DIE ENTWICKLUNG DES PROSOZIALEN VERHALTENS IN DEN

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Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Dissertationsschrift
DIE ENTWICKLUNG DES PROSOZIALEN
VERHALTENS IN DEN ERSTEN ZWEI LEBENSJAHREN
1. Gutachter: Prof. Dr. Alexander Grob
2. Gutachterin: PD Dr. Beate Schwarz
vorgelegt von
Silvana Kappeler
aus Zürich
Olten, 2009
I
VORWORT
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts „Der Erwerb sozialer Kompetenzen von Kindern im
Alter von 8 bis 24 Monaten im Kontakt mit Peers und ihren Eltern“ des Marie-Meierhofer-Instituts in
Zürich konnte ich an einer Untersuchung teilnehmen, die längsschnittlich ausgerichtet war. Die daraus
resultierende Datenmenge bot mir eine Fülle von Möglichkeiten zur Erarbeitung meiner Dissertation.
Dank der Unterstützung des Institutleiters, Dr. Heinrich Nufer, sowie der Forschungsleiterin, Dr. Heidi
Simoni, konnte ich eigene Ideen für die Wahl des Themas und der Fragestellungen einbringen.
Ich freue mich, an dieser Stelle folgenden Personen meinen Dank aussprechen zu dürfen, die mich im
Verlauf meiner Arbeit in besonderem Mass unterstützt haben:
Den Kindern, ihren Eltern und Erzieherinnen, die an der Studie teilnahmen und ohne die meine
Dissertation nicht möglich gewesen wäre.
Dr. Heidi Simoni für die Ermunterung, eine Dissertation in Angriff zu nehmen, für ihre fachliche
Unterstützung und Wertschätzung und Prof. Dr. Alexander Grob für die Betreuung meiner Arbeit und
seine wertvollen Denkanstösse, die mir entscheidend weitergeholfen haben.
Den
Teilnehmenden
des
Doktoranden-Blocks
des
Lehrstuhls
für
Entwicklungs-
und
Persönlichkeitspsychologie, deren Anregungen und Erfahrungen für mich eine grosse Hilfe waren.
Meinen Kolleginnen im Projekt des Marie-Meierhofer-Instituts, Ann d’Aujourd’hui, Judith Herren
und Batya Licht, für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit.
Prof. Dr. Andrea Bertschi-Kaufmann, die mir in der Endphase meiner Arbeit mit wertvollen
Ratschlägen zur Seite stand.
Dr. Willi Nagl für seine kompetente und freundliche Beratung bei der statistischen Auswertung der
komplexen Daten und sein Interesse an unserem Projekt.
Den teilnehmenden Fachpersonen der halbjährlichen Kolloquien des Marie-Meierhofer-Instituts.
Meiner Familie, die mich über all die Jahre hinweg unterstützt hat und meinem Mann, der immer an
meiner Seite war und mich in schwierigen Phasen immer wieder neu motiviert hat.
II
All jenen, die hier nicht namentlich aufgeführt sind, die mich aber in irgendeiner Form unterstützt
haben.
III
ZUSAMMENFASSUNG
Hauptziel der Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“
war die längsschnittliche Untersuchung der Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei
Lebensjahren im natürlichen Setting. Prosoziales Verhalten wurde definiert als Verhalten, dessen Ziel
darin besteht, das Wohlbefinden einer anderen Person oder einer Gruppe zu erhöhen. In der
vorliegenden Studie wurden sechs Formen von prosozialem Verhalten untersucht: Anbieten von
Objekten, Zuneigung zeigen, Assistieren, Trösten, Wiedergutmachung sowie prosoziales Verhalten
gegenüber Objekten. Konkret sollten die Fragen geklärt werden, wann Kinder erstmals prosoziales
Verhalten zeigen, welcher weitere Verlauf zu beobachten ist und wie die untersuchten Formen
miteinander zusammenhängen. Ein zweites Ziel bestand darin, den Einfluss individueller Merkmale
der Zielkinder wie das Geschlecht, der soziale Stil und das Temperament auf das prosoziale Verhalten
zu untersuchen. Zudem sollten weitere Fragen zu interindividuellen Unterschieden, den Merkmalen
der Empfänger von prosozialem Verhalten, deren Reaktionen sowie derjenigen von anwesenden
Beobachtern beantwortet werden.
Die Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ entstand
im Rahmen der Studie „Entwicklung der sozialen Kompetenz von Kleinkindern im Kontakt mit
Gleichaltrigen und ihren Eltern“ mit identischer Stichprobe und Datenerhebung. Die Stichprobe
bestand aus 28 Zielkindern (17 Mädchen, 11 Jungen), die regelmässig familienergänzende
Betreuungseinrichtungen besuchten. Jedes Zielkind wurde vom 9. bis zum 25. Lebensmonat im
Abstand von zwei Monaten jeweils 30 Minuten im freien Spiel videographiert. Ergänzend zu den
Filmaufnahmen wurde das Temperament der Zielkinder durch die Erzieherinnen und die Eltern
eingeschätzt. Einmalig wurden zudem der allgemeine Entwicklungsstand sowie der Stand der IchAndere-Unterscheidung erhoben.
Die früheste Form von prosozialem Verhalten, das Anbieten von Objekten, war bei zwei Kindern
bereits mit 8 Monaten beobachtbar. Bis zum Alter von 16 Monaten entwickelten sich alle untersuchten
Formen des prosozialen Verhaltens. Einen grossen Teil dieses Verhaltens führten die Zielkinder
spontan aus, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Es zeigten sich zwischen den verschiedenen
prosozialen Formen jedoch beträchtliche Unterschiede hinsichtlich Erstmanifestation, Häufigkeit und
Verlauf. Dies weist darauf hin, dass diese Verhaltensweisen unterschiedliche sozio-kognitive und
emotionale Fähigkeiten erfordern. Diese Schlussfolgerung wird durch die niedrige Interkorrelation der
verschiedenen Formen gestützt.
Weiter konnten Geschlechtsunterschiede nachgewiesen werden: Die weiblichen Zielkinder handelten
insgesamt häufiger prosozial als die männlichen Zielkinder, ausserdem zeigten sie häufiger die
Formen Trösten, Anbieten von Objekten sowie Assistieren. Zudem hatte der soziale Stil des
Zielkindes einen signifikanten Einfluss auf das prosoziale Verhalten: Zielkinder mit häufigen
Konflikten zeigten häufiger prosoziales Verhalten. Für die Geselligkeit dagegen konnte kein Effekt
IV
nachgewiesen werden, ebenso wenig wie für das Temperament. Die Zielkinder zeigten deutliche
Präferenzen hinsichtlich des Empfängers: Sie richteten prosoziales Verhalten häufiger an Erwachsene
und weibliche Personen. Die Bevorzugung von erwachsenen Rezipienten war in den früheren
Messzeitpunkten stärker ausgeprägt und mit 24 Monaten nicht mehr nachweisbar. Die Empfänger
reagierten meist mit positiver Verstärkung oder mit einer Annahme auf das prosoziale Verhalten der
Zielkinder, negative Reaktionen waren selten. Dagegen ignorierten anwesende Drittpersonen das
prosoziale Verhalten der Zielkinder meist. Auf das prosoziale Verhalten von Mädchen und Jungen
wurde weder von den Empfängern noch vom anwesenden Betreuungspersonal unterschiedlich
reagiert.
V
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung……………………………………………………………………………………..……1
1. Begriffsbestimmungen………………..…………………………………….…..........…..3
1. 1. Definitionen………………………………………………………................………...……3
1. 2. Klassifikation von prosozialem Verhalten………………...……………….………7
1. 2. 1. Theoretisch gewonnene Klassifikationen…………………………...…………………8
1. 2. 2. Empirisch gewonnene Klassifikationen……………………..…………...…….……..10
2. Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens………...……11
2. 1. Entwicklungstheorien und Implikationen für das prosoziale
Verhalten…………………………..……………………………………………….…..…………12
2. 1. 1. Psychoanalytische Ansätze zur Entwicklung von prosozialem Verhalten….…….12
2. 1. 1. 1. Der klassische psychoanalytische Ansatz…………………………………...............…….12
2. 1. 1. 2. Die britische Schule…………………………………………………………………..….……13
2. 1. 2. Lerntheoretische Ansätze……………………………………….....................………...14
2. 1. 3. Kognitive Theorien……………………………………………………………….….….16
2. 1. 3. 1. Die geistige Entwicklung nach Jean Piaget……………………………………….…...….16
2. 1. 3. 2. Die Entwicklung des moralischen Urteils nach Piaget und Kohlberg…………..…..…17
2. 1. 4. Vergleich der drei Theorierichtungen………………………………..…………….….18
2. 2. Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten…………………….…19
2. 2. 1. Die Empathie-Theorie von Hoffman………………………………………….........…19
2. 2. 2. Selbstobjektivierung und Empathie nach Bischof-Köhler……………………...…...23
2. 2. 3. Die kognitive Theorie von Krebs und Van Hesteren………………………….…..…24
2. 2. 4. Der kognitiv-lerntheoretische Ansatz von Bar-Tal und Raviv……………….....…..25
2. 2. 5. Die Schema-Theorie von Karniol...................................................................................27
2. 2. 6. Die Regulationstheorie von Kochanska…………………………………………....…29
2. 2. 7. Evaluation und Gegenüberstellung der Theorien…………………………………….31
2. 3. Determinanten des prosozialen Verhaltens……………………………….………33
2. 3. 1. Variablen der Person……………………………………………………….……..…….33
2. 3. 1. 1. Geschlecht…………………………………………………………..…………...……33
2. 3. 1. 2. Persönlichkeitsfaktoren……………………………………………………….…..…..34
2. 3. 2. Sozialisation ausserhalb der Familie…………………………………………….....….35
2. 3. 2. 1. Einflüsse von Peers…………………………………………………………………......35
VI
2. 3. 2. 2. Einflüsse von erwachsenen Sozialisationsagenten……………….………………....….36
2. 3. 3. Situationale Determinanten…………………………………………………..…..…….36
3. Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang……..…….38
3. 1. Allgemeiner Entwicklungsverlauf und erstmalige Manifestation….........…38
3. 2. Konsistenz……………………………………………………………………………....…45
3. 3. Verlauf…………………………………………………………………….……….…...…..47
3. 4. Häufigkeit……………………………………………………………….…………...…….49
3. 5. Geschlechtsunterschiede…………………………..…………………………….……..51
3. 6. Sozialer Stil: Geselligkeit und Aktivität…………………….…………..…….…..53
3. 7. Sozialer Stil: Aggressivität und Assertivität………………………..……………54
3. 8. Empfängermerkmale………………………………………………………………..…..56
3. 9. Reaktion von Rezipienten und anwesenden Drittpersonen…………………..57
4. Fragestellungen und Hypothesen…………………………………………..………60
5. Untersuchungsrahmen und Methode……………………………………..…...….66
5. 1. Vorgehen…………………………………………..……................................................….67
5. 2. Die Stichprobe……………………………………………………………………....…....68
5. 3. Erhebungsinstrumente…………………………………………………………..….…..69
5. 3. 1. Videoaufnahmen Kindertagesstätte………………………………………...……..…..70
5. 3. 2. Infant Characteristics Questionnaire (ICQ)…………………...…….……….……..71
5. 3. 3. Rouge-Test……………………………………………………………………..………..71
5. 3. 4. Griffith Entwicklungsskalen……………………………………………….…………..72
5. 3. 5. Fragebögen Erzieherin ……………………………………………….………….……..72
5. 3. 6. Resultierendes Datenmaterial……………………………………………….…..……..73
5. 4. Auswertung der Videodaten………………………………………………….....…….73
5. 4. 1. Software…………………………………………………………………………....…….74
5. 4. 2. Grundauswertung……………………………………………………..…………..…..…74
5. 4. 3. Identifizierung der prosozialen Szenen………………………………..…………..….75
5. 4. 4. Kodierung der prosozialen Szenen…………………………………………..…..…….76
5. 4. 5. Gütekriterien……………………………………………………………………..………79
6. Ergebnisse……………………………………………………………………….…..…….….81
6. 1. Interkorrelation……………………………………………………………………..…….81
VII
6. 2. Erstmanifestation und weiterer Verlauf………………….……………….....…….85
6. 2. 1. Erstmanifestation……………………………………………………………………..…85
6. 2. 2. Verlauf bis zwei Jahre……………………………………………………..…………....88
6. 3. Häufigkeiten……………………………………………………………………..…..……92
6. 4. Geschlechtsunterschiede……………………………………………………...…..……95
6. 5. Sozialer Stil und prosoziales Verhalten…..…………….…………….……….…...98
6. 6. Temperament und prosoziales Verhalten……………………………….…….....100
6. 7. Zusammenhang zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und dem
prosozialen Verhalten………………….………………………………………...101
6. 8. Interindividuelle Unterschiede……………………………..……………………….103
6. 9. Auslösende Umstände…………………………………………..…………………….110
6. 10. Empfängermerkmale………………………………………………………..……….113
6. 11. Reaktionen auf das prosoziale Verhalten……………………………...……….118
6. 11. 1. Reaktionen der Rezipienten………………………………………………….……...118
6. 11. 2. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen………………..…………...…….……126
7. Diskussion und Ausblick……………………………………………………………..129
7. 1. Entwicklung von prosozialem Verhalten……………………………...…………129
7. 2. Interkorrelation………………………………………………………………….………133
7. 3. Einfluss von Variablen der Person………………………………………...………133
7. 3. 1. Geschlecht………………………………………………………………………..…….133
7. 3. 2. Sozialer Stil……………...……………………………………………………………..135
7. 3. 3. Temperament…………………………………………………………………………...136
7. 4. Interindividuelle Unterschiede………………………………………………….…..136
7. 5. Empfängermerkmale………………………………………………………….…...…..137
7. 6. Auslösende Umstände und Reaktionen…………………………………..…...….139
7. 7. Quintessenz und Ausblick……………………………………………….……...……140
7. 7. 1. Schlussfolgerungen für die Praxis…………………………………………..……......140
7. 7. 2. Diskussion der verwendeten Methoden und Implikationen für die
weitere Forschung………………………….………….........................................……142
7. 7. 3. Quintessenz……………………………………………………………………….…....145
LITERATURVERZEICHNIS………………………………………………………….……146
Einleitung
1
Einleitung
Schon sehr kleine Kinder sind fähig, prosozial zu handeln. Sie zeigen Verhaltensweisen wie das Teilen
von Spielzeug und Nahrung, versuchen, andere zu trösten, wenn diese traurig sind und bekunden
einander ihre Zuneigung. Kinder gehen zudem Erwachsenen bei der Verrichtung von
Haushaltsaufgaben, wie zum Beispiel dem Zusammenlegen der Wäsche, zur Hand. Dass bereits
Kinder unter zwei Jahren fähig sind, die Gefühle einer anderen Person zu erschliessen und darauf
prosozial zu reagieren, zeigt die folgende Episode eines Vaters mit seinem 14 Monate alten Sohn:
Als wir an dem Nachmittag nach Hause kamen, rutschte ich aus und fiel auf die Nase. Es
tat sehr weh, und ich setzte mich in den Schaukelstuhl in J.’s Zimmer und rieb mir die
Nase. J. war sehr mitfühlend. Er tat das für mich, was ich sonst für ihn tue, wenn er sich
verletzt. Er umarmte und tätschelte mich und bot mir sogar seine Decke an, die er nimmt,
wenn er sich wehgetan hat oder müde ist. Er schien sehr besorgt meinetwegen. (Wolf, 1982
zit. in Harris, 1992, S. 36)
Diese Verhaltensweisen sind ein wichtiger Bestandteil der sozialen Kompetenz und werden unter dem
Begriff prosoziales Verhalten zusammengefasst.
Die Entwicklungspsychologie begann sich erst in den frühen 1970er Jahren für das prosoziale
Verhalten von Kindern zu interessieren, als Piaget (1954) und Kohlberg (1996) die Entwicklung des
moralischen Urteils bei Kindern untersuchten. Gemäss den Autoren verläuft die moralische
Entwicklung entlang von qualitativ unterscheidbaren Stufen. Die Einteilung in die moralischen Stufen
wird bei Kohlberg anhand von Geschichten vorgenommen, in denen sich der Protagonist in einem
moralischen Dilemma befindet. Im Anschluss an die Geschichte sollen die Kinder entscheiden, was
die Person tun soll und diese Entscheidung begründen. Für die Einteilung in die moralischen Stufen ist
nicht die Entscheidung, sondern die Begründung ausschlaggebend. Sowohl Piaget wie auch Kohlberg
gehen davon aus, dass Kinder im Vorschulalter amoralisch und egozentrisch sind, das heisst, nicht
fähig sind, sich kognitiv in die Lage einer anderen Person zu versetzen. Gerade die Fähigkeit, die
Perspektive einer anderen Person einnehmen zu können und so ihre defizitäre Lage zu erkennen,
erachten aber Vertreter der kognitiven Richtung als Voraussetzung für prosoziales Verhalten. Dies
impliziert, dass Kinder erst dann zu spontanem prosozialem Verhalten fähig, wenn sie den
Egozentrismus überwunden haben.
Diese Schlussfolgerung blieb nicht unangefochten, widersprach sie doch alltäglichen Beobachtungen
und Forschungsergebnissen wie der Studie von Zahn-Waxler und Radke-Yarrow (1982), die zeigen
konnten, dass Kinder schon kurz nach dem ersten Geburtstag anfangen, auf das Leid anderer Personen
prosozial zu reagieren. Diese vereinzelten Befunde aus Studien mit Kleinkindern veranlasste die
Entwicklungspsychologie dazu, ihr Forschungsinteresse auf Vorschulkinder auszudehnen. 1975 stellte
Hoffman seine Theorie zur Entwicklung der Empathie und des prosozialen Verhaltens vor. Er geht
davon aus, dass der Mensch prädisponiert ist, sich in andere einzufühlen und prosozial zu handeln. So
sind schon Neugeborene in der Lage, empathisch mitzufühlen, zu prosozialem Verhalten sind Kinder
Einleitung
2
aber erst dann fähig, wenn sie gewisse kognitive Entwicklungsschritte wie die Ich-AndereUnterscheidung gemacht haben (Hoffman, 1975).
Hoffmans Theorie inspirierte nicht nur andere Autoren zu eigenen Theorien zur Entwicklung von
prosozialem Verhalten, die einige seiner Ideen aufgriffen, es wurden im Anschluss daran auch
vermehrt
Studien
mit
Kindern
im
Vorschulalter
durchgeführt.
Trotz
des
verstärkten
Forschungsinteresses existieren bis heute jedoch wenig Studien über das prosoziale Verhalten von
Kindern unter zwei Jahren. Diese Studien weisen zudem meist ein querschnittliches Design auf; um
den Entwicklungsverlauf des prosozialen Verhaltens jedoch zuverlässig dokumentieren zu können,
sind Längsschnittstudien unerlässlich. Ein weiteres Problem besteht darin, dass meist nur eine Form
von prosozialem Verhalten z. B. das Anbieten von Objekten, untersucht wurde, nicht jedoch mehrere.
Somit sind keine Aussagen darüber möglich, wie die verschiedenen Formen miteinander
zusammenhängen. Ebenso vernachlässigt wurden Determinanten des prosozialen Verhaltens und die
Frage, ob sich deren Einfluss auf das prosoziale Verhalten im Verlauf der Entwicklung verändert.
Deshalb ist der Wissensstand über die Entwicklung des prosozialen Verhaltens von Kindern unter
zwei Jahren bis heute lückenhaft.
Das Hauptziel der vorliegenden Studie bestand darin, zur Schliessung dieser Forschungslücke
beizutragen und die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren
längsschnittlich zu untersuchen. Unter anderem sollten die Fragen geklärt werden, wann die
verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten in der ontogenetischen Entwicklung erstmals
auftreten, welcher weitere Verlauf zu erwarten ist und wie sie miteinander zusammenhängen. Ein
weiteres Ziel bestand darin herauszufinden, wie individuelle Merkmale der Kinder, der Empfänger
und deren Reaktionen das prosoziale Verhalten beeinflussen.
Die Suche nach den Antworten erfolgte
-
zum einen mit einer Einordnung in den theoretischen und empirischen Zusammenhang
(Kapitel 2 und 3)
-
zum zweiten mit der methodischen Orientierung an theoretisch abgeleiteten Hypothesen und
Fragestellungen (Kapitel 4)
-
zum dritten mit der Entwicklung eines Versuchsplans (Kapitel 5)
-
und schliesslich mit der empirischen Überprüfung der Hypothesen und Fragestellungen
(Kapitel 6)
Abschliessend werden die Resultate zusammenfassend diskutiert sowie das eigene methodische
Vorgehen kritisch reflektiert.
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
3
1. Begriffsbestimmungen
Wie eingangs erwähnt, bestand das Hauptziel der vorliegenden Studie darin, die Entwicklung des
prosozialen Verhaltens zu dokumentieren sowie den Einfluss verschiedener Faktoren auf das
prosoziale Verhalten zu untersuchen.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie standen vor allem die folgenden Fragen:
-
In welchem Alter zeigen Kinder erstmals prosoziales Verhalten?
-
Welcher Verlauf lässt sich bis 2 Jahre beobachten?
-
Wie häufig zeigen Kinder prosoziales Verhalten?
-
Wie hängen die verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten miteinander zusammen?
-
Wie beeinflussen das Geschlecht, der soziale Stil sowie das Temperament der Zielkinder das
prosoziale Verhalten?
-
Lassen sich interindividuelle Unterschiede in Bezug auf die Häufigkeit feststellen?
-
Beeinflussen Empfängermerkmale das prosoziale Verhalten?
-
Wie reagieren Empfänger und Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder?
In diesem und dem folgenden Kapitel soll die theoretische Verortung der vorliegenden Studie
dargelegt werden. Zunächst erfolgt eine Diskussion der Definitionen von prosozialem Verhalten sowie
der Möglichkeiten zur Klassifizierung. Anschliessend werden im zweiten Kapitel kognitive Theorien,
Lerntheorien und psychoanalytische Theorien kurz skizziert. Dies ist nahe liegend, da sich aus diesen
einerseits Annahmen für die Entwicklung von prosozialem Verhalten ableiten lassen. Andererseits
haben die Autoren von spezifischen Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten
Erkenntnisse dieser allgemeinen Theorien in ihre Überlegungen einfliessen lassen. Die Theorien zur
Entwicklung von prosozialem Verhalten werden an die allgemeinen Theorien anschliessend
beschrieben. Das zweite Kapitel wird durch eine Erörterung von Faktoren, die das prosoziale
Verhalten beeinflussen, abgerundet.
1. 1. Definitionen
Eine der grossen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten besteht darin, dass es
bis anhin nicht gelungen ist, eine einheitliche Definition dafür zu finden. Je nach theoretischem
Hintergrund und Forschungsinteressen werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Lerntheoretiker
und Behavioristen orientieren sich an offen beobachtbarem Verhalten. Die Orientierung an die
Lerntheorie führt dazu, dass Autoren wie Gelfand und Hartmann (1982) die Nützlichkeit von
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
4
Definitionen anzweifeln, die die Möglichkeit einer externalen Verstärkung ausschliessen. Sie schlagen
stattdessen vor, dass nicht beobachtbare Charakteristika aus den Definitionen entfernt werden.
Gelfand und Hartmann (1982) definieren prosoziales Verhalten deshalb als freiwillige Handlungen,
die anderen Personen helfen oder sie in irgendeiner Weise begünstigen (Gelfand & Hartmann, 1982).
Ausschlaggebend sind hier ausschliesslich die Freiwilligkeit und die Konsequenz der Handlung. Sie
muss für den Empfänger positive Folgen haben und freiwillig ausgeführt werden. Die der Handlung
unterliegenden Motive werden in die Definition nicht miteinbezogen. Obwohl die prosozialen
Handlungen für andere Personen eine positive Konsequenz haben, können sie aus verschiedenen
Gründen durchgeführt werden. Beispielsweise kann jemand einer anderen Person aus egoistischen
Motiven beistehen, um Aufmerksamkeit von anderen zu bekommen oder weil sie sich wirklich um das
Wohl des anderen sorgt und Mitgefühl verspürt (Eisenberg & Mussen, 1989). Der Verzicht auf den
Einbezug von Motiven in die Definition soll zu mehr Objektivität führen, da es nach Gelfand und
Hartmann (1982) sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die wahren Motive für das prosoziale
Handeln zu ergründen. Zudem sind prosoziale Handlungen vermutlich meist das Ergebnis
verschiedener, gleichzeitig wirksamer Motive, einschliesslich solcher eigennütziger Art (Staub, 1982).
Freiwilligkeit bezieht sich darauf, dass die Person prosozial handelt, ohne dazu gezwungen worden zu
sein. Ebenso wenig darf sie aus beruflicher Verpflichtung prosozial handeln (z. B. Ärzte,
Pflegepersonal).
Staub (1982) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen zwei Intentionsebenen. Zeigt eine
Person freiwillig ein Verhalten, das unter normalen Umständen einer anderen Person nützen würde, d.
h. ist ihr Verhalten nicht erzwungen, dann hat diese Person die Absicht, der anderen zu nützen. Fragt
man sie aber, warum sie diese Intention hat, so könnte auf dieser zweiten Ebene von Intentionen die
Antwort variieren. Der Grund, dafür, dass man jemandem helfen will, kann dann in der Erwartung
einer externalen Belohnung, in der Einhaltung eines Prinzips oder auch im Wunsch nach
verschiedenen internalen Belohungen (Selbstbelohnungen) zu suchen sein (Staub, 1982). Zu
unterscheiden sind demnach die Verhaltensabsicht und die oben angesprochenen unterliegenden
Motive. Nur erstere, die Absicht der ersten Ebene, findet Eingang in Definitionen, die sich an der
Lerntheorie orientieren.
Schuster (1988) dagegen erachtet es als unzureichend, prosoziales Verhalten nur nach äusseren,
beobachtbaren, empirisch exakt messbaren Verhaltensformen zu beurteilen, d. h. ausschliesslich nach
dem Handlungsergebnis. Auch die zugrunde liegenden Motive müssen als Definitionskriterium
berücksichtigt werden. Nur wenn diese auf das Wohlergehen anderer ausgerichtet sind, ist es
berechtigt, von prosozialem Verhalten zu sprechen. Nach Halisch (1988) muss prosoziales Verhalten
vom Handelnden freiwillig ausgeführt werden, es muss darauf abzielen, die Not der anderen Person zu
lindern und es darf nicht durch äussere Bekräftigungsanreize motiviert sein.
Nur Verhalten, das nicht aus egoistischen Motiven gezeigt wurde, genügt also der Definition.
Verhaltensweisen, die ausgeführt wurden, weil sich der Akteur eine Belohnung davon versprochen
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
5
hat, sei es materieller Art oder in Form von Aufmerksamkeit und Lob, gelten nach dieser Definition
nicht als prosozial. Im Gegensatz zu den Definitionen mit lerntheoretischem Hintergrund, in denen die
Handlungskonsequenz ein Kriterium ist, reicht bei der von Halisch (1988) vorgeschlagenen Definition
die Absicht, der anderen Person etwas Gutes zu tun. Hier wird prosoziales Verhalten also vor allem
anhand der Handlungsmotive, aber nicht der Handlungsergebnisse erklärt. So ist es bei dieser
Definition durchaus möglich, dass eine Verhaltensweise trotz der negativen Folgen für den
Rezipienten als prosozial zu betrachten ist.
Zusätzlich verwirrend wirkt aber auch die Tatsache, dass einige Autoren, wie zum Beispiel Eisenberg
und Mussen (1989), zwischen prosozialem und altruistischem Verhalten unterscheiden. Prosoziales
Verhalten definiert Eisenberg (1986) als freiwillige Handlungen, die eine andere Person oder eine
Gruppe begünstigen. Die Freiwilligkeit wird auch hier als Definitionskriterium herangezogen. Diese
Definition betont wie diejenige von Halisch (1988) die intendierten Konsequenzen für die anderen und
nicht die Handlungskonsequenzen. Allerdings werden beim prosozialen Verhalten nach Eisenberg
(1986) im Gegensatz zu der Definition von Halisch (1988) keine Angaben über die der Handlung
unterliegenden Motive gemacht. Prosoziales Verhalten kann aus verschiedenen Gründen ausgeführt
werden, darunter egoistischen und selbstlosen.
Altruistisches Verhalten bezieht sich – so Eisenberg und Mussen (1989) – auf einen spezifischen
Typus von prosozialen Verhaltens, nämlich auf freiwillige Aktionen, die darauf abzielen, andere
Personen zu begünstigen und intrinsisch motiviert sind. Das heisst, die Handlungen sind motiviert
durch Besorgnis und Mitgefühl, persönliche Überzeugungen und Werte und Selbst-Bekräftigung, nicht
jedoch durch die Erwartung einer externalen Belohnung oder eines persönlichen Nutzens. Der
Handelnde mag sich selbst verstärken oder belohnen durch Gefühle des Stolzes oder der Befriedigung,
wenn er in einer Weise handelt, dass er mit seinen internalisierten Werten übereinstimmt und mag sich
selbst bestrafen mit Schuldgefühlen oder Gefühlen der Wertlosigkeit, wenn er es nicht tut. Eisenberg
und Mussens (1989) Definition von altruistischem Verhalten ist damit deckungsgleich mit Halischs
(1988) Definition von prosozialem Verhalten, worin wieder die oben angesprochene Schwierigkeit der
uneinheitlichen Definitionen und Benennungen sichtbar wird.
In der vorliegenden Studie wird Eisenbergs Vorschlag für die Definition von prosozialem Verhalten
als Grundlage übernommen. Dies deshalb, weil der Rekurs auf die psychischen Prozesse des
Helfenden, wie ihn Halisch (1988) vorschlägt, eine grosse Schwierigkeit mit sich bringt: Das, was eine
Person zum Helfen bewegt, ist dem Untersucher oft nur schwer oder gar nicht zugänglich. Die in der
vorliegenden Untersuchung beobachtete Altersgruppe kann zudem keine verbalen Angaben über ihre
Motive machen. Damit wird es aber schwierig, zwischen altruistisch motivierten prosozialen Aktionen
und solchen, die aus weniger "noblen" Gründen ausgeführt werden, zu unterscheiden. Zudem
existieren häufig mehrere Motive nebeneinander, so dass es ausserordentlich schwierig ist, die
Motivation des Helfers an einem einzigen Motiv festzumachen. Deshalb ist es im Kleinkindbereich
wenig sinnvoll, in die Definition allzu enge Angaben über die unterliegende Motivation mit einfliessen
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
6
zu lassen. Eine weiter gefasste Definition erleichtert es zudem, Vorläufer prosozialer
Verhaltensweisen aufzuspüren, die zum Verständnis der Entwicklungsmechanismen beitragen können.
Eine solche Definition hat ausserdem den Vorteil, dass nicht die Konsequenzen der Aktion
ausschlaggebend sind, sondern die Intention. Somit können auch Handlungen erfasst werden, die nicht
erfolgreich waren, bei denen auf Seiten des Akteurs aber eine prosoziale Handlungsabsicht bestanden
hat.
Für die vorliegende Studie wird deshalb prosoziales Verhalten wie folgt definiert:
Prosoziales Verhalten beinhaltet Handlungen, die das Wohlbefinden einer anderen Person bzw. einer
Gruppe erhöhen oder wiederherstellen oder eine andere Person bzw. eine Gruppe begünstigen sollen.
Damit ist eine Voraussetzung verbunden: Es soll beim Akteur die Handlungsintention vorhanden sein,
dass der Empfänger vom Verhalten profitieren soll. Da die in der vorliegenden Studie untersuchten
Kinder noch nicht fähig sind, verbal über ihr prosoziales Verhalten Auskunft zu geben, wurde in der
vorliegenden Studie die Handlungsintention über die Handlungen der Zielkinder erschlossen.
Prosoziales Verhalten in diesem Sinne umfasst also Aktionen, die aus egoistischen oder selbstlosen
Motiven ausgeführt werden. Im Gegensatz zu der Definition von Eisenberg (1986) wird die
Voraussetzung der Freiwilligkeit jedoch nicht in die Definition aufgenommen, damit prosoziales
Verhalten, das als Reaktion auf eine Aufforderung oder Bitte hin ausgeführt wird, ebenfalls erfasst
werden kann.
Ebenso vielfältig wie die Definitionen, die für den Sachverhalt des prosozialen Verhaltens verwendet
werden, sind die verschiedenen Formen, die bei Kleinkindern bisher untersucht wurden:
•
Teilen/Schenken/Abgeben: Hier geht es um die Erlaubnis zur ständigen oder temporären Nutzung
eines Gegenstandes beziehungsweise der Erlaubnis zu dessen gemeinsamer Nutzung. Beispiele
sind hier das Übergeben eines Spielzeuges, damit der andere damit spielen kann.
•
Helfen/Unterstützen/Assistieren: Unterstützung beim Spiel oder bei einer Aufgabe. Beispiele
hierfür sind, beim Aufräumen zu helfen oder einen Stuhl festzuhalten, damit das andere Kind
hinaufklettern kann.
•
Trösten/Helfen/Anteilnehmen in einer emotionalen Notlage: Das emotionale Defizit der anderen
Person wird erkannt und zu beheben versucht, beispielsweise indem ein anderes Kind getröstet
wird, das hingefallen ist und sich wehgetan hat.
•
Wiedergutmachung: Ein Leid, das man dem anderen zugefügt hat, löst Schuldgefühle aus, und es
wird versucht, dies wieder gut zu machen. Beispielsweise schlägt ein Kind ein anderes Kind, das
zu weinen beginnt. Daraufhin versucht der „Täter“, das Opfer zu trösten.
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
•
7
Zuneigung zeigen: Der Akteur zeigt der anderen Person, dass er sie mag, ohne dass die andere
Person sich in einer emotionalen Notlage befindet. Beispiele hierfür sind das Umarmen oder
Küssen der anderen Person.
•
Kooperatives Verhalten: Die Tätigkeiten werden koordiniert, um ein gemeinsames Ziel zu
erreichen. Die Verhaltensweisen der beteiligten Personen ergänzen sich dabei, zum Beispiel, wenn
Kinder gemeinsam einen Legoturm bauen.
•
Ratschläge erteilen: Das Kind erkennt das Defizit der anderen Person und erteilt Ratschläge zu
dessen Behebung. Beispiel: Ein Kind gibt einem anderen Kind einen Rat, wie es sein Ziel
erreichen kann (Eisenberg & Mussen 1989).
Bei den beschriebenen Beispielen wird offensichtlich, dass diese in verschiedenen Untersuchungen
einbezogenen Handlungen den Akteur in unterschiedlicher Weise involvieren, sie erfordern
verschiedene Fähigkeiten, Motive und Sensitivität, die Interaktion unterschiedlicher persönlicher
Attribute und haben wahrscheinlich verschiedene Vorläufer (Radke-Yarrow, Zahn-Waxler &
Chapman, 1983). In der vorliegenden Studie werden die fünf erstgenannten Formen untersucht.
Kooperatives Verhalten wird nicht behandelt, da bei dieser Form beide beteiligte Parteien begünstigt
werden bzw. ein gemeinsames Ziel verfolgen und somit den Definitionskriterien nicht genügen. Die
letztgenannte Kategorie wird ebenfalls nicht untersucht, da Kinder unter zwei Jahren noch nicht bzw.
begrenzt fähig sind, verbale Ratschläge zu erteilen.
1. 2. Klassifikation von prosozialem Verhalten
Mit der Frage der Definition einhergehend stellt sich die Frage, wie man die oben beschriebenen
Formen sinnvoll klassifizieren kann. Es wurden entsprechende Versuche unternommen, die
verschiedenen Typen prosozialen Verhaltens zu ordnen, wobei die Autoren unterschiedlich vorgingen.
Im ersten Teil wird auf Klassifikationen eingegangen, die theoretisch vorgenommen wurden. Einen
anderen Weg wählten dagegen die Autoren, die im zweiten Teil erörtert werden: Sie stellten ihre
Klassifikation aufgrund empirischer Ergebnisse auf. Ein Grossteil der Klassifikationen bezieht sich auf
das prosoziale Verhalten sowohl von Erwachsenen wie auch von Kindern. Ein Teil der Vorschläge
beziehen sich jedoch auf die Lebenswelt von Erwachsenen, so etwa die Einteilung von Bierhoff
(1990), der unter anderem spontane, informelle Hilfe (z. B. einem Fremden den Weg erklären) von
geplanter, formaler Hilfe (z. B. eine Gruppe jugendliche Delinquenten durch den Zoo führen)
unterscheidet. Im Folgenden werden nur jene Klassifikationen erörtert, die sich auch auf Kinder in der
untersuchten Altersspanne anwenden lassen.
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
8
1. 2. 1. Theoretisch gewonnene Klassifikationen
Wispé (1972) schlägt eine Dreiteilung in Helfen, Geben und Intervenieren vor. Helfen ist
gekennzeichnet durch die Vermittlung von Gütern und Handlungen, mit deren Hilfe der Partner seine
Ziele erreichen kann. Es ist mit Zeitaufwand und Anstrengungen, aber mit geringen Gefahren für den
Helfer verbunden. Beispiele sind Kinderhüten oder das nachbarschaftliche Aushelfen mit
Lebensmitteln. Geben beinhaltet den Verzicht auf Güter, wie z. B. Geld, Süssigkeiten oder auch
Organe des eigenen Körpers. Hier ist ein materielles Opfer gefragt, aber nur selten Zeit oder Mühe.
Bei einer Intervention tritt der Akteur in eine soziale Beziehung ein, um die Lage des Hilfsbedürftigen
zu verbessern. Er wendet Zeit und Mühe auf, engagiert sich persönlich engagieren und setzt sich
teilweise körperlichen oder sozialen Gefahren aus. Ein Beispiel hierfür ist die Verteidigung eine
öffentlich angegriffenen Bekannten. Dieser Vorschlag zur Klassifikation befriedigt aber nach Bierhoff
(1990) nicht völlig, weil eine eindeutige Zuordnung konkreter Handlungen zu den drei Typen oft nicht
möglich ist. Schon wenn man eine Münze in die Geldbüchse einer Heilsarmee-Sammlerin werfe,
verzichte man nicht nur auf das Geld, sondern man trete auch mit der Sammlerin und mit der
beobachtenden Umwelt in eine soziale Beziehung.
Bleda, Bleda und Byrne (1976) unterscheiden Straftaten und Übertretungen, nicht strafbare Notfälle
sowie Nicht-Notfälle, die ein Eingreifen des potentiellen Helfers nötig machen könnten. Ein Beispiel
für eine Straftat ist ein Mord, für einen nicht strafbaren Notfall ein Sturz vom Stuhl und für einen
Nicht-Notfall eine Geldspende. Auf einer zweiten Dimension ordnen Bleda et al. die Intervention des
Helfers. Er kann spontan, auf Bitten hin, direkt oder durch Mobilisierung anderer Helfer eingreifen.
Obwohl die Zuordnung von Hilfeleistungen zu den Zellen der Matrix eindeutiger ist, sind nach
Bierhoff (1990) auch hier Unklarheiten vorhanden. Seien die Klagen der verunglückten
Versuchsleitern „Au, mein Fuss! Ich bin verletzt!“ als eine Bitte aufzufassen oder nicht?
Eisenberg, Cameron, Tryon und Dodez (1981) unterscheiden folgende prosoziale Verhaltensweisen:
-
Teilen: Weggeben eines Objektes aus dem Besitz des Kindes. Beim Teilen sind die Kosten
konkret, da das Weggeben einen temporären oder dauernden Verlust des Objekts bedeutet –
der Verlust kann durch das Kind antizipiert werden, kostet aber wenig Zeit.
-
Helfen/Assistieren: Versuche, die nicht-emotionalen Bedürfnisse der anderen Person zu
erfüllen, einschliesslich helfen, ein Ziel zu erreichen. Solches Verhalten beinhaltet keinen
Verlust eines Objekts, kann aber Zeit und Anstrengung kosten.
-
Trösten: Versuche, den emotionalen Stress einer anderen Person zu beseitigen. Dies kostet
Zeit und Aufmerksamkeit, beinhaltet jedoch selten den Verlust von Besitz oder körperliche
Anstrengung.
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
9
Jede Form von prosozialem Verhalten beinhaltet unterschiedliche objektive Kosten. Neben den
objektiven Kosten müssen jedoch auch die individuellen Kosten berücksichtigt werden. Diese werden
durch die individuellen persönlichen Ziele und der Zusammensetzung der verschiedenen persönlichen
Ziele und Kompetenzen des Kindes festgelegt. Sowohl die Stärke der individuellen Ziele wie auch
deren Position in der individuellen Zielhierarchie sind ausschlaggebend zur Berechnung der
subjektiven Kosten eines bestimmten Verhaltens für eine individuelle Person. Ebenfalls zentral ist die
Rolle der individuellen persönlichen Kompetenzen: So sind die Zeitkosten für das Helfen bei einer
Aufgabe niedriger, wenn der Helfer die zur Bewältigung der Aufgabe notwendigen Fähigkeiten besitzt
(Eisenberg, Cameron et al., 1981).
Die verschiedenen Formen unterscheiden sich nicht nur in ihren Kosten, sondern auch in ihrem
potentiellen Nutzen für den Akteur, wobei die Unterschiede im Nutzen nicht so ausgeprägt sind wie
bei den Kosten. Helfen zum Beispiel bietet die Möglichkeit für Bewunderung und Lob, während
Teilen wenig Möglichkeiten für die Anerkennung bestimmter Fähigkeiten bereitstellt. Weiter führt
Hilfeverhalten, das viel Zeit benötigt, sehr wahrscheinlich zu längeren positiven Interaktionen mit dem
Empfänger als Teilen. Sowohl die subjektiven Vorteile wie auch die Kosten der verschiedenen Arten
des prosozialen Verhaltens werden von individuellen Unterschieden in Persönlichkeitsmerkmalen wie
dem Temperament und der Geselligkeit mediiert: Für ein passives, nachgiebiges Kind ist das
Weggeben eines Objektes weniger kostenreich als extensives verbales oder körperliches Assistieren
(Eisenberg,
Cameron
et
al.,
1981).
Individuelle
Unterschiede
bei
verschiedenen
Persönlichkeitsmerkmalen legen deshalb fest, welche prosoziale Handlung eine bestimmte Person
bevorzugt ausführt und wie wahrscheinlich es ist, dass sie den prosozialen Akt ausführt (Gergen,
Gergen & Meter, 1972).
Eisenberg, Cameron & Tryon (1984) weisen weiter darauf hin, dass es wichtig ist, die Quelle der
Initiierung des prosozialen Verhaltens zu unterscheiden. Spontanes prosoziales Verhalten bezieht sich
auf Handlungen, bei denen der Akteur das prosoziale Verhalten initiiert ohne dass der potentielle
Rezipient oder eine Drittperson verbal oder nonverbal um Unterstützung bittet. Verlangtes prosoziales
Verhalten dagegen beinhaltet Verhaltensweisen, die als Reaktion auf verbale oder nonverbale
Anfragen des potentiellen Rezipienten oder einer dritten Partei ausgeführt werden. Spontane Akte sind
also selbstinitiiert, obwohl sie häufig eine Reaktion auf situationale Signale, die das Bedürfnis der
anderen Person klar indizieren, darstellen. Verlangtes prosoziales Verhalten dagegen ist fremdinitiiert
und stellt eine Compliance mit den Bitten der bedürftigen Person oder einer dritten Partei dar. Diese
zwei Formen sind Reaktionen auf unterschiedliche Signale der Umwelt und beinhalten deshalb
unterschiedliche Muster von Kosten und Nutzen:
In Situationen, in die verlangtes prosoziales Verhalten eingebettet ist, wird das Individuum direkt um
Hilfe gefragt. Dieser Aufforderung zu folgen, beinhaltet folgenden Nutzen: a) die Vermeidung eines
interpersonellen Konflikts, der aus einer Weigerung resultieren könnte, b) eine konkrete und
interpersonelle Belohnung vom Rezipienten. Neben den unmittelbaren Kosten (Zeit, evtl. verlorener
Kapitel 1: Begriffsbestimmungen
10
Besitz) kann es zu zusätzlichen Kosten kommen, wenn das Kind als leichtes Ziel für zukünftige
Anfragen angesehen wird. Spontanes Verhalten dagegen beinhaltet keine direkte Compliance. Die
Performanz von spontanem Verhalten reflektiert deshalb keine speziell unterwürfige Natur und die
Entscheidung, nicht zu helfen führt hier weniger wahrscheinlich zu einer negativen interpersonellen
Reaktion als die Zurückweisung einer Anfrage.
Bischof-Köhler (1989) unterscheidet emotional neutrale Situationen von so genannt emotionalen
Situationen. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass sich der potentielle Empfänger in einer
emotionalen Notlage befindet. Bischof-Köhler geht davon aus, dass in solchen Situationen die
Fähigkeit zur Empathie zu prosozialem Verhalten führt. In neutralen Situationen dagegen beeinflussen
andere Faktoren die Wahrscheinlichkeit, ob eine prosoziale Intervention erfolgt.
1. 2. 2. Empirisch gewonnene Klassifikationen
Schneider (1978) befragte zunächst Studenten schriftlich, wie sie sich in der Vergangenheit
hinsichtlich 21 verschiedener Hilfeleistungen verhalten hatten oder wie sie sich nach ihrer Vermutung
verhalten würden. Eine Faktorenanalyse der Antworten lieferte neun Dimensionen. In der Reihenfolge
der erklärten Varianzanteile sind dies: Aufgaben, die Kontakte mit fremden Personen beinhalten,
Beteiligung an politischen Kampagnen, rechtzeitige Rücksendung eines Fragebogens, Bereitschaft zur
Versuchspersonentätigkeit, Warenkauf an der Haustüre, der mit einem guten Zweck verbunden ist,
Geldspenden, Aktivitäten mit dem Auto, Hilfe, nachdem man vom Opfer angesprochen worden
wurde, sowie Blutspenden. Um von dieser unübersichtlichen Lösung zu einer einfacheren
vorzustossen, wurde eine Faktorenanalyse zweiter Ordnung gerechnet, die vor allem zwischen Hilfe
nach einem Appell und Hilfe ohne Aufforderung differenzierte. Die Unterscheidung zwischen
Hilfeleistungen nach Appell und ohne Appell dürfte auch theoretisch sinnvoll sein, weil im ersten Fall
einem Einflussversuch nachgegeben oder nicht nachgegeben wird, während im zweiten Fall spontan
reagiert wird.
Mit Einbezug der Einteilungen von Bischof-Köhlers (1989) und Eisenberg et al. (1981) lässt sich das
prosoziale Verhalten von Kleinkindern somit entlang von drei Dimensionen einordnen:
-
Prosoziales Verhalten mit vs. prosoziales Verhalten ohne Aufforderung
-
Emotionale Situationen vs. emotional neutrale Situationen
-
Teilen (Weggeben von materiellen Gütern) vs. Trösten/Assistieren
Allerdings besteht weiterhin das Problem, dass es schwierig sein kann, einzelne, konkrete Situationen
den Dimensionen zuzuordnen.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
11
2. Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
Prosoziales Verhalten ist ein komplexes Geschehen und hängt von einer Reihe von Bedingungen ab.
