur sind oder eine langfristige Perspektive haben, ist auch stark von der
politischen Stabilität der Türkei abhängig.
Folgt man der Kommission, gehört auch zu einer funktionsfähigen Marktwirtschaft, dass
innerhalb des Marktes das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage durch das freie
Spiel der Marktkräfte hergestellt wird. Praktisch bedeutet das, dass die Preise vom Markt
bestimmt werden und nicht durch den Staat reguliert oder vorgegeben sind. Wobei dies auch
bei freier Marktwirtschaft durch die Existenz von staatlichen Unternehmen, die nicht nach
betriebswirtschaftlichen Zielen geführt werden, untergraben werden kann.
Beschäftigung in der Türkei
60
12
50
10
40
8
30
6
20
4
10
2
0
0
1997
1998
1999
Erwerbsquote (15-64), insgesamt
2000
2001
2002
Arbeitslosenquote, insgesamt
Schaubild 5:
Quelle: EU-Kommission, 2002
14
Bei näherer Betrachtung der türkischen Marktstrukturen kann festgestellt werden, dass der
Staat immer noch einen großen Einfluss auf die Märkte hat. Die türkische Wirtschaft wird
immer noch von staatseigenen Banken und Betrieben, die vor allem im Energie-,
Telekommunikations- und auch im Agrarsektor tätig sind, beherrscht. Beispielsweise befand
sich im Jahre 2001 mehr als die Hälfte des Vermögens im Bankensektor (siehe Schaubild 6)
in den Händen staatlich kontrollierter Banken (inklusive der öffentlichen Entwicklungs- und
Investitionsbanken). Bei der Kreditvergabe an Agrarbetriebe und an kleine und mittelgroße
Unternehmen haben staatliche Banken faktisch immer noch eine Monopolstellung.
Vergleicht man die Anzahl der staatlichen Banken mit derjenigen der privaten Banken,
erkennt man, dass erstere zu den größten im Lande zählen und den Markt beherrschen. Das
Vermögen staatlicher Banken machte 2001 etwa ein Drittel des BSP aus, der Anteil der
privaten Banken betrug 2002 rund 56 %.
Es passt ins Bild einer unzureichenden Ordnungspolitik, dass die Türkische Finanzkrise im
Jahr 2001 ein typisches Beispiel für eine „Too big to fail“-Politik des türkischen Staates war.
Im Jahr 2001 wurde sehr bald deutlich, dass der IWF der Türkei erst dann ein neues
Beistandsprogramm
gewähren
würde,
wenn
die
Regierung
ein
glaubwürdiges
Reformprogramm vorgelegt hat. Es war aber schon damals absehbar, dass ein bedeutender
Teil der Mittel in die Sanierung der staatlichen Banken fließen würde, deren hohe Verluste
und geringe Liquidität den Ausbruch der jüngsten Krise mit verursacht haben. Kemal Dervis,
der damalige türkische Staatsminister für Wirtschaft, beabsichtigte, drei der vier Staatsbanken
zur Abschreibung ‚fauler Kredite’ ungefähr 15 Milliarden Euro zukommen zu lassen und zur
Erhöhung ihres unzureichenden Eigenkapitals weitere 3,5 Milliarden Euro zuzuschießen. Ein
Teil der Mittel sollte über Anleihen des türkischen Schatzamtes finanziert werden. Eine
ähnliche Lösung wurde alsbald auch für die mittlerweile dreizehn türkischen Geschäftsbanken
angestrebt, die der türkische Staat in der Vergangenhe it unter Zwangsverwaltung genommen
hat (Belke, 2001).
Im Gegensatz dazu entfallen im verarbeitenden Gewerbe rund ein Viertel der Wertschöpfung
und ca. 12 % der Arbeitsplätze auf die staatseigenen Unternehmen (EU-Kommission, 2002, S.
