401 Krieg und Psychiatrie 100 Jahre Kriegstraumata Haben wir aus der Vergangenheit gelernt? S. Linden Institute of Psychological Medicine and Clinical Neurosciences, Cardiff University, Großbritannien Schlüsselwörter Keywords Militärpsychiatrie, Konversionsstörungen, posttraumatische Belastungsstörung, psychogene nicht epileptische Anfälle Military psychiatry, conversion disorders, posttraumatic stress disorder, non-epileptic attack disorder Zusammenfassung Summary Die psychologischen Reaktionen auf die traumatischen Fronterlebnisse des Ersten Weltkrieges erreichten epidemische Ausmaße, wie sie in keinem früheren Krieg beobachtet worden waren. Diese „Shell-shock“-Epidemie hatte einen profunden Einfluss auf das Leben der Soldaten in und hinter den Schützengräben und auf die Kampfmoral auf beiden Seiten der Front. Dieser Artikel analysiert auf der Grundlage von Krankenakten aus London und Berlin die unter den Begriffen „shell shock“ oder „Kriegsneurose“ zusammengefassten Krankheitsbilder. Die Dokumentation der klinischen Präsentationen zeigt die große Bandbreite der Symptome und Syndrome, aber auch klare Unterschiede zwischen den beiden Ländern, z. B. das gehäufte Auftreten psychogener nicht epileptischer Anfälle in Deutschland. Des Weiteren werden die damaligen und heutigen Erklärungsmodelle für derartige traumatische Reaktionen diskutiert. Wie damals schwingt auch heute das Pendel zwischen den beiden Polen der organischen und psychischen Genese. Schließlich werden die wesentlichen Therapieverfahren der Militärpsychiatrie und -neurologie des Ersten Weltkrieges dargestellt. Sowohl die Frage des Erklärungsmodells als auch die Suche nach der angemessenen Therapie für funktionelle neurologische Störungen haben heute wieder eine große Aktualität. Psychological reactions to traumatic experiences of combat in World War 1 reached an epidemic scale that surpassed anything known from previous armed conflicts. This “shell shock” epidemic deeply affected soldiers’ lives in and behind the trenches and morale on both sides of the frontline. This article is based on patient records from London and Berlin. It analyses the clinical phenomenology of the cases that were subsumed under labels such as “shell shock” or “war neurosis”. The documentation of clinical presentations reveals a broad range of symptoms and syndromes. Moreover it unveils some distinct differences between the two countries, for example the predominance of non-epileptic seizures in Germany. I furthermore discuss the models - past and present - that have been adduced to explain such traumatic reactions. I argue that then as today the pendulum swung back and forth between organic and psychological explanations. Finally, I describe the main therapeutic approaches of military psychiatry and neurology during World War 1. Both the quest for explanatory models and the search for the most appropriate therapy for functional neurological disorders are still of considerable clinical relevance. Korrespondenzadresse Dr. med. Stefanie Linden Cardiff University, Hadyn Ellis Building Maindy Road, Cardiff CF24 4HQ [email protected] A century of war trauma – shell shock and its lessons for today Nervenheilkunde 2016; 35: 401–407 eingegangen am: 1. Februar 2016 angenommen am: 15. Februar 2016 Ein Tag an der Somme Am 4. Oktober 1916, während einer der größten Schlachten des Ersten Weltkrieges, wird der 25-jährige Maschinengewehrschütze James S. mit elf seiner Kameraden in einem Schützengraben verschüttet. James ist der einzige Überlebende. Es dauert sechs Stunden bis er durch Landsleute geborgen wird. James ist taub, stumm und blind. Seine Beine sind gelähmt. Er kann bald wieder sehen, aber die anderen Probleme bleiben bestehen (1). Zur gleichen Zeit – auf der deutschen Seite – bricht Pionier Franz B. vor den Augen seiner Kameraden zusammen, stöhnt und zuckt wild mit seinen Armen und Beinen. Er kommt erst nach einigen Stunden wieder zu sich (2). James und Franz werden in frontnahe Lazarette gebracht. Von dort beginnt ihre Odyssee durch zahlreiche Militärkrankenhäuser