Das prosoziale Verhalten ist also multideterminiert (Halisch, 1988). Für die vorliegenden Studie "Die
Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren" sind, wie in Kapitel 1
bereits kurz skizziert, folgende Themen wichtig:
1. Entwicklung des prosozialen Verhaltens: Erstmanifestation und Veränderungen mit dem Alter
2. Determinanten des prosozialen Verhaltens
Zu 1.: Für das prosoziale Verhalten bilden emotionale und sozio-kognitive Fähigkeiten grundlegende
Voraussetzungen. Genannt werden etwa Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme und der Empathie
sowie die Ich-Andere-Unterscheidung, welche sich in den ersten zwei Lebensjahren entwickeln und in
diesem Zeitabschnitt dramatischen Veränderungen unterliegen. Die drei "grossen" Theorierichtungen
psychoanalytische Ansätze, kognitive Theorien sowie Lerntheorien beschreiben die Entwicklung eines
Teils dieser Fähigkeiten. Unter 2. 1. werden deshalb zunächst diese Ansätze in ihren Grundzügen
vorgestellt und daraus Annahmen für die Entwicklung von prosozialem Verhalten abgeleitet.
Verschiedene Autoren haben versucht, die Erkenntnisse dieser Ansätze zu nutzen und spezifische
Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten entwickelt. Die meisten dieser Theorien
versuchen, die Entwicklung von prosozialem Verhalten anhand einer Kombination von Erkenntnissen
aus den drei Theorierichtungen zu erklären, indem sie kausale Zusammenhänge zwischen der
kognitiven und emotionellen Entwicklung auf der einen Seite und der prosozialen Entwicklung auf der
anderen Seite herstellen. Unter 2. 2. werden Ansätze skizziert, die für das Verständnis des prosozialen
Verhaltens von Kleinkindern besonders wesentlich sind.
Zu 2.: Obwohl ein Grossteil der Theorien zur Entwicklung des prosozialen Verhaltens davon ausgeht,
dass Kinder unter zwei Jahren fähig sind, prosozial zu handeln, tun sie dies nicht immer, wenn sie
dazu Gelegenheit hätten. Ulich, Kienbaum und Volland (2001) weisen darauf hin, dass Mitgefühl und
prosoziales Verhalten selektiv vergeben werden: Kinder zeigen Mitgefühl und prosoziales Verhalten
nicht allen potenziellen Empfängern gegenüber. Nach Caplan (1993) liegt dies daran, dass
gesellschaftliche Normen zwar verlangen, dass man auf andere Rücksicht nehmen und anderen helfen
soll, gleichzeitig aber Sozialisationserfahrungen wirken, die die natürlichen, frühen Impulse, sich um
andere zu kümmern, unterdrücken. Neben den Sozialisationsagenten können weitere Faktoren wie z.
B. individuelle Merkmale das prosoziale Verhalten in vielfältiger Weise beeinflussen. Eisenberg und
Mussen (1989) identifizieren sieben Kategorien von Faktoren, die das prosoziale Verhalten formen:
biologische Faktoren, Gruppenzugehörigkeit/Kultur, Sozialisationserfahrungen inner- und ausserhalb
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
12
der Familie, kognitive Prozesse, emotionale Empfängnisfähigkeit, individuelle Merkmale sowie
situationale Faktoren.
Die sechs erstgenannten Faktoren beeinflussen die Ontogenese des prosozialen Verhaltens und können
zu interindividuellen Unterschieden führen. Die situationalen Faktoren beeinflussen im Gegensatz
dazu die Aktualgenese, das heisst, die Auftretenswahrscheinlichkeit des prosozialen Verhaltens in
einer bestimmten Situation (Eisenberg & Mussen, 1989). In meiner Arbeit fokussiere ich auf folgende
Faktoren, welche im Zusammenhang mit meiner nachfolgend präsentierten Studie wichtig sind:
kognitive Prozesse (Kapitel 2. 1. und 2. 2.), emotionale Empfängnisfähigkeit (Kapitel 2. 1. und 2. 2.),
individuelle Merkmale des Zielkindes (Kapitel 2. 3. 1.), ausserfamiliale Sozialisationserfahrungen
(Kapitel 2. 3. 2.) sowie Charakteristika des Empfängers (Kapitel 2. 3. 3.).
2. 1. Entwicklungstheorien und Implikationen für das prosoziale Verhalten
2. 1. 1. Psychoanalytische Ansätze zur Erklärung von prosozialem Verhalten
2. 1. 1. 1. Der klassische psychoanalytische Ansatz
Die Fähigkeit zu prosozialem Verhalten lässt sich in Freuds Modell der psychischen Entwicklung wie
folgt einordnen:
Nach Freud (2004) besteht das Persönlichkeitssystem aus drei Hauptstrukturen, dem Es, dem Ich
sowie dem Über-Ich. Letzteres reflektiert die Standards der Eltern bzw. der Gesellschaft und strebt
nach Perfektion. Es entwickelt sich mit 5 – 6 Jahren aus dem Ich, wenn das Kind die Ödipus- bzw.
Elektrasituation durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil löst. Durch die
Identifikation übernimmt und internalisiert das Kind die Werte, den moralischen Standart, die Motive
und die Verhaltensmuster der Eltern und anderer Modelle. Nach Freud ist der Mensch also von Natur
aus selbstsüchtig und strebt nach Befriedigung seiner Triebe. Damit das menschliche und
gesellschaftliche Zusammenleben funktionieren kann, müssen die egoistischen Strebungen unterdrückt
werden. Dies geschieht von aussen durch Normen und Gebote, die durch den Prozess der
Identifikation internalisiert werden. Moralisches und prosoziales Verhalten repräsentieren also die
Internalisierung der Werte der Eltern und der Gesellschaft. Prosoziales Verhalten aus eigenen Antrieb
ist nach der klassischen psychoanalytischen Orientierung erst möglich, wenn die Identifikation mit den
Eltern stattgefunden hat und das Über-Ich gebildet wurde, was mit 5 – 6 Jahren der Fall ist. Jüngere
Kinder handeln allenfalls dann prosozial, wenn sie von Autoritäten dazu aufgefordert werden oder um
Erwachsenen zu gefallen.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
13
2. 1. 1. 2. Die britische Schule
Aufbauend auf der Theorie zur Entwicklung von Objektbeziehungen der britischen Schule nimmt
Sharabany (1984) an, dass die Qualität der Beziehungen mit wichtigen Anderen die Basis für das
prosoziale Verhalten darstellt und dass das Potential zu prosozialem Verhalten sich aus komplexen
Prozessen wie der Empathie, der Wahrnehmung von anderen und der persönlichen Identität
zusammensetzt. Die Beziehungen mit wichtigen Anderen in jeder Entwicklungsphase sind das Labor,
in welchem sich Empathie, Wahrnehmung von anderen und Identität bilden. Die Beziehung zu den
Eltern bzw. den Betreuungspersonen ist ein wichtiger Vorläufer des prosozialen Verhaltens: In der
Säuglingszeit ist prosoziales Verhalten auf die Fantasie und das Bindungsverhalten beschränkt. Zyklen
von Frustration und Freude produzieren im Kind parallele Aggressionsfantasien und Schuldgefühle
gegenüber der Objekt-Mutter (Winnicott, 1974). Die Fantasien stammen aus den zwei Quellen LiebeLibido sowie Aggression-Tod und vermischen sich mit realen Erfahrungen. Belohnende Fantasien
werden mit freudigen Erfahrungen (z. B gefüttert werden) verknüpft, während aggressive und
Todesfantasien sich mit Frustrationen (wie Hungergefühlen) vermischen. Die unerfreulichen Fantasien
und Erfahrungen kreieren Angst, während die positive libidinöse Beziehung mit der Mutter das Kind
mit positiven Erfahrungen versorgt. Diese macht das Schlechte ungeschehen, das das Kind in der
Fantasie ausgeführt hat, als es wütend oder ängstlich war. In der Fantasie hat das Kind den Wunsch,
das gute Objekt – die Mutter – zu erhalten und die Angst zu reduzieren, indem es die fantasierten
Aggressionen ungeschehen macht. Dies ist der Beginn von Schuldgefühlen und der Sorge um andere
(Klein, 1971).
Die Kleinkindheit ist gekennzeichnet durch erweiterte soziale Beziehungen. Zusätzlich zu den Eltern
werden die Peers wichtige Personen. Prosoziales Verhalten geschieht nicht mehr nur in der Fantasie,
sondern wird real ausgeführt. Die Veränderungen in den Objektbeziehungen und dem prosozialen
Verhalten ergeben sich als Resultat von Reifungsprozessen, der Art der inneren Objekte aus der
Säuglingszeit und den neuen Erfahrungen mit der Umwelt (Sharabany, 1984).
Nach Sharabany sind also die Objektbeziehungen der frühen Kindheit für die Entwicklung von
prosozialem Verhalten zentral. Zyklen von Frustration und Freude führen beim Kind zu
Aggressionsfantasien wie auch zu Schuldgefühlen gegenüber der Objektmutter. Überwiegen die
positiven Erfahrungen mit der Mutter, erlaubt es sich das Kind, Schuld und Besorgnis zu erleben und
diesen Gefühlen nicht auszuweichen. Dabei werden wiedergutmachende, prosoziale Handlungen
zunächst nur in der Fantasie ausgeübt. Mit dem Eintritt in das Kleinkindalter, das mit einer
Erweiterung der sozialen Beziehungen einhergeht, werden prosoziale Handlungen, die bisher nur in
der Fantasie stattgefunden haben, nun real ausgeführt.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
14
2. 1. 2. Lerntheoretische Ansätze
Aus lerntheoretischer Sicht ist das Ausmass, in dem sich eine Person prosozial engagiert, wie auch die
Häufigkeit und das Muster dieses Verhaltens ein Resultat der vorangegangen Lerngeschichte. Mit
anderen Worten: Eine Person ist ehrlich, grosszügig und hilfsbereit, weil sie es gelernt hat. Wenn man
also die Entwicklung des prosozialen Verhaltens von Kindern verstehen will, ist es notwendig, die
allgemeinen Mechanismen, wie Verhalten erworben wird, zu verstehen. Im Bereich der Lerntheorie
lassen sich zwei Gruppen von Theorien unterscheiden: zum einen die Bekräftigungstheorien bzw. die
klassischen Lerntheorien und zum anderen die sozial-kognitive Lerntheorie.
Nach der klassischen Lerntheorie hat der Mensch zwar angeborene Reflexe, die Mehrheit der
Verhaltensweisen ist jedoch nicht angeboren und muss gelernt werden. Gemäss Pavlow wird das
Individuum mit einem Set von simplen Reflexen geboren. Mit zunehmender Erfahrung mit der Welt
erweitert sich die Bandbreite an Ereignissen, die einen Reflex auslösen und die einfachen Reflexe
werden zu einer komplexen Reflexsequenz kombiniert (Schwartz & Reisberg, 1991). Es können aber
nicht nur Reflexe gelernt werden, sondern auch komplexere Verhaltensweisen und emotionale
Reaktionen (Edelmann, 2000). Als Erklärung für prosoziales Verhalten bei sehr kleinen Kindern
gehen Vertreter des klassischen Konditionierens von folgenden Annahmen aus: Natürliche,
angeborene Reflexe können mittels Darbietung bestimmter Reize bestimmte Reaktionen auslösen.
Solche Reaktionen können konditioniert werden, wenn ein neutraler Reiz durch mehrmalige
Darbietung mit einem unkonditionierten, d. h. nicht an bestimmte Bedingungen gebundenen Reiz,
verbunden wird. Jedes Verhalten, auch prosoziales Verhalten, kann auf diese Weise gelernt werden.
Prosoziales und moralisches Verhalten ist nach dieser Theorie nichts anderes als eine konditionierte
Angstreaktion. Als Ausgangspunkt wird die von der ersten Lebensminute an zu beobachtende
Urreaktion des Menschen, schreien zu können, gesehen. Das Weinen eines Kindes wirkt als starker
unkonditionierter Reiz, der zu unkonditionierten, negativ-emotionalen Reaktionen führt. Das heisst,
der Verdrusszustand eines kleinen Kindes führt zu reflexhaft auftretendem Weinen bei anderen
Kindern. Dieses Weinen wird im Verlauf der kindlichen Entwicklung zu einem konditionierten Reiz,
der aufgrund vorausgegangener Erfahrungen als Signal wirkt und zu konditionierten Orientierungsund Schutzreaktionen führt. Die Darbietung des Weinens kann dazu führen, dass prosoziale
Verhaltensformen, zunächst als Abbrechen der eigenen Tätigkeit bis hin zu gezielten
Verhaltensweisen, solange eingesetzt werden, bis dieser Verdrusszustand beseitigt ist. Kognitive
Reifungsschritte wie z. B. eine zunehmende Unterscheidung zwischen der eigenen Person und der
Umwelt sowie die Fähigkeit zur Perspektiven- und Rollenübernahme begünstigen im Verlauf der
ontogenetischen Entwicklung das Erkennen eines Zusammenhangs zwischen der eigenen Handlung
und der Reaktion anderer. Emotionale Reifungsschritte wie die zunehmende Differenzierung
emotionaler Reaktionsformen und der damit zusammenhängenden Intensität und situativen
Angemessenheit fördern eine Weiterentwicklung des Motivs Mitgefühl (Schuster, 1988).
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
15
Die operante Lerntheorie geht davon aus, dass die meisten Verhaltensweisen mehr sind als
automatische, nicht willentlich steuerbare Reaktionen auf Reize in der Umwelt. Menschliches
Verhalten ist zum grossen Teil zielgerichtet und wird durch seine antizipierten Konsequenzen
gesteuert (Schwartz & Reisberg, 1991). Nach der Theorie des operanten Konditionierens führen
Menschen Verhaltensweisen aus, die erfolgreich sind und positiv oder negativ verstärkt werden. Dies
gilt auch für prosoziales Verhalten. Für den Aufbau von prosozialem Verhalten bei kleinen Kindern
bedeutet dies, dass sie prosoziales Verhalten dann in ihr Repertoire aufnehmen, wenn sie dafür
verstärkt werden. Bei Kindern im Vorschulalter stehen vor allem extrinsisch motivierte,
selbstbezogene Belohnungserwartungen im Vordergrund. Sie dienen nicht nur dem Aufbau
prosozialen Verhaltens, sondern haben auch die Funktion, Rückmeldungen über die An- und
Unangemessenheit dieses Verhaltens zu geben. Neben äusseren Verstärkern wie Süssigkeiten, Geld
etc. ist auch die Erwartung von internalen Bekräftigungsprozessen ein wichtiges Motiv prosozialen
Verhaltens. Selbstbekräftigungsprozesse können als Emotionen oder Kognitionen zum einen stark
selbstbezogenen Charakter haben z. B. als Vermeidung von Schuldgefühlen. Sie können aber auch
fremdorientiert sein und sich als Freude oder Erleichterung darüber, dass es dem anderen besser geht,
zeigen (Schuster, 1988).
Nach Banduras sozial-kognitiver Lerntheorie lernen die Menschen nicht nur aus den Auswirkungen
ihres eigenen Handelns, die meisten menschlichen Verhaltensweisen werden durch das Beobachten
von Modellen erlernt: Bei der Beobachtung anderer erhält man eine Vorstellung davon, wie diese
Verhaltensweisen ausgeführt werden und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen. Später dient
diese kodierte Information als Handlungsrichtlinie. Während der Darbietung eignen sich die
Beobachter die modellierten Verhaltensweisen vor allem in Form symbolischer Repräsentationen an.
Dadurch können vorübergehende Modellierungserfahrungen dauerhaft im Gedächtnis gespeichert
werden (Bandura, 1979). Die symbolischen Repräsentationen werden zu einem späteren Zeitpunkt in
angemessene Handlungen umgesetzt. Nicht alles, was gelernt wird, wird jedoch in die Tat umgesetzt.
Modelliertes Verhalten wird nur dann in das Repertoire aufgenommen, wenn es belohnende
Konsequenzen nach sich zieht. Weitgehend identisch wirkt sich der Einfluss von Konsequenzen, die
das Modell betreffen, aus. Als Folge wiederholter direkter oder stellvertretender Erfahrungen werden
diese Verhaltensweisen internalisiert und die Menschen bekräftigen ihr Verhalten selbst. Da dies
sowohl fördernde wie auch einschränkende Effekte der Selbstreaktionen einschliesst, verwendet
Bandura dafür den Terminus Selbstregulierung (Bandura, 1986).
Da das Beobachtungslernen mehrere Unterfunktionen umfasst, die sich im Laufe der Reifung und
Erfahrung herausbilden, ist es von der Entwicklung bestimmter Faktoren abhängig. Dabei muss
zwischen der sofortigen und der verzögerten Nachahmung unterschieden werden. Bei Kindern im
ersten Lebensjahr ist das Lernen am Modell weitgehend auf die sofortige Nachahmung beschränkt.
Mit dem Fortgang ihrer intellektuellen Entwicklung im zweiten Lebensjahr gelingt den Kindern
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
16
schliesslich die geistige Reproduktion. Die Schemata werden durch Repräsentationen innerlich so
koordiniert, dass sich neue Muster modellierten Verhaltens herausbilden, ohne dass dazu provisorische
Handlungsversuche erforderlich wären (Bandura, 1986).
2. 1. 3. Kognitive Theorien
2. 1. 3. 1. Die geistige Entwicklung nach Jean Piaget
Die entwicklungspsychologische Erklärung kognitiver Prozesse beruht auf der Theorie von Jean
Piaget. Piaget unterscheidet vier Stufen der geistigen Entwicklung: Es sind dies das sensumotorische,
das präoperatorische, das konkret-operatorische und das formal-operatorische Stadium, die jeweils
durch charakteristische Fähigkeiten und Beschränkungen gekennzeichnet sind. Kinder bis zwei Jahre
befinden sich auf der sensumotorische Stufe, die im folgenden skizziert wird:
Auf der sensumotorischen Stufe geht es um den Erwerb der so genannten Gruppenstrukturen.
Wesentliche Entwicklungsschritte dieser Stufe sind der Erwerb von Konstanzen, z. B.
Grössenkonstanz, Farbkonstanz, der Erwerb von Identitäten wie das Wiedererkennen der Mutter sowie
der Erwerb der Objektpermanenz. Die sensumotorische Stufe unterteilt Piaget weiter in sechs Stadien:
Im ersten Stadium (1. Lebensmonat) werden angeborene Mechanismen eingeübt, was zu einer
Konsolidierung des Repertoires und zur Anpassung an die jeweiligen Umweltgegebenheiten führt.
Kennzeichen des zweiten Stadiums (1. - 4. Lebensmonat) sind die primären Kreisreaktionen:
Handlungen, die zu einem angenehmen Ergebnis führen, werden wiederholt und es findet eine erste
Koordination von Schemata statt. Bei den sekundären Kreisreaktionen des Stadiums 3 (4. – 8. Monat)
werden Mittel und Zweck erstmals voneinander unterschieden. Damit kann eine Handlung zu einem
bestimmten Zweck eingesetzt werden. Im vierten Stadium (8. – 12. Monat) werden erworbene
Handlungsschemata koordiniert und auf neue Situationen angewendet. Dadurch differenzieren sich die
Handlungsschemata weiter und passen sich den Gegenständen an. Mit 12 - 18 Monaten wird Stadium
5 erreicht, das durch die tertiären Kreisreaktionen gekennzeichnet ist: Durch aktives Experimentieren
werden neue Handlungsschemata entdeckt. Im sechsten Stadium (18. – 24. Monat) findet der
Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung statt. Das Kind kann die Ergebnisse
seiner Handlungen antizipieren. Praktisches Probieren ist nicht mehr notwendig, da Handlungen
innerlich vollzogen werden können. Diese Verinnerlichung von Handlungen charakterisiert den
Übergang zum Denken. Ein Indiz für den Aufbau einer inneren Repräsentation ist beispielsweise die
verzögerte Nachahmung, denn eine Handlung kann nur nachgeahmt werden, wenn sie innerlich
repräsentiert ist (Montada, 2002).
Piaget nimmt an, dass Kinder vor der konkret-operatorischen Stufe, die mit ca. 5 - 6 Jahren erreicht
wird, limitierte Fähigkeiten zur Perspektiveübernahme haben. Perspektivenübernahme bezeichnet in
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
17
diesem Zusammenhang die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Kognitive
Theorien betrachten aber gerade die Perspektivenübernahme als Voraussetzung für prosoziales
Verhalten. Sie gehen davon aus, dass die Notlage eines Menschen nur dann erkannt werden kann,
wenn der Beobachter fähig ist, sich in die Lage der anderen Person zu versetzen und dadurch der
Hilfsbedürftigkeit gewahr wird. Auf das prosoziale Verhalten übertragen bedeutet dies, dass sich
spontanes prosoziales Verhalten nicht in den beschriebenen sechs Stadien, sondern erst in Alter von 5
bis 6 Jahren zeigt.
2. 1. 3. 2. Die Entwicklung des moralischen Urteils nach Piaget und Kohlberg
Die Altruismusforschung aus kognitionstheoretischer Sicht ist zum Teil deckungsgleich mit den
Untersuchungen zum moralischen Urteil, die auf den Konzepten Piagets und Kohlbergs beruhen.
Piaget geht von einem Stufenmodell der moralischen Entwicklung aus, wobei Kinder im Vorschulalter
sich auf der Stufe der heteronomen Moral befinden. Kennzeichnend für diese Stufe ist unter anderem
der Egozentrismus, das heisst, Kinder auf der voroperatorischen Stufe sind nicht in der Lage, die
Perspektive einer anderen Person einzunehmen (Piaget, 1990).
Kohlberg stellte, von Piagets Theorie ausgehend, ein eigenes Konzept zur Entwicklung des
moralischen Urteils vor. Nach Kohlberg verläuft die moralische Entwicklung in sechs Stadien , die auf
drei Niveaustufen angeordnet sind. Kinder unter neun Jahren befinden sich auf dem
präkonventionellen Niveau. Auf diesem haben die Kinder zwar schon eine Vorstellung von „gut“ und
„böse“, aber Regeln werden vor allem zur Vermeidung von Strafen und zur Befriedigung eigener
Bedürfnisse befolgt. Im ersten Stadium werden Regeln eingehalten, bei deren Übertretung eine Strafe
droht. Die soziale Perspektive ist egozentrisch, das heisst, der Handelnde berücksichtigt die Interessen
anderer nicht oder erkennt nicht, dass sie sich von den eigenen unterscheiden können. Handlungen
werden nach dem äusseren Erscheinungsbild beurteilt und nicht nach den dahinter stehenden
Intentionen. Im Stadium 2 werden Regeln eingehalten, wenn es den unmittelbaren Interessen einer
Person dient. Das konventionelle Niveau ist gekennzeichnet durch die Orientierung an sozialen
Normen, während auf dem postkonventionellen Niveau gesellschaftliche Regeln zwar auch akzeptiert
werden, aber nur, wenn sie mit übergeordneten moralischen Prinzipien übereinstimmen (Kohlberg,
1996).
Auf das prosoziale Verhalten übertragen implizieren Piagets und Kohlbergs Überlegungen, dass
Kinder im Vorschulalter egozentrisch und amoralisch sind. Handlungen werden ausschliesslich nach
ihren Konsequenzen und nicht nach der dahinter stehenden Absicht beurteilt. Erst mit der
Überwindung des Egozentrismus und damit der Entwicklung der Fähigkeit, die Perspektive einer
anderen Person einzunehmen, findet ein Übergang zur höheren Stufe statt. Kinder im Vorschulalter
befinden sich auf der Stufe der heteronomen Moral bzw. dem präkonventionellen Niveau. Sie sind zur
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
18
Perspektivenübernahme noch nicht fähig und können deshalb die Notlage einer anderen Person nicht
erkennen. Demzufolge sind Kinder im Vorschulalter nicht in der Lage, spontan prosozial zu handeln.
Prosoziales Verhalten kann von kleinen Kindern allenfalls auf eine direkte Aufforderung hin oder zur
Erlangung eines persönlichen Vorteils ausgeführt werden.
2. 1. 4. Vergleich der drei Theorierichtungen
Die drei vorgestellten Theorierichtungen haben sich zumindest indirekt mit prosozialem oder
moralischem Verhalten befasst. Jede Theorie beschäftigt sich mit unterschiedlichen Aspekten und
ergänzt die anderen: Die psychoanalytischen und kognitiven Theorien beziehen sich auf
intrapsychische Prozesse (Kognition, Emotion, Motivation), während sich die Lerntheorie auf
beobachtbares Verhalten konzentriert. Die psychoanalytischen Theorien, die auf die motivationalen
und emotionalen Aspekte der prosozialen Entwicklung fokussieren, haben das Ziel, zu erklären, wie
bewusste und unbewusste Motive das Hilfeverhalten beeinflussen. Sie weisen auf die Bedeutung der
frühen Eltern-Kind-Beziehung bei der Entwicklung des prosozialen Verhaltens hin (Sharabany & BarTal, 1982). Auch die kognitiven Theorien beziehen sich auf intrapsychische Prozesse, jedoch auf die
Entwicklung von kognitiven Faktoren wie die Perspektivenübernahme und ihre Auswirkungen auf das
prosoziale Verhalten. Die Lerntheorie dagegen trägt zum Verständnis der prosozialen Verhaltens bei,
weil sie sich vor allem auf das beobachtbare Verhalten konzentriert und die Mechanismen aufzeigt,
mittels derer prosoziales Verhalten erworben und aufrechterhalten wird. Weiter kann sie als
aktualgenetisches
Modell
Bedingungen
und
Situationen
aufzeigen,
unter
denen
die
Auftretenswahrscheinlichkeit des prosozialen Verhaltens steigt oder sinkt.
Die kognitions- und psychoanalytischen Modelle, die von einer stufenförmigen Entwicklung mit
qualitativen Veränderungen ausgehen, sagen voraus, dass das prosoziale Verhalten von Kindern
sprunghaft zunimmt. Vor der Perspektivenübernahme ist prosoziales Verhalten, das freiwillig und
intentional ist, nicht möglich. Auch die britische Schule geht davon aus, dass mit dem Eintritt in das
Kleinkindalter eine qualitative Veränderung stattfindet und es dem Kind ermöglicht, seine prosozialen
Phantasien in die Tat umzusetzen. Die Lerntheorie geht von einer kontinuierlichen Entwicklung mit
einer quantitativen Zunahme von Verhaltensweisen aus. Kinder imitieren prosoziales Verhalten, das
sie bei anderen Personen gesehen haben, und das beim Modell verstärkt wurde. Wird ihr prosoziales
Verhalten dann ebenfalls verstärkt, werden sie es weiterhin ausführen. In Rahmen der operanten
Lerntheorie ist es ausserdem möglich, dass das Kind nach dem „trial and error“ Prinzips prosoziales
Verhalten spontan zeigt, um zu sehen, welchen Effekt dies hervorruft. Weiter können sie einer
direkten Aufforderung einer dritten Person nachkommen. Wenn dieses Verhalten verstärkt wird, führt
dies zu einer Zunahme der Wahrscheinlichkeit, dass das Kind das Verhalten weiterhin zeigen wird und
es spontan auszuführen beginnt.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
19
2. 2. Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten
2. 2. 1. Die Empathie-Theorie von Hoffman
Hoffman stellte 1975 eine Entwicklungstheorie der altruistischen Motivation vor, in der er sich auf die
Rolle der Empathie bei der Auslösung von prosozialem Verhalten konzentrierte. Da seine Theorie
einerseits als Ausgangspunkt für die Entwicklung weiterer Theorien zum prosozialen Verhalten diente
und andererseits die darin formulierten Annahmen von verschiedenen Autoren (z. B. Bischof-Köhler,
1994; Zahn-Waxler & Radke-Yarrow, 1982) empirisch überprüft wurden, wird sie im Folgenden
ausführlich referiert.
Hoffman nimmt an, dass der Mensch biologisch prädisponiert ist, empathisch zu reagieren und die
Empathie die grundlegende Voraussetzung für prosoziales Verhalten ist. Sie wird definiert als
stellvertretende emotional-mitfühlende Reaktion gegenüber einer anderen Person, welche eher der
Situation des anderen angemessen ist als der eigenen (Hoffman, 1982b). Empathie hat, obwohl primär
eine affektive Reaktion, kognitive und motivationale Komponenten, die in komplexer Art
zusammenspielen (Hoffman, 1982a).
Bei der affektiven Komponente unterscheidet Hoffman sechs Arten, die im Ausmass, in welchem
Wahrnehmung und Kognition involviert sind, in der Art des auslösenden Stimulus (z. B.
Gesichtsausdruck) sowie im Ausmass und der Art, in der vorherige Erfahrungen notwendig sind,
variieren (Hoffman, 1982b):
•
Das reaktive Weinen des Neugeborenen: Schon wenige Tage alte Kinder fangen an zu weinen,
wenn sie andere Kinder weinen hören (Simner, 1971). Dabei weinen die Kinder nur als
Reaktion auf menschliches Weinen und nicht auf Geräusche ähnlicher Lautstärke und
Intensität (Simner, 1971; Sagi und Hoffman, 1976). Die Kinder reagieren auf Stresssignale
eines anderen Menschen, indem sie selbst gestresst werden. Dieses reaktive Weinen ist
wahrscheinlich ein rudimentärer Vorläufer der Empathie (Hoffman, 1982b).
•
Klassische Konditionierung: Diese Art benötigt perzeptuelle diskriminative Fähigkeiten und
tritt in der Entwicklung deshalb etwas später auf als das reaktive Weinen. Sie ist das Resultat
einer klassischen Konditionierung und entsteht, wenn jemand die expressiven Signale einer
anderen Person beobachtet und gleichzeitig eine direkte Erfahrung eines ähnlichen Affekts
macht. Dadurch werden die expressiven Signale von anderen ein konditionierter Reiz, die
denselben Affekt im Beobachter wachrufen können.
•
Direkte Assoziation: Wenn wir jemanden beobachten, der eine Emotion erlebt, erinnern uns
sein Gesichtsausdruck, seine Stimme, die Körperhaltung oder jedes andere Signal von ihm
oder der Situation an vergangene Situationen, in denen wir diese Emotionen selbst erlebt
haben und rufen ähnliche Emotionen in uns wach. Die Voraussetzung für die direkte
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Assoziation ist, dass wir in der Vergangenheit affektive Erlebnisse hatten, die wir mit Signalen
assoziieren, die denen des Opfers oder der Situation ähnlich sind.
•
Mimikri: Lipps (1906) sah Empathie als eine isomorphe, ungelernte Reaktion auf den
Emotionsausdruck einer anderen Person. Dies geschieht in zwei Schritten: Zuerst imitiert der
Beobachter automatisch die Bewegungen des Gesichtsaudruckes und der Körperhaltung
(motorische Mimikri). Dadurch entstehen innere, kinästhetische Signale im Beobachter, die
durch afferentes Feedback dazu beitragen, dass der Beobachter die Gefühle des anderen
versteht und dieselben Gefühle empfindet.
•
Symbolische Assoziation: Sie basiert auf der Assoziation zwischen Affektsignalen der anderen
Person und dem eigenen, früheren Erleben von Emotionen. In diesem Fall führen die Signale
des Modells nicht aufgrund ihrer physikalischen oder expressiven Qualitäten zu empathischem
Affekt, sondern weil sie die Gefühle des Modells symbolisch repräsentieren. Dieses Signal
kann eine Beschreibung eines Ereignisses oder ein emotionales Label sein. Diese Art ist eine
fortgeschrittene Stufe, da sie da sie die Fähigkeit erfordert, Symbole zu interpretieren.
•
Rollenübernahme: Während die bereits beschriebenen Arten grösstenteils automatisch
ablaufen und wenig kognitive Fähigkeiten erfordern, unterscheidet sich diese Art von den
anderen, da sie die Fähigkeit erfordert, sich selbst an jemandes Stelle vorzustellen.
Empathische Reaktionen werden ausgelöst, wenn man sich vorstellt, wie man fühlen würde,
wenn das Ereignis, das der anderen Person zustösst, einem selbst widerfahren würde
(Hoffman, 1982a).
Diese sechs Formen der empathischen Erregung formen keine Stufensequenz in dem Sinne, dass jede
die vorherige einverleibt und ersetzt. Das reaktive Weinen verschwindet normalerweise, wenn das
Kind gelernt hat, Weinen bzw. Emotionen zu unterdrücken. Während die Rollenübernahme relativ
selten ist, treten die fünf anderen an verschiedenen Punkten der Entwicklung auf und bleiben das
ganze Leben lang aktiv. Welche von diesen Erregungsarten in einer bestimmten Situation aktiv wird,
hängt vor allem davon ab, welches Signal salient ist (Hoffman, 1982b). Anhand der oben skizzierten
Formen wird deutlich, dass bereits kleine Kinder, die noch nicht fähig sind, die Perspektive einer
anderen Person einzunehmen, empathisch reagieren können, da nicht alle empathischen Reaktionen
den kognitiven Prozess der Perspektivenübernahme voraussetzen. So ist es möglich, dass die
empathische Reaktion allein durch den Emotionsausdruck der anderen Person ausgelöst werden kann.
Kognitive Transformation und Entwicklungsstufen der Empathie: Obwohl Empathie durch simple
evolutionäre Mechanismen ausgelöst wird, ist das subjektive Erleben sehr komplex. Reife
empathische Personen sind sich bewusst, dass ihre Emotion auf einem Stimulus beruht, der einer
anderen Person zustösst und können erschliessen, was die andere Person fühlt. Kleine Kinder, die die
Ich-Andere-Unterscheidung noch nicht treffen können, können auch ohne dieses Wissen empathisch
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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reagieren. Wie eine Person die unangenehme Spannung subjektiv erlebt, hängt davon ab, auf welcher
Stufe der sozial-kognitiven Entwicklung sie sich befindet, wobei Hoffman vier Stufen unterscheidet:
Den grössten Teil des ersten Lebensjahres erlebt das Kind eine Fusion von sich selbst und anderen:
Objekte, Ereignisse und Personen werden nicht als vom Selbst unterschiedlich erlebt. Stufe 2 wird mit
etwa 12 Monaten erreicht, wenn sich die Kinder der anderen Personen als vom Selbst getrennte
körperliche Wesen gewahr werden. Trotz des Bewusstseins der Existenz der Menschen als
physikalische Wesen weiss das Kind jedoch noch nicht, dass diese eigene innere Zustände erleben und
tendiert dazu, anderen Personen seine eigenen Merkmale zuzuschreiben. Mit zwei Jahren oder schon
früher erreichen einige Kinder gemäss Hoffmann die dritte Stufe. Diese wird durch einer rudimentären
Perspektivenübernahme markiert: Die Kinder haben ein Gefühl dafür erworben, dass andere innere
Zustände (Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle) haben, die von ihren eigenen unabhängig sind, auch
wenn sie diese noch nicht erschliessen können. Der vierte Stufe in der Entwicklung wird zwischen 6
und 9 Jahren erreicht und besteht in der Erkenntnis, dass andere ihre eigene persönliche Identität
haben – ihre eigenen Lebensumstände und inneren Zustände, die über die momentane Situation
hinausgehen (Hoffman, 1975).
Die affektive Komponente der Empathie wird also in Abhängigkeit von der sozio-kognitiven
Entwicklung unterschiedlich erlebt. Analog der vier Stufen der sozio-kognitiven Entwicklung
unterscheidet Hoffman vier Entwicklungsstufen der empathischen Reaktion:
•
Globale Empathie: Bevor sich das Kind die Personenpermanenz angeeignet hat, führen
Stresssignale von anderen zu einer globalen empathischen Stressreaktion – einer Fusion von
unangenehmen
Gefühlen
und
Stimuli
vom
eigenen
Körper,
vom
verschwommen
wahrgenommenen Anderen und von der Situation. Da die Kinder sich noch nicht von anderen
unterscheiden können, ist für sie unklar, wer das Leid erlebt und sie handeln so, wie wenn das
Leid des anderen ihr eigenes wäre.
•
„Egozentrische“ Empathie: Die zweite Stufe wird erreicht, wenn das Kind klar zwischen sich
selbst und anderen unterscheiden kann und deshalb fähig ist, empathisch zu reagieren und sich
gleichzeitig bewusst zu sein, dass die andere Person eine direkte emotionale Erfahrung macht und
nicht es selbst. Das Kind kann noch nicht vollständig zwischen seinen und den inneren Zuständen
anderer unterscheiden und verwechselt sie deshalb mit seinen eigenen, was darin sichtbar wird,
dass das Kind anderen die Hilfeleistung anbietet, die es selbst in einer ähnlichen Situation erhielt
oder gern hätte.
•
Empathie für die Gefühle anderer: Mit dem Erwerb der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme mit
2 bis 3 Jahren erkennt das Kind, dass andere Personen innere Zustände haben, die unabhängig von
den eigenen sind und sich von diesen unterscheiden können. Deshalb versucht das Kind nun mehr
auf Signale zu achten, die auf den Inhalt der Gefühle der anderen Person hindeuten.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
•
22
Empathie für die allgemeine Notlage: In der späten Kindheit hat das Kind ein Selbstkonzept sowie
ein Konzept von anderen als Personen mit eigener Geschichte und Identität ausgebildet. Das
Bewusstsein, dass andere Gefühle haben, die über die unmittelbare Situation hinausgehen,
ermöglicht es dem Kind, nicht nur auf momentanes Leid anderer Personen empathisch zu
reagieren (Hoffman, 1982b).
Wenn die Kinder zur Ich-Andere-Unterscheidung fähig sind, wird ihr empathischer Stress, der bis
dahin eine mehr oder weniger exakte Nachbildung der Gefühle des Opfers war, in ein reziprokeres
Gefühl des Mitgefühls und Sorge um die andere Person transformiert. Die Kinder reagieren weiterhin
in einer empathischen, quasi-egoistischen Art, das heisst, sie fühlen sich selbst gestresst und unwohl.
Gleichzeitig erleben sie aber auch ein Gefühl des Mitgefühls, verbunden mit dem Wunsch zu helfen,
dies einerseits, weil sie Mitgefühl mit der leidenden Person empfinden, aber auch, um den eigenen
empathischen Stress zu verringern. Die Relevanz der Empathie für das prosoziale Verhalten besteht
darin, dass sie das Basismotiv für die prosoziale Reaktion bildet. Denn der beste Weg, den eigenen
Stress zu vermindern besteht darin, den Grund für den Stress zu beseitigen, das heisst, der anderen
Person zu helfen (Hoffman, 1982b).
Neben der Empathie schreibt Hoffman der Schuld motivationale Qualitäten für das prosoziale
Verhalten zu. Hoffman definiert Schuld als schlechtes Gefühl, das jemand gegenüber sich selbst hat,
wenn er sich bewusst wird, dass er jemandem Leid zugefügt hat. Die meisten Menschen fühlen schon
in frühem Alter Schuld, wenn sie jemanden verletzt haben. Die Schuld, die meist Resultat einer
unmoralischen oder zumindest egoistischen Tat ist, kann neben der Empathie ebenfalls als
altruistisches Motiv dienen. Die Schuld entsteht durch das Zusammenkommen einer empathischen
Reaktion auf das Leid einer anderen Person und der Einsicht, dass man das Leid der anderen Person
verursacht hat: Das Leid von anderen führt beim Kind zunächst zu empathischem Stress, der in Schuld
transformiert ist, wenn das Kind erkennt, dass seine Aktionen der Grund für die Verletzung waren.
Wie die Empathie besteht auch die Schuld aus einer affektiven, kognitiven und motivationalen
Komponente. Die affektive Dimension bezieht sich auf schmerzhafte Gefühle der Selbstverachtung
aufgrund der verletzenden Konsequenzen des eigenen Verhaltens. Die motivationale Dimension
bezieht sich auf die Tatsache, dass die Schuld den „Täter“ dazu motiviert, den Schaden wieder gut zu
machen oder irgendeine Entschädigung zu leisten. Die kognitive Dimension beinhaltet die IchAndere-Unterscheidung, die Fähigkeit, kausale Schlussfolgerungen vornehmen zu können sowie das
Bewusstsein, dass man Kontrolle über das eigene Verhalten hat. Die Entwicklung der Schuld verläuft
analog der Empathie in Abhängigkeit von der sozio-kognitiven Entwicklung entlang von vier Stufen
(Hoffman, 1982b).
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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2. 2. 2. Selbstobjektivierung und Empathie nach Bischof-Köhler
Im Zusammenhang mit der eingangs formulierten Fragestellung ist auch die weitere Differenzierung
wichtig, welche Bischof-Köhler (1989) vornimmt. Sie geht davon aus, dass sich beim prosozialen
Verhalten eine kognitive und eine motivationale Komponente unterscheiden lassen. Zunächst einmal
muss die Möglichkeit gegeben sein, den Mangel bzw. die Notlage des anderen zu erkennen. Daraus
muss dann die Motivation entstehen, Abhilfe zu schaffen. Die motivierende Kraft dabei ist nach
Bischof-Köhler das Mitgefühl, während die Empathie der Mechanismus ist, der zur Kenntnis über die
Notlage des anderen verhilft. Empathie ist die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen
teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt das Gefühl aber der
anderen Person zugehörig. Darin unterscheidet sich Empathie von der Gefühlsansteckung, bei der die
Stimmung des anderen vom Beobachter selbst Besitz ergreift und dabei zu dessen eigenem Gefühl
wird.
Funktional betrachtet geht es um die Frage, auf welcher Reizgrundlage und wie sich das empathische
Erleben aufbaut, wie man überhaupt dem Gefühl eines anderen teilhaftig wird. Als Reizgrundlage
kommen die Wahrnehmung des Ausdrucksverhaltens beim anderen oder die Wahrnehmung der
Situation, in der sich die andere Person befindet, in Betracht. Wenn das Ausdrucksverhalten der
anderen Person als Reizgrundlage dient, wird die Teilhabe am Gefühl des anderen durch die
Gefühlsansteckung erreicht. Die Ausdruckswahrnehmung induziert in Form eines angeborenen
Auslösemechanismus unmittelbar das entsprechende Gefühl im Beobachter. Das Selbstkonzept
ermöglicht aber, dass man die Ich-Andere-Unterscheidung treffen kann und sich dadurch seiner selbst
als eines vom anderen abgegrenzten Erlebnisträgers bewusst ist. Das übertragene Gefühl wird als der
anderen
Person
zugehörig
erkannt.
Auf
dem
phylogenetisch
alten
Mechanismus
der
Gefühlsansteckung aufbauend kann also Empathie resultieren, sobald zwischen dem 18. und 24.
Lebensmonat ein Selbstkonzept ausgebildet ist. Damit ist die kognitive Voraussetzung dafür erfüllt,
das eigene mitempfundene Gefühl als Gefühl des anderen zu erkennen und daraus Aufschluss über
seine emotionale Verfassung zu gewinnen.
Neben dem Ausdrucksverhalten gibt es noch eine zweite Möglichkeit, Empathie auszulösen. Sie
beruht darauf, dass die Situation wahrgenommen wird, in der sich ein anderer befindet. Auch bei der
situationsvermittelten Empathie ist die Selbstkonzeptbildung relevant, wenn auch auf andere Weise:
Sie eröffnet dem Individuum die Möglichkeit, den anderen als wesensverwandt zu erkennen. Deshalb
reagiert der Beobachter auf die Situation, in der sich das Opfer befindet, mit emotionaler Betroffenheit
(Bischof-Köhler, 1989).
In beiden Situationen erlebt nun der Beobachter angesichts der misslichen Lage des anderen neben
dem mitempfundenen Unbehagen gleichzeitig eine motivationale Spannung. Diese führt zur Absicht,
diesen Zustand zu beenden. Die nächstliegende Lösung bestünde darin, das empathische Unbehagen
dadurch zu beseitigen, dass man sich von dessen Quelle entfernt. Anders als bei der
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
24
Gefühlsansteckung aber spürt der empathische Beobachter, dass es primär um den anderen geht und
dieser auch dann noch der Situation ausgesetzt bleibt, wenn man sich von ihr entfernt hat. Dem
eigenen Unbehagen ist als nur zu entkommen, wenn man an der Situation des anderen etwas ändert.
Würde man sich entfernen, so würde einen der andere trotzdem in der Phantasie verfolgen, und das
empathische Unbehagen wäre vielleicht kleiner, aber nicht wirklich beseitigt (Bischof-Köhler, 1989).
2. 2. 3. Die kognitive Theorie von Krebs und Van Hesteren
Krebs und Van Hesteren gehen davon aus, dass die Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung
altruistischer werden. Die zentrale Quelle dieser Veränderung bildet dabei die kognitiv-strukturelle
Entwicklung. Krebs und Van Hesteren schlagen vor, altruistisches Verhalten als ein Kontinuum zu
beschreiben. Dieses reicht von Verhaltensweisen, die nur auf den maximalen Vorteil der eigenen
Person ausgerichtet sind bis zu Verhaltensweisen, die zum maximalen Vorteil einer anderen Person
gereichen. Auf diesem Kontinuum wird der Grad des Altruismus durch zwei Kriterien bestimmt: Der
Exklusivität, mit der ein Verhalten auf das Wohl anderer bzw. das eigene Wohl ausgerichtet ist sowie
der Höhe des Nutzens, der mit dem Verhalten verfolgt wird. Bei diesem Konzept von Altruismus
bilden also die Motive, die das Verhalten leiten und nicht die Konsequenzen das Definitionskriterium.
Die Art, wie die Menschen ihre soziale Umwelt verstehen, ist in kognitiven Strukturen organisiert, die
sich stufenweise entwickeln. Jede folgende Stufe hat ein weiteres Feld der Anwendbarkeit, ist höher
organisiert, systematischer und adaptiver als seine Vorläufer. Diese Strukturen prädisponieren die
Menschen für die entsprechenden Altruismusformen. Krebs und Van Hesteren (1994) postulieren acht
Formen des Altruismus. Dabei bildet nicht die phänotypische Erscheinung, sondern ihre internale,
genotypische Quelle – Motive, Intentionen und Ziele, die das Verhalten steuern – das
Definitionskriterium. Im Folgenden werden die Stufen 0 und 1 beschrieben, die für Kinder in der
untersuchten Altersspanne relevant sind:
Stufe 0: Undifferenzierte affektive Empfänglichkeit (Geburt): Überlebenssichernde, prosoziale
Verhaltensweisen wie Lächeln und Gurren werden reflexiv als Reaktion auf einen Stimulus, der mit
der Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse assoziiert wird, hervorgerufen. Das Selbst ist
ungetrennt von anderen. Eine globale, undifferenzierte Tendenz, die offenen Zeichen von Affekt bei
anderen wahrzunehmen dient als Mediator der primitiven empathischen Reaktion. Diese Stufe
entspricht Hoffmans globaler Empathie.