61f.). Diese starke staatliche Präsenz innerhalb der Markwirtschaft führt zu Preisverzerrungen
und zu einer ineffizienten Ressourcenallokation. Zudem wirken sich die unproduktiv
15
bewirtschafteten und regelmäßig einen Verlust verzeichnenden staatlichen Betriebe belastend
auf das Staatsbudget aus.
Schaubild 6:
Struktur des Bankensystems, 2001
Anteile am Gesamtvermögen
4.9
5.7
Staatliche Banken
Private Banken
51.9
Ausländische Banken
37.6
Banken innerhalb des
Spareinlagen- und
Versicherungsfonds
Quelle: OECD Economic Surveys Turkey 2002, eigene Berechnungen.
Die bisher von einer staatlichen Interventionsstelle festgesetzten Preise z. B. für Tabak und
Zucker werden nunmehr von Angebot und Nachfrage bestimmt. Betrachtet man jedoch, dass
etwa die Hälfte der Preise im Warenkorb des Verbraucherpreisindex staatlich gelenkte Preise
sind, wie bspw. die Energiepreise, ist noch ein langer Weg in Richtung Liberalisierung und
Deregulierung zu gehen.
Als ein weiteres Element einer funktionierenden Marktwirtschaft wird im Strategiepapier der
Kommission ein ausreichend entwickelter Finanzsektor genannt. Dieser soll in der Lage
sein, Spargelder in produktive Investitionen zu le nken. Der Finanzsektor in der Türkei ist seit
den letzten beiden Finanzkrisen in einem Konsolidierungsprozess begriffen. Die Anzahl der
Banken in der Türkei ist für eine kleine Volkswirtschaft sehr hoch. Diese expansive
Entwicklung im Bankensektor fand in den 90er Jahren, hauptsächlich durch die attraktiven,
hohen Profite zur Finanzierung von staatlichen Schulden, statt. 6 Als Folge wurden
erforderliche Privatinvestitionen verdrängt, die für die Entwicklung der türkischen Wirtschaft
essenziell sind. Obwohl die Bankeinlagen 1997 von 26,2 % des BSP auf 68,5 % 2001 stiegen,
blieb die Kreditvergabe unter 28 % des BSP. Die große Spanne zwischen den Bankeinlagen
6
Türkische Banken gehören zu den rentabelsten (etwa 5 % Rentabilität des Gesamtvermögens) Banken weltweit trotz ihrer
niedrigen Effizienz (OECD Economic Survey (2002) S. 49).
16
und der Kreditvergabe demonstriert, dass der Bankensektor noch nicht effizient als
Finanzintermediär auftritt. Der Grund hierfür wird in den Bankenstrukturen gesehen. Wie
oben erwähnt, wird dieser Sektor von drei großen staatlichen Banken kontrolliert, die nicht
nach marktwirtschaftlichen Kriterien ihre Kredite vergeben. Ähnlich ist das Verhalten der
großen privaten Banken, die hauptsächlich Teile von Konglomeraten sind, an die sie auch ihre
Kredite vergeben. Die Konsolidierung des türkischen Finanzsektors ist somit noch längst
nicht abgeschlossen.
Schaubild 7:
Struktur des Bankensystems, 2002
Anzahl der Banken
Staatliche Banken
3
7
Private Banken
18
Ausländische Banken
28
Banken innerhalb des
Spareinlagen- und
Versicherungsfonds
Quelle: OECD Economic Surveys Turkey 2002, eigene Berechnungen.
Eine funktionierende Marktwirtschaft beinhaltet auch die Möglichkeit des freien
Markteintritts (Gründung von Unternehmen) und des freien Marktaustritts (Konkurse). Dies
scheint auf den ersten Blick in der Türkei gegeben zu sein, beliefen sich die NettoNeugründungen von Gesellschaften und Zusammenschlüsse 2001 auf 27.201 und NettoNeugründungen von Unternehmen auf 2.464. Im Jahre 2002 betrugen diese 27.175 bzw.