in ihren Heimatländern. James’ sechsmonatige Behandlung endet mit seiner Überweisung an das bedeutendste neurologische Krankenhaus Englands, das National Hospital for the Paralysed and Epileptic am Queen Square in London (▶Abb. 1). Bei Aufnahme am National Hospital ist er immer noch taub und stumm, die Kommunikation ist nur schriftlich möglich. Wenn er versucht, die Beine zu bewegen, durchlaufen starke Zuckungen seinen ganzen Körper. James zeigt außerdem einen ausgeprägten Negativismus. Zum Beispiel wendet er seinen Kopf in die Gegenrichtung, wenn jemand versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Auch das Vegetativum ist betroffen – so ist er harninkontinent. Trotz dieser schweren neurologischen Behinderung gelingt am Queen Square das, was zahlreiche andere Spezialkrankenhäuser nicht geschafft hatten. Nach einigen Tagen der Isolierung und Behandlung mit elektrischer Reizung der Beine und Krankengymnastik kann er wieder laufen; mit „persuasion therapy” (einer © Schattauer 2016 Nervenheilkunde 6/2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 402 S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata Abb. 1 National Hospital for the Paralysed and Epileptic, um 1914, Queen Square Archives, QSA/15445 Vorform von kognitiver Therapie) wird er „überzeugt,” wieder zu sprechen. Franz’s Odyssee durch das deutsche Militärkrankenhaussystem dauerte erheblich länger. Erst im Februar 1918 wird er an die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité überwiesen. Hier hat er weiterhin Anfälle, in denen er typischerweise „beschleu- nigt atmet, schnellende Bewegungen mit dem ganzen Körper macht, gellende Schreie ausstößt, seinen Kopf nach hinten biegt, einen Bogen mit dem Rücken macht, mit dem Körper hin und her wippt, sich aufbäumt und schnell atmet“ (3). Diese Präsentation, der klassische „arc de cercle,“ die reinste Form der Hysterie, war für die deutschen Ärzte keine ungewöhnliche Erscheinung bei traumatisierten Soldaten. Die Ärzte der Charité behandeln Franz mit dem faradischen Pinsel, worauf dieser wild um sich schlägt und nach einer Weile sagt: „so jetzt ist wieder alles gut, jetzt spür ich wieder alles“. Die zügig durchgeführte Elektrotherapie führte also auch bei Franz zum schnellen Therapieerfolg. Die Charité-Ärzte diagnostizierten hysterische Anfälle bei „psychopathischer Konstitution“ und schickten Franz in die Etappe, um dort in seinem bürgerlichen Beruf als Schreiner zu arbeiten. Posttraumatische Störungen bei deutschen und britischen Soldaten Abb. 2 Etudes cliniques sur l’hystero-epilepsie ou grande hysterie, Paul Marie Louis Pierre Richer, Delahaye et Lecrosnier, Paris, 1881, Second period: clownism, Plate III, Collection: General Collections, Wellcome Images, Wellcome Library London, L0018206. Die beiden in der Somme-Schlacht traumatisierten Soldaten waren nur zwei von vielen Zehntausenden, die im Ersten Weltkrieg mit kriegsbedingten psychischen Störungen in die Krankenstationen, Lazarette und Heimatkrankenhäuser beider Seiten eingeliefert wurden. Zur Beschreibung dieses epidemieartigen Phänomens bürgerten sich bald die Begriffe „shell shock“ und auf deutscher Seite „Kriegsneurose“ oder „Kriegszitterer“ ein. Schon damals von großer militärpsychiatrischer Bedeutung, ist dieser Themenkomplex jüngst – im Kontext der hundertjährigen Wiederkehr des Kriegsausbruches – wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Darüber hinaus ist es für das Verständnis der psychischen Syndrome bei heutigen Kriegsveteranen wichtig, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der traumatischen Reaktionen im historischen Horizont zu untersuchen. Daher werde ich zunächst auf die Phänomenologie und klinische Präsentation, wie sie in den deutschen und britischen Krankenaktien der Kriegsjahre dokumentiert ist, eingehen (▶Abb. 2). Nervenheilkunde 6/2016 © Schattauer 2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata Welche Symptome zeigten die traumatisierten deutschen und britischen Soldaten, die an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin und am