Stufe 1: Egozentrische Akkomodation (ab 2. Hälfte des zweiten Lebensjahres): Die egozentrische
Akkomodation ist daran orientiert, mitfühlend erlebtes Leid zu vermindern und die Bedürfnisse nach
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Sicherheit und Wirksamkeit zu befriedigen. Diese Form von altruistischem Verhalten kommt als
Reaktion auf externale, situationale Anforderungen, besonders auf Forderungen von Autoritäten und
auf offene Zeichen von Leid wie Weinen vor. Das Verhalten ist physikalisch, materiell, oberflächlich
und egozentrisch. Typische Beispiele sind Bitten erfüllen, Erwachsene imitieren und sich in einer Art
verhalten, die positive Reaktionen von anderen hervorrufen. Die empathische Empfänglichkeit für das
Leid anderer vermindert das eigene Unbehagen. Die Ziele der egozentrischen Akkomodation bestehen
darin, Spannung zu vermindern, zu tun, was von einem erwartet wird und sich bei als mächtig
wahrgenommenen Menschen einzuschmeicheln.
Die verschiedenen Formen des Altruismus entwickeln sich sequentiell in einer additiv-inklusiven Art.
Die fortgeschritteneren Stufen können zu altruistischerem Verhalten führen und zwar sowohl im
qualitativen und quantitativen Sinn: Die fortgeschritteneren Formen sind reiner, das heisst, sie sind
mehr auf das Wohlergehen des anderen fokussiert (Krebs & Van Hesteren, 1994). Die kognitiven
Strukturen beeinflussen das altruistische Verhalten, indem sie einerseits die zur Ausführung von
altruistischem Verhalten notwendigen Informationen sowie andererseits affektive und motivationale
Prädispositionen
generieren.
Die
kognitiven
Prozesse
lassen
sich
den
Kategorien
Aufmerksamkeitsprozesse, evaluative Prozesse sowie Planungsprozesse zuordnen. Bei den
Aufmerksamkeitsprozessen geht es darum, die Bedürfnisse einer anderen Person wahrnehmen zu
können, sowie Möglichkeiten zur Hilfeleistung zu erkennen. Kleinkinder weisen limitierte Fähigkeiten
zur Perspektivenübernahme auf und erkennen das Leid anderer lediglich dann, wenn die situativen
Signale stark sind, z. B. wenn jemand laut weint. Bei den evaluativen Prozessen geht es darum,
Verhaltensoptionen nach moralischen und nicht-moralischen Standards zu beurteilen. Auf den frühen
Stufen beurteilen die Menschen verschiedene Verhaltensalternativen nach ihren materiellen und
körperlichen Kosten bzw. Nutzen. Je fortgeschrittener die kognitiven Strukturen sind, desto wichtiger
werden persönliche Normen und Standards für die Beurteilung. Planungsprozesse umfassen das
Formulieren von Zielen sowie die Erstellung von Handlungsplänen. Je reifer die kognitiven
Strukturen, desto adäquater sind die Lösungen für das Problem, wie anderen effektiv geholfen werden
kann.
2. 2. 4. Der kognitiv-lerntheoretische Ansatz von Bar-Tal und Raviv
Altruistisches Verhalten ist nicht angeboren, sondern ein Produkt der Entwicklung: Obwohl Kinder
schon sehr früh helfen, sind sie nach Bar-Tal und Raviv nicht fähig, Hilfeverhalten der höchsten
Qualität – altruistisches Verhalten – auszuführen. Dieses definieren Bar-Tal und Raviv als freiwilliges
und intentionales Verhalten, dessen Ziel in der Begünstigung einer anderen Person besteht, dessen
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Motivation aus der moralischen Überzeugung bzw. dem Glauben an die Gerechtigkeit entspringt und
ohne Erwartung einer externalen Belohnung ausgeführt wird (Bar-Tal & Raviv, 1982).
Voraussetzung zur Ausführung von altruistischem Verhalten sind verschiedene Fähigkeiten wie z. B.
die Bedürfnisse der anderen Person zu erkennen oder die Fähigkeit zur Empathie (Bar-Tal, 1982). Die
Entwicklung dieser Fähigkeiten ist kontingent mit der Entwicklung der Kognition, der sozialen
Perspektive und der Moralität. Bar-Tal und Raviv leiten folgende Annahmen hinsichtlich dieser
Voraussetzungen ab: Das kleine Kind ist egozentrisch, das heisst, seine Reaktion auf andere Menschen
ist selbstbezogen und undifferenziert. Später erkennt das Kind, dass andere innere Zustände aufweisen,
die unabhängig von ihren eigenen sind und es entwickelt die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen
Person einzunehmen. Dies ermöglicht es ihm, die Bedürfnisse anderer Personen erkennen. Ab dieser
Stufe ist das Kind fähig, ein Hilfeakt auszuführen, der auf die Bedürfnisse der anderen Person
ausgerichtet ist. Neben der graduellen Entwicklung der Perspektivenübernahme durchläuft das Kind
verschiedene Stufen seiner affektiven Entwicklung der Empathie, die denjenigen von Hoffman (1975)
entsprechen. Eine weitere Komponente ist die Selbstregulation, wobei Kleinkinder hier limitierte
Fähigkeiten aufweisen. Ihr Hilfeverhalten wird gelenkt durch die unmittelbaren Konsequenzen für sie
selbst wie etwa der Angst vor Bestrafung. Später ist das Verhalten abhängig von der Konformität mit
externalen Regeln und von der erwarteten Belohnung oder Beachtung (Bar-Tal & Raviv, 1982).
Die entwicklungsbedingten Grenzen verunmöglichen es dem kleinen Kind demnach, Hilfeakte von
hoher Qualität auszuführen. Andere Hilfeverhalten, die weniger Fähigkeiten bzw. Fähigkeiten auf
einem niedrigeren Entwicklungsstand erfordern, können auch von kleinen Kindern durchgeführt
werden. Während der ersten Jahre wird das Hilfeverhalten von kleinen Kindern aber von materieller
und sozialer Belohnung bzw. Bestrafung gesteuert. Aus diesen Überlegungen leiten Bar-Tal und Raviv
sechs Phasen der Entwicklung ab, wobei die ersten zwei skizziert werden, die auf Kinder in den ersten
zwei Lebensjahren zutreffen. Die verschiedenen Stufen der Entwicklung des Hilfeverhaltens
unterscheiden sich qualitativ voneinander, was durch die verschiedenen Motivationen, den Hilfeakt
auszuführen, reflektiert wird.
Motivation 1 – Compliance, konkrete und definierte Verstärkung: Die Person führt prosoziales
Verhalten aus, weil eine Anfrage oder ein Befehl dazu gekommen ist, begleitet von einem
offensichtlichen Versprechen einer konkreten Belohnung oder einer expliziten Drohung einer
Bestrafung. Die Situation erfordert keine der oben beschriebenen Fähigkeiten. Das Individuum wird
external zu einem spezifischen Hilfeverhalten hingelenkt. Ein solcher Akt ist charakteristisch für das
Hilfeverhalten sehr kleiner Kinder. Das Hilfeverhalten des Kleinkindes wird von seinen Erfahrungen
von Schmerz oder Freude geleitet ohne ein Gefühl von Verantwortlichkeit, Pflicht oder Respekt vor
einer Autorität. Das kleine Kind hat eine egozentrische Perspektive und realisiert nicht, dass jemand
anders fühlt oder andere Bedürfnisse als es selbst hat. Sein Verhalten wird beeinflusst von konkreter
und definierter Belohnung oder Bestrafung.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Motivation 2 – Compliance: Der Hilfeakt wird ausgeführt, um einer Autorität zu gehorchen. Das
Individuum initiiert das Hilfeverhalten nicht, sondern es gehorcht Befehlen und Bitten anderer, die
ihm meist an Prestige oder Macht überlegen sind. In dieser Situation wird die Person ebenfalls zum
Hilfeverhalten dirigiert, aber sie realisiert, dass das Verhalten die Gefühle, Gedanken und
Verhaltensweisen anderer beeinflusst. Junge Kinder, die in dieser Situation helfen, werden durch das
Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und der Vermeidung von Bestrafung dazu motiviert. Sie benötigen
keine Verstärkung mehr, weil sie die Macht der Autorität anerkennen (Bar-Tal & Raviv, 1982).
2. 2. 5. Die Schema-Theorie von Karniol
Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Theorien zur Entwicklung des prosozialen Verhaltens geht
Karniol davon aus, dass die Prozesse der Perspektivenübernahme und Empathie nicht Voraussetzung
sind,
um
prosozial
zu
handeln
(Karniol,
1982).
Ihre
Annahmen
gründen
auf
den
Informationsverarbeitungsmodellen, nach denen ein Beobachter nur dann auf einen Stimulus reagiert,
wenn er diesen in einen Interpretationskontext stellen kann. Dieser stellt eine Wissensstruktur zur
Verfügung, die es ermöglicht, die Situation zu interpretieren und das Verhalten des Beobachters zu
steuern (vgl. Charniak, 1978; Minsky, 1975; Bobrow & Norman, 1975; Schank & Abelson, 1977;
Rieger, 1976).
Wahrnehmung der Hilfsbedürftigkeit: Das Erkennen der Hilfsbedürftigkeit einer anderen Person ist
ein Inferenzprozess, der auf gespeichertem Wissen und offenen Signalen beruht und der sich nicht von
anderen Inferenzprozessen unterscheidet. Hilfesituationen enthalten meist klare situationale Signale,
die die Hilfsbedürftigkeit übermitteln. Die Beobachtung von sozialen Stimuli, wie das Verhalten einer
anderen Person in einem bestimmten Kontext, initiiert kognitive Prozesse, durch die der Beobachter
versucht, das beobachtete Ereignis mit einem gespeicherten Knäuel stereotypen Wissens in
Übereinstimmung zu bringen. Wenn nun auf das passende Wissen zurückgegriffen werden kann, ist
der Beobachter im Besitz von Informationen, die entweder gespeichert oder durch Schlussfolgerungen
abgeleitet wurden und für die Situation relevant sind. Das Erkennen von Hilfsbedürftigkeit besteht in
der Aufgabe, Übereinstimmungen zwischen gespeicherten Wissensstrukturen und dem beobachteten
Ereignis zu finden und hängt vom Umfang dieser gespeicherten Wissensstrukturen und den
Informationen, die sie enthalten, ab (Karniol, 1982).
Die Netzwerke gespeicherten Wissens unterscheiden sich von der Perspektivenübernahme, weil bei
den Netzwerken auf allgemeines Wissen über Motive und Reaktionen zurückgegriffen wird. Bei der
Perspektivenübernahme muss sich dass Kind vorstellen, wie es reagieren würde, wenn es in der
Situation der anderen Person wäre. Dies ist beim Netzwerk nicht nötig: Das Kind konsultiert sein
gespeichertes Wissen, um die adäquate Erfahrung zu finden. Kinder aktivieren jedoch mit geringerer
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Wahrscheinlichkeit solche Netzwerke und haben einen limitierten Gedächtnisspeicher. Im Lauf der
Entwicklung baut das Kind Skripts für Hilfesituationen auf. Skripts sind Wissensstrukturen, die eine
kohärente Sequenz von Aktionen und Ereignissen enthalten (Schank & Abelson, 1977). Diese Skripte
entwickeln sich durch die Erfahrungen des Kindes und durch Beobachtungslernen. Je mehr Erfahrung
ein Kind mit einer bestimmten Situation hat, desto eher hat es ein Skript zur Verfügung und erkennt
die Hilfsbedürftigkeit der anderen Person. Die Skripts von Kindern unterscheiden sich aber nicht nur
in der Anzahl, sondern auch im Umfang von denjenigen Erwachsener. Kleine Kinder haben weniger
Wissen über die verschiedenen Möglichkeiten, Hilfe zu leisten, zur Verfügung. Dies führt zu
Entwicklungsunterschieden in der Art des Helfens, auch wenn das Gewahrwerden von
Hilfsbedürftigkeit auf verschiedenen Altersstufen äquivalent ist. Kinder haben aber nicht nur ein
beschränktes Skriptrepertoire, ihre Hilfeskripts werden auch nicht von denselben Stimuli aktiviert,
welche die Skripts von Erwachsenen aktivieren (Karniol, 1982).
Erregung in Hilfesituationen: Karniol glaubt nicht, dass Empathie bzw. Mitgefühl den Beobachter
dazu motiviert, zu helfen wie etwa Hoffman (1975, 1982). Denn schon die Verarbeitung von Stimuli
per se führt zu einer Veränderung des Erregungsniveaus des Beobachters, unabhängig vom Effekt, den
diese Stimuli auf die emotionalen Reaktionen haben mögen. Karniol schlägt für eine Hilfesituation
folgende Sequenz vor: Die Verarbeitung von komplexen Stimuli führt zu physiologischen
Veränderungen beim Beobachter, die er bemerken kann oder nicht. Diese Erregung erleichtert den
Zugriff auf situationsbezogene Skripts. Der Zugriff auf Skripts, die Ziele enthalten, die für den
Beobachter relevant sind, führt zu einer weiteren Erhöhung der Erregung, so dass eine kleinere Anzahl
Skripts aktiviert werden. Der Beobachter schreibt diesen veränderten Erregungszustand dem Skript zu,
das er aktiviert hat. Enthält das aktivierte Skript Informationen über die Hilfsbedürftigkeit und der
Beseitigung derselben, wird der Beobachter motiviert, der anderen Person zu helfen. Auch Kinder
erleben die beschriebenen Veränderungen der Herzfrequenz bei kognitiven Aktivitäten, aber es ist
nicht bekannt, wie solche Erregungsveränderungen bei Kindern den Zugriff auf situationsbezogene
Skripts beeinflussen. Weiter ist unklar, ob sie sich ihres veränderten Erregungszustandes bewusst
werden oder anfangen, über die Ursachen dieser Erregung nachzudenken (Karniol, 1982).
Nach Karniol handeln Kinder unter 10 Jahren vor allem aus zwei Gründen prosozial, nämlich wenn
der Empfänger ihr Freund ist oder um von anderen gemocht zu werden. In Kinderkrippen oder
Kindergarten sind beide Faktoren relevant. Kinder helfen oder teilen nur dann, wenn in einer
Hilfesituation das „Freunde“-Skript oder das „Andere dazu bringen, dich zu mögen“-Skript aktiviert
werden. Einer fremden Person hilft ein Kind nur dann, wenn es will, dass diese Person es mag, wenn
es erwartet, dass es etwas dafür bekommt oder es weitere Interaktionen erwartet. Neben den bereits
genannten hat das Kind noch ein weiteres Skript zur Verfügung: Dieses enthält die Wahrnehmung des
Kindes, dass Helfen aus der Perspektive der erwachsenen Autorität etwas Gutes ist. Wenn das Kind
also „gut“ sein will, muss es erwachsenen Autoritäten helfen. In Situationen, in denen soziale
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Erwünschtheit eine Rolle spielt, helfen Kinder, weil sie vom anwesenden Erwachsenen gemocht
werden wollen. Kinder helfen erst dann ohne sozialen Druck, wenn sie generische Beschreibungen
über das Selbst und Situationen erworben haben, was in der mittleren Kindheit der Fall ist (Karniol,
1982).
2. 2. 6. Die Regulationstheorie von Kochanska
Kochanskas Regulationstheorie geht davon aus, dass die Persönlichkeit ein komplexes,
multifunktionales System ist, das als Ganzes handelt, um die Beziehungen zwischen dem Individuum
und der sozialen und physikalischen Umgebung zu regulieren. Dieses System besteht aus den vier
Subsystemen emotionale Mechanismen, Selbststruktur, Wertesystem sowie operationelles System.
Diese werden in der ontogenetischen Entwicklung zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgebaut und
spielen bei der Auslösung von prosozialem Verhalten in komplexer Weise miteinander zusammen. Im
Folgenden werden zunächst die Subsysteme skizziert und anschliessend ihre Rolle bei der Auslösung
des prosozialen Verhaltens diskutiert.
Emotionale Mechanismen: Ein Neugeborenes ist mit einigen rudimentären Eigenschaften wie die
Sensibilität auf Veränderungen im und ausserhalb des Organismus oder die Kapazität zu
rudimentärem Lernen ausgestattet. Diese bilden die Basis für die spätere Bildung von verschiedenen
Trieben und Bedürfnissen. Komplexere Organisationen, wie die Repräsentation von emotionalen
Signalen von belohnenden Objekten und Personen, entwickeln sich auf der Basis dieser rudimentären
Fähigkeiten. Die Selbststruktur bildet sich aus dem Prozess des Sammelns und der Veränderung von
Erfahrungen, die mit dem Selbst verbunden sind. Die Unterscheidung im psychologischen Raum
zwischen dem Selbst und dem Gebiet ausserhalb des Selbst ist einer der ersten Schritte in der Bildung
der Selbststruktur. Bei diesem Prozess werden die emotionalen Mechanismen unter eine zentrale
Administration integriert.
Das Wertesystem und das operationelle System: Erfahrungen werden nach zwei Arten von Regeln
gespeichert: nach evaluativen, affektiven sowie deskriptiven. Menschen trennen gute von schlechten
Erfahrungen und beurteilen Ereignisse als wünschenswert oder nicht wünschenswert. Dieses System
nennt Kochanska das Wertesystem. Hier werden das Selbst, andere Menschen, Ereignisse und
Elemente der Welt nach evaluativen Regeln gespeichert. Die Menschen können Informationen auch
nach ihrem beschreibenden Inhalt, der logischen Konsistenz und Akkuratheit verarbeiten. Dieser
Prozess führt zu Wissen, zu einer Repräsentation von deskriptiven Qualitäten der Welt, dem
operationellen System.
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
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Obwohl jedes der Regulationssysteme das prosoziale Verhalten beeinflussen kann, sind die
unterliegenden Mechanismen dieses Verhaltens unterschiedlich: Emotionale Mechanismen spielen bei
den Anfängen und Wurzeln des prosozialen Verhaltens eine wichtige Rolle. Prosoziales Verhalten, das
von diesem System reguliert wird, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Motivation von affektiven
Reaktionen wie Empathie oder Mitgefühl stammt und eher impulsiv abläuft. Die Entwicklung
innerhalb dieses Systems entspricht Hoffmans (1975, 1982b) vier Entwicklungsstufen der Empathie:
Sehr früh reagieren Säuglinge auf das Weinen und andere Stress-Signale von anderen Kindern. Im
Verlauf der Entwicklung werden diese empathieartigen, emotionalen Mechanismen mit kognitiven
Verhaltensregulatoren verbunden oder darin integriert. Zudem beginnen andere Mechanismen des
prosozialen Verhaltens ihre Rolle zu spielen – Mechanismen, die durch die Bildung von komplexeren
Regulationsorganisationen entstehen.
Die Selbststruktur ist die Quelle für Motive, die auf die Aufrechterhaltung des eigenen Wohlergehens
ausgerichtet sind. Die Selbststruktur kann prosoziales Verhalten entweder hemmen oder fördern.
Wenn die Aktionen eines Individuums vorwiegend von der Selbststruktur reguliert werden, haben
andere Objekte wenig Gelegenheit, zu Verhaltensregulatoren zu werden. Dies ist zum Beispiel der
Fall, wenn die Selbststruktur im konzeptuellen Raum eine bevorzugte Stellung einnimmt wie bei
Menschen mit aussergewöhnlich hohem Selbstwert. Die Selbststruktur hemmt das prosoziale
Verhalten aber nicht nur, sondern kann sogar dessen Quelle sein, wenn Helfen ein Mittel darstellt, das
eigene Wohlbefinden oder das Selbstwertgefühl zu erhöhen, Schuldgefühlen auszuweichen oder wenn
Helfen eine Generalisierung der positiven Gefühle vom Selbst auf andere Menschen darstellt.
Prosoziales Verhalten, das mit dem Wertesystem zusammenhängt, lässt sich zwei Kategorien
zuordnen. Die Diskrepanz zwischen aktuellem und gewünschtem Zustand einer anderen Person kann
zu prosozialem Verhalten führen, das auf die Reduktion dieser Diskrepanz ausgerichtet ist. Die zweite
Kategorie von Mechanismen beinhaltet die normativen Mechanismen des Helfens. Normen
entsprechen im Wertesystem den Standards und beziehen sich auf menschliches Verhalten in der
sozialen Welt sowie Regeln der sozialen Organisation. Der Einfluss des operationellen Systems auf
das prosoziale Verhalten ist eher indirekter Natur. Das System spielt eine wichtige Rolle beim
Regulationsprozess von Aktionen, die eine kognitive Verarbeitung des Zustandes der anderen Person
erfordern.
Rollenübernahme,
kognitive
Empathie,
das
Verstehen
anderer
Menschen
und
interpersonelle Neugier sind Beispiele für die regulatorischen Aufgaben, bei denen deskriptive soziale
Repräsentationen aktiviert werden müssen.
Die Entwicklung dieser Mechanismen hängt eng mit der Entwicklung der relevanten internalen
regulatorischen Organisation zusammen. Jedes Regulationssystem kann eine potentielle Quelle für
Faktoren sein, die das prosoziale Verhalten entweder fördern oder hemmen. Die Dialektik der
Regulation ist sehr komplex: Im selben regulatorischen Subsystem können einander widersprechende
Tendenzen als Resultat derselben äusseren Einflüsse entstehen. So können starke Signale des Leids zu
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
31
Empathie führen, aber sie können gleichzeitig zu Abscheu führen, der wiederum zu vermeidendem
Verhalten führt. Dieselben Faktoren, die eine Form des prosozialen Verhaltens fördern, können sich
also aufgrund der antagonistischen Beziehung zwischen einigen regulatorischen Organisationen auf
eine andere Form hemmend auswirken. Zum Beispiel kann die Aktivierung der Selbststruktur die
Aktivierung der Repräsentation anderer Menschen hemmen und somit auch das prosoziale Verhalten.
2. 2. 7. Evaluation und Gegenüberstellung der Theorien
Den beschriebenen Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten ist gemeinsam, dass sie
annehmen, dass schon Kinder unter zwei Jahren zu phänotypisch prosozialem Verhalten fähig sind.
Weiter beschreiben sie die Entwicklung einer bestimmten Form des prosozialen Verhaltens, nämlich
das Hilfeverhalten. Dieses umfasst die drei Formen Helfen in emotionalen Notlagen, Assistieren sowie
die Wiedergutmachung. Dagegen werden andere, ebenfalls als prosoziales Verhaltensweise geltende
Formen wie das Anbieten von Objekten oder das Zeigen von Zuneigung, ausgeklammert.
Neben diesen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Theorien jedoch beträchtlich hinsichtlich des
angenommenen Entwicklungsverlaufs und der Schwerpunkte:
Die Theorien von Krebs und Van Hesteren sowie Bar-Tal und Raviv sehen als Quelle der Entwicklung
vor allem die kognitive Entwicklung. Sie nehmen einen stufenförmigen Verlauf der prosozialen
Entwicklung an, wobei sich die verschiedenen Formen bzw. Motive qualitativ voneinander
unterscheiden. Beide Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die kognitiven Voraussetzungen für
prosoziales
bzw.
altruistisches
Verhalten
identifizieren
und
die
Auswirkungen
von
entwicklungsbedingten Veränderungen dieser Faktoren auf das prosoziale Verhalten genau
beschreiben. Bar-Tal und Raviv weisen zudem auf die Wichtigkeit von Prinzipien der Lerntheorie wie
die Verstärkung beim Aufbau und bei der Aktualisierung von prosozialem Verhalten hin. Beide
Theorien aber schreiben kleinen Kindern die Fähigkeit ab, anderen Personen spontan und ohne
Erwartung einer externalen Belohnung zu helfen. Weiter vernachlässigen, wenn auch nicht verneinen,
beide Ansätze die Rolle von affektiven Faktoren.
Hoffman (1975, 1982) hat mit seiner Empathietheorie versucht, einseitig auf kognitive Faktoren
fokussierten Ansätzen entgegenzuwirken. Er konzentriert sich auf das Helfen in emotionalen Notlagen
und die Wiedergutmachung, wobei die Empathie bei der Auslösung eine zentrale Rolle einnimmt.
Diese besitzt affektive, kognitive und motivationale Komponenten, die Hoffman ausführlich
beschreibt. Auf der affektiven Seite skizziert er die verschiedenen Auslöser der unangenehmen
Spannung, wobei er hier Erkenntnisse aus der Lerntheorie miteinbezieht. In seiner Theorie nehmen
aber auch kognitive Faktoren eine zentrale Stellung ein, da der Stand der sozio-kognitiven
Entwicklung die Stufen der Empathieentwicklung bestimmt. Weiter weist er auf das motivationale
Potential hin, welche die Schuld neben der Empathie entwickeln kann wobei die Schuld bisher nur von
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
32
psychoanalytischen Theorien als Motivation für prosoziales Verhalten genannt wurde. Bischof-Köhler
(1989, 1994) baut mit ihrem Modell der Entwicklung empathischer Reaktionen auf Hoffmans Theorie
auf und differenziert diese weiter. Sie weist sie auf die Notwendigkeit hin, Empathie und
Gefühlsansteckung
voneinander
abzugrenzen
und
unterscheidet
zwischen
ausdrucks-
und
situationsvermittelter Empathie. Sowohl Hoffmans wie auch Bischof-Köhlers Theorie implizieren
jedoch, dass die Empathie das einzige Motiv für prosoziales Verhalten darstellt und dieses somit
erstmals auftritt, wenn das Kind zur Ich-Andere-Unterscheidung fähig ist. Es ist jedoch
unwahrscheinlich, dass die Fähigkeit zur Empathie immer Voraussetzung für das prosoziale Verhalten
ist. Durch die Vernachlässigung anderer Mechanismen klammern Hoffman und Bischof-Köhler
prosoziales Verhalten aus, das auf anderen Mechanismen beruht.
Im Gegensatz zu allen vorher beschriebenen Theorien verneint Karniol (1982), dass prosoziales
Verhalten auf Mechanismen wie der Perspektivenübernahme und Empathie beruht. Wie Krebs und
Van Hesteren sowie Bar-Tal und Raviv glaubt sie zwar, dass kognitive Faktoren das prosoziale
Verhalten
beeinflussen,
stützt
sich
aber
im
Gegensatz
zu
diesen
Autoren
auf
Informationsverarbeitungsmodellen. Nach ihr sind nicht Faktoren wie die Ich-Andere-Unterscheidung,
Perspektivenübernahme und Empathie die Hauptdeterminanten prosozialen Verhaltens, sondern
gespeichertes allgemeines Wissen. Wenn Wissen über Hilfesituationen und Möglichkeiten der
Hilfeleistung gespeichert ist, wird die Situation verstanden und ein Handlungsplan liegt bereit.
Allerdings helfen kleine Kinder nur dann, wenn der potentielle Empfänger ihnen vertraut ist oder sie
wollen, dass er sie mag. Karniol zeigt somit plausible alternative Faktoren auf, auf denen das
prosoziale Verhalten aufgebaut sein kann. Im Unterschied zu den anderen Ansätzen ist Karniols
Theorie wie auch die lerntheoretischen Ansätze keine Stufentheorie, sie geht von einer quantitativen,
kontinuierlichen Zunahme aus.
Kochanska (1984) geht – ähnlich wie Freud in seinem topologischen Modell – davon aus, dass die
Persönlichkeit aus verschiedenen Subsystemen besteht, die in komplexer Weise miteinander
zusammenhängen. Obwohl jedes dieser Subsysteme prosoziales Verhalten beeinflussen kann, sind die
unterliegenden Mechanismen unterschiedlich. Prosoziales Verhalten, das dem emotionalen System
entspringt, beruht auf dem Mechanismus der Empathie, wie sie Hoffmann und Bischof-Köhler
beschreiben. Daneben können aber auch die anderen Subsysteme zu prosozialem Verhalten führen:
Mechanismen der Ähnlichkeit stammen aus der Selbststruktur, was dazu führt, dass das Kind
bevorzugt Personen hilft, die es als ähnlich wahrnimmt. Die Selbststruktur ist ebenfalls die Quelle für
prosoziales Verhalten, welches der Erhöhung des eigenen Wohlbefindens oder der Erlangung einer
externalen Belohnung dient, eine Form, die auch Krebs und Van Hesteren sowie Bar-Tal und Raviv
beschreiben. Der autonome Mechanismus führt zu prosozialem Verhalten, wenn die Repräsentationen
von anderen Menschen einen positiven Wert besitzen. Dieser Mechanismus hat bestimmte kognitive
Voraussetzungen, wobei Kochanska in diesem Zusammenhang die vier Stufen der sozio-kognitiven
Entwicklung aus Hoffmans Theorie übernimmt. Kochanskas Theorie vereinigt damit viele der
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
33
beschriebenen Ansätze. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie von verschiedenen Formen von
prosozialem
Verhalten
mit
unterschiedlichen
unterliegenden
Mechanismen,
Motiven
und
Entwicklungsverläufen ausgeht und diese genau beschreibt. Kochanska beschreibt nicht nur die
unterliegenden Motive der verschiedenen Formen prosozialen Verhaltens, sondern auch deren
Entwicklungsgeschichte, Handlungsmerkmale sowie fördernde und hemmende Faktoren. Weiter weist
sie darauf hin, dass die prosozialen Verhaltensweisen der einzelnen Subsystemen in komplexer Weise
miteinander zusammenhängen und dass dieselben Faktoren, welche eine Form von prosozialem
Verhalten fördern, sich auf eine andere Form hemmend auswirken können.
2. 3. Determinanten des prosozialen Verhaltens
2. 3. 1. Variablen der Person
In den meisten der soeben zitierten Theorien zur Entwicklung des prosozialen Verhaltens ist die
Annahme zentral, dass prosoziales Verhalten mit dem Alter zunimmt bzw. sich dessen Qualität
verändert. In der Literatur wird angenommen, dass weitere individuelle Merkmale des Kindes wie das
Geschlecht und Persönlichkeitsfaktoren wie die Aggressivität oder der soziale Stil das prosoziales
Verhalten beeinflussen. Ihre Rolle im Zusammenhang mit dem prosozialen Verhalten wird im
Folgenden diskutiert.
2. 3. 1. 1. Geschlecht
Aufgrund von stereotypen Geschlechtsrollenerwartungen wird angenommen, dass Frauen und
Mädchen sensitiver, empathischer und prosozialer sind als Männer und Jungen. Jungen und Mädchen
werden unterschiedlich sozialisiert: Von Jungen wird generell erwartet, dass sie mutig,
durchsetzungsfähig und rational sind, von Mädchen hingegen eher, dass sie gehorsam, abhängig und
einfühlsam sind. Die Erziehungstechniken bei Mädchen sind meist induktiver und es wird weniger
Macht (z. B. Bestrafung) angewendet als bei Jungen. Die erstgenannten Erziehungstechniken
wiederum fördern die Entwicklung von prosozialem Verhalten, während punitive Techniken das
prosoziale Verhalten hemmen (Eisenberg & Mussen, 1989). Weiter werden in vielen Kulturen Helfen
und Umsorgen als Ideal bei Mädchen, nicht aber bei Jungen betrachtet. Mädchen werden deshalb für
solche Verhaltensweisen häufiger und stärker belohnt. Bei Jungen werden dagegen häufiger
Verhaltensweisen verstärkt, die ein gewisses Risiko beinhalten wie das Helfen in Notfällen (ZahnWaxler,
Friedman
&
Cummings,
1983).
Aufgrund
unterschiedlicher
Erziehungs-
und
Verstärkungstechniken erwartet man deshalb, dass Mädchen empathischer, mitfühlender und
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
34
prosozialer sind als Jungen. Allerdings ist unklar, in welchem Alter sich Unterschiede aufgrund von
Erziehungstechniken bei Jungen und Mädchen zeigen, da Kinder unter zwei Jahren den
Sozialisierungsprozess noch nicht abgeschlossen haben und noch keine stabile Geschlechtsidentität
und Wissen über Geschlechterrollen erworben haben (Kohlberg, 1974).
2. 3. 1. 2. Persönlichkeitsfaktoren
Aggressivität: Aggressivität hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, allerdings, so Zahn-Waxler et
al. (1983), ohne expliziten theoretischen Hintergrund. Eine Schwierigkeit ergibt sich ausserdem aus
der Tatsache, dass Aggression unterschiedlich definiert und verstanden werden kann. Der Begriff
Aggression leitet sich aus dem lateinischen Wort „aggreddi“ ab, was sowohl „Herangehen“ wie auch
„Angreifen“ bedeutet. Während Angreifen und mitfühlend-tröstendes Verhalten sich ausschliessen, ist
Herangehen eine unabdingbare Voraussetzung für hilfreiches Verhalten (Kienbaum, 2003). Gemäss
Zahn-Waxler et al. (1983) bekommen Kinder, die sozial sehr aktiv sind und viele Konflikte haben,
häufiger die Gelegenheit, mit dem Leid der anderen Person konfrontiert zu werden und so
Schuldgefühle über das eigene aggressive Verhalten zu entwickeln. Diese Schuldgefühle wiederum
besitzen nach Hoffman (1982) motivationale Qualitäten für prosoziales Verhalten. Wird Aggression in
Sinne von Durchsetzungsfähigkeit und aktivem sozialem Verhalten verstanden, kann also von einem
positiven Zusammenhang zum prosozialen Verhalten ausgegangen werden. Allerdings weist
Kienbaum (2003) darauf hin, dass das Aggressivitätsniveau von entscheidender Bedeutung ist. Wenn
Aggression selten vorkommt, Ausdruck von Durchsetzung und nicht Feindseligkeit und vor allem
situational determiniert ist, hängt sie positiv mit prosozialem Verhalten zusammen. Wie SchmidtDenter (1996) ausführt, kann Aggression im Dienste von Selbstbehauptung und Selbstregulation
unerlässlich sein. Für Kinder, die in ihren sozialen Beziehungen gut angepasst sind, bietet
interpersonale Aggression Gelegenheiten zu lernen, welche Konsequenzen die eigenen aggressiven
Handlungen für andere haben und wie Konflikte gelöst werden können. Ist die Aggression aber
chronisch und feindselig, können der resultierende Ärger und die Aufruhr aktiv Empathie und
Mitgefühl unterdrücken (Cummings, Hollenbeck, Ianotti, Radke-Yarrow & Zahn-Waxler, 1986).
Geselligkeit, Assertivität: Häufig empirisch untersucht wurde die Rolle der Geselligkeit, wobei von
einem positiven Zusammenhang zum prosozialem Verhalten ausgegangen wird. Gesellige, aktive
Kinder haben häufiger mit anderen Menschen Kontakt. Dies gibt ihnen die Gelegenheit, direkte
Erfahrungen mit dem Verhalten anderer und deren Reaktionen zu sammeln. Dies fördert die
Entwicklung der Fähigkeit, die emotionalen Ausdrücke anderer zu interpretieren und angemessen
darauf zu reagieren. Zudem kann prosoziales Verhalten für gesellige Kinder ein Mittel darstellen, um
mit anderen eine Interaktion zu beginnen oder diese aufrechtzuerhalten. Assertive, aktive Kinder
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
35
haben nicht nur häufiger Kontakt mit anderen Kindern, sondern auch häufiger Konflikte als die eher
submissiven Kinder. Dies verschafft assertiven Kindern die Möglichkeit, die Konsequenzen ihrer
eigenen Handlung für andere zu erleben und so Sensitivität für die Gefühle der anderen Person zu
entwickeln. Konflikte erlauben weiter die Entwicklung von Schuldgefühlen, die gemäss Hoffmann
(1975, 1982) als Motivation für prosoziales Verhalten dienen können. Ein gewisses Mass an Aktivität
und Assertivität scheint zudem notwendig zu sein, um sich einer hilfesuchenden Person spontan zu
nähern und zu handeln (Eisenberg & Mussen, 1989).
2. 3. 2. Sozialisation ausserhalb der Familie
Obwohl für aggressives und geschlechtstypisches Verhalten nachgewiesen werden konnte, dass Peers
diese Verhaltensweisen formen und beeinflussen können, wurde der Einfluss von Peers auf das
prosoziale Verhalten von Vorschulkindern nur sehr selten untersucht. Ebenso wurde die Rolle von
erwachsenen Sozialisationsagenten ausserhalb der Familie, wie z. B. Erzieherinnen, in der Theorie und
der Forschung vernachlässigt.
2. 3. 2. 1. Einflüsse von Peers
Peer-Interaktionen stellen einen wichtigen Sozialisationskontext dar (Hartup, 1983). Wie
Forschungsarbeiten gezeigt haben, können Peers die Verhaltensmuster des Kindes entweder in
positiver oder negativer Weise formen: Verstärken Peers zum Beispiel geschlechtstypische
Aktivitäten, werden solche Verhaltensweisen fortgesetzt, geschlechtsuntypisches Verhalten hingegen
wird kritisiert und dadurch nicht weiter gezeigt (Lamb & Roopnarine, 1979). Deshalb nehmen
Eisenberg und Mussen (1989) an, dass auch der Erwerb von prosozialem Verhalten durch Peers
geformt wird. Einerseits können sie als Modelle für die Imitation von prosozialem Verhalten dienen,
andererseits durch ihre Reaktionen prosoziales Verhalten verstärken (Eisenberg & Mussen, 1989). Die
Beobachtung von Peers als Modelle kann das Verhalten eines Kindes auf mehrere Arten beeinflussen.
Einerseits kann aus dem Beobachten Verhalten direkt erworben werden, wenn das Kind lernt, wie man
ein bestimmtes Verhalten in einer bestimmten Situation ausführt. Erlernt das Kind ausserdem die
Normen oder Prinzipien, die eine bestimmte Verhaltenskategorie leiten, kann eine Generalisierung auf
andere Situationen entstehen. Schliesslich kann das Beobachten eines Modells die emotionale
Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten beeinflussen, indem das Kind lernt, dieses als positiv und
akzeptabel oder inakzeptabel wahrzunehmen. Dass Peer-Gruppen prosoziales Verhalten fördern, gilt
besonders für solche, die altersheterogen sind (Zahn-Waxler, Iannotti & Radke-Yarrow, 1982).
Altersgemischte Gruppen geben den älteren Kindern die Gelegenheit, den jüngeren Kindern der
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
36
Gruppe zu helfen und sie befinden sich in einem weniger kompetitiven Umfeld. Die jüngeren Kinder
wiederum lernen von den älteren Kindern, wie man prosoziales Verhalten ausüben kann. Peers sind
zudem effektive Agenten der Verstärkung beim Erwerb und der Modifikation von prosozialem
Verhalten (Eisenberg, Cameron, Tryon & Dodez, 1981).
2. 3. 2. 2. Einflüsse von erwachsenen Sozialisationsagenten
Nach der Lerntheorie können Lehr- und Betreuungspersonen prosoziales Verhalten durch Verstärkung
formen. Daneben besteht nach Staub (1982) eine weitere Möglichkeit zur Förderung von prosozialem
Verhalten darin, dass Sozialisationsagenten den Kindern Verantwortung übertragen und sie Verhalten
ausführen lassen, das dem Wohl anderer dient. Mit Übertragen von Verantwortung meint Staub
(1982), dass die Sozialisationsagenten das Kind auffordern, sich prosozial zu betätigen. Damit das
Übertragen
von
Verantwortung
zu
einer
Internalisierung
prosozialer
Werte
sowie
zur
Selbstregulierung und nicht nur zu Wissen über erwünschte Verhaltensweisen oder sozialen Normen
führt, müssen die Sozialisationsagenten anfangs genügend Kontrolle ausüben, dass sich das Kind auch
tatsächlich prosozial verhält (Staub, 1982). Wie ältere Geschwister können auch ältere Kinder, die zu
einer sozialen Gruppe gehören, die Verantwortung übertragen bekommen, sich um die jüngeren
Kinder zu kümmern, oder aber das Bewusstsein ihrer grösseren Kompetenz führt dazu, dass sie sie
Verantwortung übernehmen und jüngeren Kindern hilfreich zur Hand gehen. Kinder, die längere Zeit
in einer sozialen Gruppe verbringen, in der das Alter der Gruppenmitglieder variiert, können
hilfreiches Verhalten lernen, indem sie hilfreiche Handlungen älterer Kinder beobachten, selbst auf
diese Weise Hilfe erfahren und dann, wenn sie älter geworden sind, selber in prosozialer Weise
handeln. Das Lernen durch die eigene prosoziale Betätigung und das Lernen durch Teilnahme an
prosozialen Aktivitäten können als Beispiel für Lernen am eigenen Erleben betrachtet werden. Bringt
man anderen etwas bei oder beteiligt man sich an Hilfeleistungen für andere, hat man auch die
Gelegenheit, sich in die andere Person einzufühlen. Neben der Anleitung und der Kontrolle von
prosozialem Verhalten können die Sozialisationsagenten auch als prosoziale Modelle dienen. Wenn
das Kind beobachtet, wie eine Erzieherin wiederholt prosoziales Verhalten vorführt, kann das Kind
das Modell nachahmen. Das wiederholte Beispiel anderer ruft bei Kindern Lernprozesse sowie
dauerhafte und generalisierte Verhaltensveränderungen hervor (Staub, 1982).
2. 3. 3. Situationale Determinanten
Beinahe jede Verhaltensweise, auch prosoziales Verhalten, ist eine Funktion der Interaktion zwischen
den Charakteristika des Individuums und den Merkmalen der spezifischen Situation (Eisenberg &
Kapitel 2: Theorien und Determinanten des prosozialen Verhaltens
37
Mussen, 1989). Im Folgenden wird näher auf den Einfluss der Persönlichkeit des Rezipienten
eingegangen. Der genannte Faktor ist für die Altersgruppe der unter Zweijährigen, die in der ab
Kapitel 5 diskutierten Studie untersucht wurden, relevant. Daneben gibt es weitere Faktoren, die bei
der Aktualisierung von prosozialem Verhalten eine Rolle spielen wie die momentane Stimmung des
Zielkindes oder Klarheit der Situation. Da sie in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt wurden,
wird auf eine Darstellung verzichtet.
Nach Peterson (1982) existieren Regeln, die das prosoziale Verhalten beeinflussen. Eine generalisierte
interne Regel, die das prosoziale Verhalten Erwachsener steuert, lautet etwa: Ich sollte Menschen
helfen, die es verdienen und die sich auf dem Level X von Bedürftigkeit befinden, die von meiner Hilfe
abhängig sind, wenn ich dieses Verhalten ausführen kann und wenn die Kosten oder das Risiko für
mich
nicht
eine
Menge
Y
meiner
aktuell
vorhandenen
Ressourcen
übersteigen.
Als
Empfängermerkmale werden hier Bedürftigkeit, Verdientheit der Hilfe, sowie Abhängigkeit genannt.
Auf der Seite des potentiellen Helfers ist die genannte Regel in individualisierten Überzeugungen
repräsentiert, die bestimmen, ob, wem und wann Hilfe angeboten wird (Peterson, 1982).
Kinder lernen in ihrer Ontogenese, zwischen unterschiedlichen potentiellen Empfängern bzw. deren
Merkmalen zu unterscheiden. Nach Hay (1994) entwickeln Kinder zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr
Regeln und Überzeugungen bezüglich des prosozialen Verhaltens, berücksichtigen die Vertrautheit
des Empfängers und die Reziprozität des Helfens und entwickeln Vorstellungen darüber, wer aus
welchen Gründen Hilfe verdient. In dieser Altersphase lernen Kinder auch, Zuständigkeit und
Verantwortlichkeit für Hilfeleistungen zu unterscheiden; es bilden sich Überzeugungen aus, wann und
wem nicht geholfen werden muss. Nach Volland, Ulich und Fischer (2003) helfen Kinder am ehesten,
wenn ein grosser Schaden vorliegt, der Empfänger schuldlos an der Lage ist, in der er sich befindet,
jünger und vertraut ist und dem Beobachter auch schon geholfen hat. Die Wichtigkeit von
Empfängermerkmalen sei aber in der frühen Kindheit eher gering, spiele in der Kindergarten- bzw.
Vorschulzeit und auch in den ersten Schuljahren eine wichtige Rolle, um dann im Jugendalter
teilweise wieder abzunehmen (Volland et al., 2003).
Zusammenfassung: Faktoren, die das prosoziale Verhalten beeinflussen und zu interindividuellen
Unterschieden führen können, wurden vor allem empirisch identifiziert, wobei der theoretische
Hintergrund meist unklar bleibt. Ausserfamiliale Sozialisationsagenten und Peers beeinflussen durch
ihre Reaktionen die prosozialen Tendenzen, wobei die genauen Mechanismen noch unklar sind und
bisher wenig untersucht wurden. Eine Reihe von Merkmalen der Persönlichkeit des Kindes wie
Geschlecht, Geselligkeit und Durchsetzungsvermögen beeinflussen das prosoziale Verhalten ebenfalls:
Es wird angenommen, dass Mädchen sowie gesellige und durchsetzungsfähige Kinder häufiger
prosozial handeln. Situationale Faktoren beziehen sich im Gegensatz zu den vorher genannten auf den
unmittelbaren sozialen Kontext und beeinflussen die Auftretenswahrscheinlichkeit des prosozialen
Verhaltens in einer bestimmten Situation.
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
38
3. Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
Obwohl sich die Mehrheit der zitierten Theorien darin einig sind, dass Kinder im zweiten Lebensjahr
scheinbar prosoziales Verhalten zeigen, gibt es nur wenige Studien, die diesen Altersbereich
untersucht haben. Die meisten Studien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten konzentrieren sich
auf Kinder ab 3 Jahren und weisen zudem ein Querschnittdesign auf. Deswegen fehlen zuverlässige
Angaben über den Entwicklungsverlauf, ebenso wie Informationen über die Wurzeln und Anfänge des
prosozialen Verhaltens. Ein weiteres Problem besteht darin, dass wenig empirische Studien neueren
Datums existieren, die sich mit dem prosozialen Verhalten von Kindern unter zwei Jahren befasst
haben. Entsprechende Literaturrecherchen in den OvidSP-Datenbanken für empirische Studien ab dem
Jahr 2001 ergaben lediglich 7 Treffer, wovon jedoch nur eine das Thema der vorliegenden Arbeit traf.
Aufgrund des Fehlens aktueller Studien werden im folgenden vorwiegend Untersuchungen älteren
Datums beschrieben.
Im ersten Block des Kapitels wird auf Studien eingegangen, die sich mit dem Verlauf, den
Häufigkeiten und der erstmaligen Manifestation in der ontogenetischen Entwicklung befassen. Es
werden vor allem Querschnittstudien referiert, da Längsschnittstudien nur selten durchgeführt wurden.
Auf zwei Längsschnittstudien, die Kinder im zweiten Lebensjahr über eine längere Zeit untersuchte,
wird ausführlicher eingegangen, da sie direkte Informationen über den Entwicklungsverlauf enthalten.
Im zweiten Teil werden empirische Untersuchungen über die Einflussfaktoren Geschlecht und
Persönlichkeit des Zielkindes sowie Merkmale und Reaktionen der Empfänger beschrieben. Diese
wurden vor allem von Autoren, die der Sozialpsychologie zugehörig sind, untersucht. Die Stichproben
bestanden deshalb meist aus Erwachsenen oder älteren Kindern. In der vorliegenden Arbeit werden
nur Studien zitiert, die mit Vorschulkindern durchgeführt wurden, um die Resultate auf Kleinkinder
adaptieren zu können.