9.018. Die Tendenz ist für das Jahr 2003 steigend, da für den Zeitraum Januar-März 2003 die
Anzahl der Unternehmensneugründungen bereits netto 6.297 betrug. Die hohe Anzahl der
Neugründungen und der Liquidierungen sowohl von Gesellschaften als auch von
Unternehmen stützen die Aussage, dass es keine direkten Schranken für den Markteintritt und
–austritt in der Türkei gibt. Jedoch lässt sich bei näherer Betrachtung erkennen, dass es sehr
wohl Hindernisse gibt, wie die komplizierten Verwaltungsverfahren, die im Besonderen
ausländischen Unternehmen Schwierigkeiten bereiten. Die Aussage einer leitenden Person
einer ausländischen Bank illustriert das Problem: „Solange in der Türkei für eine ausländische
17
Investition 147 Unterschriften erforderlich sind und die Korruption nicht beseitigt ist, werden
Ausländer nicht kommen.“ (FAZ, 2002, S. 18). Um diesem Problem entgegen zu wirken,
wurde im Juni 2003 ein Rahmengesetz für ausländische Direktinvestitionen verabschiedet,
das den Verwaltungsaufwand und die Verfahrensanzahl reduziert (EU-Kommission, 2003, S.
56). Weiterhin wirken die immer noch sehr hohen Realzinsen und die zögerliche
Kreditvergabe der Banken an private kleine und mittelgroße Unternehmen als eine weitere
Hürde. Die Konsolidierung im Bankensektor kann sich künftig positiv auf diesen Aspekt
auswirken.
Was das Bestehen eines breiten Konsenses über die Eckpunkte der Wirtschaftspolitik in der
Türkei angeht, hat sich dieser erst in den letzten Jahren mit den Bemühungen, die
Wirtschaftskrise zu bewältigen, innerhalb der Parteien entwickelt. Im Vordergrund standen
hier die Inflationssenkung und die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, wenngleich bei
der Verteilung daraus entstehender sozialer Kosten Uneinigkeit bestand. Der Konsens ist auch
in der Fortführung des Stabilisierungsprogramms von 2002 mit dem IWF durch die im
November neu gewählte Regierung zu sehen.
Das Kriterium einer funktionierenden Markwirtschaft erfüllt die Türkei noch nicht
hinreichend. Die makroökonomische Stabilität ist bisher nicht gewährleistet, wenngleich
positive Ent wicklungen zu beobachten sind, wie die sinkende Inflationsrate und die
verbesserte Haushaltsdisziplin. Das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage wird noch zu
selten vom Markt bestimmt, da es noch zahlreiche staatlich gelenkte Preise gibt und manche
Sektoren von staatlichen Unternehmen dominiert werden. Der Finanzsektor ist nicht
ausreichend entwickelt, obgleich die Stärkung der Finanzaufsicht und -regulierung erste
positive Ergebnisse vorweisen kann. Der freie Markteintritt und –austritt wird noch von hohen
bürokratischen Hürden behindert.
4.2. Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb
der Union standzuhalten
Neben einer funktionsfähigen Marktwirtschaft stellt die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck
und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, den zweiten Teil des
Kopenhagener Wirtschaftskriteriums dar. Die Kommission verwendet als Maßstab folgende
18
Elemente:
Existenz
einer
Marktwirtschaft,
stabiles
makroökonomisches
Umfeld,
ausreichendes Human- und Sachkapital, Infrastruktur sowie Außenhandel mit der EU.
Wenngleich es in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Liberalisierung der Märkte gab
und die Funktionsfähigkeit ständig verbessert werden konnte, zeigen die Finanzkrisen bzw.