National Hospital for the Paralysed and Epileptic in London behandelt wurden? Wie aus ▶Tabelle 1 ersichtlich, hatten die meisten Soldaten mit funktionellen (nicht organischen) Syndromen typische Konversionsstörungen, am National Hospital in London vor allem Paralysen vergesellschaftet mit somatosensorischen Störungen. Viele Soldaten (16% in Berlin, 18% in London) zeigten Zittern, Schütteln oder andere unwillkürliche Bewegungen. Auffallend war der hohe Anteil von funktionellen Anfällen bei den deutschen Soldaten (fast ein Drittel der analysierten Fälle); in London zeigten nur 7% der Soldaten psychogene nicht epileptische Anfälle (und das, obwohl Queen Square auf Anfallsleiden spezialisiert war). Die Literatur der Zeit sowie eine Analyse der Krankenakten des Otto Binswanger unterstellten Militärlazaretts in Jena bestätigte dieses epidemische Auftreten von hysterischen Anfällen bei deutschen Soldaten. Hysterische Anfälle traten häufig auf, bevor die Soldaten an die Front geschickt wurden, also ohne direktes Kriegstrauma. Für den Psychopathologen von besonderem Interesse ist noch eine weitere Gruppe von posttraumatischen Störungen, die psychotischen und dissoziativen Reaktionen. Diese Störungen entstammten dem von Karl Kleist aufgrund seiner Kriegserfahrungen beschriebenen Formenkreis der „Schreckpsychosen.“ (4) Kleist, der während des Ersten Weltkrieges Leiter der neurologischen Abteilung eines deutschen Lazaretts in Lille war und später in Rostock als Leiter der Psychiatrie ein Militärlazarett betreute, identifizierte diese akuten und transienten Störungen als häufigste Störung bei Frontsoldaten. Ein Kernstück der Schreckpsychosen ist das Wiedererleben von Kampferlebnissen in Dämmerzuständen oder Träumen, aber auch bei vollem Bewusstsein. Oft wurden Kampfszenen in eindrucksvoller Weise reinszeniert. Kleist beschrieb außerdem eine anhaltende Übererregbarkeit, emotionale Abschwächung und Irritabilität nach dem Trauma. Die Ähnlichkeit zu modernen Konzepten der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist auffällig. Tab. Symptome deutscher und britischer Soldaten, die an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin und am National Hospital for the Paralysed and Epileptic in London behandelt wurden; in Berlin wurde eine randomisierte Stichprobe von 100 Fällen genommen; in London wurden alle Soldaten mit funktionellen (nicht organischen) Störungen berücksichtigt. Symptome Psychiatrische und Nervenklinik der Charité, Berlin n = 100 (% der Aufnahmen) Unwillkürliche Bewegungen (z. B. Schütteln, Zittern, Tics) 16 (16) 85 (18) Visuelle Störungen (z. B. Blindheit, Doppelbilder) 1 (1) 10 (2) Taubheit 2 (2) 11 (2) 21 (21) 201 (44) 2 (2) 139 (30) Sprachstörungen (z. B. Aphonie, Stottern) 10 (10) 65 (14) Nicht epileptische Anfälle 28 (28) 34 (7) Angst und Depression 13 (13) 98 (21) Dissoziative Störungen (z. B. ohne Anfälle, Fugues, Amnesien) 15 (15) 17 (4) 0 (0) 6 (1) Schmerz und autonome Dysfunktion 16 (16) 105 (23) Psychotische Symptome 1 (1) 5 (1) Motorische Störungen (ohne unwillkürliche Bewegungen und Sprachstörungen, v. a. Paralysen) Somatosensorische Störungen Katatonie Kleists Schreckpsychosen konnte ich bei 15% der deutschen und 5% der britischen Fälle identifizieren. Interessanterweise traten diese Störungen nur bei den Soldaten auf, die in aktive Kampfhandlungen verwickelt waren. Fünf von 100 deutschen Fällen zeigten das Ganser-Syndrom. Charakteristisch für diese Soldaten war, dass sie „Fragen einfachster Art die ihnen vorgelegt wurden, nicht richtig zu beantworten vermochten, obwohl sie durch die Art ihrer Antworten kundgaben, dass sie den Sinn der Fragen ziemlich erfasst hatten, und dass sie in ihren Antworten eine geradezu verblüffende Unkenntnis und einen überraschenden Ausfall von Kenntnissen verrieten, die sie ganz bestimmt besessen hatten oder noch besaßen“ (5). Ein eindrucksvolles Beispiel für diese funktionelle Störung finden wir im Fall des 31-jährigen Grenadiers Hermann G., der am 22. Mai 1918 in die Psychiatrische Abteilung der Charité aufgenommen wurde National Hospital