3. 1. Allgemeiner Entwicklungsverlauf und erstmalige Manifestation
Wie unter 2. 2. bereits dargelegt, gehen aktuellere Theorien zur Entwicklung prosozialen Verhaltens
trotz unterschiedlicher Definitionen und Annahmen der unterliegenden Mechanismen davon aus, dass
bereits sehr kleine Kinder zu phänotypisch prosozialem Verhalten fähig sind. Sowohl Quer- wie auch
Längsschnittstudien zeigen, dass bereits Kinder unter zwei Jahren in der Lage sind, prosozial zu
reagieren. Dabei zeigen sie eine breite Palette von verschiedenen Formen wie Trösten, Teilen und
Assistieren.
Howes und Farver (1987) untersuchten die spontanen Reaktionen von Kindern auf das Weinen eines
Peers in Kindertagesstätten. Die Stichprobe bestand aus 43 Kindern im Alter von 16 bis 22 Monaten,
die drei Kindertagesstätten besuchten. Die Reaktionen wurden über einen Zeitraum von vier Monaten
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
39
zu vier Messzeitpunkten erhoben, wobei jede Messperiode zwei Wochen dauerte. Pro Kind wurden
während jeder Datensammlungsperiode vier Beobachtungen durchgeführt, so dass jedes Kind
insgesamt 16 Mal beobachtet wurde. Die Beobachtung begann, wenn das Zielkind mit einem anderen
Kind in Kontakt trat und dauerte 5 Minuten, unabhängig davon, ob die Interaktion mit dem anderen
Kind weiterging oder nicht. Die beobachteten Episoden untersuchten Howes und Farver auf
Situationen, in denen der Peer weinte. Von insgesamt 135 Weinsituationen kamen 75% innerhalb
einer Interaktion mit dem Zielkind vor. Der häufigste Grund war ein Unfall oder eine Verletzung
durch das Zielkind, gefolgt von einem Konflikt. 22% der Weinepisoden führten zu einer Reaktion des
Zielkindes. Alle Reaktionen fanden innerhalb einer Interaktion der zwei beteiligten Kinder statt. 93%
der Reaktionen waren Howes und Farver zufolge prosozial. Die häufigste prosoziale Reaktion war das
Beobachten des Peers und Intervenieren, gefolgt von Trösten und Stoppen der eigenen Aktivität
und/oder Informieren des Betreuers. Von den 43 Kindern reagierten 17 mindestens ein Mal prosozial,
was einem Anteil von 40% entspricht. Allerdings enthalten die erst- und letztgenannten Kategorien
neben den prosozialen Verhaltensweisen Intervenieren und Trösten auch das Beobachten des Peers
und das Stoppen der eigenen Aktivität, welche nach der in der vorliegenden Studie verwendeten
Definition keine prosozialen Verhaltensweisen sind.
Warneken und Tomasello (2007) führten mit 24 Kindern im Alter von 14 Monaten zwei Experimente
zum instrumentellen Helfen und zur Kooperation durch. Im ersten Experiment wurde jedes Kind in
sechs Hilfesituationen, die entweder als Kontroll- oder Experimentalbedingungen durchgeführt
wurden, getestet. In drei Situationen befanden sich eine Wäscheklammer, ein Stift und ein Papierball
ausserhalb der Reichweite des Versuchsleiters. In der vierten Situation fiel dem Versuchsleiter ein
Löffel in eine Box, worauf er vergeblich versuchte, den Löffel durch das für seine Hand zu kleine
Loch wieder aus der Schachtel herauszunehmen. In der fünften Situation versuchte der Versuchsleiter
ohne Erfolg, ein Buch auf einen Stapel Bücher zu legen. In der letzten Situation versuchte der
Versuchsleiter, der einen Stapel Pakete in den Händen hält, vergeblich eine Tür zu öffnen. In den
ersten drei Situationen halfen die Kinder in der Experimentalbedingung signifikant häufiger als in den
Kontrollbedingungen, in den Situationen vier, fünf und sechs wurden keine Unterschiede gefunden. 18
der 24 Kinder halfen mindestens ein Mal, insgesamt halfen die Kinder im Durchschnitt in 28% der
Experimentalbedingungen. Die Kinder halfen sehr schnell, ohne dazu aufgefordert worden zu sein und
behielten die Objekte selten länger in ihrem Besitz.
Rheingold (1982) untersuchte in ihrer Studie das Assistieren, also solche Verhaltensweisen, die zur
Komplettierung einer Aufgabe beitragen. An der Studie nahmen insgesamt 80 Kinder im Alter von 18,
24 und 30 Monaten mit ihren Eltern teil. In der ersten Studie verrichteten die Mütter, in der zweiten
Studie die Mütter oder Väter im Labor alltägliche Haushaltsarbeiten. Bei den 24 Monate alten Kindern
wurden zwei Gruppen gebildet. Die erste Gruppe führte die Aufgaben mit einer unbekannten Frau
durch, die zweite Gruppe mit ihrem Vater und einem unbekannten Mann oder einer unbekannten Frau.
Alle Kinder, auch die 18 Monate alten, nahmen in grossem Umfang teil: 13 der 20 Kinder der jüngsten
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
40
Altersgruppe halfen, alle der ersten Gruppe und 18 der zweiten Gruppe der 24 Monate alten Kinder
sowie alle der 30 Monate alten Kinder. Der Prozentsatz des Helfens war bei den älteren Kindern etwas
höher: Die jüngsten Kinder halfen bei 63% der Aufgaben, während die 24 Monate alten Kinder bei
78% der Aufgaben und die 30 Monate alten Kinder bei 89% der Aufgaben halfen. Die Kinder halfen
bereitwillig, oft fingen sie mit einer Aufgabe an, bevor die Eltern damit begannen. Dies zeigt, dass die
Kinder die Situation verstanden und sich die Kinder über das Ziel im Klaren waren. Die häufigsten
Auslöser waren allerdings die verbale Intention der Eltern, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen sowie
deren Beginn der Ausführung. Eine verbale Aufforderung zur Hilfe kam nur selten vor und war mit
Ausnahme der jüngsten Gruppe nicht sehr effektiv. Die Kinder halfen nicht nur den Eltern, sondern
auch den unbekannten Erwachsenen.
In einer Serie von sieben Experimenten untersuchten Rheingold, Hay und West (1976) das Teilen und
Faktoren, die dieses beeinflussen. Die ersten Experimente dienten dazu, die Häufigkeit dieser
Verhaltensweise und die Rezipienten festzuhalten. Weiter wurde untersucht, wie das Teilen von
Verhaltensveränderungen der verschiedenen Rezipienten beeinflusst wurde sowie welchen Effekt
Spielzeugmerkmale und die Neuheit der Spielzeuge auf das Teilen ausüben. Unter Teilen verstanden
Rheingold et al. (1976) sowohl das eigentliche Anbieten und Übergeben eines Objektes wie aber auch
das Zeigen auf oder eines Objekts und das Partnerspiel, bei dem das Kind das Objekt, das sich im
Besitz der anderen Person befindet, exploriert. Insgesamt nahmen 111 Kinder im Alter zwischen 15
und 18 Monaten teil, welche sich auf sieben Experimente verteilten. 24 Kinder nahmen an mehr als
einem Experiment teil. Die sieben Experimente fanden im Labor statt. Zusätzlich zu den
Laborexperimenten wurden auch Feldstudien bei den Kindern zu Hause sowie in Kindertagesstätten
durchgeführt. Die Eltern wurden aufgefordert, die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf die
Spielzeuge zu lenken und ihnen nicht zu sagen, was sie tun sollen. Wenn das Kind ihnen aber ein
Spielzeug zeigte, durften sie lächeln und sich zum Kind vorbeugen. Wenn das Kind ihnen ein
Spielzeug brachte, durften die Eltern es annehmen (aber nicht danach greifen), lächeln und „danke“
sagen. Alle 24 untersuchten Kinder teilten, davon zeigten 17 Kinder alle drei definierten Teilverhalten.
Die Art des Spielzeugs hatte keinen Effekt auf das Teilen, ebenso wenig die Einführung von neuen
Spielsachen. Acht der neun Kinder in einem der sieben Teilexperimente teilten auch mit der
unbekannten Person, zwei Kinder zeigten alle drei Teilverhalten. Die mittlere Häufigkeit war jedoch
niedriger als diejenige bei den Eltern. Wie auch im Labor teilten alle Kinder in der Kindertagesstätte
mit anderen Kindern und den Betreuern und Betreuerinnen. Das Übergeben von Objekten wurde im
Labor erstmals mit 11.3 Monaten beobachtet, zu Hause mit 9.5 Monaten. Kurz vor dem ersten
Geburtstag fingen die Kinder an, anderen Personen Objekte zu übergeben und Essen mit anderen zu
teilen. Es ist jedoch anzumerken, dass die Autoren den Begriff Teilen sehr weit fassen und darin auch
das Zeigen von Objekten enthalten ist, welches gemäss der in der vorliegenden Studie verwendeten
Definition keine prosoziale Handlung ist, da das Objekt nicht übergeben wird. Somit bleibt unklar, wie
viele Kinder die Objekte nicht nur zeigten, sondern tatsächlich übergaben.
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
41
Stanjek (1978) untersuchte das Überreichen von Objekten und dessen Funktion in einer Serie von
Studien. In der ersten Studie wurden 20 Kinder im Alter von 19 – 37 Monaten in der Kindertagesstätte
während des Freispiels beobachtet. Dabei wurden Verhaltensweisen erfasst, die zu Kontakten der
Kinder untereinander und zu Erwachsenen führten. Jedes Kind wurde insgesamt fünf Mal 10 Minuten
lang beobachtet. Es zeigte sich, dass das Überreichen von Objekten zur Herstellung eines Kontaktes
sehr häufig vorkam. Es gab aber deutliche Altersunterschiede: Das Überreichen von Objekten kam bei
den älteren Kindern seltener vor und wurde zunehmend durch andere Formen der Kontaktaufnahmen
wie Ansprechen ersetzt. In der zweiten Studie wurde das Kontaktverhalten von 24 Kindern im Alter
von 17 – 37 Monaten gegenüber fremden Personen, die die Kindertagesstätten besuchten, untersucht.
Die fremden Personen nahmen den Kindern gegenüber eine passive, aber freundliche Haltung ein.
Auch in dieser Untersuchung waren das Überreichen und das Zeigen von einfachen Holzstücken,
Legosteinen oder anderem Spielmaterial ein häufiges Verhalten bei der Kontaktaufnahme. Die dritte
Untersuchung fand im Wartezimmer eines Kinderkrankenhauses statt. Hier hatten die Kinder im Alter
von 1 – 7 Jahren die Gelegenheit, sowohl mit den Eltern wie auch mit fremden Personen in Kontakt zu
treten. Auch hier war das Übergeben von Objekten ein häufiges Element, mit dem die Kinder
Interaktionen begannen und zwar sowohl mit den Eltern wie auch mit fremden Kindern oder
Erwachsenen.
Hay, Castle, Davies, Demetriou und Stimson (1999) beobachteten 66 Kinder dreier Alterskohorten,
die zu Beginn 18, 24 und 30 Monate alt waren, zu Hause in Kontakt mit einem vertrauten Peer jeweils
45 Minuten und nochmals sechs Monate später. Hay et al. untersuchten unter anderem das Teilen bzw.
Anbieten von Objekten. Auch in dieser Studie kam das Teilen sehr häufig vor: Alle ausser je einem
Kind aus jeder Kohorte teilten mindestens ein Mal im Verlauf der Studie. Diejenigen Kinder, die nicht
mit dem Peer teilten, boten der Mutter Objekte an.
Verschiedene Studien untersuchten Teilbereiche von Hoffmans Theorie (1975, 1982) oder nahmen
seinen vorausgesagten Entwicklungsablauf als Ausgangspunkt: Simner (1971) verglich die Reaktionen
von wenigen Tage alten Kinder auf das Weinen anderer Neugeborenen und auf andere aversive Reize.
Die anderen aversiven Bedingungen beinhalteten das Weinen eines 5½ Monate alten Kindes,
synthetisches Weinen (Computer-Weinen), ein unangenehmer Ton und als Kontrollbedingung kein
Geräusch. Die Kinder weinten nur als Reaktion auf menschliches Weinen und nicht auf Geräusche
ähnlicher Lautstärke und Intensität. Diese Resultate wurden von Sagi und Hoffman (1971) repliziert:
Die Kinder reagierten auf das Stresssignal eines anderen Babys, indem sie selbst gestresst wurden.
Hay, Nash und Pederson (1981) untersuchten die Reaktionen von sechs Monate alten Kindern auf das
Weinen eines Peers. Dabei nahmen sie analog Hoffmans (1975, 1982) Modell an, dass die
egozentrische Vermischung von Selbst und anderen dazu führt, dass die Kinder selbst gestresst
werden. 24 Kinder wurden paarweise in einem Raum bei der Interaktion beobachtet, wobei die Mütter
anwesend waren. Die meisten der Kinder wurden auf den Peer aufmerksam und beobachteten ihn oder
die Mutter des Peers. Die Kinder ignorierten den Stress des Gegenübers also nicht, reagierten aber
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
42
selten mit eigenem Stress. Je länger oder je intensiver der Peer jedoch weinte, desto mehr stieg die
Wahrscheinlichkeit, dass das andere Kind ebenfalls gestresst wurde (Hay et al., 1981).
Auf zwei Längsschnittstudien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten in den ersten Lebensjahren
soll im Folgenden ausführlicher eingegangen werden. Zahn-Waxler und Radke-Yarrow (1982)
untersuchten die Entwicklung des prosozialen Verhaltens während neun Monaten. Die Stichprobe
bestand aus 24 Kindern aus drei Alterskohorten. Diese waren zu Beginn 10, 15 und 20 Monate alt.
Ziel der Studie war es, die Entwicklung von mitfühlendem Verhalten zu erfassen. Dabei wurden die
Reaktionen der Kinder auf Situationen, in welchen andere Personen negative Emotionen zeigten, von
ihren Müttern festgehalten. Es wurden sowohl Situationen erfasst, in denen die Kinder das Leid nur
beobachteten wie auch solche, in denen sie dieses selbst verursacht hatten. Zusätzlich zu diesen
natürlich vorkommenden Situationen simulierten sowohl die Mutter wie auch eine fremde Besucherin
ähnliche Situationen. In den Simulationen wurden drei verschiedene Arten von Leid gezeigt, nämlich
Atemnot, körperlichen Schmerz und schliesslich Traurigkeit, bei der geschluchzt wurde. Die Mütter
wurden sowohl im Beobachten der kindlichen Reaktionen wie auch im Simulieren von Kummer
ausgebildet und trainiert.
Das Weinen als Reaktion auf Leid anderer war zum ersten Zeitpunkt in der jüngsten Altersgruppe
vorherrschend und nahm mit dem Alter signifikant ab. Die erste prosoziale Intervention ereignete sich
kurz nach dem ersten Lebensjahr in Form von positivem körperlichem Kontakt wie zum Beispiel
umarmen und tätscheln. Während des zweiten Lebensjahrs wurden diese Kontakte elaborierter und
differenzierter und verschiedene Formen wie direkte Hilfe, Teilen, indirekte Hilfe (z. B. die Mutter
holen), Hilfevorschläge machen und Mitgefühl ausdrücken kamen mit signifikanter Häufigkeit vor.
Die auf das Selbst orientierten Verhaltensweisen wie Weinen oder Hilfe bei der Mutter suchen wurden
graduell durch direkte Kontakte mit dem Opfer ersetzt.
Zahn-Waxler, Radke-Yarrow und Chapman (1992) replizierten die Studie von Zahn-Waxler und
Radke-Yarrow (1982) unter leicht veränderten Bedingungen. Das Ziel bestand darin, die Entwicklung
von Mitgefühl und prosozialem Verhalten zu dokumentieren. Die Stichprobe setzte sich aus 27
Kindern zusammen, die zu Messbeginn 12 Monate alt waren und ein Jahr lang beobachtet wurden.
Das Mitgefühl und prosoziale Interventionen wurden sowohl in Situationen, in denen die Kinder Leid
nur beobachteten wie auch in Situationen, in denen sie Täter waren, erhoben. Weitere
Reaktionsgelegenheiten bestanden entweder in natürlich vorkommenden Kummer einer anderen
Person oder im simulierten Kummer der Mutter oder einer unbekannten Person.
Die Mütter absolvierten ein Beobachtungstraining und wurden im Simulieren von Kummer
ausgebildet. Im Alter von 18 und 21 Monaten fanden Hausbesuche statt, bei denen die Mutter die drei
weiter oben beschriebenen Arten von Leid simulierte. Im Alter von 2 Jahren wurde zudem im Labor
durch zwei dem Kind unbekannten Forscherinnen Schmerz simuliert. Zusätzlich wurde drei Mal,
zwischen 12 und 14 Monaten, mit 18 und mit 24 Monaten, mittels des Rouge-Tests (Amsterdam,
1972) erfasst, ob die Kinder die Ich-Andere-Unterscheidung treffen konnten.
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
43
Das Mitgefühl im Sinne einer besorgten Anteilnahme erfasste man sowohl anhand des mimischen und
stimmlichen Ausdrucks wie auch anhand verbaler Inhalte (z. B. „du tust mir leid“) und des Verhaltens,
z. B. mit besorgter Miene zum Opfer rennen. Sowohl der Ausdruck von Mitgefühl wie auch die
verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten stiegen mit dem Alter an und zwar unabhängig
davon, ob die Kinder nur unbeteiligte Beobachter oder die Verursacher des Leids waren. Allerdings
zeigten die älteren Kinder in Situationen, in denen sie das Leid selbst verursacht hatten, weniger
Mitgefühl als wenn sie unbeteiligte Zeugen waren. Im Verlauf der Entwicklung nahm nicht nur die
Häufigkeit, sondern auch die Vielfältigkeit von prosozialem Verhalten zu. Im Alter von zwei Jahren
konnten Zahn-Waxler, Radke-Yarrow und Chapman (1992) acht verschiedene Arten von prosozialen
Interventionen identifizieren:
1. Physisches Trösten wie z. B. Umarmen, Streicheln
2. Verbales Trösten wie z. B. „wird schon wieder“, „alles ok“
3. Verbaler Ratschlag wie z. B. „sei vorsichtig“
4. Helfen wie z. B. einem schreienden Geschwister die Flasche geben
5. Indirektes Helfen wie z. B. die Mutter holen, welche die dem Baby verloren gegangene Rassel
suchen soll
6. Teilen, z. B. der Schwester vom Kuchen abgeben
7. Ablenken, z. B. Bilderbuch zuklappen, das die Mutter traurig gemacht hat
8. Schützen und verteidigen, z. B. jemanden vor einem Angriff warnen
Kurz nach dem ersten Geburtstag zeigten schon mehr als die Hälfte der Kinder mindestens eine Art
der genannten Verhaltensweisen. Zwischen dem 23. und 25. Monat zeigten alle bis auf ein einziges
Kind mehrere Arten der prosozialen Verhaltensweisen. Schon früh waren interindividuelle
Unterschiede feststellbar: Während einige Kinder sehr häufig prosozial handelten und viele
verschiedene Formen zeigten, handelten andere nur selten prosozial. Bei den frühen Interventionen
zwischen dem 13. und 15. Monat überwogen die körperlichen Arten von prosozialem Verhalten und
im Alter von 18 Monaten war die ganze Bandbreite der acht Typen beobachtbar. Manchmal fanden die
Kinder den Kummer anderer komisch, manchmal empfanden sie selbst Unbehagen dabei und
manchmal wurden sie sogar aggressiv. Diese Reaktionen kamen aber nur selten vor. Allerdings
wurden mit steigendem Alter die aggressiven Verhaltensweisen häufiger, wahrscheinlich, weil die
Kinder immer besser lernten, wie man anderen Leid zufügen kann. Das Mitgefühl gegenüber einer
leidenden unbekannten Person war nicht geringer als das Mitgefühl für die Mutter, wohl aber das
prosoziale Verhalten, das gegenüber letzterer häufiger erfolgte. Kinder, die sich im Spiegel selbst
erkannten, zeigten mehr prosoziales Verhalten. Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass
Kinder im Laufe des zweiten Lebensjahres immer mehr über die Fähigkeiten verfügten, psychische
Zustände anderer richtig zu interpretieren, den emotionalen Zustand einer anderen Personen
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
44
nachfühlen zu können und Verhalten zu initiieren, das auf die Aufhebung des Leids der anderen
Person abzielt (Zahn-Waxler et al., 1992).
Kaneko und Hamazaki (1987) untersuchten die Entwicklung des prosozialen Verhaltens an 68
Kindern, die zwischen 1976 und 1984 in ein Waisenhaus eintraten und zum Zeitpunkt des Eintritts
weniger als 12 Monate alt waren. Die Betreuer hielten das Verhalten gegenüber Peers, Betreuern und
Tieren in einem Tagebuch fest. Aus diesen Berichten wurden die prosozialen Verhaltensweisen näher
untersucht. Erfasst wurden das individuelle Alter des Kindes, die prosozialen Ereignisse und deren
Inhalt, der Empfänger der prosozialen Aktion und, im Falle von prosozialem Verhalten gegenüber
Peers, dessen Alter und die Beziehung zwischen dem prosozialen Akteur und dem Empfänger.
Verbale prosoziale Reaktionen wurden aufgrund fehlender Klarheit aus der Analyse ausgeschlossen.
Die Berichte enthielten insgesamt 562 prosoziale Verhaltensweisen, die Kaneko und Hamazaki in die
Kategorien Helfen, Teilen/Geben, Trösten und Nurturing (sich um jemanden kümmern durch Pflegen,
Tragen, zu Bett bringen etc.) einordneten. Den Grossteil ihres prosozialen Verhaltens richteten die
Kinder an Peers (470 Mal), gefolgt von den Betreuern und Betreuerinnen mit 72 Fällen. Nur selten,
nämlich 9 bzw. 11 Mal richteten die Kinder ihr prosoziales Verhalten an Tiere bzw. Puppen. Das
früheste prosoziale Verhalten zeigte ein neun Monate altes Mädchen. Allerdings bleibt unklar, welche
Form von prosozialem Verhalten dieses Mädchen mit neun Monaten zeigte. Mit 18 Monaten zeigten
die Hälfte aller Kinder prosoziales Verhalten und in der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres die
Mehrheit. Allerdings zeigten fünf der Kinder keine einzige prosoziale Intervention. Während des
zweiten Lebensjahres zeigten die Kinder mehrere Formen von prosozialem Verhalten wie ein Objekt
übergeben, einer Betreuerin oder einem Peer assistieren, andere Kinder pflegen oder Peers trösten.
Prosoziales Verhalten gegenüber jüngeren Kindern kam häufiger vor als gegenüber älteren Kindern,
jedoch erst, wenn die Kinder das dritte Lebensjahr erreicht hatten.
Bischof-Köhler (1994) replizierte in ihrer Untersuchung unter veränderten Versuchsbedingungen das
Ergebnis einer vorausgegangenen Studie zur Entwicklung der Empathie im zweiten Lebensjahr
(Bischof-Köhler, 1989). Voraussetzung für empathisches Empfinden und prosoziales Verhalten ist
nach Bischof-Köhler (1989, 1994) die Ich-Andere-Unterscheidung. Dieser Entwicklungsschritt erfolgt
etwa um die Mitte des zweiten Lebensjahres. Diese Annahmen überprüfte Bischof-Köhler (1994) an
einer Stichprobe von 36 Kindern im Alter von 14 – 22 Monaten unter Laborbedingungen. Bei einem
ersten Termin wurde anhand des Rouge-Tests (Amsterdam, 1972) untersucht, ob die Kinder sich im
Spiegel erkennen. Dieser Test soll Aufschluss darüber geben, ob sich das Kind von anderen
unterscheiden kann. Das prosoziale Verhalten wurde mittels eines Experiments erfasst: Die
Versuchsleiterin ass gemeinsam mit dem Kind eine Quarkspeise, die auf zwei Teller verteilt wurde.
Kind und Spielpartnerin erhielten je einen Löffel, ausserdem legte die Versuchsleiterin einen
Ersatzlöffel in die Mitte zwischen die beiden Teller. Nach einigen Minuten brach der entsprechend
präparierte Löffel der Versuchsleiterin ab, worauf sie Trauer demonstrierte und jammerte, sie könne
nicht mehr weiter essen. Nach spätestens 150 Sekunden entdeckte die Versuchsleiterin, sofern das
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
45
Kind nicht eingegriffen hatte, den Ersatzlöffel und ass damit weiter. Von den 36 Kindern halfen 11,
vier Kinder schienen zwar bekümmert, aber gleichzeitig auch ratlos. Weitere vier Kinder reagierten
mit Gefühlsansteckung, fingen an zu weinen und mussten getröstet werden. Die restlichen 13 Kinder
reagierten unbeteiligt, dass heisst, sie gingen nach einer kurzen Aufmerksamkeitsphase zum „Alltag“
über und assen weiter. Der von Bischof-Köhler angenommene Zusammenhang zwischen
Selbsterkennen und prosozialem Verhalten wurde bestätigt. Alle Kinder, die prosozial handelten,
erkannten sich im Spiegel, hatten also die Ich-Andere-Unterscheidung getroffen.
Zusammenfassung: Die bisher referierten Studien zeigen, dass Kinder unter zwei Jahren in der Lage
sind, verschiedene Formen von prosozialem Verhalten zu zeigen. Je nach Form zeigen die Kinder
schon vor dem ersten Geburtstag erstmals prosoziales Verhalten.
Das Anbieten von Objekten stellt die früheste Form von prosozialem Verhalten dar. Es tritt schon vor
dem ersten Geburtstag erstmals auf, im Gegensatz zu empathischem Verhalten, das kurz nach dem
ersten Geburtstag erstmals gezeigt wird. Zahn-Waxler und Radke-Yarrow (1982) sowie BischofKöhler (1994) konnten den von Hoffman (1975, 1982) vorausgesagten Entwicklungsverlauf der
Empathie und des prosozialen Verhaltens bestätigen. Bei Zahn-Waxler und Radke-Yarrow (1982)
fand der vorausgesagte Übergang von Selbstbezogenheit zu empathischer Betroffenheit und
prosozialer Handlung statt. Bischof-Köhler (1994) konnte zeigen, dass die Ich-Andere-Unterscheidung
Voraussetzung für empathisches Verhalten ist und dieses in der zweiten Hälfte des zweiten
Lebensjahres stattfindet.
3. 2. Konsistenz
Bei der näheren Betrachtung der bereits erwähnten Studien fällt auf, dass die einzelnen prosozialen
Verhaltensweisen,
also
Zuneigung
zeigen,
Teilen,
Assistieren,
Helfen/Trösten
und
Wiedergutmachung, in der ontogenetischen Entwicklung zu unterschiedlichen Zeitpunkten erstmals
beobachtbar sind: Wie Stanjek (1978) berichtet, teilen Kinder bereits mit 9 bzw. 11 Monaten. Helfen
und Trösten dagegen tritt nach den Berichten der Forschungsgruppe um Zahn-Waxler und RadkeYarrow kurz nach dem ersten Geburtstag erstmals auf.
Dies weist auf die Möglichkeit hin, dass die einzelnen Formen des prosozialen Verhaltens
unterschiedliche Voraussetzungen und Entwicklungslinien aufweisen. Mit der Frage der Generalität
beschäftigten sich Underwood und Moore (1982). Ein Hinweis auf eine vorhandene Generalität sind
Underwood und Moore zufolge Befunde, die zeigen, dass bestimmte Prozesse, z. B. Altersprozesse,
einen ähnlichen Einfluss auf verschiedene Formen von prosozialem Verhalten ausüben. Wenn die
verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten durch unterschiedliche Prozesse beeinflusst oder
von denselben Prozessen in verschiedener Weise beeinflusst werden, stellt dies die Generalität von
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
46
prosozialem Verhalten in Frage. Underwood und Moore untersuchten in einer Metastudie als ersten
Schritt den Einfluss des Alters auf die verschiedenen prosozialen Verhaltensweisen. Die Daten zum
Anbieten von Objekten waren relativ konsistent und zeigten einen signifikanten und normalerweise
linearen Anstieg mit dem Alter: Ältere Kinder teilen häufiger und sind grosszügiger als jüngere.
Gemischte Resultate fanden sie zur Hilfsbereitschaft in Nicht-Notsituationen: von vier Studien fanden
deren drei keine signifikanten Altersunterschiede, eine Studie hingegen positive Zusammenhänge
zwischen Alter und Hilfsbereitschaft. Aus diesen Daten schliessen Underwood und Moore, dass sich
die Hilfsbereitschaft anders als die Grosszügigkeit entwickelt. In einem zweiten Schritt befassten sich
Underwood und Moore mit Studien, die die Interkorrelation von verschiedenen prosozialen
Verhaltensweisen erhoben haben. Vor allem die Ergebnisse für jüngere Kinder waren inkonsistent: Es
wurden sowohl niedrige Korrelationen zwischen den verschiedenen Formen gefunden wie auch keine
signifikanten Zusammenhänge.
Zahn-Waxler et al. (1992) fanden in ihrer Studie sowohl für prosoziales Verhalten, bei dem die Kinder
das Leid einer anderen Person beobachteten, wie auch für prosoziales Verhalten, das als
Wiedergutmachung für verursachtes Leid erfolgte, einen Anstieg mit dem Alter. Aus diesen Befunden
schliessen sie, dass tröstendes und reparatives Verhalten ähnliche Entwicklungslinien aufweisen.
Allerdings zeigten die Kinder mehr eigenen Stress, mehr aggressives Verhalten und mehr positiven
Affekt, wenn sie die Verursacher des Kummers waren. Auch Zahn-Waxler, Radke-Yarrow und
Chapman (1983) kommen zum Schluss, dass Teilen, Kooperation im Spiel, Mitgefühl ausdrücken und
jemanden Schwächeren beschützen zwar unter dem Begriff prosoziales Verhalten zusammengefasst
werden, sie das Kind jedoch in unterschiedlicher Weise involvieren. Sie erfordern unterschiedliche
Fähigkeiten, Motive, Sensitivität, die Interaktion verschiedener persönlicher Attribute und haben
unterschiedliche Vorläufer (Radke-Yarrow et al., 1983).
Allerdings führten dieselben Autoren eine Metaanalyse zur Konsistenz und zeitlichen Stabilität durch
und fanden bei Studien, die unter Laborbedingungen durchgeführt wurden, niedrige bis mittlere
Interkorrelationen (.20 bis .40). Bei naturalistischen Längsschnittstudien, bei denen die Werte aus
mehreren Messungen gebildet wurden, fanden sich sogar höhere Korrelationen: Sie lagen zwischen
.50 und .60. Diese Resultate sprechen dafür, dass die einzelnen prosozialen Verhaltensweisen
miteinander zusammenhängen und ein prosozialer Persönlichkeitstyp existiert, der bei verschiedenen
Formen des prosozialen Verhaltens hohe Werte aufweist.
In der bereits erwähnten Studie berechneten Hay et al. (1999) die Korrelation zwischen Teilen und der
Reaktion auf das Leid eines Peers. Bei beiden Messzeitpunkten fanden sie keinen signifikanten
Zusammenhang. Allerdings reagierten vier Kinder, die beim ersten Messzeitpunkt nicht teilten, nie auf
das Leid eines Peers und ebenso wenig drei Kinder, die beim zweiten Zeitpunkt nicht teilen. Obwohl
Teilen ein häufiges Ereignis ist und aktives, positives Reagieren auf den Stress eines Peers ein seltenes
Ereignis, scheint ein gewisser Zusammenhang zwischen den beiden Verhaltensweisen vorhanden zu
sein.
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
47
Strayer, Wareing und Rushton (1979) untersuchten 26 Kinder im Alter von 3 – 5 Jahren, die sie in der
Vorschule während sechs Wochen fünf Mal wöchentlich eine Stunde während des Freispiels filmten.
Das prosoziale Verhalten unterteilten sie in objektbezogene Aktivitäten (Teilen, Anbieten),
kooperative Aktivitäten, Hilfeaktivitäten und empathische Aktivitäten. Mit Ausnahme der
empathischen Aktivitäten waren alle Formen der an die Peers gerichteten prosozialen Aktivitäten
signifikant interkorreliert. An Peers und an Erwachsene gerichtete prosoziale Verhaltensweisen hingen
allerdings mit Ausnahme der Kooperation nicht miteinander zusammen. Dies spricht nach den
Autoren für die soziale Spezifität von prosozialem Verhalten. Diese Theorie geht davon aus, dass die
Identität der Teilnehmer eines sozialen Austausches und die Art der Beziehung, die sie vor der
potentiell prosozialen Episode zueinander aufgebaut haben, die Auftretenswahrscheinlichkeit von
prosozialem Verhalten beeinflussen.
Zusammenfassung: Es existiert sowohl für die Generalität wie auch die Spezifität von prosozialem
Verhalten empirische Evidenz. Dennoch überwiegen bei Kleinkindern Berichte von niedrigen
Zusammenhängen zwischen den einzelnen prosozialen Verhaltensweisen. Auch der Befund aus den
oben beschriebenen Studien, dass sich das Anbieten von Objekten, Helfen und Trösten in der
ontogenetischen Entwicklung zu unterschiedlichen Zeitpunkten erstmals manifestieren, spricht eher
für eine Unabhängigkeit und unterschiedliche Entwicklungslinien.
3. 3. Verlauf
Alle vorgestellten Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten gehen davon aus, dass die
Häufigkeit zumindest bis zum Alter von zwei Jahren zunimmt. Dies aufgrund der zunehmenden soziokognitiven und emotionalen Fähigkeiten sowie Fähigkeiten zur Selbstregulation, die in der Literatur
als Voraussetzungen für prosoziales Verhalten genannt werden. Allerdings beziehen sich die
genannten Theorien implizit auf einen bestimmten Typ von prosozialem Verhalten, nämlich dem
Helfen und Trösten. Wie aber die oben zitierten Studien zeigen, hängen die verschiedenen Formen von
prosozialem Verhalten nicht oder nur minimal zusammen und zeigen sich zu unterschiedlichen
Zeitpunkten in der ontogenetischen Entwicklung. Somit liegt der Schluss nahe, dass sie auch
unterschiedliche Entwicklungsverläufe vorweisen.
Gemischte Befunde stellten Underwood und Moore (1982) in der bereits erwähnten Metastudie fest.
Während beim Teilen ein linearer Zusammenhang zwischen Alter und Teilen besteht, liess sich bei der
Hilfsbereitschaft kein klarer Trend feststellen: Zwei Studien fanden keine signifikanten
Altersunterschiede, eine fand eine positive, aber nicht signifikante Korrelation und die vierte Studie
fand einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen dem Alter und der Hilfsbereitschaft. Bei
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
48
der Intervention in Notsituationen zeigte sich ein U-förmiger Verlauf, wobei das Helfen bis zur
mittleren Schulstufe zunimmt.
Wu (1998) beobachtete 119 Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren in Kindertagesstätten. Ältere Kinder
zeigten mehr prosoziales Verhalten als jüngere. Prosoziales Verhalten umfasste in Wus Studie
Trösten, Rücksichtnehmen, Verantwortung übernehmen, jemanden verteidigen, sich entschuldigen,
Zuwendung geben, Helfen/Unterstützen und Objekte anbieten. Diesen Altersunterschied errechnete
Wu in der Studie aus dem aggregierten Wert. Leider finden sich in der Studie keine Angaben darüber,
ob sich dieser Alterstrend auch bei den einzelnen Formen von prosozialem Verhalten zeigt.
In der Studie von Hay et al. (1999) untersuchten die Autoren, ob sich die Häufigkeit des Teilens mit
zunehmendem Alter verändert. Dabei gingen sie davon aus, dass die Häufigkeit mit zunehmendem
Alter sinkt. Die Varianzanalyse mit Messwiederholung brachte aber weder einen Haupteffekt der
Alterskohorte, noch einen statistisch verlässlichen Trend über die Zeit zutage. Stattdessen fanden die
Autoren eine Interaktion von Geschlecht, Zeit und Alterskohorte. Dabei ergaben sich in der mittleren
Kohorte der 24 Monate alten Mädchen keine Unterschiede über die Zeit. Die jüngsten Mädchen, die
beim ersten Messzeitpunkt 18 Monate alt waren, zeigten nach 6 Monaten jedoch die grösste Abnahme
von Teilen, während das Teilen bei den ältesten Mädchen sogar leicht zunahm. Bei den Jungen
dagegen nahm das Teilen bei der ältesten Kohorte am stärksten ab.
In der zweiten Studie von Rheingold (1982), die drei Altersgruppen (18, 24 und 30 Monate)
untersuchte, stieg der Prozentsatz des Assistierens mit dem Alter an. Die jüngste Altersgruppe half bei
63% aller Aufgaben, die zweite Gruppe der 24 Monate alten Kinder half in 78% aller Fälle und die
älteste Altersgruppe in 89%. Allerdings handelte es sich hierbei um eine Querschnittstudie, so dass
Kohorteneffekte nicht ausgeschlossen werden können.
Howes und Farver (1987) untersuchten an 43 Kindern im Alter von 16 – 33 Monaten die spontanen
Reaktionen auf das Weinen eines Peers in der Kinderkrippe. Es gab vier Messzeitpunkte, die über vier
Monate verteilt waren. Howes und Farver fanden weder einen Anstieg von prosozialem Verhalten mit
dem Alter noch Unterschiede zwischen den älteren und jüngeren Kinder der Stichprobe.
Farver und Branstetter (1994) untersuchten 52 Kinder im Alter von 36 – 52 Monaten, die an drei
Kinderbetreuungsprogrammen teilnahmen. Sie erhoben die Reaktionen von Kindern auf das Weinen
eines Peers. Sie erwarteten unter anderem einen Anstieg der Häufigkeit des prosozialen Verhaltens mit
zunehmendem Alter. Es fand sich jedoch kein Effekt des Alters auf das prosoziale Verhalten, was
Farver und Branstetter auf die kleine Altersspanne der Stichprobe zurückführen.
In der Längsschnittstudie von Zahn-Waxler et al. (1992) zeigten die Kinder mit zunehmendem Alter
mehr prosoziales Verhalten, gleichgültig, ob sie Beobachter des Kummers einer anderen Person waren
oder ob sie ihn verursacht hatten.
Bei der von Stanjek (1979) durchgeführten Serie von Studien über das Teilen fand man deutliche
Altersunterschiede. In der ersten Studie mit 20 Kindern im Alter von 19 – 37 Monaten, die eine
Kindertagesstätte besuchten, war das Anbieten von Objekten typisch für die jüngeren Kinder der
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
49
Stichprobe und nahm mit dem Alter ab. In der dritten Studie mit 24 Kinderkrippenkindern im Alter
von 17 – 37 Monaten wurde das Teilen und Anbieten untersucht. Auch hier teilten die jüngsten Kinder
am häufigsten. Stanjek glaubt, dass dies daran liegt, dass das Anbieten von Objekten als nonverbale
Form der Kontaktaufnahme zunehmend durch verbale Strategien abgelöst wird.
Zusammenfassung: Aus den zitierten Studien lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es
empirische Hinweise auf einen Anstieg der Häufigkeit des aggregierten prosozialen Verhaltens bis
zumindest drei Jahren gibt. Weiter zeigen sich aus den zitierten Studien, dass die Vielfalt des
prosozialen Verhaltens bis zwei Jahre zunimmt: Mit zwei Jahren zeigen die Kinder mehr verschiedene
Formen und innerhalb von bestimmten Formen mehr verschiedene Verhaltensweisen als vorher.
Betrachtet man jedoch die Entwicklungsverläufe der einzelnen Formen, ist das Bild weniger klar. Für
das Teilen fanden Underwood und Moore (1982) einen linearen Anstieg mit dem Alter, Stanjek (1979)
dagegen eine Abnahme, ebenso Hay et al. (1999) für die jüngste Gruppe der Mädchen. Auch für die
anderen Formen des prosozialen Verhaltens sind die Befunde zu Alterstrends gemischt: Zahn-Waxler
et al. (1992) fanden einen Anstieg des Tröstens wie auch des reparativen Verhaltens zwischen 12 und
24 Monaten. Dagegen fanden Underwood und Moore (1982) für die Hilfsbereitschaft und Howes und
Farver (1987) sowie Farver und Branstetter (1994) für das Trösten keinen Alterseffekt. Auch für das
Assistieren fanden Underwood und Moore (1982) weder Anzeichen für einen Anstieg noch für eine
Abnahme.
Dagegen
berichtet
Rheingold
(1982),
dass
die
älteren
Alterskohorten
ihrer
Querschnittstudie häufiger und bei mehr Aufgaben assistierten als die jüngeren. Dodge (1984)
schliesst in ihrem Überblick, dass prosoziales Alter im Gegensatz zu anderen Formen der sozialen
Interaktion nicht linear mit dem Alter ansteigt. Allerdings werde das prosoziale Verhalten mit
fortschreitender Entwicklung in den Vorschuljahren immer ausgereifter und ausgefeilter.
3. 4. Häufigkeit
Diejenigen empirischen Studien, die die Häufigkeit von prosozialem Verhalten untersuchten, fanden
grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen: Während Teilen sehr häufig vorkommt und
ein verbreitetes Verhalten ist, sind beim Trösten und der Wiedergutmachung niedrige Frequenzen zu
erwarten, da sie einerseits reifere sozio-kognitive Fähigkeiten erfordern und andererseits stärkere
hemmende Faktoren wirksam sind.
In der Studie von Howes und Farver (1987) führten 22% der Weinepisoden zu einer Reaktion des
Peers. Alle Reaktionen kamen in einer interaktiven Spielepisode vor. 93% der Reaktionen waren
prosozial: Versuche zu intervenieren und Beobachten des Peers und Intervention (45%), Trösten
(28%) und Stoppen der eigenen Aktivität und/oder Informieren des Betreuers (20%). Die letztere
Reaktion wurde als prosoziale Reaktion auf einer niedrigen Stufe eingeteilt, da sie zwar eine positive
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
50
Reaktion darstellt, aber keine Intervention. 40% der Kinder reagierten auf eine prosoziale Art auf das
weinende Kind. Die Kinder reagierten auf das Weinen im Schnitt .58 Mal (Range 0 – 4). Die 17
Kinder, die prosozial reagierten, reagierten im Schnitt 1.3 Mal (Range 1 – 4). Die Häufigkeit der
Reaktionen auf das Leid anderer war also niedrig.
Sawin (1980, zitiert in Schmidt-Denter, 1996) beobachtete die Reaktionen von drei- bis siebenjährigen
Kindern einer Kindertagesstätte auf die Notsignale anderer Kinder. Beobachtungssituation war der
Spielplatz, auf dem die Kinder aller Altersgruppen spielten. Sawin erhob die Reaktionen, die auf das
laute Weinen eines Kindes folgten, und zwar von denjenigen Kindern, die sich in unmittelbarer Nähe
befanden. Nur sieben Prozent dieser Kinder reagierten gar nicht. Etwa bei der Hälfte der Kinder
konnte man Betroffenheitsreaktionen im Gesichtsausdruck feststellen, 17 Prozent versuchten, das
weinende Kind zu trösten, was meistens das Weinen reduzierte. Zehn Prozent riefen Erwachsene zu
Hilfe, fünf Prozent bedrohten das Kind, welches das andere zum Weinen gebracht hatte. Zwölf
Prozent zogen sich zurück und zwei Prozent reagierten explizit unfreundlich.
Nach drei Beobachtungsstunden pro Kind stellte Murphy (1937) durchschnittlich etwas weniger als
eine mitfühlende Handlung pro Stunde bei zwei- bis vierjährigen Kindern fest. Durchschnittlich zwei
Akte des Teilens oder Tröstens in 40 Minuten, die für jedes Kind in Spielsituationen über mehrere
Tage hinweg erhoben wurden, konnten Yarrow und Waxler (1976) bei drei- bis fünfjährigen Kindern
feststellen. Im gleichen Zeitraum wurden für Jungen 5,1 körperliche und 4,0 verbale Aggressionen
ermittelt, bei Mädchen 2,1 bzw. 2,7. Ein Grossteil der Kinder (87%) richtete also im gleichen
Zeitraum mindestens eine prosoziale und eine aggressive Handlung an die Peers.
Strayer et al. (1979) beobachteten nach 30 Stunden total 1195 prosoziale Episoden, was einem
Durchschnitt von beinahe 40 pro Stunde entspricht. Etwa 60% waren an einen Peer gerichtet, 40% an
einen Betreuer oder eine Betreuerin. Diese Prozentangaben reflektieren etwa die relative
Verfügbarkeit von Peers und Erwachsenen als Ziele des prosozialen Verhaltens. Bei den an die Peers
gerichteten Verhaltensweisen waren 40% objektgerichtet und 35% kooperative Episoden. Helfen und
empathische Aktivitäten waren weniger häufig und machten 20% (Assistieren) respektive weniger als
10% für empathische Aktivitäten wie Trösten aus. Bei den an die Erwachsenen gerichteten
Verhaltensweisen war die Kooperation am häufigsten, weniger häufig kamen Helfen/Assistieren und
objektbezogene Aktivitäten vor.
In einer Studie von Caplan und Hay (1989) mit 4jährigen Kindergartenkindern bemerkten die meisten
von ihnen den Kummer des Peers, aber nur 9% der sich in der Nähe befindlichen Kinder näherten sich
dem Opfer an und nur 3% der Kinder zeigten aktives prosoziales Verhalten. Bei der anschliessenden
Befragung der Kinder zeigte sich, dass die Kinder in der Mehrzahl wussten, welche Art von Hilfe in
welchen Situationen erforderlich ist. Allerdings waren 92% der Kinder der Meinung, dass die
Erzieherin diejenige ist, die eingreifen muss, wenn ein Kind Kummer hat. Die Erklärung für das
seltene Eingreifen der Kinder sehen Caplan und Hay in der Tatsache, dass die Kinder zum einen keine
ausreichende Gelegenheit zum Eingreifen hatten, da die Erzieherinnen durchschnittlich nur 7,9
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
51
Sekunden brauchten, um auf den Kummer eines Kindes zu reagieren. Zum anderen wurden die Kinder
weder von den Erzieherinnen zum Eingreifen aufgefordert noch, wenn es einmal auftrat, dafür positiv
verstärkt.
Zusammenfassung: Die vorliegenden Studien berichten mit Ausnahme von Strayer et al. (1979) von
einer niedrigen Frequenz von prosozialem Verhalten. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen
Formen prosozialen Verhaltens jedoch untereinander: Teilen und das Anbieten von Objekten ist die
häufigste Form und scheint im zweiten Lebensjahr eine verbreitete Verhaltensweise zu sein.
Wiedergutmachung und Trösten dagegen sind vergleichsweise selten. Nur ein kleiner Teil der Kinder
reagiert in dieser Weise prosozial. Anscheinend sind hier starke hemmende Einflüsse wirksam.