Wirtschaftskrisen in der Türkei, wie labil die Volkswirtschaft noch ist. Die anhaltend hohe
Inflation und die ausgeweitete Verschuldung mit ihren verzerrenden Wirkungen auf die
Märkte bieten den Wirtschaftssubjekten keine solide Grundlage für ihre Tätigkeiten. Durch
den hohen Schuldendienst stark ve rnachlässigte Investitionen in die Entwicklung des
Humankapitals machten sich bereits vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
in der Türkei negativ bemerkbar. Die Investitionen in Humanressourcen sind jedoch für die
türkische Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstumspotenzial im Hinblick auf den Vorsprung
der anderen Beitrittskandidaten höchst relevant. Die Investitionen in der Türkei - sowohl
inländische als auch ausländische Direktinvestitionen - sind sehr niedrig. Zum einen liegt der
Grund hierfür in der durch die Finanzkrise entstandenen unsicheren Wirtschaftssituation, zum
anderen an den hohen bürokratischen Hürden, was besonders für Ausländer ein wichtiger
Punkt ist. Im Vergleich zu den anderen Beitrittsländern (siehe Tabelle) liegen die
ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei auf einem sehr niedrigen Niveau. Auch was
die Handelsbeziehung zur EU angeht, bildet die Türkei im Vergleich zu den anderen
Beitrittskandidaten das Schlusslicht, obwohl die Zollunion mit der EU bereits seit 1995
besteht. Zwar hat die Türkei starke komparative Vorteile bei Rohstoffen und arbeitsintensiven
Gütern, jedoch einen komparativen Nachteil bei forschungsorientierten Gütern (Yilmaz, 2003,
S. 17), was wiederum das fehlende Know-how aus dem Ausland über Direktinvestitionen
widerspiegelt. Die Wettbewerbsfähigkeit der Türkei ist nicht nur aufgrund ihrer Güterstruktur
niedrig, sondern auch wegen der starken Volatilität der Exportpreise. 7
Die Fähigkeit der türkischen Wirtschaft, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
innerhalb der Union standzuhalten, kann nicht vollständig belegt werden. Wie schon oben
erläutert, besteht noch kein stabiles makroökonomisches Umfeld für die Wirtschaftssubjekte.
Damit einhergehend fehlen Investitionen aus dem In- und Ausland. Auch wird nicht
ausreichend in Humanressourcen investiert. Die wirtschaftliche Verflechtung mit der EU ist
im Vergleich zu den anderen Beitrittsländern niedrig.
7
Die Maßnahmen aufgrund des Stabilisierungsprogramms im Jahre 2000 ergab eine Stärkung der Währung, sodass
türkische Exportgüter teurer wurden und somit die Türkei Marktanteile auf ihren Exportmärkten verlor.
19
Tabelle: Ausgewählte Indikatoren der Wirtschaftsstruktur von Polen, Ungarn,
Tschechien, Bulgarien, Rumänien und der Türkei
Polen
Ungarn
Tschechien
Bulgarien
Rumänien
Türkei
4,2
4,3
7,8
5,6
3,5
0,8
Exporte (%) - 2001
69,2
74,3
68,9
54,8
67,8
51,6
Importe (%) - 2001
61,4
57,8
61,8
49,4
57,3
44,6
Ausländische
DI
(Nettozuflüsse in %
des BIP), ∅ 19972001
Warenhandel mit der EU
Quelle: Yilmaz (2003, S. 5).
Insgesamt gesehen hat die Türkei bei der Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien noch einen
langen Weg vor sich. Die Türkei kann noch keine hinreichend funktionierende
Markwirtschaft vorweisen und auch ihre Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den
Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, ist derzeitig gering. Die Kommission
unterstreicht in ihrem letzten Bericht die Bedeutung der gegenwärtigen Reformen in der
Türkei, um makroökono mische Stabilität, einen nachhaltigen Haushalt und den Abbau der
Inflation zu erreichen. Daneben fordert die Kommission den Abbau von bürokratischen
Hürden, um höhere ausländische Direktinvestitionen ins Land zu ziehen. Für eine höhere
Wettbewerbsfähigkeit wird zudem die stärkere Beachtung des Bildungswesens als wichtig
erachtet.