for the Paralysed and Epileptic, London n = 462 (% der Aufnahmen) (6). Grenadier G., der am 3. August 1914 zum 2. Garde Infanterie Regiment eingezogen und sofort ins Feld geschickt worden war, hatte sich nach einer langen Verletzungspause unerlaubt von seinem Regiment entfernt. Von einem Gefangenenlager in Le Cateau wurde er an die Berliner Charité überwiesen. Hier zeigte der Patient ein „abweisendes Verhalten, drehte den Kopf zur Seite, sah den Arzt nicht an. Antwortet auf Fragen langsam, zögernd, oft erst nach mehrfacher Wiederholung der Fragen: „ich weiss nicht.” Macht ticartige Bewegungen mit der Stirnmuskulatur, zieht die Stirn in Falten , reißt die Augen auf; macht schüttelnde Bewegungen mit dem Kopf. [...] Nach der Anzahl seiner Geschwister gefragt, gab er an: 4 Schwestern und 9 Brüder; befragt wie viel Geschwister das zusammen sind, antwortet er 6.[...] Er kann die einfachsten Rechenoperationen nicht durchführen (z. B. 7+5, sagt 14, 3x3, sagt 11) und beantwortet die einfachsten Wis- © Schattauer 2016 Nervenheilkunde 6/2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 403 404 S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata sensfragen falsch (z. B. Wie viele Beine hat ein Pferd? – rechnet an den Fingern, dann ‚vorne 2 Beine und hinten auch 2 Beine; sind zusammen 6 Beine,‘ Welche Farbe hat das Gras – ‚Gelblich wie der Baum‘, Welche Farbe hat das Blut – ‚rosa‘); benennt alle ihm vorgelegten Farben falsch. Gibt Monat und Jahr falsch an „März 1819”); gibt an, nicht zu wissen, an welchem Tag Weihnachten und Neujahr ist.“ Dieses Phänomen des „Vorbeigehens“ oder „Vorbeiredens“ war von Sigbert Ganser 1897 beschrieben worden. Das GanserSyndrom hat historisch immer wieder Anlass zur Vermutung gegeben, dass Patienten ihre Symptome simulierten. Allerdings wurde diese Vermutung im Krieg selten geäußert, obwohl dieses an sich sehr seltene Syndrom an Häufigkeit auffällig zunahm. Erklärungsmodelle Wie erklärte die Ärzteschaft also dieses epidemische Auftreten von hysterischen Störungen bei Soldaten? – Ganz am Anfang der Debatte um die Ursache dieser Störungen standen organische Modelle, die Vorstellung, dass „Mikroläsionen,” feinste Blutungen und Zellschädigungen im Gehirn und Rückenmark für die Symptome der Frontsoldaten verantwortlich seien. In Großbritannien entstand der Begriff des „shell shock,” der eine durch Granatexplosionen verursachte Erschütterung des Nervensystems umschrieb, und heute noch symbolisch für das psychologische Kriegstrauma – nicht nur das Trauma des Ersten Weltkrieges – steht. Hermann Oppenheim, führender Berliner Nervenarzt und Präsident der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie im Jahre 1907, war der deutsche Hauptvertreter einer organischen Krankheitshypothese. Er hatte lange vor dem Krieg deutsche Industriearbeiter mit funktionellen Störungen behandelt und den Begriff der „traumatischen Neurose“ geprägt, die eine organische Schädigung als Ursache der Symptome implizierte. In England glaubte Frederick Walker Mott, einer der berühmtesten Neuropathologen seiner Zeit, dass die Symptome des shell shock auf organische Läsionen im zentralen Nervensystem zurückzuführen seien. Am Maudsley Hosptial im Süden Londons, das im Januar 1916 als Behandlungs- und Forschungszentrum für shell shock eröffnet wurde, sezierte Mott die Gehirne von Soldaten, die nach Granatexplosionen plötzlich verstorben waren (7). Er fand Blutungen und veränderte Nervenzellen und sah dadurch seine Hypothese zur Entstehung von shell shock bestätigt (▶Abb. 3). Der Sieg psychologischer Modelle Während Mott weiterhin Beweise für seine organische Hypothese sammelte, hatte die deutsche Ärzteschaft sich 1916 auf ein psychologisches Krankheitsmodell geeinigt. Zu viele Argumente sprachen gegen eine organische Ätiologie: Erstens lagen Berichte vor, dass Kriegsgefangene und körperlich schwer verletzte Soldaten keine hysterischen Symptome entwickelten (8). Diese Männer mussten nicht befürchten, wieder an die Front geschickt zu werden. Karl Bonhoeffer, Direktor der Nervenklinik an der Charité