3. 5. Geschlechtsunterschiede
Aufgrund unterschiedlicher Sozialisation und Verstärkung wird erwartet, dass Mädchen empathischer,
mitfühlender und prosozialer sind als Jungen. Radke-Yarrow et al. (1983) fanden in ihrer
Literaturschau bei den meisten Laborstudien allerdings keine Unterschiede in der Häufigkeit des
Teilens. In wenigen Studien und nur unter bestimmten Bedingungen teilten die Mädchen mehr als die
Jungen. Bei anderen Studien und unter anderen Bedingungen zeigte sich jedoch ein gegenteiliger
Befund. In der Studie von Rosenhan und White (1967) spendeten Mädchen in Anwesenheit eines
männlichen Modells mehr als die Jungen, Jungen jedoch mehr als Mädchen, wenn kein Modell
anwesend war. Auch in Studien zum Helfen oder Trösten gibt es keine Anhaltspunkte für konsistente
Geschlechtsunterschiede. Für das Teilen, Helfen und Trösten finden sich bei einigen Studien
Interaktionen mit anderen Variablen wie z. B. Persönlichkeit oder Art des Stimulus. Radke-Yarrow et
al. (1983) untersuchten ebenfalls Geschlechtsunterschiede in der Empathie. Bei den meisten Studien,
die die Empathie durch Selbsteinschätzung der eigenen Emotionen in Relation zu den Emotionen
anderer (so genanntes affect matching) erhoben, fanden sich keine statistisch signifikanten
Geschlechtsunterschiede. Bei den wenigen Studien, in denen Geschlechtsunterschiede auftraten, waren
die Mädchen empathischer als die Jungen.
Shigetomi, Hartmann, Gelfand, Cohen und Montemayor (1979) replizierten die klassische Studie von
Hartshorne, May und Maller (1929) und untersuchten das prosoziale Verhalten von Fünft- und
Sechstklässlern. In der Originalstudie betrug die Korrelation zwischen der Fremdeinschätzung
hinsichtlich Hilfsbereitschaft und Grosszügigkeit durch die Lehrpersonen und dem tatsächlich
gezeigten prosozialen Verhalten .50. Der Wert für das prosoziale Verhalten setzte sich aus den Formen
Kooperation, Teilen und Bilder für kranke Kinder sammeln zusammen. Die Mädchen verhielten sich
nur wenig prosozialer als die Jungen, aber ihre prosoziale Reputation war sehr viel besser. In der
Studie von Shigetomi et al. (1979) korrelierten der zusammengesetzte Verhaltenswert und die
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
52
Reputation sogar nur zu .11. Auf der Verhaltensebene waren die Unterschiede zugunsten der Mädchen
nur klein, Lehrpersonen und Peers schätzten die Mädchen jedoch prosozialer ein. Die
Fremdeinschätzung hinsichtlich des prosozialen Verhaltens wird also stark vom Geschlecht des
Kindes beeinflusst und verzerrt.
Zahn-Waxler et al. (1983) fanden in ihrer Studie mit 60 Kindern im Alter von vier Jahren bis zur 6.
Klasse, dass Mädchen häufiger verbales Mitleid ausdrückten, wenn sie das Weinen eines Kindes ab
Videoband hörten. Sie halfen jedoch der Mutter des Kindes nicht häufiger als die Jungen, die
angeblich verloren gegangene Flasche des Babys zu finden. Zahn-Waxler et al. (1983) glauben, dass
Mädchen häufiger mitleidige Gesichtsausdrücke und ritualisierte verbale Mitleidungsbekundungen
zeigen und deshalb von anderen als prosozialer eingeschätzt werden als Jungen, obwohl sie es auf der
Verhaltensebene nicht sind. Dieses Muster konnten Zahn-Waxler et al. (1992) auch in ihrer
Längsschnittstudie mit 27 einjährigen Kindern finden: Jungen und Mädchen unterschieden sich in
ihrem prosozialem Verhalten (Trösten, Helfen in einer emotionalen Notlage) nicht, die Mädchen
zeigten jedoch mehr empathische Besorgnis, das heisst, zeigten häufiger verbale Mitleidsbekundungen
oder einen traurigen und mitleidigen Gesichtsausdruck.
Rheingold (1982) beim Assistieren sowie Rheingold et al. (1976), die das Anbieten und Teilen von
Objekten untersuchten, konnten keine signifikanten Geschlechtsunterschiede feststellen. Auch Farver
und Branstetter (1994) fanden keine Geschlechtsunterschiede bei der Reaktion von Kindern auf das
Leid von Peers. Hay et al. (1999) konnten bei 18 – 30 Monate alten Kindern bei keinem der drei
Messzeitpunkte einen Geschlechtsunterschied beim Teilen finden, jedoch eine dreifache Interaktion
von Geschlecht, Alterskohorte und Zeitpunkt: Während bei den Mädchen die jüngste Kohorte nach
sechs Monaten weniger teilten, teilten die ältesten Mädchen nach sechs Monaten mehr. Bei den
ältesten Jungen dagegen nahm die Häufigkeit des Teilens über die Zeit ab.
Howes, Phillipsen und Hamilton (1993) führten eine drei Jahre dauernde Längsschnittstudie mit 48
Kindern durch, die entweder bei einer Tagesmutter waren oder eine Kindertagesstätte besuchten. Die
Studie zur Entwicklung der sozialen Kompetenz begann, wenn die Kinder sich zwischen dem ersten
und zweiten Geburtstag befanden. Das Zielkind wurde während des Freispiels zwei Stunden lang an
zwei verschiedenen Tagen beobachtet, ausgewertet wurden pro Beobachtung drei 5-Minuten-Perioden,
die gleichmässig auf die zwei Stunden verteilt waren. Während sich auf der Verhaltensebene keine
Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zeigten, wurden die Mädchen prosozialer eingeschätzt
als die Jungen.
Eisenberg
und
Fabes
(1998)
schliessen
dagegen
in
ihrer
Metaanalyse,
dass
die
Geschlechtsunterschiede zugunsten der Mädchen bei Selbst- und Fremdeinschätzungen zwar grösser
sind als bei Beobachtungsdaten, dass aber trotzdem auch in Beobachtungsstudien ein kleiner
Geschlechtsunterschied zugunsten der Mädchen feststellbar ist.
Von einem allen übrigen Befunden und Annahmen widersprechenden Resultat berichten Howes und
Farver (1987). In ihrer Studie mit 16 – 33 Monate alten Kindern trösteten die Jungen nicht nur
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
53
weinende Peers häufiger als die Mädchen, auch das Total der prosozialen Reaktionen war bei den
Jungen höher als bei den Mädchen.
Zusammenfassung: Keine der referierten Studie fand signifikante Geschlechtsunterschiede zugunsten
der Mädchen. Trotz der Tatsache, dass die Mädchen auf der Verhaltensebene nicht prosozialer sind als
die Jungen, werden sie aber prosozialer eingeschätzt. Radke-Yarrow et al. (1983) fanden in ihrer
Literaturschau ebenfalls wenig empirische Hinweise auf Geschlechtsunterschiede: In den meisten
Studien
gab
es
keine
Geschlechtsunterschiede.
Wenn
es
allerdings
signifikante
Geschlechtsunterschiede gab, dann zugunsten der Mädchen. Dies schliessen auch Eisenberg und Fabes
(1998) in ihrer Metaanalyse aus den vorliegenden Daten. Insgesamt gibt es aufgrund der berichteten
empirischen Ergebnisse wenig Anhaltspunkte für Geschlechtsunterschiede beim prosozialen Verhalten
im Vorschulalter.
3. 6. Sozialer Stil: Geselligkeit und Aktivität
Farver und Branstetter (1994) nahmen in ihrer Studie an, dass Kinder mit einem einfachen
Temperament, also solche, die häufig Kontakt initiieren, gesellig und anpassungsfähig sind und eine
positive Grundstimmung haben, häufiger prosozial reagieren als Kinder, die ein schwieriges oder
langsam auftauendes Temperament haben. Entsprechend ihrer Hypothese zeigten Kinder, die zur
Gruppe des einfachen Temperaments gehörten, häufiger prosoziale Reaktionen auf das Weinen eines
Peers als die beiden anderen Gruppen der schwierigen und langsam auftauenden Kindern.
Stanhope et al. (1987) untersuchten den Einfluss von verschiedenen Temperamentsmerkmalen auf das
prosoziale Verhalten an 24 Kindern im Alter von 3 – 5 Jahren. Die Geselligkeit korrelierte signifikant
mit dem Hilfeverhalten der Kinder im Labor, aber nicht mit der Einschätzung der Hilfsbereitschaft
durch die Mütter.
Howes et al (1993) untersuchten den Einfluss von positiven und negativen sozialen Stilen. Ein
positiver Stil war gekennzeichnet durch prosoziale oder positive soziale Kompetenz, ein negativer
durch aggressive soziale Ansprüche. Als weitere Dimension bezogen sie geselliges bzw.
zurückgezogenes Verhalten mit ein. Ein geselliger Stil reflektierte eine hohe Häufigkeit an
Initiierungen und positive Reaktionen auf Initiierungen, der zurückgezogene Stil dagegen solitäre
Verhaltensweisen. Der von den Autoren erwartete Effekt zeigte sich, jedoch nur für die Mädchen.
Mädchen, die positiv eingeschätzt wurden, waren auch geselliger und wurden prosozialer eingeschätzt.
In der Studie von Howes und Farver (1987) mit 16 bis 33 Monate alten Kindern wurde unter anderem
der Einfluss des sozialen Stils auf das prosoziale Verhalten untersucht. Auch in dieser Studie wurde
die Annahme bestätigt, dass gesellige Kinder häufiger prosoziales Verhalten zeigen. Kinder, die auf
das Weinen des Peers reagierten, verbrachten ihre Zeit länger mit Peerkontakten, engagierten sich
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
54
mehr in einfachem sozialen Spiel und hatten mehr positive Interaktionen mit den Peers als Kinder, die
nicht prosozial reagierten. Die Kinder, die prosozial reagierten, initiierten zudem mehr negativen
Kontakt als Kinder, die nicht prosozial reagierten.
Radke-Yarrow et al. (1983) schliessen aus ihrer Literaturschau, dass assertive und expressive Kinder
prosozialer sind. Allerdings gibt es auch wenige Studien, die keinen Zusammenhang zwischen
Persönlichkeits- bzw. Temperamentsvariablen und prosozialem Verhalten finden. Radke-Yarrow et al.
gehen davon aus, dass es einen positiven Zusammenhang gibt zwischen positivem, extravertiertem
Verhalten und prosozialen Verhaltensweisen, die ebenfalls einen nach aussen gerichteten Stil
aufweisen.
Eisenberg et al. (1981) unterschieden in ihrer Studie spontanem von verlangtem prosozialen
Verhalten. Diese beiden Formen hingen unterschiedlich mit der Persönlichkeit des Kindes zusammen:
Kinder, die häufig spontan prosozial handelten, hatten im Vergleich mit Kindern, die wenig spontanes
prosoziales Verhalten zeigten, häufig soziale Kontakte mit Peers, waren unabhängig und reagierten
eher positiv auf das spontane und verlangte Verhalten von anderen. Kinder dagegen, die häufig
verlangtes prosoziales Verhalten zeigten, waren eher abhängig, verteidigten ihr Spielzeug selten und
reagierten mit geringer Wahrscheinlichkeit positiv auf das prosoziale Verhalten von Peers.
Zusammenfassung: Die referierten Studien zeigen, dass Kinder mit einem einfachen Temperament,
das sich durch einen positiven sozialen Stil zeigt, prosozialer sind als Kinder mit einem schwierigen
oder langsam auftauenden Temperament. Gesellige, unabhängige und assertive Kinder sind häufiger
spontan prosozial als eher zurückgezogene, passive Kinder. Insgesamt spricht die Befundlage dafür,
dass aktive Kinder mit häufigen Kontakten prosozialer sind, obwohl es auch gegenteilige Befunde
gibt.
3. 7. Sozialer Stil: Aggressivität und Assertivität
In der Studie von Howes und Farver (1987) verbrachten Kinder, die auf das Weinen des Peers
reagierten, ihre Zeit länger mit Peerkontakten, engagierten sich mehr in einfachem sozialen Spiel und
hatten mehr positive Interaktionen mit den Peers als Kinder, die nicht prosozial reagierten. Kinder, die
häufig prosozial reagierten, initiierten auch mehr negativen Kontakt als Kinder, die nicht prosozial
reagierten. Ausserdem reagierte das Kind, das am aktivsten mit anderen Peers im Kontakt war, am
häufigsten auf das Leid anderer. Kinder, die agonistische Kontakte initiierten und solche, die positive
Kontaktaufnahmen vornahmen, reagierten eher prosozial.
Ein etwas komplexeres Bild ergab sich in der Studie von Howes et al. (1993). Instrumentelle
Aggressivität hing positiv mit Geselligkeit und prosozialem Verhalten zusammen, allerdings nur bei
den Mädchen. Jungen dagegen, die feindselig aggressiv waren, waren auch hoch instrumentell
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
55
aggressiv und wurden von den Betreuern als schwierig eingeschätzt. Schwierigkeit wiederum hing
negativ mit dem prosozialen Verhalten zusammen. Bei den Mädchen, die als Gruppe signifikant
weniger
aggressiv
waren
als
die
Jungen,
steht
Aggressivität
mehr
im
Dienst
von
Durchsetzungsfähigkeit und Aktivität. Bei den Jungen dagegen war Aggressivität Ausdruck von
feindseligem Verhalten und hing demzufolge negativ mit prosozialem Verhalten zusammen.
Radke-Yarrow und Zahn-Waxler (1976) untersuchten den Zusammenhang zwischen Helfen, Teilen,
Trösten und Aggressivität bei 108 Kindern im Alter von 3 – 7 Jahren. Die Erhebungen fanden sowohl
in der natürlichen Umgebung wie auch in experimentellen Situationen statt. Bei den Mädchen zeigte
sich in der natürlichen Situation ein positiver signifikanter Zusammenhang zwischen Aggressivität
und prosozialem Verhalten, der jedoch sank, wenn die Häufigkeit der sozialen Interaktionen
kontrolliert wurde. Bei derjenigen Subgruppe der Jungen, die sich hinsichtlich der Aggressivität unter
dem Median befanden, fanden sie ebenfalls einen positiven Zusammenhang, während sich bei den
hoch aggressiven Jungen genau das umgekehrte Muster zeigte: Je aggressiver sie waren, desto weniger
tröstendes Verhalten zeigten sie. Bei den Mädchen, die generell weniger aggressiv waren, zeigte sich
dieses Muster nicht. Zwischen Helfen und aggressivem Verhalten gab es keinen Zusammenhang.
Kienbaum (2003) untersuchte verschiedene Einflussfaktoren der prosozialen Responsivität bei 105
fünfjährigen Kindern aus fünf Kindertagesstätten. Sie ging davon aus, dass der Zusammenhang
zwischen Aggressivität und prosozialem Verhalten vom Alter und Geschlecht abhängt. Im
Vorschulalter scheint pro- und antisoziales Verhalten Ausdruck eines hohen Aktivitätsniveaus zu sein,
vorausgesetzt, die Aggressivität übersteigt nicht ein bestimmtes Mass. Mädchen sind generell weniger
aggressiv als Jungen, so dass Kienbaum bei ihnen ein positiver Zusammenhang zwischen aggressivem
und prosozialem Verhalten vermutete. Bei den Jungen dagegen erwartete sie je nach
Aggressivitätsniveau einen positiven oder negativen Zusammenhang. Bei wenig aggressiven Jungen
sollte der Zusammenhang positiv sein, bei höher aggressiven Jungen dagegen negativ. Tatsächlich
spielte Aggressivität bei den Jungen eine negative Rolle, jedoch sogar unabhängig vom
Aggressivitätsniveau. Je aggressiver sie eingeschätzt wurden, desto mehr vermeidendes und weniger
prosoziales Verhalten zeigten sie. Die Mädchen dagegen zeigten umso mehr prosoziales Verhalten, je
aggressiver sie eingeschätzt wurden. Allerdings war der Mittelwert für aggressives Verhalten bei den
Mädchen signifikant niedriger als der der Jungen.
Zusammenfassung:
Im
Vorschulalter
ist
aggressives
Verhalten
eher
Ausdruck
von
Durchsetzungsfähigkeit und einem hohen Aktivitätsniveau als von erhöhter Feindseligkeit. Dies
scheint zumindest auf die Mädchen zuzutreffen, die generell ein niedrigeres Aggressivitätsniveau
aufweisen als die Jungen. Bei den Jungen ist der Zusammenhang teilweise umgekehrt: hier hängt
Aggressivität negativ mit prosozialem Verhalten zusammen. Während Aggressivität bei den Mädchen
z. B. auch positiv mit Geselligkeit zusammenhing und somit Ausdruck hoher Aktivität und einer
androgynen Geschlechtsorientierung ist, zeigte sich bei den Jungen dieses Muster nicht. Aggressivität
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
56
scheint zumindest bei älteren Vorschuljungen eher Zeichen eines schwierigen Temperaments und
einer eher feindseligen Orientierung zu sein.
3. 8. Empfängermerkmale
In der bereits erwähnten Studie von Strayer et al. (1979) konnten die Autoren zeigen, dass die
Merkmale des Empfängers des prosozialen Verhaltens ein wichtiger Einflussfaktor ist. Gegenüber den
Peers waren objektbezogene prosoziale Verhaltensweisen wie das Anbieten von Objekten am
häufigsten, gefolgt von kooperativem Verhalten. Selten kamen Assistieren und Trösten vor. Waren die
Empfänger dagegen Erwachsene, zeigten die Kinder vor allem kooperative Verhaltensformen.
Objektbezogenes Verhalten kam dagegen nur selten vor.
Volland, Ulich und Fischer (2003) untersuchten 277 Kinder im Alter von 4 bis 8 Jahren. Ausgangslage
ihrer Studie war die Annahme, dass Kinder zwischen unterschiedlichen potentiellen Hilfeempfängern
unterscheiden und nicht allen gleichermassen geholfen wird. Als Rezipientenmerkmale, die einen
Einfluss auf das prosoziale Verhalten ausüben können, identifizierten Volland et al. zugeschriebene
Verantwortung, Alter, Reziprozität, Schadensgrösse und die Vertrautheit. Die Autoren führten mit den
Kinder Interviews durch, in denen die Kinder sich in der Rolle eines Protagonisten entscheiden
mussten, welchem von zwei möglichen Rezipienten, die sich in den oben genannten Merkmalen
unterschieden, sie eher helfen würden. Die Kinder sprachen sich signifikant häufiger für eine
prosoziale Handlung aus, wenn der Empfänger vertraut und jünger als das jeweils befragte Kind war.
Dies galt sowohl für die jüngeren wie auch die älteren Kinder der Stichprobe und veränderte sich mit
zunehmendem Alter nicht.
In ihrer Studie untersuchte Wu (1998) Kinder aus verschiedenen altersgemischten und
altershomogenen Kindertagesstätten. Unter anderem wurden die beiden Empfängermerkmale Alter
und Geschlecht erhoben und ihren Einfluss auf das prosoziale Verhalten untersucht. Es zeigte sich,
dass jüngere Kinder häufiger Empfänger von prosozialem Verhalten wurden als ältere Kinder.
Ausserdem zeigten die Kinder häufiger prosoziales Verhalten gegenüber gleichgeschlechtlichen
Kindern als gegenüber Kindern des anderen Geschlechts.
Auch Kaneko und Hamazaki (1984) hielten in ihrer Untersuchung fest, an wen sich das prosoziale
Verhalten richtete. Es zeigte sich, dass prosoziales Verhalten gegenüber jüngeren Kindern häufiger
vorkam als gegenüber älteren Kindern. Dieses Muster war jedoch erst beobachtbar, wenn die Kinder
das dritte Lebensjahr erreicht hatten. Ausserdem richteten die Kinder ihr prosoziales Verhalten
häufiger an andere Kinder (470 Mal) als an Erwachsene (72 Mal). Allerdings gibt es keine Angaben
darüber, ob dieses Verhältnis wirklich eine Bevorzugung von Peers als Empfänger von prosozialem
Verhalten gegenüber Erwachsenen widerspiegelt oder nur die relative Verfügbarkeit von Kindern und
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
57
Erwachsenen. Leider berichten Kaneko und Hamazaki auch nicht, ob bestimmte Formen von
prosozialem Verhalten eher an Peers und andere eher an Erwachsene gerichtet werden.
Peterson (1982) weist darauf hin, dass Kinder ihr Mitleid bzw. prosoziales Verhalten selektiv nach
bestimmten Regeln vergeben. Nach Caplan (1993) wird das prosoziale Verhalten aber erst mit den
sich entwickelnden kognitiven Fähigkeiten, affektiver Sensitivität und Sozialisationserfahrung
fokussierter und differenzierter. Kleine Kinder machen demnach beim Empfänger des prosozialen
Verhaltens noch keine Unterschiede.
Zusammenfassung: Die zitierten Studien zeigen, dass Empfängermerkmale das prosoziale Verhalten
von Kindern beeinflussen. Demnach wird prosoziales Verhalten eher an jüngere Kinder und an Kinder
desselben Geschlechts gerichtet. Auch andere Faktoren wie die Vertrautheit spielen eine wichtige
Rolle: Kinder handeln gegenüber vertrauten Personen eher prosozial als gegenüber Fremden. In der
Studie von Kaneko und Hamazaki (1984) verhielten sich die Kinder gegenüber Peers häufiger
prosozial als gegenüber den Betreuern und Betreuerinnen. Allerdings ist anzunehmen, dass mehr
Kinder als potentielle Empfänger anwesend waren als Erwachsene. In der Studie von Strayer et al.
(1979) teilten die Kinder mit Kindern und Erwachsenen etwa gleich häufig. Nach Caplan (1993)
werden die Kriterien, die die Anzahl potentieller Empfänger einschränken, allerdings erst mit
fortschreitender Entwicklung und Sozialisationserfahrung erworben. Kleine Kinder dagegen machen
noch keine Unterschiede bei der Vergabe von prosozialem Verhalten.
3. 9. Reaktionen von Rezipienten und anwesenden Drittpersonen
Eine Grundannahme der Lerntheorie lautet, dass Verhaltensweisen – auch prosoziales Verhalten –
durch die Reaktionen der Umgebung geformt werden. Wird das Kind für sein prosoziales Verhalten
positiv verstärkt, wird es dieses Verhalten in Zukunft häufiger zeigen. Erfolgt dagegen keine Reaktion
der Umgebung oder sogar eine negative, wird das Kind prosoziales Verhalten zukünftig seltener
zeigen. Tatsächlich konnten verschiedene Experimente zeigen, dass positive Verstärkung wie Lob
oder Aufmerksamkeit zumindest unter Laborbedingungen die Häufigkeit von prosozialem Verhalten
erhöht (Staub, 1979; Gelfand & Hartmann, 1982). Denselben Effekt konnte auch unter natürlichen
Bedingungen
nachgewiesen
werden,
allerdings
wurde
jeweils
nur
eine
Gruppe
von
Sozialisationsagenten, die Eltern, untersucht.
In der Literatur gibt es eine grosse Lücke über die Rolle von Peers und Lehrer bzw. Erzieherinnen bei
der Entwicklung und Aufrechterhaltung von prosozialem Verhalten. Es existieren nur wenige
empirische Studien, die sich mit der Rolle von Peers und Erzieherinnen bei der Entwicklung und
Formung von prosozialem Verhalten beschäftigen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass
auch Peers und Erzieherinnen das prosoziale Verhalten durch ihre Reaktionen beeinflussen können.
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
58
Wu (1998) beobachtete das prosoziale Verhalten von insgesamt 119 3 bis 6 Jahre alten Kindern aus
neun städtischen Kindertagesstätten während der Freispielsituationen. Jedes Kind wurde an
verschiedenen Wochentagen 3 Mal für jeweils 15 Minuten beobachtet. Wu ging davon aus, dass
neutrale Reaktionen auf prosoziales Verhalten häufiger sind als negative Reaktionen. Diese Hypothese
konnte bestätigt werden.
Eisenberg, Cameron, Tryon und Dodez (1981) führten eine Studie mit 33 Kindern im Alter von 51 –
63 Monaten in einer Kindertagesstätte durch. Es sollte herausgefunden werden, wie häufig Kinder von
anderen Kindern und den Lehrpersonen positive, negative oder neutrale Reaktionen auf ihr prosoziales
Verhalten erhalten. In etwa der Hälfte der Fälle erhielten die Kinder keine richtige Reaktion. Das
heisst, die prosoziale Aktion wurde entweder nicht beachtet, führte zu Verwirrung oder die Hilfe bzw.
das Objekt wurden zwar akzeptiert, aber ohne weitere Reaktion. Obwohl die Kinder beinahe nie eine
negative Reaktion erhielten, wenn sie einer Bitte entsprachen, erhielten sie für spontane prosoziale
Aktionen ab und zu negative Reaktionen vom Rezipienten. Wahrscheinlich kann spontanes
prosoziales Verhalten eher falsch interpretiert werden, so zum Beispiel als Versuch, die Aktivität des
potentiellen Rezipienten zu stören, während das Vorkommen von verlangten prosozialem Verhalten
vom Rezipienten antizipiert wird. Positive Reaktionen von den Peers kamen in etwa 30% der Fälle bei
spontanem prosozialem Verhalten vor und in 48% der Fälle bei verlangtem prosozialem Verhalten.
Kinder, die häufig verlangtes prosoziales Verhalten zeigten, erhielten signifikant weniger positive
Reaktionen von den Peers. Offenbar sind Kinder, die häufig verlangtes Verhalten zeigen, eher
gehorsam und abhängig und werden deshalb von den Peers als „leichtes“ Ziel angesehen. Dafür
spricht, dass Kinder, die häufig verlangtes Verhalten zeigten, auch besonders häufig gefragt wurden.
Gesellige, responsive Kinder erhielten mehr positive Rückmeldungen, unabhängig davon, ob es
spontan oder auf Verlangen hin auftrat.
Die anwesenden Erzieherinnen reagierten selten positiv, wenn ein Kind sich prosozial verhielt. Zudem
zeigten sich Geschlechtsunterschiede: Bei Mädchen reagierten die Erzieherinnen auf spontanes
prosoziales Verhalten in 11% der Fälle positiv resp. in 5% der Fälle auf verlangtes prosoziales
Verhalten. Auf das prosoziale Verhalten von Jungen dagegen reagierten sie nie positiv. Allerdings
hielten sich die Erzieherinnen in der genannten Studie sich teilweise nicht im Blickfeld des Zielkindes
auf und bemerkten so das prosoziale Verhalten des Zielkindes nicht. Leider lassen sich keine Angaben
darüber finden, wie die Erzieherinnen reagierten, wenn sie das prosoziale Verhalten beobachten
konnten (Eisenberg et al., 1981). Somit bleibt nach wie vor ungeklärt, wie anwesende Drittpersonen
reagieren, wenn sie das prosoziale Verhalten der Kinder beobachten konnten.
Zusammenfassung: Aus den zwei beschriebenen Studien geht hervor, dass die Kinder selten negative
Reaktionen auf ihr prosoziales Verhalten erhalten. Eisenberg et al (1981) unterschieden zudem
zwischen spontanem prosozialem Verhalten und solches, das ausgeführt wird, um einer Bitte oder
einem Befehl nachzukommen. Demnach erhalten die Kinder bei spontanem prosozialem Verhalten
Kapitel 3: Empirische Befunde aus dem Forschungszusammenhang
59
von den Peers in 30% der Fälle eine positive Reaktion, bei verlangtem prosozialem Verhalten sogar
48% positive Rückmeldungen. Am häufigsten waren jedoch neutrale Reaktionen, wie etwa das
Annehmen von Unterstützung oder eines Gegenstandes ohne weitere Reaktion. Weiter reagierten die
Erzieher und Erzieherinnen nur sehr selten positiv auf das prosoziale Verhalten der Kinder. Auf das
prosoziale Verhalten von Jungen reagierten die Erzieher und Erzieherinnen sogar nie positiv.
Allerdings war der häufigste Grund für eine Nichtreaktion, dass sich die Betreuungspersonen sich
nicht im Blickfeld des Akteurs aufhielten.
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
60
4. Fragestellungen und Hypothesen
Die in Kapitel 1 aufgeführten Fragen werden im Folgenden weiter in der Weise ausdifferenziert, wie
sie für die Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“
wegleitend waren. Hauptziel dieser nun vorliegenden Studie ist zum einen die Dokumentation der
Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren und zum andern die
Untersuchung des Einflusses verschiedener Faktoren der Persönlichkeit des Zielkindes. Zudem sollen
auslösende Bedingungen, Merkmale und Reaktion des Empfängers sowie die Reaktionen von
anwesenden Drittpersonen beschrieben und die Frage geklärt werden, wie sich die Ich-AndereUnterscheidung auf das prosoziale Verhalten auswirkt.
Konkret sollen in der vorliegenden Studie folgende Fragen beantwortet werden:
Zur Konsistenz von prosozialem Verhalten:
¾ Wie hängen die verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten miteinander zusammen?
¾ Wie hängen spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten miteinander zusammen?
Es wird erwartet, dass die verschiedenen prosozialen Formen kaum zusammenhängen. In den zitierten
Studien überwiegen Berichte von niedrigen bis mittleren Interkorrelationen bei kleinen Kindern
(Eisenberg et al., 1981; Hay et al., 1999). In Bezug auf das spontane und verlangte prosoziale
Verhalten nehmen Eisenberg et al. (1981) an, dass diese zwei Formen verschiedene Verhaltensweisen
darstellen und unterschiedlich mit der Persönlichkeit zusammenhängen. Diese Annahmen konnten sie
in ihrer Studie bestätigen.
Zur Erstmanifestation und dem weiteren Entwicklungsverlauf:
¾ In welchem Alter zeigen sich erste prosoziale Verhaltensweisen?
¾ Nimmt das prosoziale Verhalten mit dem Alter zu?
¾ Unterscheidet sich das Erstmanifestationsalter je nach Form?
¾ Weisen die verschiedenen Formen unterschiedliche Verläufe auf?
In der vorliegenden Studie wird davon ausgegangen, dass die verschiedenen prosozialen Formen
jeweils
unterschiedliche
Fähigkeiten
erfordern,
verschiedene
Funktionen
erfüllen
und
Persönlichkeitsattribute in unterschiedlicher Weise involvieren. Analog den Überlegungen von BarTal und Raviv (1982) zum altruistischen Verhalten wird für die verschiedenen Formen von
prosozialem Verhalten angenommen, dass die Reihenfolge ihres Auftretens in der Entwicklung vom
Stand der sozio-kognitiven, emotionalen, motorischen Entwicklung sowie der Entwicklung von
selbstregulatorischen Fähigkeiten abhängt.
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
61
Die bisher zitierten empirischen Untersuchungen zeigen, dass erste prosoziale Verhaltensweisen,
nämlich das Übergeben von Objekten, schon sehr früh gezeigt werden (Stanjek, 1978) und die
Häufigkeit des aggregierten prosozialen Verhaltens mit dem Alter ansteigt (Wu, 1998). Für die
einzelnen Formen werden unterschiedliche Erstmanifestationsalter berichtet (Zahn-Waxler et al.,
1992; Stanjek, 1978; Rheingold, 1982; Kaneko & Hamazaki, 1987; Rheingold et al., 1976),
hinsichtlich des weiteren Verlaufs sind die Befunde gemischt (Underwood & Moore, 1982; Stanjek,
1978; Zahn-Waxler et al., 1992; Howes & Farver, 1987; Farver & Branstetter, 1994; Rheingold,
1982).
Zur Häufigkeit des prosozialen Verhaltens:
¾ Unterscheiden sich die verschiedenen Formen in ihrer Häufigkeit?
Die zitierten Befunde haben klare Unterschiede in der Häufigkeit zwischen den verschiedenen
prosozialen Form gezeigt. Prosoziale Interventionen angesichts des emotionalen Leids einer anderen
Person und Reparation sind selten (Sawin, 1980; Strayer et al. ,1979), ebenso prosoziales Verhalten
gegenüber Objekten (Kaneko & Hamazaki, 1987). Das Anbieten von Objekten scheint eine verbreitete
prosoziale Verhaltensweise zu sein (Strayer et al., 1979; Stanjek, 1978), assistieren dagegen machte in
der Studie von Strayer et al. (1979) lediglich 20% der 40 prosozialen Episoden pro Stunde aus. Über
die Häufigkeit von Zuneigung zeigen existieren keine empirischen Untersuchungen.
Zu Geschlechtsunterschieden:
¾ Gibt es Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit des prosozialen Verhaltens?
¾ Gibt es Geschlechtsunterschiede hinsichtlich des Erstmanifestationsalters der verschiedenen
Formen?
Die bislang zugänglichen Studien zu Geschlechtsunterschieden im Zusammenhang mit prosozialem
Verhalten
zeigen
uneinheitliche
Befunde.
Eisenberg
und
Fabes
(1998)
fanden
bei
Beobachtungsstudien kleine, aber signifikante Geschlechtsunterschiede zugunsten der Mädchen. In die
Meta-Analyse flossen jedoch auch Studien mit Erwachsenen und zumeist älteren Kindern ein, weshalb
dieser Schluss nicht zweifelsfrei auch für Kleinkinder unter zwei Jahren gilt. Der Grossteil der
referierten empirischen Untersuchungen, fand keine Geschlechtsunterschiede, auch nicht bei den
verschiedenen Typen (vgl. Howes et al., 1993).
Zum sozialen Stil und Temperament des Zielkindes:
¾ Handeln gesellige Kinder häufiger prosozial?
¾ Handeln assertive Kinder häufiger prosozial?
¾ Handeln Kinder mit einem einfachen Temperament häufiger prosozial?
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
62
¾ Wie hängen die Geselligkeit und die Durchsetzungsfähigkeit mit den einzelnen prosozialen
Formen zusammen?
In den bisher referierten Studien fanden sich vorwiegend positive Zusammenhänge zwischen
Aggressivität und prosozialem Verhalten (Murphy, 1937; Howes & Farver, 1987). Die Mehrzahl der
Studien, die den Einfluss von weiteren Aspekten des sozialen Stils auf das prosoziale Verhalten
untersucht haben, zeigen, dass gesellige Kinder prosozialer sind als langsam auftauende,
zurückgezogene Kinder (Howes et al., 1993; Howes & Farver, 1987). Einen Einfluss des
Temperaments konnten verschiedene Studien nachweisen: Kinder mit einem einfachen Temperament
handelten häufiger prosozial als Kinder mit einem schwierigen Temperament (Farver & Branstetter,
1994; Stanhope et al., 1987).
Zum Zusammenhang zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und dem prosozialen Verhalten:
¾ Stellt die Selbsterkennung eine notwendige Bedingung für das prosoziale Verhalten dar?
Die zentrale Annahme von Hoffmans (1975, 1982) Theorie besteht darin, dass die Empathie eine
grundlegende Voraussetzung für prosoziales Verhalten ist. Bischof-Köhler (1989, 1994) untersuchte
den Zusammenhang zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und prosozialem Verhalten. Dabei
wurde der Zusammenhang zwischen Empathiestatus und Selbsterkennen bestätigt. Bei den Helfern
kam kein einziges Kind vor, das sich im Spiegel nicht erkannte. Aufgrund dieses Befundes schliesst
die Autorin, dass die Selbsterkennung eine notwendige Bedingung für das prosoziale Verhalten
darstellt.
Zu interindividuellen Unterschieden:
¾ Unterscheiden sich die Zielkinder in der Häufigkeit des prosozialen Verhaltens voneinander?
¾ Unterscheiden sich die einzelnen Zielkinder hinsichtlich der zeitlichen Verläufe des
prosozialen Verhaltens signifikant voneinander?
¾ Welche Eigenschaften besitzen Zielkinder, die selten vorkommende Formen von prosozialem
Verhalten zeigen?
Wie die bereits zitierten Untersuchungen (z. B. Howes & Farver, 1987) zeigen, ist die Häufigkeit von
prosozialem Verhalten unter anderem von Faktoren der Persönlichkeit wie dem sozialen Stil abhängig.
Zahn-Waxler et al. (1982) fanden in ihrer Serie von Längsschnittstudien schon früh interindividuelle
Unterschiede im prosozialen Verhalten von Kleinkindern. Trotzdem wurden interindividuelle
Unterschiede bisher nur selten systematisch untersucht, weshalb empirische Befunde dazu weitgehend
fehlen.
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
63
Zu den auslösenden Umständen:
¾ Wie häufig kommen die auslösenden Umstände spontan, Bitte, Wiedergutmachung,
Nachahmung und Ausgleich vor?
¾ Verändert sich die Häufigkeit der auslösenden Umstände über die Zeit?
Eisenberg et al. (1984) unterscheiden zwischen spontanem und verlangtem prosozialen Verhalten.
Neben keinem sichtbaren Auslöser und Befehlen bzw. Bitten vom Empfänger oder von Drittpersonen
werden von Wu (1998) noch zwei weitere Faktoren, nämlich die Wiedergutmachung und die
Nachahmung, genannt. Wiedergutmachung bezieht sich darauf, dass ein Kind prosoziales Verhalten
als Ausgleich für eine von ihm verursachte Schädigung einsetzt. Bei der Nachahmung wird das
prosoziale Verhalten direkt nach dem von anderen aktualisierten Verhalten gezeigt. Als weiterer
möglicher Auslöser kann das prosoziale Verhalten des potentiellen Empfängers gegenüber dem
Zielkind angesehen werden. Prosoziales Verhalten steht in diesem Fall somit im Dienst des Ausgleichs
von selbst erfahrenem prosozialem Verhalten.
Zu den Empfängermerkmalen:
¾ Zeigen die Zielkinder eine Präferenz hinsichtlich des Geschlechts des Rezipienten ?
¾ Bevorzugen die Zielkinder eine bestimmte Altersgruppe als Empfänger für ihr prosoziales
Verhalten?
¾ Verändern sich die prozentualen Anteile des Empfängermerkmals Alter über die Zeit?
Caplan (1993) weist darauf hin, dass prosoziales Verhalten und Mitgefühl selektiv nach bestimmten
Regeln vergeben wird. Diese Regeln werden in der Kindheit und Jugend erworben und schränken ab
dem dritten Lebensjahr den Kreis der potentiellen Empfänger ein. Die beschriebenen empirischen
Untersuchungen haben Empfängermerkmale identifiziert, welche die Wahrscheinlichkeit von
prosozialem Verhalten beeinflussen: Kindern desselben Geschlechts und jüngeren Kindern gegenüber
wird häufiger prosozial gehandelt als gegenüber älteren (Ulich et al., 2001), allerdings gilt dies erst ab
dem dritten Lebensjahr (Kaneko & Hamazaki, 1987).
Zu den Reaktionen von Empfängern und Drittpersonen:
¾ Wie reagieren die Empfänger auf das prosoziale Verhalten des Zielkindes?
¾ Unterscheiden sich die Reaktionen der Rezipienten in Abhängigkeit des Geschlechts des
Zielkindes?
¾ Reagieren die Empfänger auf spontanes prosoziales Verhalten der Zielkinder anders als auf
verlangtes prosoziales Verhalten?
¾ Unterscheiden sich die Reaktionen der Rezipienten je nach persönlichem Stil des Zielkindes?
¾ Wie reagieren anwesende Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten des Zielkindes?
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
64
¾ Unterscheiden sich die Reaktionen der anwesenden Drittpersonen je nach Geschlecht des
Zielkindes?
Die Lerntheorie betont im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten die Wichtigkeit der positiven
Verstärkung: Wird ein Kind für sein prosoziales Verhalten gelobt, wird es das Verhalten auch in
Zukunft zeigen, erhält es dagegen negative Reaktionen, wird es dieses Verhalten bald unterlassen. Zu
diesem Thema existiert lediglich eine empirische Untersuchung (Eisenberg et al., 1981), wobei die
Stichprobe aus vier- bis fünfjährigen Kindern bestand und einige Fragen ungeklärt bleiben.
Die Fragen sind direkt aus den referierten Theorien und dem Forschungszusammenhang abgeleitet.
Nicht alle der oben aufgefächerten Fragen lassen sich so aus dem Forschungszusammenhang ableiten,
dass sich Hypothesen direkt anschliessen liessen. Wegleitend für die Untersuchung sind aus diesem
Grund ausgewählte, an die Forschungslage anschliessende, Hypothesen. Diese nehmen Bezug auf die
Konsistenz,
die
Erstmanifestation
und
den
Entwicklungsverlauf,
die
Häufigkeit,
Geschlechtsunterschiede sowie auf den sozialen Stil und das Temperament.
Zur Konsistenz:
H1: Die verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten hängen kaum zusammen.
H2: Verlangtes und spontanes prosoziales Verhalten stellen unterschiedliche Verhaltensweisen dar.
2a: Verlangtes und spontanes prosoziales Verhalten sind nicht signifikant korreliert.
2b: Verlangtes und spontanes prosoziales Verhalten hängen unterschiedlich mit dem sozialen Stil
und dem Geschlecht des Zielkindes zusammen.
Zur erstmaligen Manifestation und dem Entwicklungsverlauf:
H3: Erste prosoziale Verhaltensformen zeigen sich mit 8 Monaten.
H4: Die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens nimmt mit dem Alter der Zielkinder zu.
Zur Häufigkeit:
H5: Die verschiedenen Formen prosozialen Verhaltens treten mit unterschiedlicher Häufigkeit auf.
Zu Geschlechtsunterschieden:
H6: Es zeigen sich keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Häufigkeit des prosozialen
Verhaltens.
H7: Es zeigen sich keine Geschlechtsunterschiede bei den verschiedenen Formen von prosozialem
Verhalten.
Kapitel 4: Fragestellungen und Hypothesen
65
Zum sozialen Stil und dem Temperament:
H8: Gesellige Kinder handeln häufiger prosozial als zurückgezogene Kinder.
H9: Assertive Kinder handeln häufiger prosozial als submissive Kinder.
H10: Kinder mit einem einfachen Temperament handeln häufiger prosozial als Kinder mit einem
schwierigen Temperament.
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
66
5. Untersuchungsrahmen und Methode
Die Studie „Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ war in die
Hauptstudie „Erwerb sozialer Kompetenzen bei Kleinkindern im Kontakt mit Gleichaltrigen und mit
ihren Eltern“ eingebettet, welche vom Marie Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich unter der
Leitung von Dr. H. Nufer und Dr. H. Simoni durchgeführt wurde. In dieser Längsschnittuntersuchung
sollte das soziale Interesse und Engagement von Kleinkindern in Kindergruppen, das frühe Parallelund Komplementärspiel sowie Konfliktmotive von Kleinkindern untersucht werden werden. Zur
Beantwortung dieser Fragen wurden 28 Zielkinder zu Hause mit den Eltern und in den
Kindertagesstätten im Kontakt mit anderen Kindern beobachtet. Jedes der Zielkinder wurde in den
Kindertagesstätten vom neunten bis zum 25. Lebensmonat im Abstand von zwei Monaten im freien
Spiel gefilmt. Dieselben Kinder wurden ausserdem drei Mal in halbjährlichen Abständen zu Hause mit
ihren Eltern beobachtet. Die erste Datenerhebungswelle fand von Oktober 2001 bis Mai 2002 statt, die
letzte Erhebungswelle zwischen Februar und September 2003.
Die vorliegende Studie schloss mit identischer Stichprobe und Datenerhebung mit den bereits
erwähnten Fragen und Hypothesen an die Hauptstudie an. Tabelle 1 zeigt den Untersuchungsplan der
Studie „Erwerb sozialer Kompetenzen bei Kleinkindern im Kontakt mit Gleichaltrigen und mit ihren
Eltern“ zusammenfassend. Diejenigen Daten, die in der Studie „Entwicklung des prosozialen
Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ ebenfalls verwendet wurden, sind grau unterlegt.
Tabelle 1
Untersuchungsplan
Zeitpunkt
Eltern
T0
Informationen, schriftliches Einverständnis
Spiel zu Dritt
Infant Characteristics Questionnaire 30’ Videoaufnahmen
ICQ
(ICQ)
Fragebögen
Fragebogen Befindlichkeit
Belastungsfragebogen
T1
Zielkind
8 Monate alt
T2
Zielkind
10 Monate alt
T3
Zielkind
12 Monate alt
T4
Zielkind
14 Monate alt
Krippe
wie T1
wie T1
ICQ
wie T1
T5
Zielkind
16 Monate alt
wie T1
zusätzlich:
Entwicklungsuntersuchung (Griffith)
T6
Zielkind
wie T1
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
67
18 Monate alt
T7
Zielkind
20 Monate alt
ICQ
wie T1
zusätzlich:
Interview zu Konfliktverhalten
zusätzlich:
Löffel-Experiment
Rouge-Test
wie T1
zusätzlich:
Einschätzung der Atmosphäre
30’ Videoaufnahme der Krippengruppe
Videoaufnahme einer Mahlzeit
wie T1
T8
Zielkind
22 Monate alt
T9
Zielkind
24 Monate alt
zusätzlich (wenn nicht bereits zu T8):
Einschätzung der Atmosphäre
30’ Videoaufnahme der Krippengruppe
Videoaufnahme einer Mahlzeit
5. 1. Vorgehen
Da bei Längsschnittuntersuchungen mit Ausfällen zu rechnen ist, wurde eine Anfangsstichprobe von
30 Zielkindern angestrebt. Die Beobachtung des Verhaltens von Kleinkindern im Kontakt mit anderen
Kindern sollte in einer möglichst natürlichen Umgebung stattfinden, wo die Kinder alltäglich die
Gelegenheit für spontane Kontakte mit anderen Kindern haben. In der Schweiz kommen regelmässige,
längere Kontakte zwischen Kleinkindern unter relativ kontinuierlichen Bedingungen vor allem in
Tagesbetreuungseinrichtungen vor. Deshalb wurden nur solche Kinder als Zielkinder in die Stichprobe
aufgenommen, die regelmässig eine Krippe oder vergleichbare familienergänzende Einrichtungen
besuchten. Da neben der Datenerhebung in den Krippen auch Erhebungen bei der Familie zu Hause
geplant waren, war die Teilnahme mindestens eines Elternteils zusätzlich zum Zielkind Voraussetzung
für die Aufnahme in die Stichprobe. Die Teilnahme des zweiten Elternteils, in unserem Fall des
Vaters, war auch bei getrennten Paaren erwünscht, aber nicht Voraussetzung.
Aus organisatorischen Gründen wurden zunächst Krippen der Stadt Zürich und Agglomeration
berücksichtigt.
Im
Frühling
Kinderbetreuungseinrichtungen
2001
telefonisch
wurden
die
angefragt,
Leiter
ob
sie
und
bereit
Leiterinnen
seien,
an
der
einer
Längsschnittuntersuchung teilzunehmen. Dabei wurden Ziel und Art der Erhebung geschildert.