5. Wirkungsszenarien des Türkei-Beitritts unter besonderer
Berücksichtigung des Agrarsektors
Der Beitrittsprozess der Türkei läuft seit der expliziten Benennung dieses Landes als
Beitrittskandidat beim Kopenhagener Gipfel 1999. Jedoch liegt der endgültige Beitritt noch in
ferner Zukunft. Erst im Herbst 2004 will die Kommission darüber entscheiden, ob die Türkei
für die Beitrittsverhandlungen bereit ist und wenn ja, wann die Verhand lungen beginnen.
Diese Entscheidung hängt von der Erfüllung der politischen Kriterien ab. Wenngleich die
20
Verhandlungen unmittelbar danach anfangen, zeigt die Erfahrung mit den anderen
Aspiranten, dass diese Beitrittsgespräche ca. vier Jahre dauern können, so dass von einem
Beitritt zusammen mit Bulgarien und Rumänien im Jahre 2007 abgesehen werden kann.
Bedenkt man, dass die EU im Mai nächsten Jahres auf 25 Mitglieder angewachsen sein wird,
kann von einer weiteren Fülle an Länderinteressen ausgegangen werden, was wiederum die
Dauer der Verhandlungen in die Länge ziehen wird. Realistisch wäre somit ein Beitritt erst
nach 2010. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es nahezu spekulativ,
mögliche Effekte eines EU-Beitritts der Türkei zu analysieren. Zum einen, weil bis zum
Eintritt die wirtschaftliche Lage und Struktur der Türkei sich verändern können, zum anderen,
weil auch innerhalb der EU beeinflussende Faktoren grundlegend anders sein können.
Wenngleich es für viele Gesellschaftsgruppen von großem Interesse ist, zu erfahren, wie sich
der Beitritt auf die Arbeitsmärkte, die Migration, die Agrarpolitik, die europäische
Institutionen und das Budget sowie auf viele andere ökonomische und nicht-ökonomische
Bereiche der europäischen Gesellschaft auswirken könnte, erscheint es in diesem Stadium des
Beitrittsprozesses darüber konkretes zu sagen spekulativ. Nichtsdestotrotz werden
Zukunftsszenarien zu den populärsten Fragestellungen erstellt. 8 Im Folgenden wird eine
dieser Problemstellungen, die Agrarpolitik, skizzenhaft erörtert.
Der Agrarsektor in der Türkei hat seit jeher eine große Bedeutung. Obwohl sein Anteil an der
Bruttowertschöpfung seit Ende der 80er Jahre eine sinkende Tendenz (siehe Schaubild 7)
aufweist, betrug dieser 2002 etwa 13 %. Verglichen mit dem EU-Länderdurchschnitt von
etwa 2 % ist das sehr hoch. Diese Größenordnung kann gleichermaßen am Anteil der
Beschäftigten in der Landwirtschaft an der Gesamtbeschäft igung beobachtet werden. Dieser
sinkt zwar seit 1995, jedoch ist mit 35,4 % im Jahre 2001 immer noch auf einem
vergleichsweise (EU-15-Durchschnitt etwa 5 %) hohen Niveau.
Die Türkei hatte bis zum Jahr 2000 eine ausgedehnte Agrarpolitik mit einer Fülle an
Instrumenten. Die Landwirte wurden über Preisstützungsregelungen, Inputsubventio nen,
kontrollierte Angebote, freie bzw. niedrige Dienstleistungskosten, Importschutz und
Exportsubventionen unterstützt. Das bisherige System wird zugunsten einer direkten
8
Siehe hierzu Flam, 2003.
21
Einkommensbeihilfe geändert. 9 Landwirte sollen in Zukunft je Hektar – Minimum 5 ha und
Maximum 20 ha – direkte Beihilfen bekommen und bisherige Subventionen sukzessive
abgebaut werden. Ein wichtiger Bestandteil dieser Reform stellt auch die Privatisierung
staatlicher Agrarunternehmen dar (Flam, 2003, S. 21ff).