und langjähriger Präsident der Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie, war überzeugt, dass der – unbewusste – Wunsch, dem Krieg zu entkommen, zur Ausbildung hysterischer Symptome führte. Abb. 3 Foto von Frederick Walker Mott, Wellcome Images, Wellcome Library, London, M0003276 Diese Hypothese – und damit das psychologische Krankheitsmodell – wurde durch die zahlreichen Fälle von Soldaten, die während ihres Fronturlaubes oder kurz bevor sie zum ersten Mal an die Front geschickt wurden, hysterische Symptome entwickelten, bestätigt. Ein Beispiel aus den Londoner Krankenakten stellt der Fall des 40-jährigen Farmarbeiters Cornelius B. aus Oxford dar (9). Nach einem glücklichen Heimaturlaub bei seiner Frau in Oxford war er am 7. Dezember 1917 auf dem Weg zur Victoria Station in London, wo der Zug wartete, der ihn zurück an die Front bringen sollte. Als Cornelius die Treppe zum Bahnsteig herab ging, rutschte er aus und landete auf seinem Rücken. Cornelius wurde von der Polizei ins Maudsley Hospital gebracht, weil seine Beine gelähmt waren. Am Maudsley Hospital musste er nach jeder Nahrungsaufnahme erbrechen. Auch nach über einem Jahr hatte sich sein Zustand nicht gebessert, und er wurde schließlich an das National Hospital am Queen Square überwiesen, wo bis 1926 verletzte und traumatisierte Soldaten behandelt wurden. Auch Berlin war ein eindrucksvoller Schauplatz von hysterischen Anfällen, von Soldaten, die in öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenbrachen und wild um sich schlugen oder von Soldaten, die in dissoziativen Dämmerzuständen durch die Stadt irrten und etwa auf offener Straße Kampfszenen inszenierten. Aber auch Soldaten, die nie an der Front gewesen waren, konnten schwere dissoziative und neurologische Symptome entwickeln – etwa ein Viertel aller Soldaten mit hysterischen Symptomen, die an der Charité behandelt wurden, hatten nie gekämpft. Die reine Antizipation von Kampf, Gewalt und Bedrohung reichte also aus, um eindrucksvolle hysterische Symptome hervorzurufen (10). Das dritte Argument gegen eine organische Hypothese war der Erfolg von psychologisch ausgerichteten Therapien. Der Farmarbeiter Cornelius zum Beispiel traf am National Hospital auf Lewis Ralph Yealland, einen jungen und ambitionierten kanadischen Neurologen, der sich einen Namen als einer der erfolgreichsten Kriegstrauma-Therapeuten seiner Zeit gemacht Nervenheilkunde 6/2016 © Schattauer 2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata hatte. Yealland arbeitete zunächst bevorzugt mit einer Kombination aus Elektrotherapie und Suggestion und verfolgte damit ein ähnliches Therapierational wie sein deutscher Kollege Fritz Kaufmann, der während des Ersten Weltkrieges mit dieser Behandlungsmethode, die in Deutschland in vielen Lazaretten zur Anwendung kam, berühmt (aber auch berüchtigt) wurde (▶Abb. 4). Wie bei der Behandlung von Cornelius, spielte Suggestion bei den meisten Therapien für Kriegsneurosen eine entscheidende Rolle (11). Suggestive Verfahren hatten eine lange Tradition in Europa. Im Wachzustand oder unter Hypnose wurde dem Soldaten suggeriert, dass seine Heilung kurz bevorstehe oder er bereits geheilt sei. Ein Aufgebot von Maschinen und Elektrogeräten sollte die suggestive Wirkung noch verstärken. Scheinoperationen wurden durchgeführt, z. B. wurden Patienten mit funktioneller Taubheit unter Narkose Inzisionen und Wundnähte an der Kopfhaut zugefügt. Auch wurden Soldaten unter dem Vorwand anästhesiert, ihnen unter Narkose ein starkes Medikament zu verabreichen. In Deutschland behandelte Max Nonne – z. T. in öffentlichen Demonstrationen – Tausende von traumatisierten Soldaten mit hypnotischer Suggestion. Interessanterweise verglich er in kontrollierten Studien verschiedene Behandlungsansätze, z. B. hypnotische Suggestion mit der Kaufmann‘schen Elektrotherapie, und führte auch die ersten Langzeitstudien mit Fragebögen durch (12). Erfolgreich wurden auch verhaltenstherapeutsche Verfahren angewandt, vor allem positive und negative Verstärkung und Lernen am Modell. Soldaten deren Symptome