Grundsätzlich zeigten sich die Angefragten interessiert an der Studie, einige mussten jedoch ablehnen,
da sich die Krippe in einer Umstrukturierungsphase befand oder bereits an anderen Projekten
teilnahm. Den Eltern des potentiellen Zielkindes wurde ein Informationsschreiben über die Studie
ausgehändigt. Dieses enthielt eine kurze Beschreibung über den Zweck, das Ziel und den
Untersuchungsplan der Studie. Waren die Eltern zur Teilnahme bereit, wurden sie von den
wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen telefonisch kontaktiert. Dabei wurden allfällige Unklarheiten
geklärt, das weitere Vorgehen besprochen und ein erster Termin für die Datenerhebung fixiert. Die
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
68
Eltern der Kinder, die dieselbe Gruppe oder dieselbe Krippe – hier als Kontaktkinder bezeichnet –
besuchten, wurden ebenfalls über die Studie informiert und um ihr schriftliches Einverständnis
gebeten. Sie konnten von ihrem Recht Gebrauch machen, dass ihr Kind nicht gefilmt werden durfte,
was bei drei Kontaktkindern eintrat. In diesen Fällen wurden die Aufnahmen entweder auf einen Tag
gelegt, an dem diese Kinder nicht anwesend waren oder sie wurden räumlich vom Zielkind getrennt.
5. 2. Die Stichprobe
Die Stichprobe bestand schliesslich aus 28 Zielkindern (17 Mädchen, 11 Jungen). Die Mädchen waren
in unserer Stichprobe im Vergleich zur Verteilung in der Grundgesamtheit leicht überrepräsentiert.
Zwei der 28 Zielkinder waren zweieiige Zwillinge, so dass die Stichprobe aus 27 Familien bestand.
Die Zielkinder besuchten insgesamt 16 Krippen in Zürich und Agglomeration. 7 Krippen bzw. 44%
waren städtisch, 9 bzw. 56% der Krippen hatten eine private Trägerschaft. Im Durchschnitt standen
35.4 Vollzeitplätze zur Verfügung mit einer Bandbreite von 11 bis 130. Ein Faktor, der nicht
balanciert werden konnte, war die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen. Diese waren bezüglich
Grösse, Alters- und Geschlechterverteilung sehr heterogen. Zudem besuchten einige Zielkinder
dieselbe Gruppe: Drei Zielkinder befanden sich in derselben Gruppe, sowie jeweils drei weitere
Kinderpaare. Die Gruppen setzten sich aus durchschnittlich 10.9 Kindern zusammen (Range 5 – 13).
22 Gruppen bzw. 85% waren altersgemischt mit einer Bandbreite von 6 Monaten bis 6 Jahren. 4 der
26 Gruppen (15%) waren altershomogene Babygruppen. Ein Kind wechselte nach sechs
Erhebungszeitpunkten die Krippe. Die drei verbleibenden drei Datenerhebungen wurden in der neuen
Krippe durchgeführt. Weitere sechs Kinder wechselten im Verlauf der Studie die Gruppe, vier davon
von einer altershomogenen Babygruppe in eine altersgemischte Gruppe, die restlichen Kinder
wechselten innerhalb derselben Krippe von einer altergemischten Gruppe in eine andere. Die Zahl der
während der Aufnahmen anwesenden Kontaktkinder schwankte stark. Im Durchschnitt waren sechs
Kontaktkinder anwesend (Range 1 – 14).
Das Alter der Mütter zum Zeitpunkt der ersten Datenerhebung lag im Durchschnitt bei 34 Jahren
(Bandbreite 23 – 40), das der Väter bei 38 Jahren (Bandbreite 23 – 49). 16 Kinder hatten mindestens
ein älteres Geschwister, zwei dieser Kinder waren Zwillinge. 12 Kinder waren zu Beginn der Studie
Einzelkinder. Der soziodemografische Hintergrund der Familien war gemischt. Allerdings gehörten
sie mehrheitlich zur Mittelschicht mit gutem Ausbildungsniveau der Eltern: 78% der Mütter sowie
74% der Väter wiesen eine Ausbildung auf dem Tertiärniveau auf. Der Anteil der nicht mehr
schulpflichtigen Grundgesamtheit, die eine Ausbildung auf dem Tertiärniveau aufweist, beträgt
dagegen 16.7% (Rudin, 2005). Damit ist in unserer Stichprobe die Tertiärstufe im Vergleich mit der
nicht mehr schulpflichtigen Grundgesamtheit übervertreten. Von den 27 Familien lebten 23 Frauen
mit dem Kindsvater zusammen, vier Mütter lebten getrennt von ihm. Diese vier Mütter nahmen alleine
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
69
mit ihren Kindern an der Studie teil. Bei einer vollständigen Familie nahmen die Mutter und das Kind
an den Filmaufnahmen zu Hause teil, nicht jedoch der Kindsvater. Allerdings füllte dieser sämtliche
Fragebögen und die Einschätzung des Kindes aus. Bei einer anderen Familie nahm der Vater lediglich
am ersten Erhebungszeitpunkt teil, bei den anderen beiden jedoch nicht mehr. Die Mutter und das
Kind nahmen an sämtlichen Erhebungszeitpunkten teil.
Zum Zeitpunkt der ersten Datenerhebung war die Eingewöhnungszeit der Zielkinder in die
Kindertagesstätte abgeschlossen. Die teilnehmenden Kinder besuchten die Krippe zwischen einem Tag
bis fünf Tagen in der Woche. Alle Zielkinder besuchten die Krippe unabhängig von der Anzahl Tagen
pro Woche jedoch regelmässig und fehlten nur bei Krankheit oder Ferien. Damit war eine genügende
Vertrautheit mit der Krippe und den Kontaktkindern gewährleistet. Zwei der Zielkinder waren mehr
als einen Monat frühgeboren. Bei einem Kind wurde das Geburtsdatum korrigiert und die
Aufnahmedaten entsprechend angepasst. Beim zweiten Kind stellte sich erst nach zwei
Aufnahmezeitpunkten heraus, dass es frühgeboren war. Für die übrigen Aufnahmen wurde auch hier
das Geburtsdatum korrigiert und die Erhebungszeitpunkte angepasst. Die Filmaufnahmen der ersten
zwei Erhebungszeitpunkte wurden aus der Datenanalyse ausgeschlossen. Einzelne Aufnahmen der
Zielkinder mussten aus unterschiedlichen Gründen wie Krankheit oder Abwesenheit des Kindes
ausbleiben. Drei Aufnahmen konnten nicht in die Analysen miteinbezogen werden, da die Zielkinder
einmalig übermässig fremdelten.
5. 3. Erhebungsinstrumente
Für die vorliegende Studie wurden alle neun Messzeitpunkte der Studie „Entwicklung der sozialen
Kompetenz“ verwendet, damit Vorläufer wie auch erste Manifestationen des prosozialen Verhaltens
erfasst werden konnten. Von den Datenerhebungen in den Krippen wurden die Videoaufnahmen der
Freispielsituationen verwendet, nicht jedoch die Gruppenaufnahmen und Mahlzeitensituationen, da sie
strukturierte Situationen beinhalteten. In die Analysen wurden ausserdem der von den Erzieherinnen
ausgefüllte Infant Characteristics Questionnaire (Bates et al., 1979), die Entwicklungsuntersuchung
(Brandt & Sticker, 2001) sowie der Test zur Selbsterkennung (Amsterdam, 1972) miteinbezogen. Die
übrigen Erhebungen eigneten sich aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Erfassung des prosozialen
Verhaltens. Der Empathie-Test fand in den Krippen statt, wobei die wissenschaftlichen
Mitarbeiterinnen diesen in Anwesenheit einer Erzieherin durchführten. Wie sich jedoch herausstellte,
verhielten sich die Untersucherinnen trotz des standardisierten Ablaufs unterschiedlich, zudem waren
weitere situative Einflüsse der Krippe nicht kontrolliert worden. Dies führte zu einer zu grossen
Heterogenität der Situation, weshalb der Empathie-Test für die Analysen nicht berücksichtigt werden
konnte. Von den Datenerhebungen zu Hause wurden der Infant Characteristics Questionnaire (Bates
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
70
et al., 1979) und die demografischen Variablen verwendet. Im Folgenden werden diejenigen
Erhebungsinstrumente beschrieben, die in der vorliegenden Studie verwendet wurden.
5. 3. 1. Videoaufnahmen Kindertagesstätte
Als
Rahmen
für
die
Filmaufnahmen
wurden
so
genannte
Freispielsituationen
gewählt.
Freispielsituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder selbst entscheiden können, welchen
Aktivitäten sie nachgehen und die Situation nicht von der Erzieherin strukturiert oder gestaltet wird.
Dieser Kontext gestaltet die Situationen zwischen den einzelnen Zielkindern vergleichbar und
ermöglicht ein hohes Mass an selbstregulierter Tätigkeit. Andererseits wird verhindert, dass das
Verhalten der Zielkinder zu sehr von den Erzieherinnen beeinflusst wird. Bei den Videoaufnahmen
handelte es sich um eine teilnehmende Beobachtung, das heisst, die wissenschaftliche Mitarbeiterin
war in den Räumlichkeiten anwesend und filmte die Aktivitäten des Zielkindes mittels einer
Handkamera. Eine nicht teilnehmende Beobachtung war aufgrund der Ausstattung der
Kindertagesstätten nicht möglich, da diese nicht mit Einwegspiegeln ausgerüstet waren. Es zeigte sich
jedoch, dass sich die Kinder sehr schnell an die Filmerin und die Videokamera gewöhnten und diese
schon nach kurzer Zeit nicht mehr beachteten. Um diese subjektiven Eindrücke abzusichern, wurde
nach den Aufnahmen die jeweils anwesende Erzieherin gefragt, ob sich das Zielkind anders verhalten
habe als üblich. Wurde diese Frage von den Erzieherinnen bejaht, wurden die Aufnahmen aus den
Analysen ausgeschlossen. Dies war jedoch selten der Fall: Insgesamt mussten lediglich drei
Aufnahmen aus den Analysen ausgeschlossen werden, da die Zielkinder gegenüber der Filmerin
einmalig mit heftigem Fremdeln reagierten.
Das Zielkind wurde von der Filmerin während 30 Minuten durchgängig videographiert, unabhängig
davon, ob sich das Kind in Kontakt mit anderen Kindern oder der Erzieherin befand oder für sich
alleine spielte. Die Aufnahmen wurden lediglich unterbrochen, wenn das Zielkind müde oder hungrig
war oder pflegerische Aktivitäten von Seiten der Erzieherin notwendig waren. Befand sich das
Zielkind am Ende der Aufnahmeperiode gerade in einer Interaktion, wurde diese noch vollständig
gefilmt. Die Erzieherinnen wurden angewiesen, zurückhaltend zu agieren und sich nur so viel wie
unbedingt nötig in das Geschehen einzumischen. Nahm ein Zielkind von sich aus mit der Erzieherin
Kontakt auf, durfte diese darauf eingehen. Sie sollte jedoch vermeiden, mit den Zielkindern von ihr
strukturierte Aktivitäten durchzuführen. Ebenso zurückhaltend verhielten sich auch die Filmerinnen.
Sie wurden angewiesen, nicht von sich aus mit den Zielkindern in Kontakt zu treten. Kamen die
Zielkinder auf die Filmerinnen zu, verhielten sich diese freundlich-passiv.
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
71
5. 3. 2. Infant Characteristics Questionnaire (ICQ)
Der Infant Characteristics Questionnaire (Bates et al., 1979) ist ein kurzes Screening-Instrument zur
Erfassung des kindlichen Temperaments. Es soll vor allem dazu dienen, Kinder mit einem schwierigen
Temperament zu identifizieren. Es existieren zwei Versionen: Der Infant Characteristics
Questionnaire 1 enthält 25 Items und wird bei Kindern im ersten Lebensjahr eingesetzt. Der Infant
Characteristics Questionnaire 2 wird bei Kindern ab dem zweiten Lebensjahr angewendet und enthält
34 Items. Bei beiden Formen des ICQ sollen die Eltern verschiedene Aussagen auf einer
siebenstufigen Skala einschätzen, wobei ein Wert von 1 einer optimalen Temperamentseigenschaft,
ein Wert von sieben dagegen einem schwierigen Temperament entspricht.
Aufgrund von Faktorenanalysen liessen sich die Items vier Faktoren zuordnen, die Bates et al. fussydifficult, unadaptable, dull sowie unpredictable nennen. Der erstgenannte Faktor beschreibt ein Kind
als schwierig, wenn es heikel und schwierig zu beruhigen ist, als leicht dagegen, wenn es vorwiegend
zufrieden und leicht zu beruhigen ist. Der zweite Faktor, unadaptable, enthält Items, die sich auf die
Reaktion des Kindes auf neue Ereignisse, Menschen und Dinge bezieht. Als nicht anpassungsfähig gilt
ein Kind, das auf Neues mit Erregung und Vorbehalten reagiert, anpassungsfähig ist ein Kind dann,
wenn es Neues mag und sich schnell daran gewöhnt. Der Faktor dull enthält Aussagen zum Grad der
sozialen Responsivität und dem Aktivitätslevel. Ein niedriger Wert bedeutet, dass die Eltern ihr Kind
als aktiv, fröhlich und gesellig beschreiben. Der vierte von Bates identifizierte und als unpredictable
bezeichnete Faktor besteht aus Fragen zur Voraussagbarkeit der kindlichen Bedürfnisse. Bates et al.
(1979) berichten von zufrieden stellenden Test-Retest-Reliabilitäten und Validitäten. Obwohl der ICQ
so konzipiert ist, dass er von den Eltern eines Kindes beantwortet wird, kann er auch von Personen
ausgefüllt werden, die mit einem Kind häufig Kontakt haben und es gut kennen. Diese
Voraussetzungen erfüllten die Erzieherinnen in den Kinderkrippen, da sie die Zielkinder regelmässig
für eine längere Zeitspanne sahen und eine genügende Vertrautheit aufgebaut hatten. Der ICQ wurde
von den Erzieherinnen zu jedem Messzeitpunkt ausgefüllt, vom Vater und der Mutter zum ersten,
vierten und siebten Messzeitpunkt.
5. 3. 3. Rouge-Test
Amsterdam (1972) entwickelte den Rouge-Test, um festzustellen, ob das Kind bereits ein
Selbstkonzept ausgebildet hat. Der Rouge-Test wurde von Bischof-Köhler (1989, 1994) übernommen
und leicht modifiziert. In unserer Untersuchung übernahmen wir den von Bischof-Köhler
vorgeschlagenen Ablauf. Bei Bischof-Köhler wurde das Kind in Begleitung der Mutter in einen
kleinen Raum geführt und eine Minute mit dem Spiegel konfrontiert, damit es sich an diesen
gewöhnten konnte. Anschliessend brachte die Mutter dem Kind unter dem Vorwand, etwas
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
72
wegwischen zu wollen, ausserhalb der Sichtweite des Spiegels mit blauem Lidschatten einen Fleck auf
der Wange direkt neben der Nase an. Das Kind wurde nun wieder vor den Spiegel geführt und seine
Reaktion auf den Fleck für 180 Sekunden vor dem Spiegel gefilmt. Sofern es nicht von selbst
hineinschaute, wurde es nach einer Weile von der Mutter auf den Spiegel verwiesen, entweder indem
sie das Kind aufforderte: „Schau mal, was dort ist“. Die Mütter wurden ausdrücklich darauf
aufmerksam gemacht, nicht zu fragen „Wer ist denn das?“, um auszuschliessen, dass eine unter
solchen Umständen erfolgende Namensnennung als Nachahmungseffekt auftritt (Bischof-Köhler,
1989). Der Rouge-Test wurde nach Absprache mit der Autorin durchgeführt, als die Kinder 20 Monate
alt waren. Wir erhofften uns durch die Wahl dieses Alters eine Zweiteilung der Stichprobe in Erkenner
und solchen Kindern, die sich noch nicht erkennen. Der Rouge-Test wurde in den Kindertagesstätten
von den vorher instruierten Erzieherinnen durchgeführt und von uns gefilmt.
5. 3. 4. Griffith Entwicklungsskalen
Die Griffith Entwicklungsskalen (GES) sind ein Test für die ersten zwei Lebensjahre und wurden von
Brandt und Sticker (2001) für Deutschland bearbeitet und normiert. Sie sollen dazu dienen, den
allgemeinen Entwicklungsstand des Kindes zu erfassen. Zur Differenzierung der Leistung des Kindes
ist der Test in fünf Unterskalen von etwa gleichem Schwierigkeitsgrad gegliedert. Die fünf
Unterskalen messen die Motorik, das Hörvermögen sowie die Sprachentwicklung, die persönlichsoziale Anpassung, die Koordination von Auge und Hand sowie die intellektuelle Entwicklung. Die
Durchführungszeit des Griffith beträgt durchschnittlich 30 bis 45 Minuten. Damit das Kind genügend
Sicherheit hat, ist die Anwesenheit einer vertrauten Bezugsperson erforderlich. Diese kann auch selbst
Aufgaben stellen, um eine optimale Performanz zu erreichen (Brandt & Sticker, 2001). Der allgemeine
Entwicklungsstand wurde einmalig erhoben, als die Zielkinder 16 Monate alt waren. Der Test wurde
vom Forschungsteam in den Kindertagesstätten in Anwesenheit einer Erzieherin durchgeführt. Durch
die Anwendung dieses Screening-Verfahrens wollten wir sicherstellen, dass sich in der Stichprobe
keine Kinder mit gravierenden Entwicklungsrückständen befinden. Dies war nicht der Fall, der Test
fiel bei sämtlichen Kindern der Stichprobe unauffällig aus.
5. 3. 5. Fragebögen Erzieherin
Neben demografischen Variablen zu den Erzieherinnen, die wir zum ersten Messzeitpunkt erfassten,
erhoben wir mittels zwei eigens für diesen Zweck konstruierten Fragebögen Angaben zu den
Zielkindern, zur Gruppe und zur Krippe. Der Fragebogen zur Krippe und Gruppe diente dazu, die
Merkmale und die zeitliche Konstanz der Zusammensetzung der Gruppe, die das Zielkind besuchte, zu
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
73
erfassen. Unter anderem wurden die Krippen- und Gruppengrösse, die Altersverteilung sowie
Qualitätsmerkmale wie der Betreuungsschlüssel oder das pädagogische Konzept erhoben. Der
Fragebogen zum Kind sollte Hinweise darüber geben, wie sich das Zielkind in der Gruppe verhält,
zum Beispiel, ob das Zielkind mit bestimmten Kontaktkindern besonders häufig spielt. Die
Fragebögen füllten die Erzieherinnen zu jedem Messzeitpunkt aus, damit Veränderungen in den
genannten Variablen erfasst werden konnten.
5. 3. 6. Resultierendes Datenmaterial
Das resultierende Datenmaterial bestand aus je neun halbstündigen Videoaufnahmen des Verhaltens
der 28 Zielkinder an neun unterschiedlichen Tagen im Abstand von je zwei Monaten, sowie den
Einschätzungen der Erzieherinnen zum kindlichen Temperament, der Gruppe und des Verhaltens des
Zielkindes. Als einmalige Messungen lagen der allgemeine Entwicklungsstand des Kindes und der
Stand der Selbsterkennung vor.
Von den möglichen 252 Videoaufnahmen (9 Zeitpunkte x 28 Zielkinder) standen 239 Filme von je 30
Minuten zur Verfügung. Von den 13 Ausfällen waren drei auf Erkrankungen des Zielkindes
zurückzuführen. Vier Aufnahmen konnten nicht durchgeführt werden, da diese Zielkinder die Krippe
verlassen hatten und nicht mehr ausserfamiliär betreut wurden. Drei Aufnahmen wurden aus den
Analysen ausgeschlossen, da die Zielkinder gegenüber der Filmerin einmalig heftig gefremdelt hatten.
Je eine Aufnahme des ersten und zweiten Messzeitpunktes konnte für die Analysen nicht verwendet
werden, da die Erhebungen aufgrund falscher Angaben über das Geburtsdatum zum falschen
Zeitpunkt gemacht worden waren. Eine Aufnahme schliesslich erwies sich als für die Analysen
unbrauchbar, da ein grosser Teil der 30 Minuten strukturierte Aktivitäten beinhaltete.
Von den Datenerhebungen zu Hause resultierten je drei Einschätzungen des Temperaments des
Zielkindes durch den Vater und die Mutter im Abstand von sechs Monaten, sowie soziodemografische
Angaben der Eltern.
5. 4. Auswertung der Videodaten
Mit Ausnahme des Rouge-Tests wurden die Daten der Studie „Erwerb sozialer Kompetenzen bei
Kleinkindern im Kontakt mit Gleichaltrigen und mit ihren Eltern“ vom Forschungsteam ausgewertet.
Der Rouge-Test wurde im Rahmen einer Seminararbeit von zwei Studentinnen ausgewertet. Die
Videodaten aus den Kindertagesstätten wurden in Anlehnung an Brenner und Muellers (1982) sowie
Viernickels (2000) Konzept der geteilten Bedeutungen ausgewertet. Die Grundauswertung diente
einerseits als Grundlage für die Identifizierung der prosozialen Szenen, andererseits wurden einige
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
74
Variablen für die vorliegende Studie verwendet. Sowohl die Grundauswertung wie auch die
Auswertung der prosozialen Szenen wurden mit einer für Videodaten geeigneten Software
vorgenommen. Aus diesem Grund wird zunächst auf die Software eingegangen, anschliessend folgt
eine Beschreibung der Grundauswertung und dem Vorgehen bei der Identifizierung der prosozialen
Szenen. Den Abschluss des Kapitels bilden die Kodierung der prosozialen Szenen und Überlegungen
zu den Gütekriterien.
5. 4. 1. Software
Zur
Kodierung
der
Videoaufnahmen
in
den
Krippen
wurde
ein
personenfokussiertes
Beobachtungsverfahren angewandt. Die Videoaufnahmen wurden nahtlos ausgewertet, das heisst, es
wurde fortlaufend festgehalten, welches Verhalten beim Zielkind beobachtbar war. Die Kodierung der
Videodaten wurde am Computer mit einer speziellen Software (Noldus Observer Video Pro, Version
4/5) durchgeführt. Der Observer Video Pro ist in zwei Oberflächen aufgeteilt: Im Basismodul wird die
Konfiguration
erstellt
und
einfache
Analysen
wie
Häufigkeitsauszählungen
sowie
Reliabilitätsberechnungen durchgeführt, im Beobachtungsmodul werden die Filme kodiert. Um
kodieren zu können, muss zunächst eine Konfiguration erstellt werden, in der zum Beispiel alle
vorkommenden Personen und Verhaltensweisen definiert und ihnen Codes zugeordnet werden. Im
Beobachtungsmodul werden die Filme kodiert, indem für jede vorkommenden Verhaltensweisen der
in der Konfiguration festgelegte Code eingegeben wird. Während der Kodierung ist es möglich, den
Film anzuhalten, zurückzuspulen und bereits kodierte Szenen nochmals zu bearbeiten oder neue
Szenen hinzuzufügen. Nach Beendigung und Speicherung der Kodierung können im Hauptmodul
einfache Analysen wie Häufigkeitsauszählungen oder Reliabilitätsanalysen durchgeführt werden, die
mittels einer speziellen Funktion in statistische Auswertungsprogramme exportiert werden können.
5. 4. 2. Grundauswertung
Für die Auswertung der Videodaten wurde die oben beschriebene Software unseren Bedürfnissen
entsprechend konfiguriert. Die Konfigurierung entspricht einem standardisierten Kategoriensystem.
Inhaltlich lag den Kategorien das Konzept der geteilten Bedeutungen zugrunde, wie es von Brenner
und Mueller (1982) entwickelt und von Viernickel (2000) weiter ausgebaut wurde. Viernickel (2000)
definiert die Bedeutung einer Interaktionseinheit als „das vom Kind in einer Interaktionssituation
wahrgenommene Thema, nach dem es seine Handlungen ausrichtet“ (Viernickel, 2000, S. 97). Die
subjektive Bedeutung, die ein Interaktionsgeschehen für ein Kind hat, kann vom Beobachter aufgrund
des Verhaltens des Kindes und seiner Partner geschlussfolgert werden. Ein Teil der Themenliste von
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
75
Viernickel wurde übernommen und leicht modifiziert, damit das Verhalten der Kinder zu den frühen
Aufnahmezeitpunkten adäquat erfasst werden konnte. Einige Themen wurden neu hinzugefügt, da
Viernickel etwas ältere Kinder beobachtet hatte und deshalb Kategorien für die jüngeren Kinder
fehlten. Neu eingeführt wurde zum Beispiel die Bedeutung Exploration Subjekt, die die gegenseitige
Untersuchung von kleinen Kindern wiedergibt. Entsprechend der nahtlosen Anlage der Auswertung
ergänzten wir den Themenkatalog um Kategorien, die der Tatsache Rechnung trugen, dass die
Zielkinder sich nicht die ganze Zeit in Interaktion mit anderen Personen befanden, sondern sich
zeitweise alleine beschäftigten, also keine Bedeutung mit einer anderen Person im direkten Kontakt
geteilt wurde (z. B. Exploration Objekt).
Für jede Verhaltenseinheit wurden Zeitpunkt des Auftretens, Dauer des Auftretens, gegebenenfalls
involvierte Partner und, im Fall einer Interaktion, ob die Bedeutung von den beteiligten Personen
geteilt oder nicht geteilt wurde, festgehalten. Innerhalb jeder thematischen Einheit wurden zur
genaueren Beschreibung des Ablaufs einzelne, konkrete Verhaltensweisen festgehalten (z. B. Objekt
anbieten, umarmen, schlagen, anlächeln etc.). Um eine möglichst grosse Objektivität zu erreichen,
wurden die Filme im Team so aufgeteilt, dass jede Forscherin lediglich Zielkinder kodierte, die sie
nicht selbst gefilmt hatte. Zweideutige Szenen wurden von der Kodiererin so lange mit einer Kollegin
diskutiert, bis sie zu einer Übereinstimmung gekommen waren. Daneben wurden einige der Filme zur
Überprüfung der Übereinstimmung, die befriedigend ausgefallen ist, von zwei Personen vollständig
unabhängig voneinander doppelkodiert.
5. 4. 3. Identifizierung der prosozialen Szenen
Die Grundauswertung diente als Grundlage für die Identifizierung der prosozialen Szenen. Aufgrund
der breiteren Anlage der Hauptstudie waren in der Grundauswertung nicht alle hier zu untersuchenden
Formen von prosozialem Verhalten enthalten. Lediglich Helfen/Trösten, Assistieren und Zuneigung
waren als Verhaltenskategorien kodiert und konnten für die vorliegende Studie verwendet werden,
während die übrigen Formen nicht als Bedeutungen vorhanden waren. Um auch diese Szenen
identifizieren zu können, wurden neben den bereits als solchen kodierten prosozialen Szenen in den
Filmen mittels des Auswertungsprogramms nach folgenden Ereignissen gesucht:
•
Objekt anbieten
•
Helfen, unterstützen, assistieren
•
Weinen (Kontaktkinder)
•
Nachahmen
•
Zuneigung zeigen
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
76
Mit Hilfe dieser Auswahl der in der Grundauswertung kodierten Verhaltensweisen konnten in den
Filmen Situationen identifiziert werden, die prosoziales Verhalten des Zielkindes beinhalten könnten.
Um auch die Kategorie Wiedergutmachung identifizieren zu können, wurde die Kategorie Konflikt
ebenfalls einbezogen. Die identifizierten Szenen wurden anschliessend aus den Originalfilmen
herausgeschnitten. Da die dem prosozialen Verhalten vorhergehenden Geschehnisse für die
Bestimmung der auslösenden Umstände und der Form von prosozialem Verhalten benötigt werden,
wurden die Szenen so geschnitten, dass sie sowohl die eigentliche prosoziale Szene wie auch die
Geschehnisse 30 Sekunden vorher umfassten.
Insgesamt ergaben sich aus den 239 Filmen der Grundauswertung 998 Szenen, die prosoziale Szenen
oder Gelegenheiten zu prosozialem Verhalten (Weinen, Konflikt) enthielten.
5. 4. 4. Kodierung der prosozialen Szenen
Die 998 Szenen wurden mit derselben Software wie die Grundauswertung ausgewertet. Wie bei der
Grundauswertung wurde auch hier eine nahtlose Auswertung gewählt, das heisst, das Verhalten des
Zielkindes wurde lückenlos kodiert. Als unabhängige Variablen wurden der Aufnahmezeitpunkt (T1 –
T9), das Geschlecht und das Alter des Zielkindes in Monaten definiert. Als nächstes wurden die
auslösenden Umstände des prosozialen Verhaltens bzw. für die Gelegenheit zu prosozialem Verhalten
festgelegt. Hier wurden sechs Möglichkeiten unterschieden:
•
Spontan: Diese Kategorie wurde kodiert, wenn das Zielkind das prosoziale Verhalten ohne
sichtbaren Anlass zeigt.
•
Reziprozität: Das Zielkind zeigt das prosoziale Verhalten als Reaktion auf selbst erfahrene
Unterstützung: Das Zielkind ist unmittelbar vor seiner eigenen prosozialen Handlung
Empfänger des prosozialen Verhaltens des späteren Rezipienten.
•
Aufforderung des potentiellen Empfängers: Das Zielkind zeigt das prosoziale Verhalten als
Reaktion auf die verbale oder nonverbale Bitte des Empfängers. Die Bitte des Empfängers
kann sich durch eine verbale Aufforderung, Bitte oder einen Befehl oder durch nonverbale
Gesten wie dem Greifen nach dem Objekt, das das Zielkind in der Hand hält oder dem Zeigen
auf das Objekt manifestieren. Diese Kategorie wurde weiter aufgeteilt in einmalige
Aufforderung und mehrfache Aufforderung, um eine Bitte, die ein Mal erfolgte von solchen
unterscheiden zu können, die mehrmals geäussert wurden.
•
Aufforderung von Drittpersonen: Das Zielkind zeigt das prosoziale Verhalten unmittelbar
nach der verbalen oder nonverbalen Aufforderung durch eine anwesende Drittperson, die nicht
mit dem Empfänger identisch ist. Die Bitten können sich durch dieselben Verhaltensweisen
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
77
wie bei der oben beschriebenen Kategorie zeigen. Ebenso wurde die Zweiteilung für diese
Kategorie übernommen.
•
Aufforderung von mehreren Personen: Das Zielkind zeigt das Verhalten als Reaktion auf
die verbale oder nonverbale Bitte sowohl des Empfängers wie auch von einer oder mehreren
Drittpersonen. Die Aufforderungen können sich durch den unter der Kategorie Aufforderung
des potentiellen Empfängers beschriebenen Verhaltensweisen zeigen.
•
Modeling: Das Zielkind zeigt das prosoziale Verhalten unmittelbar, nachdem es das
prosoziale Verhalten einer anderen Person beobachtet hat und bei dem es nicht Empfänger
war.
Die identifizierten Szenen enthielten nicht nur tatsächlich vorkommendes prosoziales Verhalten,
sondern auch Gelegenheiten für prosoziales Eingreifen. Dies waren Situationen, in denen eine andere
Person weinte oder Konfliktsituationen zwischen dem Zielkind und einer anderen Person. Deshalb
wurde als nächstes in einer groben Unterteilung entschieden, ob das Zielkind prosozial reagiert oder
nicht. Handelte das Kind prosozial, wurde die Art des prosozialen Verhaltens festgelegt. Die in der
Literatur zitierten Formen des prosozialen Verhaltens und ihre Operationalisierung (vgl. Eisenberg &
Mussen, 1989; Eisenberg, 1982; Zahn-Waxler et al., 1992) wurden für die vorliegende Studie
übernommen. Es handelt sich um das Anbieten von Objekten, Assistieren, Wiedergutmachung und
Trösten in einer emotionalen Notlage. Zusätzlich zu diesen Kategorien werden auch das Zeigen von
Zuneigung und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten untersucht, die gemäss der hier
verwendeten Definition ebenfalls als prosoziale Verhaltensweisen gelten.
Die beschriebenen Formen wurden folgendermassen definiert und operationalisiert:
•
Anbieten von Objekten: Angebot oder Erlaubnis zur temporären oder ständigen Nutzung
eines Gegenstandes bzw. der Erlaubnis zu dessen gemeinsamen Nutzung. Das Angebot wird
durch das Hinstrecken eines Objektes angezeigt, die Erlaubnis dadurch, dass das Zielkind
keinen Widerstand leistet, wenn die andere Person das Objekt an sich nimmt. Die Situation ist
emotional neutral und der potentielle Empfänger befindet sich nicht in einer defizitären Lage.
Das heisst, der prosozialen Handlung geht weder ein Konflikt noch eine Defizitsituation des
Empfängers voraus.
•
Zuneigung zeigen: Das Zielkind zeigt der anderen Person verbal oder nonverbal, dass es sie
mag. Die Situation ist emotional neutral und der Empfänger befindet sich nicht in einer
Defizitlage. Diese Kategorie wird kodiert, wenn der prosozialen Episode kein Konflikt oder
keine Weinepisode des Empfängers vorausgeht.
•
Helfen/Trösten: Das emotionale Defizit der anderen Person wird vom Zielkind erkannt und
zu beheben versucht. Dies kann durch vielfältige Handlungen geschehen: So kann das
Zielkind dem Opfer etwa ein Spielzeug bringen, es umarmen oder die Erzieherin zu Hilfe
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
78
holen. Das emotionale Defizit macht sich durch das Ausdrucksverhalten der anderen Person
bemerkbar bzw. die andere Person weist eine sichtbar traurige Stimmung auf. Diese macht
sich durch Weinen und der entsprechenden Mimik bemerkbar. Der prosozialen Handlung geht
kein Konflikt zwischen dem Zielkind und dem Empfänger voraus.
•
Assistieren: Das Zielkind bietet Unterstützung beim Spiel oder einer Aufgabe. Der Adressat
befindet sich nicht in einer emotionalen Notlage, die Situation ist emotional neutral. Signale
der Situation zeigen an, dass die Möglichkeit zur Assistenz besteht. Beispiele für solche
Signale sind das Herunterfallen eines Gegenstandes oder Wäschestücke in einem Wäschekorb,
die zusammengelegt werden sollen.
•
Wiedergutmachung: Ein Leid, das das Zielkind der anderen Person zugefügt hat, versucht
dieses wieder gutzumachen. Dies kann durch vielfältige Handlungen geschehen wie das dem
Empfänger im Konflikt entrissene Objekt zurückgeben, ein Ersatzobjekt anbieten oder
streicheln und umarmen. Der prosozialen Tat geht ein Konflikt voraus.
•
Prosoziale Handlung gegenüber unbelebten Objekten: Empfänger der oben beschriebenen
Formen Zuneigung, Trösten, Helfen oder Assistieren ist ein unbelebter Gegenstand.
Beispielsweise umarmt das Zielkind ein Stofftier oder füttert eine Puppe.
Nachdem die Form des prosozialen Verhaltens kodiert wurde, wurde als Präzision dieser
Verhaltenskategorie der Adressat festgehalten. Der Empfänger wurde in eine der acht folgenden
Gruppen eingeteilt:
•
Erwachsene Person: Der Empfänger des prosozialen Verhaltens ist eine erwachsene Person.
•
Kind älter: Der Empfänger ist ein Kontaktkind, das mehr 3 Monate älter als das Zielkind ist.
•
Kind gleichaltrig: Der Verhaltensadressat ist ein Kontaktkind, das bis zu 3 Monate älter oder
jünger als das Zielkind ist.
•
Kind jünger: Der Empfänger ist mehr als 3 Monate jünger als das Zielkind.
•
Kindergruppe: Der Empfänger des prosozialen Verhaltens ist eine Gruppe, die aus
mindestens zwei Kindern besteht.
•
Erwachsenengruppe: Der Adressat des prosozialen Verhaltens ist eine Gruppe, die aus
mindestens zwei erwachsenen Personen besteht.
•
Gemischte Gruppe: Der Adressat ist eine Gruppe, die aus mindestens einem Erwachsenen
und einem Kind besteht.
•
Lebloser Gegenstand: Empfänger ist ein lebloser Gegenstand, z. B. eine Puppe oder ein
Stofftier.
In einem weiteren Schritt wurde die Reaktion des Empfängers auf das prosoziale Verhalten des
Zielkindes kodiert. Die Reaktionen wurden zu drei Gruppen zusammengefasst:
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
•
79
Ablehnung der Aktion: Der Empfänger reagiert mit Ablehnung auf das prosoziale Verhalten
des Zielkindes: Die Hilfe, der Trost, der angebotene Gegenstand werden abgelehnt, die
Tröstversuche fruchten nicht bzw. der Empfänger reagiert aggressiv, schlägt das Zielkind zum
Beispiel oder stösst es zur Seite. In dieser Kategorie wird auch das Ignorieren des Zielkindes
durch den Adressaten kodiert.
•
Annahme der Aktion mit positiver Verstärkung: Der Adressat des prosozialen Verhaltens
nimmt die prosoziale Aktion des Zielkindes an und verstärkt das Zielkind positiv. Das heisst,
er bedankt sich, zeigt positive Emotionen, wie Lächeln oder Lachen oder es entsteht ein
längerer Kontakt oder ein Spiel, die über die prosoziale Handlung hinausgehen.
•
Annahme der Aktion: Der Empfänger akzeptiert das prosoziale Verhalten des Zielkindes,
das heisst, er verhält sich nicht abneigend, zeigt aber keine positive Verstärkung. Der
angebotene Gegenstand oder die Hilfe werden angenommen, aber der Adressat bedankt sich
nicht und es entsteht keine über das prosoziale Verhalten hinaus führende, längere Interaktion.
Neben der Reaktion des eigentlichen Verhaltensempfängers wurde zusätzlich erfasst, ob und welche
Drittpersonen sich in unmittelbarer Nähe des Zielkindes befanden und wie diese reagierten. Die
Reaktionen der Drittperson bzw. Drittpersonen wurden in die drei Gruppen positive Verstärkung,
Ignorieren/Tadel sowie Neutral/Labeling unterteilt. Die erste Kategorie beinhaltet Reaktionen der
Drittperson, die für das Zielkind belohnend wirken wie Lob, positive Emotionen zeigen oder der
Beginn einer Interaktion. In der zweiten Kategorie wird die prosoziale Handlung des Zielkindes von
der anwesenden Person ignoriert oder das Zielkind wird für seine Handlung getadelt. Neutrale
Reaktionen bedeuten, dass die anwesende Person das Verhalten des Zielkindes beobachtet oder
kommentiert, aber ohne dabei das Zielkind positiv zu verstärken.
Neben den genannten Hauptkategorien wurden konkrete Verhaltensweisen wie anlächeln, Objekt
berühren, Objekt anbieten, umarmen etc. festgehalten. Für die statistischen Auswertungen wurden die
kodierten Filmausschnitte anschliessend in die Statistiksoftware SPSS 12.0 für Windows (SPSS 2005)
exportiert.
5. 4. 5. Gütekriterien
Zur Überprüfung der Qualität der vorliegenden Ergebnisse wird hier kurz dargestellt, wie die zentralen
Gütemasse der Validität und Reliabilität an den hier vorliegenden Daten angelegt wurden.
Das Validitätskriterium ist ein Mass für die Übereinstimmung des durch ein Messverfahren Erfassten
mit dem theoretisch gemeinten Objektbereich, das heisst, es bestimmt, in welchen Ausmass das
Instrument wirklich misst, was es messen soll. Ein Argument für Feldbeobachtungen ist immer wieder
ihre den Labor- und experimentellen Designs überlegene ökologische Validität und damit eine
Kapitel 5: Untersuchungsrahmen und Methode
80
besserer Gültigkeit im natürlichen Lebensraum der Untersuchten. Die in der Hauptstudie
durchgeführten Beobachtungen im Feld weisen sicher eine ausreichende ökologische Validität auf.
Validität wird daneben aber auch über eine differenzierte und treffende Operationalisierung der zu
beobachtenden Phänomene sichergestellt. Einerseits wurde in der vorliegenden Arbeit die Auswahl
wie auch die Operationalisierung der Variablen unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur
vorgenommen. Andererseits beruhen die Definition und Operationalisierung von prosozialem
Verhalten in der vorliegenden Arbeit ausschliesslich auf Verhaltensindikatoren, die direkt beobachtbar
sind und nicht auf Motiven, die erschlossen werden müssen. Somit kann davon ausgegangen werden,
dass dieses Kriterium ebenfalls erfüllt ist.
Neben der Validität ist auch das Kriterium der Reliabilität oder Zuverlässigkeit wichtig. Reliabel ist
ein Instrument dann, wenn seine wiederholte Anwendung – sei es von derselben Person oder von
anderen Personen – innerhalb bestimmter Schwankungsbreiten gleiche Ergebnisse liefert.
Normalerweise wird Cohens Kappa als Mass für die Übereinstimmung mehrerer Beobachter bei der
voneinander unabhängigen Bewertung desselben Materials gesehen. Auch in der vorliegenden Arbeit
wurde ein externes Reliabilitätsmass eingeführt, indem ein Teil des Videomaterials von einer
wissenschaftlichen Mitarbeiterin doppelkodiert wurde. Diese war an der Hauptstudie beteiligt und in
der Videobeobachtung geschult, aber mit dem Thema der vorliegenden Arbeit nicht vertraut.
Grundlage für die Reliabilitätsberechnungen waren 400 Szenen, die zufällig ausgewählt wurden.
Aufgrund der Anlage der Studie konnte Cohens Kappa nicht berechnet werden, approximativ werden
deshalb die prozentuale Übereinstimmungen zwischen den Kodiererinnen angegeben: Art des
prosozialen Verhaltens: 79.00%, prosozial gehandelt ja/nein: 94.75%, Art des Auslösers: 81.75%
sowie Reaktion des Empfängers: 78.50%. Für die statistischen Analysen wurden die Kodierungen der
Autorin verwendet.
Kapitel 6: Ergebnisse
81
6. Ergebnisse
In diesem Kapitel werden die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Hypothesen und
Fragestellungen zur Entwicklung des prosozialen Verhaltens anhand der gewonnen Daten überprüft.
Die Interkorrelation der verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten bildet den Ausgangspunkt
gefolgt von der erstmaligen Manifestation, dem Entwicklungsverlauf bis 2 Jahre und den möglichen
Einflussfaktoren
Geschlecht,
sozialer
Stil
und
Temperament.
Anschliessend
werden
der
Zusammenhang zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und dem prosozialen Verhalten,
individuelle Unterschiede und Verläufe, auslösende Umstände sowie Merkmale des Empfängers
untersucht. Zudem wird der Frage nachgegangen wie Empfänger und anwesende Drittpersonen auf das
prosoziale Verhalten des Zielkindes reagieren.
Für die statistischen Analysen wurden die kodierten Ausschnitte vom Auswertungsprogramm in das
Statistikprogramm SPSS exportiert. Einige Aufnahmen konnten für die Analysen nicht verwendet
werden, da sie entweder standardisierte Situationen beinhalteten, das Zielkind einmalig fremdelte,
krank oder längere Zeit abwesend war. Schliesslich standen die Aufnahmen von 26 Zielkindern für
den 1. Messzeitpunkt, für den 2. Messzeitpunkt 25, dem 3. Messzeitpunkt 26, dem 4. Messzeitpunkt
27, dem 5. und 6. Messzeitpunkt je 28, dem 7. Messzeitpunkt 23, dem 8. Messzeitpunkt 21 sowie dem
9. Messzeitpunkt die Aufnahmen von 23 Zielkindern zur Verfügung.
6. 1. Interkorrelation
Hier wurde Hypothese H1 überprüft, dass die verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten kaum
miteinander zusammenhängen.
Tabelle 2
Interkorrelationen der prosozialen Verhaltensweisen
Objekt
anbieten
Objekt
anbieten
Assistieren
Trösten
Wiedergutmachung
Zuneigung
Empfänger:
Objekt
-/-
.097
.060
.035
.066
-.010
-/-
.044
.046
.106
-.021
-/-
.111
.063
.169**
-/-
.026
.068
Assistieren
Trösten
Wiedergutmachung
Zuneigung
Empfänger:
Objekt
Anmerkung. N = 28; **p < .01 (2-seitig)
-/-
.247**
-/-
Kapitel 6: Ergebnisse
82
Für die verschiedenen Formen wurden in einem ersten Schritt über alle Zeitpunkte hinweg bivariate
Korrelationen gerechnet. Wie Tabelle 2 zu entnehmen ist, sind die Korrelationen zwischen den
einzelnen prosozialen Formen mit zwei Ausnahmen niedrig, sie reichen von .026 zwischen Zuneigung
und Wiedergutmachung bis .247 zwischen Empfänger: Objekt und Zuneigung. Die letztgenannte
Korrelation sowie diejenige zwischen Empfänger: Objekt und Trösten fallen signifikant aus. Bei
beiden signifikanten Korrelationen ist die Kategorie Empfänger: Objekt involviert. Die Korrelation
zwischen scheinbar verwandten prosozialen Formen wie der Wiedergutmachung und dem Trösten, bei
deren Auslösung die Empathie eine zentrale Rolle einnehmen soll (vgl. Hoffman, 1982; BischofKöhler, 1989), fällt mit .111 etwas höher aus, die Signifikanzgrenze wird jedoch knapp verfehlt.
Aufgrund dieser Ergebnisse wird Hypothese 1 angenommen: Die prosozialen Formen hängen kaum
miteinander zusammen.
Im Zusammenhang mit dieser Hypothese wurden in einem zweiten Schritt bivariate Korrelationen für
jeden Zeitpunkt einzeln berechnet. Es werden nur Zeitpunkte aufgeführt, zu denen signifikante
Korrelationen gefunden wurden. Für den ersten Messzeitpunkt konnten keine Korrelationen berechnet
werden, da zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Form von prosozialem Verhalten beobachtet werden
konnte. Die erste signifikante Korrelation zeigt sich beim fünften Messzeitpunkt zwischen
Wiedergutmachung und Empfänger: Objekt, wobei r = .694 (N = 28, p < .01, zweiseitige Testung):
Kinder, die mehr wiedergutmachendes Verhalten zeigen, handeln gegenüber Objekten häufiger
prosozial. Allerdings waren die Häufigkeiten der beiden genannten Verhaltensweisen zu diesem
Zeitpunkt sehr gering. Zum Zeitpunkt T7 zeigten sich signifikante Korrelationen für Zuneigung und
Empfänger: Objekt (r = .537, N = 26, p < .01, zweiseitige Testung), sowie für Wiedergutmachung und
Trösten (r = .529, N = 26, p < .01, zweiseitige Testung). Zu diesem Zeitpunkt korrelieren also die nach
theoretischen Überlegungen verwandten Formen Trösten und Wiedergutmachung signifikant
miteinander. Allerdings ist auch hier anzumerken, dass die genannten Verhaltensweisen nur in
geringer Anzahl vorkommen. Zum Zeitpunkt T8 korrelierten Zuneigung und Assistieren signifikant
miteinander (r = .616, N = 27, p < .01, zweiseitige Testung).
Bei der Betrachtung der signifikanten Korrelationen über die Messzeitpunkte hinweg lässt sich kein
systematisches Muster erkennen, vielmehr hängen jeweils unterschiedliche Formen miteinander
zusammen: Zu T5 Wiedergutmachung und Empfänger: Objekt, zu T7 Zuneigung und Empfänger:
Objekt sowie Wiedergutmachung und Trösten sowie zu T8 Zuneigung und Assistieren. Es ist jedoch
anzumerken, dass die signifikant korrelierten Formen ausschliesslich positiv zusammenhängen. Dies
deutet darauf hin, dass die einzelnen prosozialen Formen nicht einander entgegen gesetzte
Verhaltensweisen sind.