Schaubild 8:
Agrarsektor in der Türkei
20
50
45
15
40
35
10
30
5
25
20
0
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
15
10
-5
5
-10
0
Reale Veränderung der Agrarproduktion geg. Vj. (linke Skala)
Beschäftigte im Agrarsektor als Prozent der Gesamtwertes (rechte Skala)
Anteil des Agrarsektors am BIP zu Faktorkosten in % (linke Skala)
Quelle: CBRT, SIS, EU-Kommission, 2002 und eigene Berechnungen
Ähnlich ist auch die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) aufgebaut, da sie auch als
Hauptbestandteil direkte Einkommenshilfen für Landwirte beinhaltet. Die in die EU
eintretenden MOEL werden in dieses System aufgenommen, wenn auch zunächst nicht in
vollem Umfang. Zu Beginn sollen diese Länder 25 % der Einkommensbeihilfe erhalten, die
dann bis 2013 nach und nach aufgestockt wird.
Unabhängig vom Eintritt der Türkei in die EU wird es durch die neue Agrarpolitik der Türkei
zu umfangreichen sozialen und politischen Verteilungseffekten kommen. Die Landwirte
werden erhebliche Einkommenseinbußen erfahren, da die entgangenen Einnahmen durch die
Anpassung der Preise an das Weltpreisniveau sowie den Wegfall anderer Subventionen nicht
durch ebenso hohe Einkommensbeihilfen ausgeglichen werden. Flam (2003) hebt hervor, dass
bei Übernahme der GAP durch die Türkei die Preise noch tiefer und somit die
Einkommenseinbußen unabhängig von direkten Einkommensbeihilfen noch gravierender
9
Diese Reform ist hauptsächlich das Ergebnis aus dem Abkommen der Uruguay-Runde und der Bestrebung der Türkei, ihre
Agrarpolitik der GAP anzupassen. Hierbei wirkte das Abkommen mit dem IWF 1999, das eine Agrarreform vorsah als,
Antriebsmotor (Flam, 2003, S.22).
22
wären. In Anbetracht von EU-Agrarsubventionen jedoch könne sich der türkische Landwirt
sogar
besser
als
nach
den
neuen
türkischen
Agrarreformen
stellen,
da
die
Gesamtsubventionen pro Hektar in der EU weit höher sind als in der Türkei. 10
Wendet man den Blick auf die Effekte, welche die neue Agrarpolitik auf den Handel
zwischen der Türkei und der EU haben, kann man vermuten, dass aufgrund sinkender Preise
von Agrargütern auch der bisherige Handelüberschuss für Agrarprodukte der Türkei
gegenüber der EU keinen Bestand haben wird. 11 Der andauernde Handelsüberschuss zwischen
der Türkei und der EU (1.246 Millionen Euro im Zeitraum 1998-99) basiert auf der Tatsache,
dass sich die Türkei auf Produkte spezialisiert hat, die innerhalb der EU von der GAP nicht
subventioniert werden und geringeren Hemmnissen gegenüberstehen (frische Früchte, Nüsse
usw.). Wohingegen sich viele MOEL auf Produkte spezialisiert haben, die stark von der GAP
subventioniert werden (Getreide, Fleisch und Milch) und somit deren Beitritt sehr kostspielig
wird. Zwar wären diese Kosten bei einer Teilnahme der Türkei an der GAP nicht existent,
jedoch stellt die Tatsache, dass es mehr türkische Landwirte gibt als alle Landwirte der EU-15
zusammen, eine neue Herausforderung dar.