sich besserten wurde eine Entlassung aus dem Militärdienst versprochen. Allerdings gab es auch zweifelhafte Verfahren (sowohl in ethischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die Erfolgsaussichten), die vorwiegend auf die Bestrafung des Patienten abzuzielen schienen. In Berlin und Jena verlegte man etwa Soldaten mit hysterischen Symptomen auf die geschlossene psychiatrische Station oder isolierte sie komplett von ihren Mitpatienten. In Jena wurden bei Soldaten mit starkem Tremor oder Schüttelbewegungen Körperteile eingegipst. Abb. 4 Die Kaufmann-Methode, Karikatur aus: Hirschfeld, M. and Gaspar, A., Sittengeschichte des ersten Weltkrieges (Hanau: Müller & Kiepenheuer, 1929). Therapeutische Innovationen Im Hinblick auf den Einfluss der Weltkriegspsychiatrie auf den weiteren Verlauf des Faches ist, neben den erwähnten ersten systematischen Therapiestudien, vor allem auf die Etablierung psychotherapeutischer Verfahren einzugehen. In Großbritannien wurde – vor allem von den akademischen Psychiatern und Neurologen – die „perusasion therapy“ eingesetzt. Diese von den französischen Neurologen Jules-Joseph Dejerine und Ernest Gauckler entwickelte Psychotherapie sollte dem Patienten ermöglichen, aktiv an seinem Heilungsprozess teilzunehmen und Verantwortung für seine Heilung zu übernehmen (13). Ähnlich war auch die von Dejerine’s Schweizer Kollegen Paul Dubois entwickelte rationale Psychotherapie. Hier wurden falsche Überzeugungen über die organische Bedingtheit der Symptome hinterfragt und korrigiert. Diese Therapien waren eng verknüpft mit dem Konzept der „Selbstwirksamkeit,“ das in den 1990er-Jahren in kognitiven Modellen der Depression eine entscheidende Rolle spielen sollte. Und auch Physiotherapie, Bäder, Arbeitstherapie, Massagen und wohlwollende Fürsorge waren fester Bestandteil der Behandlung von Kriegstraumata. Wirksamkeit organischer Erklärungsmodelle Alle Argumente sprachen also gegen eine organische Bedingtheit von Symptomen bei kriegstraumatisierten Soldaten. Trotzdem vermittelten viele Ärzte ihren Patienten organische Krankheitsmodelle. Das war vor allem der Fall in Großbritannien. Am National Hospital erklärte Lewis Yealland seinen Patienten mit hysterischen Paralysen, dass ein chemisches Ungleichgewicht in den motorischen Bahnen vom Gehirn zu den gelähmten Extremitäten für den Funktionsausfall verantwortlich sei. Er applizierte elektrische Ströme über dem motorischen Kortex und ermunterte seine Patienten, währenddessen den gelähmten Körperteil zu bewegen (14). Der Behandlungserfolg beruhte natürlich auf Suggestion. Den Patienten nahmen diese funktionellen Erklärungsmodelle dankbar an. Psychiatrische Störungen waren mit einem starken Stigma assoziiert. Die organische Attribuierung der Symptome entlastete und exkulpierte den Patienten von seiner „Schuld’” und verbesserte den Therapieerfolg. Es gab aber auch kritische Stimmen. Charles Samuel Myers, Arzt und Herausgeber des British Journal of Psychology verurteilte Yealland’s „therapeutische Lüge,” die Vermittlung eines falschen organischen Krankheitsmodells, und auch den Gebrauch von suggestiven Verfahren (15). Rückkehr zur Organik Die wissenschaftlich interessierten Ärzte des Ersten Weltkrieges hatten sich bereits 1916 weitgehend auf psychogene Krankheitsmodelle geeinigt. Aber obwohl die Suche nach sichtbaren organischen Veränderungen im Laufe des Krieges an Popularität verloren hatte, gaben vor allem britische Forscher die Hoffnung nicht auf, doch noch organische Korrelate bei Shell-shockOpfern zu finden. So wurde verstärkt eine endokrinologische Dysregulation für die Symptome bei kriegstraumatisierten Soldaten diskutiert. Auch wurde eine lokalisierte autonome Störung als Grundlage für viele motorische und sensorische Störungen angenommen. Messungen von Hautleitfähigkeit, Temperatur, Blutdruck und Herzfrequenz sollten diese Krankheitshypothese bestätigen. Florence A. Stoney, erste britische Radiologin und Leiterin der Röntgenabteilung des Fulham Military Hospital, © Schattauer 2016 Nervenheilkunde 