Aufgrund der Resultate für die einzelnen Messzeitpunkte wird Hypothese H1 ebenfalls angenommen:
Die einzelnen Formen hängen kaum miteinander zusammen.
Kapitel 6: Ergebnisse
83
In einem weiteren Schritt wurde das prosoziale Verhalten in verlangt und spontan aufgeteilt um
Hypothese H2 zu testen, dass verlangtes und spontanes prosoziales Verhalten nicht miteinander
korrelieren und unterschiedlich mit Persönlichkeitsfaktoren zusammenhängen. Hierzu wurden
bivariate Korrelationen zwischen spontanem prosozialem Verhalten und verlangtem prosozialem
Verhalten über alle Zeitpunkte gerechnet. Wie sich zeigte, war die Korrelation zwischen spontanem
und verlangtem prosozialem Verhalten signifikant (r = .198, N = 28, p < .01, zweiseitige Testung):
Kinder, die häufig spontanes prosoziales Verhalten zeigen, handeln häufiger prosozial, wenn sie dazu
aufgefordert werden.
Als nächstes wurden die bivariaten Korrelationen zwischen den spontanen und verlangten prosozialen
Formen über alle Zeitpunkte gerechnet. Da verlangtes Trösten und verlangtes prosoziales Verhalten
gegenüber Objekten nie vorkamen, konnten für diese Formen keine Korrelationen berechnet werden.
Tabelle 3
Bivariate Korrelationen zwischen spontanen und verlangten prosozialen
Formen
Verlangte Formen
Spontane Formen
Objekt anbieten
Assistieren
Wiedergutmachung
Objekt anbieten
.127*
.031
.075
Assistieren
.072
.234**
-.038
Trösten
.091
.096
.238**
Anmerkung. N = 28; **p < .01 (2-seitig); *p < .05 (2-seitig)
Tabelle 3 zeigt die signifikanten Korrelationen zwischen den spontanen und verlangten prosozialen
Verhaltensweisen. Wie daraus ersichtlich wird, hängen spontanes und verlangtes Anbieten von
Objekten sowie spontanes und verlangtes Assistieren signifikant miteinander zusammen. Ausserdem
leisten Kinder, die häufig spontan trösten, häufiger auf Bitte hin Wiedergutmachung. Bei den
signifikanten Korrelationen hängen die spontan und auf Verlangen hin gezeigten Verhaltensweisen
derselben Formen, also spontanes und verlangtes Anbieten von Objekten, sowie spontanes und
verlangtes Assistieren, zusammen. Ebenso zeigt sich für die beiden als verwandt geltenden Formen
Trösten und Wiedergutmachung ein signifikanter Zusammenhang zwischen spontanem und
verlangtem Verhalten.
Aufgrund dieser Ergebnisse wird Hypothese 2a verworfen: Spontanes und verlangtes prosoziales
Verhalten korrelieren signifikant miteinander.
Um Hypothese 2b, verlangtes und spontanes prosoziales Verhalten hängen unterschiedlich mit dem
persönlichen Stil und dem Geschlecht des Zielkindes zusammen, zu überprüfen wurde als nächstes je
ein lineares gemischtes Modell für das verlangte resp. spontane prosoziale Verhalten gerechnet.
Gegenüber Varianzanalysen mit Messwiederholung weisen gemischte Modelle für die vorliegende
Untersuchung eine Reihe von Vorteilen auf. So gilt bei varianzanalytischen Designs, dass die Anzahl
Kapitel 6: Ergebnisse
84
der Probanden um einiges grösser sein sollte als die Anzahl der abhängigen Variablen, die vorliegende
Studie weist jedoch einen kleinen Stichprobenumfang von nur 28 Kindern auf. Im Gegensatz zu
varianzanalytischen Designs werden bei den gemischten Modellen bei wiederholten Messungen die
Werte eines Subjekts nicht in einer Zeile der Datendatei erwartet, sondern in verschiedenen Zeilen,
womit sich die Fallzahl erhöht. Dabei sind auch unvollständige Messwiederholungen erlaubt, die
Anzahl der Beobachtungen darf also für die Subjekte variieren. Im Gegensatz zu den gemischten
Modellen sind bei varianzanalytischen Designs zudem die Unabhängigkeit der Beobachtungen
Voraussetzung, die in unserem Fall aufgrund der mehrmaligen Beobachtung derselben Zielkinder
nicht gegeben ist. Bei den gemischten Modellen ist es ausserdem möglich, gleichzeitig kategoriale
Variablen (Faktoren) und intervallskalierte Variablen (Kovariaten) als erklärende Variablen im Modell
zu berücksichtigen. Unter anderem anhand des Schwarz(Bayes-)-Kriteriums wird entschieden,
welches Modell für die Art des Zusammenhangs der Kovarianzen der Fehlerwerte am Besten geeignet
ist, wobei dasjenige Modell gewählt wird, das hierbei den kleinsten Wert aufweist. In einem zweiten
Schritt wird die Anzahl der Faktoren und Kovariaten festgelegt, die in die Berechnungen einfliessen,
wobei wiederum das Schwarz(Bayes)-Kriterium als Entscheidungsgrundlage dient.
Im vorliegenden Fall wurde ein Modell mit einer autoregressiven Kovarianzstruktur für das verlangte
resp. einer heterogen-autoregressiven Struktur für das spontane prosoziale Verhalten festgelegt. Als
Faktoren wurden der Messzeitpunkt und das Geschlecht des Zielkindes sowie als Kovariaten die
Häufigkeit der Konflikte und der Interaktionen, als Kontrollvariablen die Ausbildung von Mutter und
Vater,
die
soziale
Schichtzugehörigkeit
der
Familie,
die
Temperamentseinschätzung
der
Erzieherinnen, allfällige Gruppen- oder Krippenwechsel (ja/nein) sowie der Geschwisterstatus
(mindestens ein Geschwister: ja/nein) ins Modell aufgenommen. In den gemischten Modellen werden
die zu kontrollierenden Faktoren als Faktoren bzw. Kovariaten in das Modell eingeführt. Der Effekt
der unabhängigen Variablen wird unter Konstanthaltung der anderen eingegebenen Faktoren und
Kovariaten berechnet. Diese Möglichkeit ist bei der vorliegenden Studie von Vorteil, da einige
potentielle Einflussfaktoren wie der soziodemographische Hintergrund der Familie oder ein allfälliger
Krippen- bzw. Gruppenwechsel des Zielkindes in der Stichprobe nicht ausbalanciert werden konnten.
Tabelle 4
Tests auf feste Effekte bei spontanem und verlangtem prosozialem Verhalten
Verlangtes prosoziales Verhalten
Spontanes prosoziales Verhalten
Geschlecht
Konflikte
Interaktionen
Geschlecht
Konflikt
Interaktionen
df
87
166
153
23
23
23
F
8.48**
1.39
4.49*
0.14
27.02**
0.413
Anmerkung. N = 28; **p < .01; *p < .05
Kapitel 6: Ergebnisse
85
Wie Tabelle 4 veranschaulicht, hängen spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten unterschiedlich
mit dem sozialen Stil und dem Geschlecht des Zielkindes zusammen: Beim verlangten prosozialen
Verhalten zeigten sich signifikante Haupteffekte des Geschlechts sowie des interaktiven Verhaltens.
Demnach handeln Mädchen häufiger verlangt prosozial als Jungen, ebenso Zielkinder mit häufigen
Interaktionen. Beim spontanen prosozialen Verhalten dagegen präsentiert sich ein anderes Bild: Weder
gab es signifikante Geschlechtsunterschiede, noch hatte die Häufigkeit der Interaktionen einen
Einfluss. Dagegen zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt der Konflikthäufigkeit: Zielkinder, die
häufig Konflikte mit anderen haben, handeln häufiger spontan prosozial.
In Übereinstimmung mit Hypothese 2b zeigen die Resultate, dass spontanes und verlangtes
prosoziales Verhalten unterschiedlich mit dem persönlichen Stil und dem Geschlecht des Zielkindes
zusammenhängen: Kinder mit häufigen Konflikten handeln häufiger spontan prosozial, gesellige
Kinder und Mädchen zeigen dagegen häufiger verlangtes prosoziales Verhalten.
6. 2. Erstmanifestation und weiterer Verlauf
Hier wurden Hypothese H3, wonach sich erste prosoziale Verhaltensweisen bereits mit 8 Monaten
zeigen, sowie Hypothese H4, wonach die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens mit dem Alter der
Zielkinder zunimmt, überprüft. Zudem wurde der Frage nachgegangen, zu welchem Zeitpunkt in der
ontogenetischen Entwicklung die verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten erstmals
beobachtbar sind und ob welcher weitere Verlauf für die einzelnen Formen zu beobachten ist.
6. 2. 1. Erstmanifestation
Im Folgenden wird die Anzahl Zielkinder, die mindestens ein Mal prosozial handelten, für jeden
Messzeitpunkt einzeln sowie differenziert nach den verschiedenen Formen deskriptiv dargestellt. Des
Weiteren wird auf die Reihenfolge des Auftretens der einzelnen Formen in der ontogenetischen
Entwicklung eingegangen.
Kapitel 6: Ergebnisse
86
Abbildung 1. Anzahl der Zielkinder, die mindestens 1 Mal prosoziales Verhalten zeigen, differenziert nach dem
Messzeitpunkt
Abbildung 1 zeigt die Anzahl Zielkinder, die mindestens ein Mal prosozial handelten, aufgeteilt auf
die neun Erhebungszeitpunkte. Erste prosoziale Verhaltensformen liessen sich bei zwei von 26 für die
Analysen verfügbaren Zielkindern bereits zum ersten Messzeitpunkt beobachten. Dies entspricht
einem Anteil von 7.7 Prozent. Beim zweiten Messzeitpunkt handelten bereits 10 oder 40% der
Zielkinder mindestens ein Mal prosozial. Bis und mit dem fünften Messzeitpunkt steigt die Anzahl der
Zielkinder an, die zum betreffenden Zeitpunkt mindestens ein Mal prosozial handelten. Danach bleibt
die Zahl konstant hoch: Zwischen 77.7% und 88.5% der Zielkinder handeln mindestens ein Mal
prosozial.
Somit wird Hypothese H3 angenommen: Erste prosoziale Verhaltensweisen zeigen sich mit 8
Monaten.
In einem nächsten Schritt sollte herausgefunden werden, zu welchem Zeitpunkt in der ontogenetischen
Entwicklung die einzelnen prosozialen Formen erstmals auftreten. Deshalb wurden die Häufigkeiten
für die verschiedenen prosozialen Verhaltensweisen für die einzelnen Messzeitpunkte getrennt
berechnet. Abbildung 2 zeigt die Häufigkeiten der untersuchten prosozialen Formen pro
Messzeitpunkt.
Kapitel 6: Ergebnisse
87
Objekt anbieten
Assistieren
Trösten
Wiedergutmachung
Zuneigung
Prosoziales Verhalten
gegenüber Objekten
70
60
Häufigkeit
50
40
30
20
10
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Messzeitpunkt
Abbildung 2. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Formen T1- T9
Das Anbieten von Objekten stellt die früheste Form von prosozialem Verhalten dar und liess sich bei
zwei Zielkindern bereits mit 8 Monaten beobachten. Im Alter von 10 Monaten konnte erstmals das
Zeigen von Zuneigung beobachtet werden. Mit 12 Monaten assistierten zwei Zielkinder erstmals, die
Kategorie Wiedergutmachung wurde erstmals mit 14 Monaten registriert. Am spätesten entwickeln
sich die prosozialen Verhaltensweisen Trösten und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten mit 16
Monaten. Bis zum Alter von 16 Monaten konnten also alle sechs untersuchten prosozialen
Verhaltensweisen mindestens ein Mal beobachtet werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Erstmanifestationsalter je nach Form von
prosozialem Verhalten beträchtlich unterscheidet: Während das Anbieten von Objekten bei zwei
Zielkindern mit 8 Monaten bereits im Verhaltensrepertoire vorhanden war, treten die Formen Trösten
und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten 8 Monate später erstmals auf. Alle untersuchten
prosozialen Verhaltensweisen entwickelten sich im Zeitraum zwischen 8 und 16 Monaten. Dies deutet
darauf hin, dass in diesem Altersabschnitt die für die Ausführung der verschiedenen prosozialen
Formen notwendigen sozio-kognitiven, emotionalen und selbstregulatorischen Voraussetzungen
erworben werden.
Kapitel 6: Ergebnisse
88
6. 2. 2. Verlauf bis zwei Jahre
Zuerst wird Hypothese H4: Die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens nimmt mit dem Alter der
Zielkinder zu, überprüft. Danach soll untersucht werden, welcher zeitliche Verlauf bis zwei Jahre bei
den einzelnen Formen von prosozialem Verhalten zu beobachten ist und ob sich die Verläufe je nach
Form voneinander unterscheiden.
In einem ersten Schritt wird der Verlauf der Summe des prosozialen Verhaltens deskriptiv dargestellt.
Die Summe setzt sich aus den Häufigkeiten der einzelnen Formen zusammen.
100
Summe prosoziales Verhalten
80
60
40
20
0
8
10
12
14
16
18
Alter Zielkind in Monaten
20
22
24
Abbildung 3. Verlauf des prosozialen Verhaltens von 8 – 24 Monate
Wie Abbildung 3 zeigt, nimmt die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens vom ersten Messzeitpunkt
bis zum Alter von 16 Monaten stark zu. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in diesem Zeitabschnitt
einerseits zu jedem Zeitpunkt jeweils verschiedene Formen von prosozialem Verhalten neu
dazukommen und andererseits die Häufigkeit der einzelnen Formen ebenfalls zunimmt. Mit 16
Monaten scheint jedoch eine Plattform erreicht zu sein: Ab diesem Zeitpunkt ist keine eindeutige
Zunahme mehr zu verzeichnen, allerdings auch keine klare Abnahme. Die Häufigkeiten von 16 bis 24
Monaten verlaufen vielmehr zickzackförmig mit wechselnden Zu- und Abnahmen.
Um zu überprüfen, ob der Anstieg in den ersten Messzeitpunkten und die nachfolgende Abflachung ab
dem Alter von 16 Monaten statistisch nachweisbar sind, wurden lineare gemischte Modelle mit einer
autoregressiven, heterogenen Kovarianzstruktur mit dem Messzeitpunkt als wiederholter Faktor, in
varianzanalytischen Designs als within-subject Faktor bezeichnet, gerechnet. Als Kontrollfaktoren
Kapitel 6: Ergebnisse
89
wurden das Geschlecht, die Häufigkeit des interaktiven Verhaltens, die Anzahl Konflikte, die vier
ICQ-Faktoren, das Ausbildungsniveau der Mutter, das Ausbildungsniveau des Vaters, die soziale
Schicht der Familie, der Geschwisterstatus (ja/nein) und eventuelle Gruppen- oder Krippenwechsel
(ja/nein) in das Modell einbezogen.
Der Faktor Messzeitpunkt hatte einen signifikanten Effekt auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder
(N = 28; F(8,
37)
= 18.02; p < .01). Um festzustellen, welche Messzeitpunkte sich voneinander
unterscheiden, wurden die Zeitpunkte paarweise miteinander verglichen. Tabelle 5 zeigt die
geschätzten Randmittel für die einzelnen Messzeitpunkte.
Tabelle 5
Geschätzte Randmittel des prosozialen Verhaltens
pro Messzeitpunkt
Messzeitpunkt
1
Randmittel
2
0.96
3
2.02
4
3.02
5
3.97
6
2.74
7
3.31
8
2.81
9
3.75
0.58
Die paarweisen Einzelvergleiche ergaben, dass ein signifikanter Anstieg des prosozialen Verhaltens
bis und mit dem fünften Messzeitpunkt zu verzeichnen ist. Die Mittelwerte der jeweiligen
Messzeitpunkte unterscheiden sich signifikant von den vorhergehenden. Lediglich die Zeitpunkte T3
und T4 unterscheiden sich nicht signifikant voneinander. Ab dem fünften Messzeitpunkt sind keine
signifikanten Zunahmen mehr nachweisbar, die Abnahmen zu den Zeitpunkten T6 und T8 sind
ebenfalls nicht signifikant. Die Resultate bestätigen somit den Eindruck des grafischen Verlaufs, dass
das prosoziale Verhalten bis mit dem fünften Messzeitpunkt zunimmt, danach aber auf dem gleichen
Niveau verbleibt.
Aufgrund dieser Resultate wird Hypothese H4 verworfen: Die Summe des prosozialen Verhaltens
steigt nicht bis 2 Jahre an.
Im Anschluss an den Verlauf der Summe des prosozialen Verhaltens wurden die Verläufe der
einzelnen Formen näher betrachtet.
Kapitel 6: Ergebnisse
90
Abbildung 4. Verlauf der verschiedenen Formen, differenziert nach dem Messzeitpunkt
Auf den ersten Blick fällt auf, dass sich die Verläufe der verschiedenen Formen stark voneinander
unterscheiden. Das Anbieten von Objekten, die mit Abstand am häufigsten gezeigte prosoziale
Verhaltensweise, nimmt bis zum fünften Messzeitpunkt zu, danach flacht die Linie jedoch ab und die
Häufigkeit scheint abzunehmen. Dieser Verlauf ähnelt demjenigen der Summe des prosozialen
Verhaltens, was damit zu erklären ist, dass das Anbieten von Objekten dort den grössten prozentualen
Anteil einnimmt. Der Abbildung ist weiter zu entnehmen, dass augenscheinlich nur das Assistieren im
Verlauf der Entwicklung ab dem vierten Messzeitpunkt trotz des Knicks beim siebten Zeitpunkt
konstant zunimmt, während bei den anderen Formen weder eine klare Zu-, noch eine Abnahme
auszumachen ist.
Um den optischen Eindruck statistisch zu überprüfen, wurden in einem nächsten Schritt für jede
prosoziale Form gemischte Modelle gerechnet. Als den Daten am Besten entsprechend erwies sich bei
allen Formen ausser der Wiedergutmachung die zusammengesetzt-symmetrische Kovarianzstruktur.
Bei der genannten Ausnahme entsprach eine autoregressive Struktur 1. Ordnung der vorliegenden
Datenlage optimal. Es wurden, mit Ausnahme der Kategorie prosoziales Verhalten gegenüber
Objekten, dieselben Faktoren und Kovariaten in die Modelle einbezogen wie bei der Berechnung des
zeitlichen Verlaufs der Summe des prosozialen Verhaltens. Beim prosozialen Verhalten mit
unbelebten Gegenständen als Adressat wurden die vier Faktoren des ICQ nicht ins Modell
aufgenommen, da dessen Anpassungsgüte ansonsten nicht gewährleistet gewesen wäre.
Kapitel 6: Ergebnisse
91
Tabelle 6
Haupteffekt Zeitpunkt, differenziert nach der prosozialen
Form
df
F
Objekt anbieten
8, 36
5.99**
Assistieren
8, 159
5.11**
Trösten
8, 151
2.29*
Zuneigung
8, 151
1.33
Wiedergutmachung
8, 156
1.50
Empfänger: Objekt
8, 175
1.54
Anmerkung. N = 28; **p < .01; *p < .05
Tabelle 6 zeigt die Resultate für die sechs untersuchten prosozialen Formen. Bei drei Formen
resultierten signifikante Haupteffekte des Messzeitpunkts, nämlich für Objekt anbieten, Assistieren
und Trösten. Für das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten und die Wiedergutmachung dagegen
konnte kein signifikanter Zeiteffekt nachgewiesen werden. Diese zwei Formen bewegen sich vielmehr
konstant auf einem niedrigen Niveau. Für die drei Formen, bei denen ein signifikanter Effekt
vorhanden war, wurden anschliessend die einzelnen Zeitpunkte paarweise verglichen.
Bei der Kategorie Objekt anbieten zeigten die Einzelvergleiche, dass die Zunahme lediglich bis zum
dritten Zeitpunkt signifikant ist. Obwohl die Häufigkeit des Anbietens von Objekten bis zum fünften
Zeitpunkt noch zunimmt, sind die Unterschiede zum dritten Zeitpunkt nicht mehr signifikant. Ebenso
wenig signifikant ist die augenscheinliche Abnahme nach dem fünften Zeitpunkt. Somit steigt die
Häufigkeit des Anbietens von Objekten bis 12 Monate an und verbleibt danach auf demselben Niveau.
Beim Assistieren unterscheiden sich die Mittelwerte der ersten vier Zeitpunkte nicht signifikant
voneinander, obwohl der Mittelwert ab dem dritten Messzeitpunkt ansteigt. Der Mittelwert des fünften
Messzeitpunktes dagegen ist signifikant höher als diejenigen der ersten drei. Die Mittelwerte der
Messzeitpunkte 4, 5, 6, 7 und 8 unterscheiden sich nicht signifikant voneinander, es ist also in dieser
Zeitspanne weder eine Zu- noch Abnahme feststellbar. Beim letzten Zeitpunkt dagegen ist wieder eine
signifikante Zunahme zu verzeichnen: Dieser Mittelwert ist mit einer Ausnahme signifikant höher als
diejenigen der vorhergehenden Zeitpunkte. Lediglich der Unterschied zum sechsten Messzeitpunkt ist
nicht signifikant.
Das Trösten wurde von einigen Zielkindern erstmals mit 16 Monaten gezeigt, also zum fünften
Messzeitpunkt. Die Häufigkeit dieses Messzeitpunkts war denn auch signifikant höher als die
vorherigen. Eine zweite Zunahme ist beim siebten Messzeitpunkt zu verzeichnen: Die Häufigkeiten
sind signifikant höher als diejenigen der vorhergehendenMesszeitpunkte. Für die letzten
Messzeitpunkte waren die Unterschiede nicht mehr signifikant. Es ist jedoch einschränkend
anzumerken, dass die Häufigkeit dieser Kategorie sehr gering ist.
Die Resultate zeigen, dass sich die Verläufe der verschiedenen Formen deutlich voneinander
unterscheiden: Bei drei Formen, der Wiedergutmachung, dem prosozialen Verhalten gegenüber
unbelebten Objekten sowie der Zuneigung, konnte kein Alterseffekt nachgewiesen werden. Allerdings
Kapitel 6: Ergebnisse
92
sind die Häufigkeiten der zwei erstgenannten Verhaltensweisen in der untersuchten Stichprobe sehr
gering. Einzig beim Assistieren ist eine beinahe konstante Zunahme über die Zeit zu verzeichnen, das
Anbieten von Objekten nimmt dagegen nur bis 12 Monate zu. Bei keiner der untersuchten Formen
erfolgte im Verlauf der neun Messzeitpunkte eine signifikante Abnahme der Häufigkeit.
6. 3. Häufigkeiten
Hier wurde Hypothese H5 geprüft, wonach die verschiedenen Formen prosozialen Verhaltens mit
unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Dazu wurde die Häufigkeit für jede prosoziale Form getrennt
berechnet und über die neun Messzeitpunkte aufsummiert (Abbildung 5).
400
Häufigkeit
300
200
100
0
Objekt
anbieten
Assistieren
Trösten
Wiedergutm Zuneigung Prosoziales
achung
Verhalten
gegenüber
Objekten
Abbildung 5. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Verhaltensweisen
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass das Anbieten von Objekten die mit Abstand häufigste Form
von prosozialem Verhalten ist, was sich mit Stanjeks (1978) Aussage deckt, dass es in diesem Alter
ein weit verbreitetes und typisches Verhalten ist. Über alle Messzeitpunkte hinweg wurden insgesamt
356 Mal Objekte angeboten. 112 Mal assistierten die Zielkinder; damit ist es nach dem Anbieten von
Objekten die häufigste Form, gefolgt von der Zuneigung, die bei den Zielkindern 59 Mal beobachtet
werden konnte. Selten kamen die übrigen untersuchten prosozialen Verhaltensweisen vor: Trösten
Kapitel 6: Ergebnisse
93
konnte 10 Mal beobachtet werden, Wiedergutmachung 12 Mal und prosoziales Verhalten gegenüber
unbelebten Gegenständen wie Puppen oder Teddys sechs Mal. Offensichtlich sind beim Trösten und
der Wiedergutmachung hemmende Faktoren wirksam. Dies wird verdeutlicht durch die Tatsache, dass
sich viele Gelegenheiten zum Trösten und zur Wiedergutmachung ergeben hatten: Insgesamt weinten
139 Mal Peers in Hörweite des Zielkindes, jedoch nur in 10 Fällen griff das Zielkind prosozial ein,
was einem Anteil von 7.2% entspricht. Insgesamt 326 Mal waren die Zielkinder über die neun
Messzeitpunkte hinweg in Konflikte involviert und somit ebenso viele Gelegenheiten zur
Wiedergutmachung vorhanden. Die Zielkinder zeigten dieses Verhalten jedoch lediglich 12 Mal, was
einem Anteil von 3.75% entspricht.
Abbildung 6. Prozentuale Anteile der verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten
Abbildung 6 zeigt die prozentualen Anteile der einzelnen Formen am gesamten prosozialen Verhalten.
Die Angaben beruhen auf den Mittelwerten, bei deren Berechnungen berücksichtigt wurde, dass die
verschiedenen Formen in der Entwicklung zu unterschiedlichen Zeitpunkten erstmals auftreten. Das
Anbieten von Objekten nimmt einen Anteil von 58% ein, das heisst, über die Hälfte des gesamten
prosozialen Verhaltens, gefolgt vom Assistieren mit 23% sowie der Zuneigung mit 11%. 92% des
gesamten prosozialen Verhaltens gehen also auf diese drei Formen zurück. Die restlichen Formen
Trösten und Wiedergutmachung machen je rund 3% des gesamten prosozialen Verhaltens aus, das
prosoziale Verhalten gegenüber Objekten 1.8%.
Die Verbreitung einer prosozialen Form wird neben der Auftretenshäufigkeit auch durch die Anzahl
Kinder einer Stichprobe, die diese Verhaltensweise zeigen, widerspiegelt. Deshalb wurde in einem
nächsten Schritt für jedes Zielkind separat berechnet, welche Formen von prosozialem Verhalten und
Kapitel 6: Ergebnisse
94
mit welcher Häufigkeit es diese über alle Messzeitpunkte hinweg zeigt. Die Resultate sind in
Abbildung 7 dargestellt.
Objekt anbieten
Assistieren
Trösten
Wiedergutmachung
Zuneigung
Empfänger Objekte
40
Häufigkeiten
30
20
10
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 21 22 23 24 25 26 27 28 30
Nummer ZK
Abbildung 7. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Formen pro Zielkind
Es gibt kein Kind in der Stichprobe, das niemals prosozial gehandelt hat: Jedes Zielkind zeigte
mindestens zwei Mal prosoziales Verhalten. Weiter ist der Grafik zu entnehmen, dass bei allen
Zielkindern mindestens zwei verschiedene Formen von prosozialem Verhalten beobachtet werden
konnten. Im Durchschnitt zeigte jedes Zielkind 3.4 verschiedene Formen. Dies zeigt, dass die
Zielkinder bis zum Alter von zwei Jahren ein breites Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen zur
Verfügung haben. Allerdings bestehen zwischen den Zielkindern erhebliche Unterschiede: Während
einige Zielkinder fünf oder alle untersuchten prosozialen Formen zeigten, waren bei anderen
Zielkindern lediglich zwei verschiedene Formen beobachtbar.
Das Anbieten von Objekten wurde als einzige Form von allen Zielkindern mindestens ein Mal gezeigt.
Auch Assistieren und Zuneigung wurden von einer grossen Zahl der Kinder ausgeführt: 26 von 28
Kinder assistierten mindestens ein Mal im Verlauf der neun Messzeitpunkte, was einem prozentualen
Anteil von 93% entspricht. 82% der Zielkinder, also 23, zeigten mindestens ein Mal ihre Zuneigung.
Auch hier wird ersichtlich, dass die genannten Verhaltensweisen nicht nur häufig vorkommen,
sondern auch ein grosser Teil der Kinder diese Formen von prosozialem Verhalten zeigt. Obwohl die
Wiedergutmachung eine geringe Häufigkeit aufweist (12), verteilt sich diese Verhaltensweise auf zehn
Zielkinder. Über ein Drittel (36%) der Kinder zeigten somit mindestens ein Mal wiedergutmachendes
Kapitel 6: Ergebnisse
95
Verhalten. Dagegen versuchten lediglich fünf Kinder (18%) der Stichprobe mindestens ein Mal,
andere zu trösten. Noch geringer fällt diese Zahl beim prosozialen Verhalten gegenüber Objekten aus:
vier Kinder resp. 14% zeigten diese Verhaltensweise.
Aufgrund dieser Resultate wird Hypothese H5 angenommen: Die Häufigkeiten des prosozialen
Verhaltens unterscheidet sich je nach Form stark. Alle Zielkinder boten mindestens ein Mal Objekte
an, diese Verhaltensweise war in der Stichprobe die mit grossem Abstand am häufigsten zu
beobachtende Form. Die zweithäufigste prosoziale Verhaltensweise war das Assistieren, 92% der
Zielkinder unterstützten mindestens ein Mal andere Personen. Ebenfalls häufig war das Zeigen von
Zuneigung zu beobachten, das den dritten Rang belegte und von 82% der Kinder ausgeführt wurde.
Nur 6 Mal dagegen wurde gegenüber einem unbelebten Objekt prosozial gehandelt, ebenfalls mit
geringer Häufigkeit kamen die Wiedergutmachung und das Trösten vor.
6. 4. Geschlechtsunterschiede
Um zu überprüfen, ob Hypothese H6: Es zeigen sich keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der
Häufigkeit des prosozialen Verhaltens zutrifft, wurden lineare gemischte Modelle mit einer
autoregressiven, heterogenen Kovarianzstruktur und den Faktoren Geschlecht und Zeitpunkt
gerechnet. Als Kontrollvariablen wurden die Häufigkeit des interaktiven Verhaltens, die Anzahl
Konflikte, die vier Faktoren des ICQ, das Ausbildungsniveau der Mutter sowie des Vaters, die soziale
Schichtzugehörigkeit der Familie, die dichotomisierte Variable Geschwister (ja/nein) sowie ein
allfälliger Gruppen- oder Krippenwechsel (ja/nein) in das Modell aufgenommen. Es zeigte sich ein
signifikanter Haupteffekt des Geschlechts (N = 28, F
(1, 53)
= 8.43, p < .01): Mädchen handelten
häufiger prosozial als Jungen. Des Weiteren war die Interaktion zwischen den Faktoren Geschlecht
und Zeitpunkt signifikant (N = 28, F
(8, 31)
= 2.39; p < .05). Deshalb wurden im Anschluss
Einzelvergleiche der Werte der Jungen und Mädchen zu den verschiedenen Zeitpunkten durchgeführt.
Tabelle 7 zeigt die geschätzten Randmittel des prosozialen Verhaltens pro Zeitpunkt für die Jungen
und Mädchen.
Kapitel 6: Ergebnisse
96
Tabelle 7
Geschätzte Randmittel T1 – T9, differenziert nach dem Geschlecht des Zielkindes
Geschätzte Randmittel
Messzeitpunkt
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Männlich
0.58
0.90
1.43
1.74
1.95
2.68
3.31
2.53
2.94
Weiblich
0.58
1.02
2.43
3.79
5.10
2.80
3.36
2.98
4.20
Anmerkung. N = 17 Mädchen und 11 Jungen
Die Mittelwertunterschiede sind nicht zu allen Messzeitpunkten gleich gross: Zu den ersten zwei
Zeitpunkten sind die Unterschiede gering, bei den folgenden drei Messzeitpunkten weisen die
Mädchen jedoch deutlich höhere Werte auf als die Jungen. Zu den Zeitpunkten 6, 7 und 8 sinken die
Mittelwerte der Mädchen ab und die Differenz zu den Jungen, deren Mittelwerte bis zum siebten
Messezeitpunkt ansteigen, wird kleiner. Während der Mittelwert der Jungen beim letzten
Messzeitpunkt nur leicht ansteigt, ist bei den Mädchen eine markante Zunahme zu verzeichnen.
Zur Verdeutlichung der Interaktion der Faktoren Geschlecht und Zeitpunkt zeigt Abbildung 8 die
Resultate in grafischer Form.
5.00
männlich
weiblich
Randmittel
4.00
3.00
2.00
1.00
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Messzeitpunkt
Abbildung 8: Zeitlicher Verlauf der geschätzten Randmittel, differenziert nach dem Geschlecht
Kapitel 6: Ergebnisse
97
Hier ist deutlich sichtbar, dass sich die Mittelwerte der Jungen und Mädchen in den ersten zwei
Zeitpunkten und zu den Zeitpunkten 6, 7 und 8 nur geringfügig voneinander unterscheiden. Zu den
Zeitpunkten 3 bis 5 ist bei den Mädchen eine sprunghafte Zunahme sichtbar, nicht jedoch bei den
Jungen, bei denen das prosoziale Verhalten kontinuierlich zunimmt. Im weiteren Verlauf ist bei den
Mädchen eine ebenso grosse Abnahme zu den Zeitpunkten 6 bis 8 beobachtbar, während die Linie bei
den Jungen bis zum siebten Zeitpunkt ansteigt, danach aber absinkt. Beim letzten Messzeitpunkt ist
sowohl für Jungen wie für Mädchen wieder eine Zunahme zu verzeichnen, die jedoch bei den
Mädchen höher ausfällt.
Um Hypothese H7, wonach sich keine Geschlechtsunterschiede bei den verschiedenen Formen von
prosozialem Verhalten zeigen, zu überprüfen, wurden mit Ausnahme der Wiedergutmachung für jede
Form lineare gemischte Modelle mit einer zusammengesetzt-symmetrischen Kovarianzstruktur
gerechnet, wobei dieselben Faktoren und Kovariaten in die Modelle miteinbezogen wurden wie oben
beschrieben. Für die Wiedergutmachung erwies sich im Gegensatz zu den anderen Formen eine
autoregressive Kovarianzstruktur als den vorliegenden Daten am Besten entsprechend.
Tabelle 8
Haupteffekt Geschlecht pro prosoziale Form
Form
df
F
Objekt anbieten
26
7.71**
Assistieren
39
9.11**
Trösten
28
4.35*
Wiedergutmachung
63
0.10
Zuneigung
26
4.31*
Empfänger: Objekt
24
1.28
Anmerkung. N = 28; **p < .01; *p < .05
Bei vier Formen zeigten sich signifikante Haupteffekte des Geschlechts, nämlich beim Anbieten von
Objekten, dem Assistieren, der Zuneigung sowie dem Trösten. Mit Ausnahme der Zuneigung, wo die
Jungen höhere Mittelwerte aufwiesen, zeigten die Mädchen die genannten Formen signifikant häufiger
als die Jungen. Allerdings ergab bei der Kategorie Zuneigung eine Ausreisserkontrolle, dass sich mehr
als ein Drittel dieser Verhaltensweise auf einen einzigen Jungen verteilte. Um eine Verzerrung der
Resultate zu vermeiden, wurde er aus der Analyse ausgeschlossen und die gemischten Modelle
nochmals gerechnet. Nun konnte kein Haupteffekt des Geschlechts mehr nachgewiesen werden (N =
27; F(1, 29) = 0.004, p = .950).
Als
nächstes
wurde
der
Frage
nachgegangen,
ob
sich
Geschlechtsunterschiede
im
Erstmanifestationsalter zeigen. Dieses wurde für Jungen und Mädchen getrennt berechnet. Sowohl bei
den Jungen wie auch den Mädchen zeigten einzelne Kinder das Anbieten von Objekten mit 8
Kapitel 6: Ergebnisse
98
Monaten, ebenso Zuneigung zeigen mit 10 Monaten. Während die Mädchen jedoch das Assistieren
erstmals mit 12 Monaten zeigten, war dies bei den Jungen erst mit 14 Monaten der Fall. Die Formen
Trösten, Wiedergutmachung sowie prosoziales Verhalten gegenüber von Objekten wurden bei den
Mädchen erstmals mit 16 Monaten beobachtet, bei den Jungen die Wiedergutmachung mit 14
Monaten, das Trösten mit 18 Monaten sowie prosoziales Verhalten gegenüber Objekten mit 20
Monaten. Mädchen zeigen also drei Formen von prosozialem Verhalten - Assistieren, Trösten und
prosoziales Verhalten gegenüber Objekten - früher als Jungen. Bei diesen liess sich die
Wiedergutmachung früher beobachten als bei den Mädchen. Allerdings kamen das Trösten, die
Wiedergutmachung sowie das Anbieten von Objekten in der Stichprobe mit sehr geringer Häufigkeit
vor, weshalb diese Unterschiede auf zufällige Schwankungen zurückzuführen sein könnten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich beim Anbieten von Objekten sowie der Zuneigung
keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich des Erstmanifestationsalters zeigen. Bei den Mädchen
liessen sich jedoch das Assistieren, das Trösten sowie das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten
früher beobachten als bei den Jungen. Die Jungen hingegen zeigten die Wiedergutmachung bereits mit
14 Monaten, die Mädchen erst mit 16 Monaten. Bei den Häufigkeiten fielen mit Ausnahme des
Zeigens von Zuneigung alle signifikanten Geschlechtsunterschiede zugunsten der Mädchen aus: Diese
handelten nicht nur insgesamt häufiger prosozial, sondern zeigten auch die drei Formen Objekte
anbieten, Assistieren sowie Trösten häufiger als die Jungen. Aufgrund dieser Resultate werden die
Hypothesen H6 und H7, wonach keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich des aufsummierten
prosozialen Verhaltens bzw. bei den verschiedenen Formen existieren, verworfen.
6. 5. Sozialer Stil und prosoziales Verhalten
Es wurden Hypothese H8: Gesellige Kinder handeln häufiger prosozial als zurückgezogene Kinder
sowie Hypothese H9: Assertive Kinder handeln häufiger prosozial als submissive Kinder überprüft.
Als Reflektion der Geselligkeit der Zielkinder wurde die Häufigkeit ihrer Interaktionen mit anderen
festgelegt, Assertivität dagegen sollte zu häufigeren Konflikten mit anderen führen. Kinder mit vielen
Konflikten und vielen Interaktionen sollten also häufiger prosozial handeln als Kinder, die wenig
Konflikte aufweisen und häufiger solitäre Verhaltensweisen zeigen.
Um diese Annahmen zu prüfen, wurden lineare gemischte Modelle mit einer autoregressiven,
heterogenen Kovarianzstruktur gerechnet. Als Faktoren bzw. Kovariaten wurden der Messzeitpunkt,
die Häufigkeit der Konflikte und der Interaktionen festgelegt, die vier ICQ Faktoren, das Geschlecht,
das Ausbildungsniveau der Mutter bzw. des Vaters, die soziale Schichtzugehörigkeit der Familie, der
Geschwisterstatus (Geschwister ja/nein) sowie eventuelle Gruppen- oder Krippenwechsel (Wechsel
ja/nein) wurden als Kontrollvariablen ins Modell eingeführt. Lediglich der Haupteffekt Konflikt fiel
Kapitel 6: Ergebnisse
99
signifikant aus (N = 28, F(1, 6) = 8.7, p < .05), nicht jedoch derjenige des interaktiven Verhaltens (N =
28, F(1,
5)
= 0.25). Zielkinder, die häufig in Konflikte involviert sind, zeigen häufiger prosoziales
Verhalten. Entgegen den Annahmen hatte die Geselligkeit keinen Einfluss auf das prosoziale
Verhalten. Signifikante Interaktionen mit dem Geschlecht, dem Zeitpunkt sowie zwischen Konflikten
und interaktivem Verhalten konnten keine nachgewiesen werden.
Aufgrund dieser Resultate wird Hypothese H8 verworfen: Gesellige Kinder handeln nicht häufiger
prosozial als Kinder mit wenig Interaktionen. Hypothese H9 dagegen wird angenommen: Assertive
Kinder mit eine hohen Konflikthäufigkeit handeln häufiger prosozial als solche mit wenig Konflikten.
In einem zweiten Schritt wurden für jede prosoziale Form lineare gemischte Modelle mit einer
zusammengesetzt-symmetrischen Kovarianzstruktur resp. einer autoregressiven Struktur im Fall der
Wiedergutmachung gerechnet. Es wurden dieselben Faktoren und Kontrollvariablen wie zur
Überprüfung der Hypothesen H8 und H9 in die Modelle aufgenommen.
Tabelle 9
Tests auf feste Effekte für jede prosoziale Form
Konflikt
df
Objekt anbieten
F
Interaktionen
df
F
23
47.75**
22
0.07
Assistieren
161
0.01
152
0.03
Trösten
171
0.14
170
6.40*
Wiedergutmachung
112
7.64**
121
5.57*
Zuneigung
156
8.09**
142
12.79**
Empfänger: Objekt
108
0.32
130
4.21*
Anmerkung. N = 28; **p < 0.01, *p < 0.05
Wie Tabelle 9 zeigt, konnte kein einheitlicher Einfluss der Faktoren Konflikt und interaktives
Verhalten auf die einzelnen Formen nachgewiesen werden. Je nach Form von prosozialem Verhalten
gab es keine signifikanten Effekte, einen oder zwei signifikanten Haupteffekte:
Kinder mit häufigen Konflikten boten häufiger Objekte an, die Anzahl Interaktionen dagegen hatte
keinen Einfluss auf dieses Verhalten. Hinsichtlich des Assistierens konnte kein signifikanter
Haupteffekt nachgewiesen werden: Weder die Häufigkeit der Konflikte, noch die Häufigkeit der
Interaktionen hatten hier einen Einfluss. Beim Trösten und dem prosozialen Verhalten gegenüber
Objekten dagegen war der Haupteffekt Häufigkeit des interaktiven Verhaltens signifikant. Gesellige
Kinder mit häufigen Kontakten zeigen häufiger tröstendes Verhalten und prosoziales Verhalten
gegenüber unbelebten Objekten. Bei der Wiedergutmachung und der Zuneigung übten sowohl die
Konflikte wie auch die Interaktionen einen signifikanten Einfluss aus: Gesellige und assertive Kinder
zeigten diese Verhaltensweisen häufiger als eher submissive und zurückgezogene Kinder.
Kapitel 6: Ergebnisse
100
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Anzahl Konflikte und Interaktionen auf die
einzelnen Formen von prosozialem Verhalten einen unterschiedlichen Einfluss ausüben: Gesellige
Kinder zeigen häufiger die Formen Trösten und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten,
durchsetzungsfähige Kinder dagegen häufiger die Formen Objekt anbieten. Wiedergutmachung und
Zuneigung zeigten sowohl assertive wie auch gesellige Kinder häufiger. Auf das Assistieren hatte
weder die Geselligkeit noch die Assertivität einen signifikanten Einfluss.
6. 6. Temperament und prosoziales Verhalten
Hier sollte überprüft werden, ob Hypothese H10 zutrifft, wonach Kinder mit eine so genannt einfachen
Temperament
prosozialer
sind
als
Kinder
mit
einem
schwierigen
Temperament.
Die
Temperamentseinschätzungen wurden sowohl von den Erzieherinnen wie auch von der Mutter und
dem Vater der Zielkinder mittels des Infant Characteristics Questionnaire (Bates et al., 1979)
vorgenommen. Die Einschätzungen der Erzieherinnen wurden zu jedem Messzeitpunkt erhoben,
diejenigen der Eltern zum ersten, vierten und siebten Messzeitpunkt. Für die Analysen wurde der
Faktor fussy-difficult verwendet. Er widerspiegelt das Konzept des einfachen bzw. schwierigen
Temperaments, zudem erwies er sich in den von Bates et al. (1979) durchgeführten Faktorenanalysen
als einziger stabiler Faktor.
Für die Einschätzungen der Erzieherinnen wurden lineare gemischte Modelle mit einer
autoregressiven Kovarianzstruktur erster Ordnung mit den vier Faktoren des ICQ, dem Messzeitpunkt,
dem Geschlecht des Zielkindes, den Anzahl Konflikten und Anzahl Interaktionen, der Ausbildung des
Vaters und der Mutter, der sozialen Schicht der Familie, dem Faktor Krippen- bzw. Gruppenwechsel
(ja/nein) sowie dem Faktor Geschwister (ja/nein) gerechnet. Für den Faktor fussy-difficult (N = 28, F(6)
= 1.96, p = .164) konnte weder ein signifikanter Haupteffekte noch signifikante Interaktionen mit den
drei anderen ICQ-Faktoren nachgewiesen werden.
Im Zusammenhang mit Hypothese H10 wurden als nächstes für die Einschätzungen des Vaters sowie
der
Mutter
ebenfalls
lineare
gemischte
Modelle
gerechnet,
hier
mit
einer
diagonalen
Kovarianzstruktur. Da die Einschätzungen der Eltern zu den Zeitpunkten T1, T4 und T7 vorlagen,
wurden nur die genannten Zeitpunkte in die Analysen miteinbezogen. Es wurden die vier ICQFaktoren, das Geschlecht des Zielkindes sowie der Messzeitpunkt als Faktoren ins Modell
miteinbezogen. Weder für die Einschätzungen der Mutter (N = 25, F(49) = 0.11, p = .743) noch für
diejenigen des Vaters (N = 25, F(45) = 3.84, p = .056) konnten signifikante Haupteffekte des Faktors
fussy-difficult nachgewiesen werden. Bei den Einschätzungen der Väter zeigten sich Tendenzen. Für
die Einschätzungen der Mutter gab es keine signifikanten Interaktionen mit den anderen Faktoren, bei
den Einschätzungen des Vaters eine signifikante 2-Weg-Interaktion zwischen fussy-difficult und dull
Kapitel 6: Ergebnisse
101
(N = 25, F(51) = 4.97, p < .05). Demnach handeln Kinder, die von ihren Vätern als aktiv, fröhlich und
gesellig eingeschätzt werden, gepaart mit dem Merkmal leichtes Temperament, prosozialer als solche,
die von ihren Vätern gegenteilig beschrieben werden. Allerdings lagen von den Vätern nur wenige
Einschätzungen vor, so dass diese Resultate auf einer schmalen Datenbasis gründen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich kein Einfluss eines einfachen Temperaments des
Kindes auf das prosoziale Verhalten nachweisen lässt. Weder für die Einschätzung der Erzieherinnen
noch für diejenigen von Mutter und Vater des Zielkindes wurden signifikante Haupteffekte gefunden.
Allerdings gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen den Einschätzungen des Vaters und
dem prosozialen Verhalten des Kindes, wenn die Interaktion mit dem Faktor dull berücksichtigt wird:
Kinder, die von ihren Vätern als aktiv und gesellig sowie einfach eingeschätzt werden, handeln
häufiger prosozial. Aufgrund dieser Resultate wird Hypothese H10 verworfen: Kinder mit einem
einfachen Temperament handeln nicht häufiger prosozial als Kinder mit einem schwierigen
Temperament.