Da noch unklar ist, wann die Türkei der EU beitritt und wie die GAP bis dahin umgestaltet
wird, sind detaillierte Analysen reine Spekulation. Innerhalb der erweiterten EU werden im
Vorfeld des EU-Beitritts der Türkei sicher kontroverse Diskussionen über die GAP und über
Übergangsphasen für die Türkei geführt werden, da die 2004 bzw. 2007 beitretenden MOEL
neben
den
„alten“
EU- Ländern
nicht
auf
ihre
jüngst
erworbenen
Rechte
auf
Agrarsubventionen verzichten wollen.
6. Zusammenfassung
Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei bis heute kann kurz als labil und unsicher
bezeichnet werden. Auch wenn im mikroökonomischen Bereich einige Fortschritte zu
verzeichnen sind, v. a. im Finanzsektor, zeigt die makroökonomische Instabilität kein allzu
10
Aus der interessenpolitischen Perspektive betrachtet, macht die Durchführung GAP-ähnlicher Reformen vor dem EUBeitritt die türkischen Landwirte somit zu einer Pro-EU-Lobby.
11
Eine detaillierte Analyse dieser Zusammenhänge bietet die Arbeit von Cakmak und Kasnakoglu (2001).
23
gutes Bild des Landes. Erst die folgenden Jahre werden zeigen können, ob die Türkei das lang
ersehnte nachhaltige Wirtschaftswachstum mit Hilfe des Stabilisierungsprogramms erreichen
wird. Hierzu waren und sind immer noch die Durchsetzung der Reformen, die nicht nur die
seit Jahren fällige Privatisierung beinhalten, sondern auch die schwerfällige Staatsbürokratie,
notwendig. Sehr wohl haben Politiker mittlerweile erkannt, dass ihr größtes ökonomisches
Problem, die Inflation, stark durch ihre bisherige populistische Finanzpolitik bedingt ist.
Daher steht die Konsolidierung des Staatsbudgets seit den letzten Jahren auf der Agenda,
deren Weiterverfolgung mit dem starken Anstieg der Auslandsverschuldung noch dringlicher
geworden ist. Auch die Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Unternehmen, die sich
hauptsächlich aus kleinen und mittelgroßen meist traditionellen Familienunternehmen
zusammensetzen, ist aus heutiger Sicht noch auf einem recht niedrigen Niveau.
Diskussionen über mögliche Effekte des EU-Beitritts der Türkei haben bereits begonnen,
wenngleich sie noch in den Anfängen stecken. Der Gegenstand der Diskussion ist vielfältiger
Natur: angefangen von den Auswirkungen des immensen türkischen Agrarsektors auf die
Agrarpolitik der EU über die möglichen Migrationsströme türkischer Arbeitnehmer in die EU
bis hin zu Strukturverschiebungen innerhalb der EU-Institutionen sowie Budgeteffekte der
EU. Entsprechende Zukunftsszenarien können im Vorfeld der Gespräche eine wichtige
Verhandlungsbasis bilden, was die Notwendigkeit künftiger Forschungsarbeiten auf diesem
Gebiet deutlich macht.
Um den Integrationsprozess voranzutreiben, könnte eine Europäische Strategie, welche die
bisherige EU-Politik unterstützt und deren Lücken ausgleicht, eingesetzt werden. Diese würde
die anerkannte Verpflichtung der EU ge genüber der Türkei erhöhen und unter beiden Partnern
Vertrauen schaffen. Durch die effiziente Durchführung der Strategie könnten Reformen
gezielter angegangen und zum Abschluss gebracht werden, womit auch der Weg der Türkei in
die EU verkürzt wird. Eine europäische Strategie könnte auch durch alternative Szenarien, in
denen die Türkei vor ihrer Vollmitgliedschaft in gewissen Politikbereichen ein virtueller EUMitgliedstaat wird, komplementär zum Beitrittsprozess verlaufen. Durch die Integration mit
der EU in ausgewählten Politikbereichen könnte der vollständige Beitritt der Türkei in die EU
leichter und schneller stattfinden.
24
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Ansgar Belke, Thorsten Polleit, 10 Argumente gegen eine Euro-US-Dollar-Wechselkursmanipulation
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