6/2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 405 406 S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata zerstörte bei traumatisierten britischen Soldaten durch Röntgenstrahlung große Teile der Schilddrüse, um eine vermutete endokrinologische Überfunktion zu heilen. Viele britische Neurologen einigten sich darauf, dass shell shock durchaus auf einer organischen Störung beruht, die aber für die verfügbaren wissenschaftlichen Methoden noch nicht zu fassen sei. Die Hypothese dass Verhaltensstörungen und kognitive Beeinträchtigungen bei Soldaten Folge einer organischen Hirnschädigung – und nicht nur psychologische Folgen von Stress – seien, steht heute wieder auf der Agenda. Die Suche nach molekularen und physiologischen Korrelaten bei traumatisierten Soldaten ist genauso populär wie vor 100 Jahren. Nur die Terminologie hat sich geändert, früher sprachen wir von shell shock oder traumatischer Neurose, jetzt von „mild traumatic brain injury“ (16). In vielen Punkten ist die heutige Diskussion derjenigen der Weltkriegsjahre sehr ähnlich. Entscheidende Fragen sind, was die Fächer Psychiatrie und Neurologie von dem “großen psychologischen Experiment” des Ersten Weltkrieges gelernt haben, und ob wir heute ein besseres Verständnis der Ätiologie und bessere therapeutsche Möglichkeiten für funktionelle Störungen haben. Abb. 5 Auf dem Friedhof von Ypern: „Wofür haben wir uns eigentlich umgebracht?”,Rudolf Hermann, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges Hirschfeld, M. and Gaspar, A., Sittengeschichte des ersten Weltkrieges (Hanau: Müller & Kiepenheuer, 1929). Fazit für die Praxis • • “Shell Shock and its lessons” Kulturelle Faktoren spielen eine maßgebliche Rolle bei der Ausprägung von Stressreaktionen. Die militärischen Konflikte in den vergangenen 150 Jahren haben unterschiedliche charakteristische Syndrome hervorgebracht (17). Im Ersten Weltkrieg waren es die funktionellen neurologischen Störungen, Paralysen, Anfälle und Bewegungsstörungen, im Zweiten Weltkrieg traten funktionelle gastrointestinale Störungen in epidemischer Häufigkeit auf. PTBS mit seiner charakteristischen Symptomkonstellation wurde zum ersten Mal im Vietnam-Konflikt beschrieben. Die Annahme, dass PTBS erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgetreten sei, wird jedoch durch die dokumentierten Krankengeschichten aus Berlin, Jena und London widerlegt. Soldaten des ersten Welt- • • • Kulturelle Faktoren spielen eine maßgebliche Rolle bei der Ausprägung von Stressreaktionen. Posttraumatische Reaktionen haben sich im Laufe der letzten 150 Jahre gewandelt, z. B. funktionelle neurologische Störungen des Ersten Weltkrieges, gastrointestinale Beschwerden des Zweiten Weltkrieges, PTBS seit den 1960er-Jahren. Ähnliche Auslöser können unterschiedliche Symptome triggern (deutsche/britische Soldaten des ersten Weltkrieges). Krankheitsmodelle haben die Tendenz, immer wieder in die somatische Richtung zu schwingen. Fast alle im Laufe der Zeit neu aufgetretenen funktionellen Störungen sind zunächst als organisch interpretiert worden. Funktionelle Störungen stellen immer noch eine große Herausforderung für die ärztliche Praxis dar, und die Kenntnis der historischen Therapieverfahren ist eine wichtige Grundlage für die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden. krieges zeigten durchaus auch die klassischen Symptome der PTBS. Der Vergleich von deutschen und britischen Krankenakten des ersten Weltkrieges zeigte auch, dass ähnliche Auslöser unterschiedliche Symptommuster hervorbringen konnten – ein Beispiel ist die Häufung von funktionellen Anfällen bei deutschen Soldaten (18). In den militärischen Konflikten des vergangenen Jahrhunderts wurden bevorzugt die funktionellen Syndrome ausgeprägt, die durch die vorhandenen diagnostischen Methoden weder als eindeutig funktionell noch als eindeutig organisch eingeordnet werden konnten. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die im Zweiten Weltkrieg oft beschriebenen psychogenen Magenulzera, die mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Gastroskopie und Nachweis von Helicobacter pylori als psychosomatisches Syndrom deutlich an Bedeutung verloren. Wir haben gesehen wie Krankheitsmodelle die Tendenz haben, immer wieder in die somatische Richtung zu schwingen. Die meisten neu aufgetretenen funktionellen Störungen sind zunächst als organisch interpretiert worden. Wenn Ärzte dazu tendieren, Symptome als organisch zu interpretieren, kommen sie dem Wunsch des Patienten nach, die Diagnose einer körperlichen Erkrankung zu erhalten und vermeiden ein psychiatrisches „Label“, das oft mit Stigma und gesellschaftlicher Ächtung verbunden ist. Patienten generieren deshalb oft – unbewusst – Symptome, die es dem Arzt leicht machen, eine körperliche Erkrankung zu diagnostizieren. Was als medizinische Erkrankung anerkannt wird, ändert sich im Laufe der Zeit, und somit ändern sich auch die funktionelle Symptome. Der Erste Weltkrieg mit Tausenden von traumatisierten Soldaten und der Notwendigkeit, diese wieder miliärdienstfähig zu machen, erweckte die therapeutische Kreativität vieler Nervenärzte. Der therapeutische Nihilismus der Vorkriegsjahre wich einer nie zuvor gesehenen therapeutischen Aktivität. Kontrollierte Therapiestudien wurden durchgeführt und Therapieerfolge über längere Zeit gemessen. Die meisten Therapien wurden mit dem Ende des Krieges vergessen. Einige Therapieansätze – z. B. die Elektrotherapie – wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren wiederentdeckt. Elektromyografie-Biofeedback, transkra- Nervenheilkunde 6/2016 © Schattauer 2016 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. S. Linden: 100 Jahre Kriegstraumata nielle Magnet- und elektrische Stimulation wurden in Therapiestudien bei funktionellen motorischen Störungen eingesetzt, zum Teil mit gutem Erfolg. Allerdings ist hier die Hauptwirkung vermutlich der suggestiven Komponente dieser physikalischen Verfahren zuzuschreiben. Interessenkonflikt Die Autorin hat keinen Interessenkonflikt. Literatur 1. Queen Square Records (QSA). Dr Holmes 1917 male and female: Case record Private James S 2. Historisches Psychiatriearchiv Charité M8906/1918: Krankenakten. 3. Historisches Psychiatriearchiv Charité M8906/1918: Krankenakten. 4. Kleist K. Schreckpsychosen. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 1918; 74: 432–510. 5. Ganser SJM. Über einen eigenartigen hysterischen Dämmerzustand, Vortrag gehalten am 23. October 1897 in der Versammlung der mitteldeutschen Psychiater und Neurologen zu Halle. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1898; 30: 633–640. 6. Historisches Psychiatriearchiv Charité M9424/1918: Krankenakten. 7. Mott FW. The microscopic examination of the brains of two men dead of commotio cerebri (shell shock) without visible external injury. British Medical Journal 1917; 2: 612–615. 8. Mörchen F. Der vorläufige Abschluβ der Auseinandersetzung über das Wesen der nervösen Kriegsschädigungen. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 1916/7; 39/40: 301–305. 9. Queen Square Records (QSA), Dr Collier, 1919, male: Case record Private Cornelius B. 10. Linden SC, Hess V, Jones E. The Neurological Manifestations of Trauma: Lessons from World War I. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 2012; 262: 253–264. 11. Linden SC, Jones E. German Battle Casualties: the treatment of functional somatic disorders during World War I. Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 2013; 68: 627–658. 12. Nonne M. Über erfolgreiche Suggestivbehandlung der hysteriformen Störungen bei Kriegsneurosen. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1917; 37: 191–218. 13. Dejerine JJ, Gauckler E. The psychoneuroses and their treatment by psychotherapy. Philadelphia and London: J.B. Lippincott Company 1913. 14. Linden SC, Jones E, Lees AJ. Shell Shock at Queen Square: Lewis Yealland 100 years on. Brain 2013; 136: 1976–1988. 15. Myers CS. The justifiability of therapeutic lying: Correspondence. The Lancet 1919; 194: 1213–1214. 16. Hoge CW, McGurk D, Thomas JL, Cox AL, Engel CC, Castro CA. 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