6. 7. Zusammenhang zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und dem
prosozialem Verhalten
Hier wurde der Frage nachgegangen, ob die Selbsterkennung eine notwendige Bedingung für das
prosoziale Verhalten darstellt. Der Stand der Ich-Andere-Unterscheidung wurde im Alter von 20
Monaten mit dem Rouge-Test erhoben. Diejenigen Kinder, die eindeutig Bezug auf den Fleck auf der
Wange nahmen, sich also selbst an die Wange in die Richtung des Punkts griffen, wurden als Erkenner
eingestuft. Alle übrigen Kinder, die keine Reaktion auf den Fleck zeigten, nach dem Fleck im Spiegel
griffen oder Vermeidungsverhalten zeigten, wurden als Nicht-Erkenner eingestuft. Somit resultierten
zwei Gruppen: Erkenner und Nicht-Erkenner. Von den 28 Zielkindern konnten die Daten von 26
verwendet werden. Mit einem Zielkind wurde der Rouge-Test nicht durchgeführt, beim anderen
Zielkind wurde der Rouge-Test zwar zu Hause durchgeführt, da es aber ab dem siebten Messzeitpunkt
nicht mehr familienergänzend betreut wurde, gab es keine entsprechenden Daten zum prosozialen
Verhalten. Da wir den Rouge-Test querschnittlich zum Zeitpunkt T7 durchgeführt hatten, wurden für
die Analysen der siebte Messzeitpunkt bzw. die Messzeitpunkte 7 bis 9 verwendet.
Als erstes wurden lineare gemischte Modelle ohne Messwiederholung mit der Summe des prosozialen
Verhaltens zum siebten Messzeitpunkt als abhängige Variable und dem Ergebnis des Rouge-Tests als
Faktor gerechnet. Der Haupteffekt des Rouge-Tests war trotz eines leicht höheren Mittelwertes der
Kinder, die sich im Spiegel erkannten, nicht signifikant (N = 26; F(26) = 0.38; p = .543). Somit zeigten
Kinder, die sich im Spiegel erkannten, nicht häufiger prosoziales Verhalten als solche, die sich nicht
erkannten.
Kapitel 6: Ergebnisse
102
Die Ich-Andere-Unterscheidung wird in der Theorie jedoch für bestimmte Formen des prosozialen
Verhaltens als Voraussetzung genannt, nämlich für diejenigen, bei denen die Empathie involviert ist
(Bischof-Köhler, 1994). Deshalb wurden für jede prosoziale Form des siebten Messzeitpunktes
getrennte Analysen durchgeführt. Für das Trösten wurden die Mittelwerte der Zielkinder, die sich
erkannten hatten und denjenigen, die sich nicht erkannt hatten, mit einem T-Test für unabhängige
Stichproben verglichen. Die Mittelwerte unterschieden sich nicht signifikant voneinander (T(24) = 0.98; p = .338). Als nächstes wurde für die Wiedergutmachung ein T-Test für unabhängige
Stichproben gerechnet, wobei die Signifikanzgrenze deutlich verfehlt wurde (T(24) = -1.61; p = .121).
Für das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten wurde ein T-Test durchgeführt (T(24) = -0.98; p =
.338), für die Formen Objekt anbieten (U = 58.5; p = .193), Zuneigung (U = 63.0; p = .494) sowie
Assistieren (U = 76.5; p = .705) wurden aufgrund der sowohl unterschiedlichen Gruppengrössen wie
auch ungleichen Varianzen U-Tests gerechnet, wobei keiner der Tests signifikant ausfiel. Ebenso
wenig signifikant war der T-Test für unabhängige Stichproben, wenn die Mittelwerte der beiden
empathischen Verhaltensweisen Trösten und Wiedergutmachung aufsummiert wurden (T(24) = -1.37; p
= .183).
In einem nächsten Schritt wurde überprüft, ob die Ich-Andere-Unterscheidung einen Einfluss auf den
siebten bis neunten Messzeitpunkt hat. Dazu wurden lineare gemischte Modelle für die Zeitpunkte T7
bis T9 mit einer zusammengesetzt-symmetrischen Kovarianzstruktur und dem prosozialen Verhalten
als abhängige Variable sowie dem Rouge-Test als Faktor gerechnet. Wie sich zeigte, unterschieden
sich die Mittelwerte der Erkenner und Nicht-Erkenner nicht signifikant voneinander (N = 26; F(24) =
0.24; p = .626). Aus diesen Resultaten kann geschlossen werden, dass kein Einfluss der Ich-AndereUnterscheidung auf das prosoziale Verhalten nachweisbar ist. Ebenso wenig konnte ein Einfluss auf
empathische prosoziale Verhaltensweisen wie das Trösten und die Wiedergutmachung nachgewiesen
werden.
Nach Bischof-Köhler (1989) ist die Ich-Andere-Unterscheidung eine notwendige, aber nicht
hinreichende Bedingung für empathisches Verhalten. Dies bedeutet, dass nur solche Kinder helfend
eingreifen sollten, die sich im Spiegel erkennen, nicht jedoch solche, die die Ich-AndereUnterscheidung noch nicht getroffen haben, sich im Spiegel also nicht erkennen. In ihrer Studie
erkannten sich sämtliche Kinder, die im Empathie-Test halfen, im Spiegel. Dagegen zeigte kein
einziges Kind, das sich im Spiegel nicht erkannt hatte, empathisches Verhalten. Diese Annahmen von
Bischof-Köhler wurden als nächstes überprüft.
Abbildung 9 zeigt die Anzahl Zielkinder, die tröstendes oder wiedergutmachendes Verhalten zum
Zeitpunkt T7 zeigen, differenziert nach den Resultaten des Rouge-Tests (erkannt, nicht erkannt).
Kapitel 6: Ergebnisse
103
4
Anzahl Zielkinder
3
erkannt
2
nicht erkannt
1
0
Ergebnis Rouge-Test
Abbildung 9. Anzahl Erkenner und Nicht-Erkenner, die empathisches Verhalten zeigen
Wie der Abbildung zu entnehmen ist, zeigte ein Kind, das sich im Spiegel erkannt hatte, zum siebten
Messzeitpunkt empathisches Verhalten. Aus der Gruppe der Nicht-Erkenner trösteten sogar drei
Kinder oder leisteten Wiedergutmachung. Der von Bischof-Köhler (1994) postulierte Zusammenhang
zwischen der Ich-Andere-Unterscheidung und dem prosozialen Verhalten konnte also in der
untersuchten Stichprobe nicht nachgewiesen werden.
6. 8. Interindividuelle Unterschiede
Um die Frage zu beantworten, ob sich die Zielkinder hinsichtlich der Häufigkeit des prosozialen
Verhaltens voneinander unterscheiden, wurde ein Chi-Quadrat-Test über alle Zeitpunkte hinweg
durchgeführt. Hier wird überprüft, ob sämtliche Zielkinder den gleichen Anteil an prosozialem
Verhalten über alle Messzeitpunkte hinweg aufweisen. Wenn das prosoziale Verhalten in der
Stichprobe gleichverteilt ist, sollten die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Zielkinder also
nicht signifikant voneinander abweichen. Der Chi-Quadrat fiel jedoch signifikant aus (N = 28, χ2 =
86.72, df = 26, p< .01), die Zielkinder unterscheiden sich hinsichtlich der Häufigkeit von prosozialem
Verhalten voneinander.
In einem nächsten Schritt sollte untersucht werden, ob sich die Zielkinder in ihrem zeitlichen Verlauf
des prosozialen Verhaltens voneinander unterscheiden. Dazu wurden jeweils drei Messzeitpunkte zu
einer Einheit zusammengefasst, so dass schliesslich mit den Zeitpunkten 1 - 3, 4 - 6 und 7 - 9
gerechnet wurde. Als abhängige Variable wurde die Summe der drei am häufigsten vorkommenden
prosozialen Verhaltensweisen Objekt anbieten, Zuneigung sowie Assistieren festgelegt. Anschliessend
wurde für jede der drei zeitlichen Einheiten Chi-Quadrat-Tests durchgeführt.
Kapitel 6: Ergebnisse
104
Tabelle 10
Chi-Quadrat-Test, differenziert nach dem Messzeitpunkt
Statistik
Messzeitpunkt
df
Chi-Quadrat
1–3
15
18.14
4–6
26
68.57**
7–9
26
79.69**
Anmerkung. N = 28; **p < .01
Tabelle 10 zeigt die Resultate des Tests, differenziert nach den drei definierten Zeiteinheiten. Darin
wird sichtbar, dass der Test für die erste Zeiteinheit, also die Messzeitpunkte 1 - 3, nicht signifikant
ausfällt. Dies bedeutet, dass sich die Zielkinder in den ersten drei Messzeitpunkten hinsichtlich der
Häufigkeit der drei genannten prosozialen Formen nicht voneinander unterscheiden. Die Chi-QuadratTests für die folgenden zwei zeitlichen Einheiten, den Messzeitpunkten 4 - 6 sowie 7 - 9, fallen
signifikant aus. Somit unterscheiden sich die Zielkinder bis zum Alter von 12 Monaten hinsichtlich
der Häufigkeit der drei häufigsten Formen von prosozialem Verhalten nicht voneinander. Bei den
folgenden Zeitpunkten 4 - 6 und 7 - 9 dagegen war das prosoziale Verhalten nicht mehr gleichverteilt.
20
Häufigkeit
15
10
5
0
Zeitpunkte 1 – 3
Zeitpunkte 4 – 6
Zeitpunkte 7 – 9
Abbildung 10. Zeitlicher Verlauf der drei häufigsten Formen pro Zielkind
Abbildung 10 verdeutlicht diese Entwicklung grafisch. So ist bei der ersten Zeiteinheit zu sehen, dass
die Streuung klein ist und die drei hier untersuchten Formen von einem Grossteil der Zielkinder nur
Kapitel 6: Ergebnisse
105
selten oder nie gezeigt werden. Bei den zwei darauf folgenden Zeiteinheiten dagegen sind die
Unterschiede in den Häufigkeiten zwischen den einzelnen Zielkindern grösser. Weiter unterscheiden
sich die Zielkinder in ihrem Muster des zeitlichen Verlaufs voneinander. Von der ersten zur zweiten
untersuchten Zeiteinheit nimmt das prosoziale Verhalten bei einem Grossteil der Zielkinder in der
Häufigkeit zu, danach aber sind die Verläufe sehr unterschiedlich: Während bei einigen Zielkindern
eine erneute Zunahme von der zweiten zur dritten untersuchten Zeiteinheit zu beobachten ist, ist der
Verlauf bei anderen Zielkindern gegensätzlich und die Häufigkeit nimmt ab. Das Ausmass der Zuoder Abnahmen wiederum ist bei den verschiedenen Zielkindern ebenfalls unterschiedlich gross.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Zielkinder nicht nur in der Häufigkeiten der drei
am häufigsten vorkommenden Formen von prosozialem Verhalten unterscheiden, sondern auch
unterschiedliche Entwicklungsverläufe aufweisen.
In einem nächsten Schritt wurde für jede der drei häufigsten Formen Objekt anbieten, Assistieren und
Zuneigung untersucht, ob sich die Zielkinder über alle Zeitpunkte hinweg und in ihren
Entwicklungsverläufen voneinander unterscheiden. Dazu wurde für das Anbieten von Objekten, dem
Assistieren und der Zuneigung je ein Chi-Quadrat-Test mit den Messzeitpunkten 1 - 3, 4 - 6 , 7 - 9
sowie 1 - 9 gerechnet.
Tabelle 11
Chi-Quadrat-Test, differenziert nach Messzeitpunkt und prosozialer Form
Prosoziale Form
Objekt anbieten
Messzeitpunkt
Assistieren
Zuneigung
df
χ2
df
χ2
df
χ2
1–3
13
15.18
1
0.00
6
2.00
4–6
26
85.93**
20
24.00
12
8.10
7–9
24
71.97**
24
27.01
12
18.00
1-9
27
136.52**
25
38.17*
22
47.42**
Anmerkung. N = 28, *p < .05, **p < .01
Wie Tabelle 11 verdeutlicht, ist die Häufigkeit über alle Zeitpunkte hinweg (Messzeitpunkte 1 - 9) bei
den drei Formen nicht gleichmässig auf die 28 Zielkinder verteilt: Die Zielkinder unterscheiden sich
signifikant in der Häufigkeit, mit der sie das Anbieten von Objekten, das Assistieren sowie Zuneigung
zeigen.
Dagegen waren die Chi-Quadrat-Tests der drei Messzeitpunkte 1 - 3, 4 - 6 sowie 7 - 9 beim Zeigen
von Zuneigung und dem Assistieren nicht signifikant. Beim Anbieten von Objekten war der ChiQuadrat-Test bei der ersten Zeiteinheit ebenfalls nicht signifikant, bei den folgenden zwei
Messeinheiten jedoch war das Anbieten von Objekten nicht mehr gleichmässig auf die Zielkinder
Kapitel 6: Ergebnisse
106
verteilt. Die Zielkinder zeigen dieses Verhalten ab dem zweiten Lebensjahr also mit unterschiedlicher
Häufigkeit.
Drei Formen von prosozialem Verhalten – Trösten, Wiedergutmachung und prosoziales Verhalten
gegenüber Objekten – kamen mit geringer Häufigkeit vor. Als nächstes sollte deshalb herausgefunden
werden, ob Zielkinder, die die genannten Verhaltensweisen zeigen, sich hinsichtlich ihrer Merkmale
von denjenigen Zielkindern unterscheiden, bei denen diese Formen von prosozialem Verhalten nicht
beobachtet wurden. Dazu wurden die Zielkinder, die diese Formen zeigten, auf folgende Merkmale
hin untersucht: Geschwisterstatus (Geschwister ja/nein), Rouge-Test (erkannt/nicht erkannt),
Entwicklungsstand (Griffith), Häufigkeit des prosozialen Verhaltens sowie Anzahl verschiedene
Formen von prosozialen Verhalten. Auf die Faktoren Geschlecht sowie Häufigkeit der Konflikte und
Interaktionen wird an dieser Stelle und ebenso für die Formen Wiedergutmachung und prosoziales
Verhalten
gegenüber
Objekten
nicht
mehr
eingegangen,
da
sie
bereits
bei
den
Geschlechtsunterschieden resp. dem sozialen Stil behandelt wurden.
Trösten verteilte sich auf fünf verschiedene Zielkinder, wobei drei Zielkinder dieses Verhalten je 1
Mal, ein Zielkind 2 Mal und ein Zielkind sogar fünf Mal zeigten. Damit zeigte ein einziges Zielkind
die Hälfte des in der gesamten Stichprobe vorkommenden Tröstens.
Tabelle 12
Merkmale der Zielkinder, die Trösten
Nummer
Zielkind
Griffith
Geschwister
Ergebnis
Rouge-Test
5
85
ja
nicht erkannt
10
100
nein
erkannt
12
105
nein
erkannt
21
107
ja
nicht erkannt
22
117
ja
nicht erkannt
Anmerkung. n = 5
Tabelle 12 zeigt die Merkmale der Zielkinder, die mindestens ein Mal im Verlauf der neun
Messzeitpunkte trösteten. Beim allgemeinen Entwicklungsstand, der einmalig im Alter von 16
Monaten erhoben wurde, lassen sich mit Ausnahme des Zielkindes 22, das überdurchschnittlich weit
entwickelt ist, keine Auffälligkeiten feststellen. Auch hinsichtlich des Geschwisterstatus ist kein
systematisches Muster erkennbar. Drei der Zielkinder haben mindestens ein Geschwister, während die
restlichen Zielkinder Einzelkinder sind. Obwohl verschiedene Autoren wie z. B. Bischof-Köhler
(1989) die Ich-Andere-Unterscheidung als notwendige Bedingung für die Empathie bzw.
empathisches Verhalten betrachten, erkannten sich lediglich zwei der Zielkinder, die tröstendes
Verhalten zeigten, im Spiegel. Die restlichen drei Zielkinder erkannten sich im Spiegel nicht.
Kapitel 6: Ergebnisse
107
Um zu überprüfen, ob sich Zielkinder, die mindestens ein Mal trösteten, in den genannten Merkmalen
von den übrigen Zielkindern der Stichprobe unterscheiden, wurden für die dichotomen Variablen
Geschwisterstatus und Rouge-Test Mann-Whitney-Tests durchgeführt. Ebenso wurde für die
intervallskalierten Variablen Entwicklungsstand und prosozialem Verhalten verfahren, da sowohl die
Gruppengrössen wie auch die Varianzen der Gruppen unterschiedlich waren.
Tabelle 13
Kennwerte Mann-Whitney-Tests
Merkmal
MannWhitney-U
Wilcoxon-W
Prosozial
33.50
309.50
-1.44
Entwicklungsstand
38.00
53.00
-1.17
Rouge-Test
47.00
323.00
-0.72
Geschwister
53.00
68.00
-0.31
Z
Anmerkung. n = 5 Zielkinder, die trösten, n = 23 Zielkinder, die nicht trösten
Wie Tabelle 13 zu entnehmen ist, unterscheiden sich Zielkinder, die trösten, hinsichtlich der
überprüften
Merkmale
Geschwisterstatus,
Rouge-Test,
prosoziales
Verhalten
sowie
des
Entwicklungsstandes nicht von der übrigen Stichprobe Allerdings verfügten vier der fünf Zielkinder,
die trösteten, über ein breites Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen: Sie zeigten mindestens vier
verschiedene Formen von prosozialem Verhalten. Ein Zielkind führte sogar alle in dieser Studie
untersuchten prosozialen Verhaltensweisen mindestens 1 Mal aus. Somit sind alle fünf Zielkinder, die
trösteten, über dem Durchschnitt der gesamten Stichprobe, welcher bei 3.4 verschiedenen prosozialen
Formen liegt. Insgesamt unterscheiden sich die Zielkindern, die mindestens 1 Mal tröstendes
Verhalten zeigten, in ihren Merkmalen mit Ausnahme des Repertoires an prosozialen Formen nicht
von der übrigen Stichprobe.
Während sich das Trösten, das in der vorliegenden Stichprobe 10 Mal beobachtet werden konnte, auf
lediglich fünf verschiedene Zielkinder verteilte, leisteten 10 verschiedene Zielkinder mindestens 1 Mal
Wiedergutmachung. Das heisst, mehr als ein Drittel der von uns untersuchten Zielkinder zeigte
wiedergutmachendes Verhalten. Dieses Verhalten verteilte sich also auf mehr Zielkinder in der
Stichprobe als das Trösten. Von zehn Zielkindern, die Wiedergutmachung leisteten, hatten acht
mindestens ein Geschwister, was einem Anteil von 80% entspricht. Bei der Ich-AndereUnterscheidung zeigte sich keine Systematik: Fünf der Zielkinder erkannten sich im Spiegel, die
andere Hälfte jedoch nicht. Ebenso gilt dies für den allgemeinen Entwicklungsstand: Während drei
Zielkinder überdurchschnittlich weit entwickelt waren, befanden sich die restlichen im
Durchschnittsbereich.
Kapitel 6: Ergebnisse
108
Tabelle 14
Merkmale der Zielkinder, die Wiedergutmachung leisten
Nummer ZK
Griffith
Geschwister
Ergebnis
Rouge-Test
2
108
ja
nicht erkannt
8
107
ja
erkannt
9
114
nein
erkannt
21
107
ja
nicht erkannt
22
117
ja
nicht erkannt
23
118
nein
nicht erkannt
24
112
ja
erkannt
25
117
ja
erkannt
28
110
ja
nicht erkannt
30
100
ja
erkannt
Anmerkung. n = 10
In einem zweiten Schritt wurden für die dichotomen Merkmale Geschwisterstatus und Rouge-Test
jeweils ein Mann-Whitney-Tests gerechnet, ebenso, aufgrund der unterschiedlichen Gruppengrössen
und Varianzen der zwei Gruppen, für die intervallskalierten Variablen Entwicklungsstand und
prosoziales Verhalten. Damit sollte überprüft werden, ob sich die Zielkinder, die Wiedergutmachung
zeigten, hinsichtlich dieser Merkmale von den übrigen Kindern der Stichprobe unterscheiden.
Tabelle 15
Kennwerte Mann-Whitney-Tests
Merkmal
MannWhitney-U
Wilcoxon-W
Prosozial
61.50
232.50
-1.37
Entwicklungsstand
52.00
223.00
-1.83
Rouge-Test
82.50
253.50
-0.41
Geschwister
53.00*
108.00
-2.05
Z
Anmerkung. N = 10 Zielkinder mit Wiedergutmachung, 18 Zielkinder, die nicht
Wiedergutmachung leisten, *p < .05 (1-seitig)
Während
sich
Zielkinder,
die
Wiedergutmachung
leisteten,
hinsichtlich
der
Ich-Andere-
Unterscheidung, des allgemeinen Entwicklungsstands sowie des prosozialen Verhaltens nicht von den
übrigen Kindern der Stichprobe unterschieden, war dies beim Geschwisterstatus der Fall. Kinder, die
Wiedergutmachung zeigten, hatten signifikant häufiger Geschwister als Zielkinder, die keine
Wiedergutmachung zeigten. Des Weiteren zeigten sieben Zielkinder vier verschiedene prosoziale
Formen, zwei fünf und ein Zielkind sogar alle sechs untersuchten prosozialen Verhaltensweisen.
Somit lagen alle Zielkinder über dem Durchschnitt der gesamten Stichprobe von 3.4 verschiedenen
prosozialen Formen. Zielkinder, die Wiedergutmachung leisteten, zeichnen sich also durch ein
vielfältiges Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen aus.
Kapitel 6: Ergebnisse
109
Zusammenfassend handelt es sich bei den Zielkindern, die mindestens 1 Mal Wiedergutmachung
zeigten, um Kinder, die ein breites Repertoire an verschiedenen prosozialen Formen zur Verfügung
haben. Des Weiteren haben sie häufiger Geschwister als Kinder, die dieses Verhalten nie zeigten.
Hinsichtlich des allgemeinen Entwicklungsstandes, der Ich-Andere-Unterscheidung und dem
prosozialen Verhalten unterscheiden sich die Zielkinder, die reparatives Verhalten zeigen, nicht von
den übrigen Zielkindern.
Schliesslich wurde das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten untersucht, welches in der
Stichprobe über alle Messzeitpunkte lediglich sechs Mal beobachtet wurde und sich auf vier
Zielkinder verteilte. Aufgrund der geringen Anzahl von Zielkindern konnten keine statistischen
Analysen durchgeführt werden. Deshalb werden die Merkmale deskriptiv dargestellt.
Drei der vier Zielkinder hatten mindestens ein älteres Geschwister. Mit Ausnahme eines Mädchens,
dessen Wert sich eine Standardabweichung über dem Durchschnitt befand, liessen sich hinsichtlich
des allgemeinen Entwicklungsstandes keine Auffälligkeiten feststellen. Lediglich ein Zielkind
erkannte sich im Spiegel, hatte die Ich-Andere-Unterscheidung also schon getroffen.
Tabelle 16:
Merkmale der Zielkinder, die prosoziales Verhalten gegenüber Objekten zeigen
Nummer ZK
Griffith
Geschwister
Ergebnis
Rouge-Test
Häufigkeit
prosozial
11
99
nein
nicht erkannt
viel
13
107
ja
erkannt
viel
22
117
ja
nicht erkannt
mittel
28
110
ja
nicht erkannt
mittel
Anmerkung. n = 4
Für die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens wurden die Zielkinder in drei gleich grosse Gruppen
eingeteilt. Die erste Gruppe bezeichnet Kinder, die prosoziales Verhalten selten zeigen, die zweite
Gruppe zeigt das untersuchte Verhalten mit einer mittleren Häufigkeit und die dritte Gruppe
schliesslich zeigt häufig prosoziales Verhalten. Die Hälfte der Zielkinder handelte häufig prosozial,
die andere Hälfte zeigte dieses Verhalten mit einer mittleren Häufigkeit. Ebenfalls kein systematisches
Muster lässt sich bei der Anzahl der verschiedenen prosozialen Formen, die die Zielkinder zeigen,
erkennen: Bei je einem Zielkind konnten drei, vier, fünf bzw. alle sechs untersuchten Arten beobachtet
werden.
Zusammenfassung: Hinsichtlich der Häufigkeit des prosozialen Verhaltens bestehen beträchtliche
interindividuelle Unterschiede. Die Überprüfung der drei in der Stichprobe am häufigsten
vorkommenden prosozialen Formen zeigte zudem, dass sich die Zielkinder im Verlauf signifikant
voneinander unterschieden, dies allerdings erst ab dem zweiten Lebensjahr. Bei einigen Zielkindern
Kapitel 6: Ergebnisse
110
war hier eine grosse Zunahme zu beobachten, bei anderen zeigte sich ein flacherer Verlauf. Bei der
dritten Messeinheit (Messzeitpunkte 7 – 9) war bei einigen Zielkindern sogar eine Abnahme der
Häufigkeit zu verzeichnen, während einige Zielkinder auf demselben Niveau verblieben. Bei anderen
Zielkindern nahm die Häufigkeit dagegen nochmals zu. Bei den drei selten zu beobachtenden Formen
Trösten, Wiedergutmachung und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten wurden diejenigen
Zielkinder, die diese Verhaltensweisen mindestens ein Mal im Verlauf der neun Messzeitpunkte
zeigten, auf ihre Merkmale hin untersucht. Zielkinder, die Wiedergutmachung zeigten, verfügten über
ein breites Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen und hatten häufiger mindestens ein
Geschwister. Zielkinder, die mindestens ein Mal trösteten, unterschieden sich lediglich bei einem der
untersuchten Merkmalen von der übrigen Stichprobe: Sie hatten ein überdurchschnittlich breites
Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen zur Verfügung. Bei den Zielkindern, die prosoziales
Verhalten gegenüber Objekten ausführten, sind aufgrund der geringen Anzahl keine statistisch
abgesicherten Schlussfolgerungen möglich.
6. 9. Auslösende Umstände
Es wurde die Frage bearbeitet, wie häufig die auslösenden Umstände spontan, Bitte,
Wiedergutmachung, Nachahmung und Ausgleich vorkommen. In einem ersten Schritt wurden die
Häufigkeiten der genannten auslösenden Umständen über alle Messzeitpunkte hinweg berechnet.
1.88%
2.75%
3.76%
0.43%
spontan
Bitte Rezipient
Bitte Dritte
mehrfache Bitte
Ausgleich
Modeling
unklar
11.72%
79.45%
Abbildung 11. Anteile der verschiedenen auslösenden Umstände in Prozent über alle Zeitpunkte
Wie Abbildung 11 zeigt, handelten die Zielkinder zu rund 80% spontan prosozial, das heisst, ohne
sichtbaren Auslöser. Die zweithäufigste Kategorie stellt eine direkte Aufforderung des potentiellen
Kapitel 6: Ergebnisse
111
Rezipienten dar, welche knapp 12% aller Fälle ausmacht. Die restlichen Kategorien kommen selten
vor, nämlich Modeling in knapp 4%, Ausgleich in 3% sowie Aufforderung von Drittpersonen in 2%
aller Fälle. Mehrfache Bitten des potentiellen Empfängers bzw. von Drittpersonen oder
Aufforderungen sowohl des Rezipienten wie auch einer Drittperson konnten nie beobachtet werden.
Somit handelten die Zielkinder in den meisten Fällen spontan prosozial, ohne von anderen Personen
dazu aufgefordert zu werden. Auch das Modeling von prosozialem Verhalten durch andere Personen,
seien es andere Kinder oder Erwachsene, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings muss
beachtet werden, dass lediglich die unmittelbare Nachahmung erfasst werden konnte, nicht aber die
zeitverschobene. Damit könnten die Zielkinder prosoziales Verhalten bei anderen beobachtet haben
und dann später bei passender Gelegenheit nachgeahmt haben, was in der vorliegenden Studie nicht
berücksichtigt werden konnte. Eine ebenso geringe Rolle spielte die Aufforderung durch
Drittpersonen, in diesem Fall meist die Erzieherinnen. Nur selten mischten sich diese ein und forderten
das Zielkind auf, prosozial zu handeln. Allerdings hatten die Erzieherinnen vorgängig von uns die
Aufforderung erhalten, sich nur wenn notwendig in die Interaktionen zwischen den Kindern
einzumischen.
In einem nächsten Schritt wurden die auslösenden Umstände zu drei Gruppen zusammengefasst:
Spontan, Bitte (Bitte Empfänger, Bitte Drittpersonen), sowie Übrige (Modeling, Ausgleich). Um zu
überprüfen, ob die Häufigkeit dieser drei Gruppen gleichmässig verteilt ist, wurde ein Chi-QuadratTest durchgeführt, der signifikant ausfiel (N = 28, df(2), χ2 = 61.76, p < .01): Spontanes prosoziales
Verhalten kam signifikant häufiger, die beiden anderen Kategorien dagegen signifikant seltener vor als
erwartet.
Um die Frage zu beantworten, ob sich die prozentualen Anteile der auslösenden Umstände über die
Zeit verändern, wurden diese für jeden Zeitpunkt einzeln berechnet.
Tabelle 17
Anteile der Auslöser des prosozialen Verhaltens in Prozent im zeitlichen Verlauf
Messzeitpunkt
Auslöser
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Spontan
100
94.7
77.3
77.4
81.1
84.8
80.2
77.4
72.6
Bitte Rezipient
0
5.3
9.1
15.5
10.8
8.6
9.9
15.1
14.7
Bitte Dritte
0
0
0
0
0
0.9
3.6
2.8
4.9
Ausgleich
0
0
9.1
4.7
2.7
1.9
2.7
0
2.9
Modeling
0
0
4.5
2.4
5.4
2.9
3.6
3.8
4.9
Unklar
0
0
0
0
0
0.9
0
0.9
0
Wie Tabelle 17 und Abbildung 12 zeigen, bleibt der häufigste Auslöser über alle Messzeitpunkte
hinweg unverändert: Den grössten Teil des prosozialen Verhaltens zeigen die Zielkinder spontan.
Kapitel 6: Ergebnisse
112
Allerdings nimmt der prozentuale Anteil des spontanen prosozialen Verhaltens über die Zeit
kontinuierlich ab.
120
100
spontan
Anteil in %
80
Bitte Rezipient
Bitte Dritte
60
Ausgleich
Modeling
unklar
40
20
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Messzeitpunkt
Abbildung 12. Zeitlicher Verlauf der Auslöser von prosozialem Verhalten in Prozent
Dennoch zeigen die Zielkinder auch zum neunten Messzeitpunkt beinahe drei Viertel aller prosozialen
Verhaltensweisen spontan. Die zweithäufigste Kategorie ist eine Bitte oder Aufforderung des
Rezipienten. Deren Häufigkeit nimmt bis zum vierten Zeitpunkt zu, nimmt danach beim fünften und
sechsten Zeitpunkt ab, um dann wieder anzusteigen. Aufforderungen von Drittpersonen an das
Zielkind, prosozial zu handeln, werden vor allem von den Erzieherinnen ausgesprochen, allerdings erst
zu späteren Zeitpunkten, wobei die Häufigkeit gering ist. Prosoziales Verhalten, das im Dienst des
Ausgleichs selbst erfahrener Unterstützung steht, wird von den Zielkindern am häufigsten zum dritten
und vierten Messzeitpunkt gezeigt mit einem Anteil von 9.1% bzw. 4.7%, anschliessend sinkt die
Häufigkeit. Ausgleichendes Verhalten zeigten die Zielkinder meist im Zusammenhang mit Objekten:
Wurden ihnen Objekte angeboten, boten sie dem Geber entweder andere Objekte aus ihrem Besitz an
oder gaben das soeben erhaltene Objekt wieder zurück. Modeling tritt erstmals zum dritten
Messzeitpunkt auf, also im Alter von 12 Monaten und bleibt dann auf einem konstant niedrigen Stand.
Um zu überprüfen, ob verschiedenen Auslöser zu den einzelnen Messzeitpunkten gleichverteilt sind,
wurden sie wieder in die oben beschriebenen drei Gruppen spontan, Bitte und übrige zusammengefasst
und anschliessend Chi-Quadrat-Tests für jeden Zeitpunkt gerechnet. Für den ersten Messzeitpunkt
wurde kein Test durchgeführt, da prosoziales Verhalten nur drei Mal vorkam und ausschliesslich
spontan gezeigt wurde.
Kapitel 6: Ergebnisse
113
Tabelle 18
Kennwerte Chi-Quadrat-Test pro Messzeitpunkt
Messzeitpunkt
df
χ2
2
1
11.27**
3
2
31.40**
4
2
38.79**
5
2
100.43**
6
2
82.83**
7
2
93.87**
8
2
61.76**
9
2
46.14**
Anmerkung. N = 28, **p < .01
Bei allen getesteten Messzeitpunkten fiel der Chi-Quadrat-Test hochsignifikant aus. Spontanes
prosoziales Verhalten kam signifikant häufiger vor als erwartet, die beiden anderen Gruppen (Bitte,
Übrige) dagegen signifikant seltener als erwartet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der grösste Teil des prosozialen Verhaltens spontan
gezeigt wird und sich dies über die Zeit hinweg wenig verändert, obwohl der prozentuale Anteil des
spontanen prosozialen Verhaltens abnimmt. Auch beim letzten Messzeitpunkt sind beinahe drei
Viertel aller prosozialen Verhaltensweisen spontan. Der zweithäufigste Auslöser sind direkte Bitten
oder Aufforderungen des Empfängers. Allerdings machen Aufforderungen des Rezipienten nur
zwischen 5% und 15% Prozent des gesamten prosozialen Verhaltens aus. Wie die Resultate zeigen,
handelt es sich beim prosozialen Verhalten auf Aufforderung hin offenbar nicht um einen Vorläufer
oder eine frühere Form des spontanen prosozialen Verhaltens, da es diesem zeitlich nicht vorausgeht.
Die übrigen untersuchten Auslöser Bitte von Drittpersonen, Ausgleich und Modeling dagegen
kommen selten vor.
6. 10. Empfängermerkmale
Um herauszufinden, ob die Zielkinder Präferenzen für bestimmte Empfängergruppen aufweisen,
wurden die prozentualen Anteile des Geschlecht und Alter ermittelt. Als erstes wurde der Frage
nachgegangen, ob die Zielkinder eine Präferenz hinsichtlich des Geschlechts des Rezipienten zeigen.
Die Mehrheit des prosozialen Verhaltens wurde an weibliche Personen gerichtet, nämlich rund 83%.
Weitere 13% der Empfänger waren männlich, während prosoziales Verhalten nur selten an Gruppen
gemischten Geschlechts gerichtet war. Die Restkategorie, die einen prozentualen Anteil von 1.82
Kapitel 6: Ergebnisse
114
einnahm, enthielt Fälle, in denen das Geschlecht des Empfängers nicht ermittelt werden konnte. Der
Anteil der weiblichen Empfänger ist auf den ersten Blick überraschend hoch. Da jedoch in der
Kategorie Geschlecht Empfänger nicht nur die Kontaktkinder, sondern auch das Betreuungspersonal,
das in den von uns untersuchten Kindertagestätten beinahe ausschliesslich aus Frauen bestand,
enthalten sind, müssen diese Resultate relativiert werden. Um ein weniger verzerrendes Bild zu
erhalten, wurden deshalb in einem nächsten Schritt die erwachsenen Personen bei der Analyse nicht
berücksichtigt und stattdessen lediglich Kinder und Gruppen gemischten Geschlechts einbezogen.
Wie aus Abbildung 13 ersichtlich wird, verschieben sich die prozentualen Anteile im Vergleich zu den
vorherigen Zahlen deutlich: Der Anteil der weiblichen Empfänger sinkt von 83% auf 58%. Etwas
mehr als die Hälfte des prosozialen Verhaltens wird also an Mädchen gerichtet. Jungen werden jedoch
auch hier deutlich seltener Empfänger von prosozialem Verhalten, obwohl das Geschlechterverhältnis
bei den zur Verfügung stehenden Kontaktkindern ausgeglichen war.
männlich
weiblich
gemischt
0.62%
41.25%
58.12%
Abbildung 13. Geschlecht Empfänger in Prozent ohne Erwachsene über alle Zeitpunkte
Um herauszufinden, ob die Zielkinder ihr prosoziales Verhalten signifikant häufiger an Mädchen als
an Jungen vergeben, wurde ein Chi-Quadrat-Test mit dem Empfängermerkmal Geschlecht als zu
testende Variable durchgeführt, der signifikant ausfiel (N = 28, df(1), χ2 = 4.585, p < .05). Somit ist das
Empfängermerkmal Geschlecht nicht gleichverteilt: Weibliche Peers werden von den Zielkindern
häufiger als Empfänger für ihr prosoziales Verhalten gewählt.
Allerdings sind in unserer Stichprobe die Mädchen übervertreten. Wenn die Zielkinder als Empfänger
von
prosozialem
Verhalten
Personen
desselben
Geschlechts
bevorzugen,
könnte
diese
Ungleichverteilung dazu führen, dass mehr Mädchen Empfänger von prosozialem Verhalten werden.
Kapitel 6: Ergebnisse
115
Deshalb wurde für die entsprechenden Kennwerte für die weiblichen und männlichen Zielkinder
getrennt berechnet. Sowohl die männlichen wie auch die weiblichen Zielkinder bevorzugten weibliche
Peers als Empfänger. Die männlichen Zielkinder richteten 64% ihres prosozialen Verhaltens an
Mädchen, die weiblichen Zielkinder 56%. In einem nächsten Schritt wurden zur statistischen
Überprüfung für die männlichen und weiblichen Zielkinder getrennt Chi-Quadrat-Tests (n = 11, df(1),
χ2 = 3.60, p = .058 resp. n = 17, df(1), χ2 = 1.75, p = .186) durchgeführt. Während bei den männlichen
Zielkindern eine Tendenz zur Bevorzugung von Mädchen als Empfängerinnen auszumachen ist, war
bei den weiblichen Zielkindern keine Präferenz für ein Geschlecht vorhanden.
Als nächstes wurden die prozentualen Anteile der Altersgruppen der Empfänger berechnet, um die
Frage zu beantworten, ob die Zielkinder eine bestimmte Altersgruppe als Empfänger für ihr
prosoziales Verhalten bevorzugen. Hierzu wurden die Empfänger von prosozialem Verhalten zuerst in
die folgenden sieben Gruppen eingeteilt: Erwachsene, Kinder, die mehr als drei Monate jünger als das
Zielkind waren, Gleichaltrige (bis zu drei Monate jünger oder älter das Zielkind), Kinder, die mehr als
drei Monate älter als das Zielkind waren, gemischte Gruppen (Gruppen, die aus mindestens einem
Erwachsenen und einem Kind bestanden), Kindergruppen (Gruppen, die aus mindestens zwei Kindern
bestanden) und eine Restgruppe, in die Fälle eingeordnet wurden, bei denen der Empfänger nicht
identifiziert werden konnte oder ein unbelebtes Objekt war.
> 3 Monate
jünger
gleichaltrig
> 3 Monate
älter
Erwachsene
gemischt
unklar
1.28% 6.74%
6.01%
16.39%
67.76%
Abbildung 14. Prozentualer Anteil der verschiedenen Altersgruppen über alle Zeitpunkte
Wie Abbildung 14 zeigt, sind zwei Drittel der Empfänger erwachsene Personen, in unserem Fall die
Erzieherinnen oder, in seltenen Fällen, die Filmerin. Der Rest verteilt sich auf die drei verschiedenen
Kapitel 6: Ergebnisse
116
Altersgruppen der Kinder. Hier wurden vor allem ältere Kontaktkinder als Empfänger bevorzugt,
während die Gleichaltrigen und jüngeren Kinder eher selten gewählt wurden. Allerdings umfasst die
Gruppe der älteren Kontaktkinder sämtliche Peers, die mehr als drei Monate älter als das Zielkind
sind. Durch diese Einteilung waren in den Krippengruppen mehr ältere Kontaktkinder als verfügbar.
Zudem waren bei den frühen Messzeitpunkten kaum Kontaktkinder vorhanden, die mehr als drei
Monate jünger waren als das Zielkind. Gemischte Gruppen wurden nur selten Empfänger von
prosozialem Verhalten, Kinder- und Erwachsenengruppen gar nie. Offensichtlich richteten unsere
Zielkinder ihr prosoziales Verhalten bevorzugt an Einzelpersonen. In 1.82% der Fälle war das Alter
des Rezipienten nicht bekannt.
Ob die deutliche Bevorzugung von Erwachsenen als Empfänger von prosozialem Verhalten statistisch
signifikant ist, wurde mit einem Chi-Quadrat-Test geprüft, wobei die zu testende Empfängervariable
Altersgruppe zu diesem Zweck in die zwei Gruppen Erwachsene und Kinder dichotomisiert wurde.
Der Test fiel hochsignifikant aus (N = 28, df(1), χ2 = 84.48, p < .00), was bedeutet, dass die Zielkinder
der Stichprobe eine statistisch bedeutsame Bevorzugung für erwachsene Personen als Empfänger
zeigten.
Um die Frage zu beantworten, ob sich die Präferenzen der Zielkinder für die verschiedenen
Altersgruppen von Empfängern über die Zeit hinweg verändern, wurden die prozentualen Anteile für
jeden Zeitpunkt einzeln berechnet. Die drei Altersgruppen Kind mehr als 3 Monate jünger,
Gleichaltrig und Kind mehr als 3 Monate älter wurden in die Gruppe Kind zusammengefasst.
90
80
70
Kind
Anteil in %
60
Erwachsene
50
gemischt
Objekt
40
unbekannt
30
20
10
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Messzeitpunkt
Abbildung 15. Prozentualer Anteil der verschiedenen Altersgruppen pro Zeitpunkt
Abbildung 15 zeigt die Entwicklung des Empfängermerkmals Altersgruppe über die neun
Messzeitpunkte. Während die Erzieherinnen beim ersten Zeitpunkt noch weniger häufig Empfänger
Kapitel 6: Ergebnisse
117
von prosozialem Verhalten werden als Kinder, steigt ihr prozentualer Anteil in der Folge an und bleibt
bis zum fünften Messzeitpunkt auf einem hohen Niveau. Ab dem sechsten Messzeitpunkt sinkt er aber
kontinuierlich auf knapp 56% zum letzten Zeitpunkt. Eine umgekehrte Entwicklung ist beim
prozentualen Anteil der Kinder als Empfänger feststellbar: Von einem anfänglich hohen Niveau sinkt
der Anteil bis zum fünften Messzeitpunkt ab, steigt dann aber wieder an und erreicht beim letzten
Messzeitpunkt 39 Prozent. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Zielkinder beim ersten
Messzeitpunkt lediglich insgesamt drei Mal prosozial handelten, weshalb dieser Messzeitpunkt bei
Interpretationen nicht berücksichtigt werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass
der prozentuale Anteil der Erwachsenen als Empfänger bis und mit dem fünften Messzeitpunkt
zunimmt, danach aber kontinuierlich abnimmt. Ein gegenläufiger Verlauf ist beim prozentualen Anteil
der
Empfänger-Gruppe
Kinder
beobachtbar.
Allerdings
sind
mit
Ausnahme
des
ersten
Messzeitpunktes Erwachsene zu allen Messzeitpunkten häufiger Empfänger von prosozialem
Verhalten als Kinder. Gemischte Gruppen werden über alle Messzeitpunkt hinweg nur selten
Empfänger von prosozialem Verhalten.
Anschliessend wurden für jeden Zeitpunkt ab T3 Chi-Quadrat-Tests durchgeführt, um statistisch zu
überprüfen, ob die Zielkinder eine bestimmte Empfängergruppe bevorzugen. Da die erwarteten
Häufigkeiten für die ersten zwei Messzeitpunkte sehr klein waren, wurden hier Binomial-Tests
durchgeführt. Sowohl für den ersten (erwartete Häufigkeit Kind .67 resp. Erwachsene .33, p = 1.00)
wie auch den zweiten Messzeitpunkt (erwartete Häufigkeit Kind .40 resp. Erwachsene .60, p = .607)
fiel der Binomial-Test nicht signifikant aus.
Tabelle 19
Statistik für den Chi-Quadrat-Test, differenziert nach dem Messzeitpunkt
Erwartete Häufigkeit
Messzeitpunkt
Beobachtete Häufigkeit
Erwachsene
Kinder
Erwachsene
Kinder
df
χ2
3
20.0
20.0
31
9
1
12.10**
4
30.0
30.0
42
18
1
9.60**
5
46.0
46.0
78
14
1
44.52**
6
38.5
38.5
55
22
1
14.14**
7
44.5
44.5
60
29
1
10.80**
8
37.5
37.5
49
26
1
7.05**
9
40.5
40.5
47
34
1
2.09
Anmerkung. N = 28, **p < .01
Die Resultate der Chi-Quadrat-Tests bestätigen den optischen Eindruck des Verlaufs des
Empfängermerkmals Alter. Während zu den ersten zwei Messzeitpunkten aufgrund der geringen
Häufigkeiten das Empfängermerkmal Alter noch gleichverteilt ist, ändert sich das Bild bei den darauf
folgenden Zeitpunkten. Bis und mit dem achten Messzeitpunkt fallen die Chi-Quadrat-Tests
signifikant aus, was bedeutet, dass die Zielkinder in diesem Zeitraum die Empfängergruppe
Kapitel 6: Ergebnisse
118
Erwachsene gegenüber den Kindern bevorzugen. Wie jedoch der grafisch dargestellte Verlauf (vgl.
Abbild 15) verdeutlicht, nimmt der Anteil der erwachsenen Empfänger über die Zeit hinweg ab,
derjenige der Kinder als Empfänger jedoch zu. Zum letzten Messzeitpunkt scheint der Unterschied nur
noch gering zu sein. Tatsächlich fällt der Chi-Quadrat-Test zum letzten Messzeitpunkt nicht mehr
signifikant aus. Dies bedeutet, dass das Empfängermerkmal Alter in der Stichprobe gleichverteilt ist
und die Zielkinder mit zwei Jahren keine Altersgruppe als Empfänger bevorzugen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Zielkinder deutliche Präferenzen für bestimmte
Empfängergruppen zeigten. Die Zielkinder richteten prosoziales Verhalten bevorzugt an
Einzelpersonen und nur selten an Gruppen, die aus mindestens zwei Personen bestanden. Zudem
wurden weibliche Personen signifikant häufiger Empfänger von prosozialem Verhalten, auch wenn
das Betreuungspersonal, das vorwiegend aus Frauen bestand, bei den Analysen nicht berücksichtigt
wurde. Allerdings zeigten nur die männlichen Zielkinder der Stichprobe dieses Muster tendenziell.
Konnten die Zielkinder zwischen erwachsenen Personen und Kindern als Rezipienten wählen,
richteten sie ihr prosoziales Verhalten signifikant häufiger an erstgenannte Gruppe. Die Bevorzugung
von Erwachsenen als Empfänger von prosozialem Verhalten nahm im Lauf der Entwicklung ab und
im Alter von zwei Jahren zeigten die Zielkinder keine Präferenz mehr für eine bestimmte
Altersgruppe.
6. 11. Reaktionen auf das prosoziale Verhalten
Hier sollten die Fragen beantwortet werden, wie die Empfänger auf das prosoziale Verhalten des
Zielkindes reagieren und ob auf männliche und weibliche Zielkinder unterschiedlich reagiert wird.
Ausserdem sollte herausgefunden werden, ob die Reaktionen des Empfängers auf spontanes und
verlangtes prosoziales Verhalten unterschiedlich ausfallen und vom sozialen Stil des Zielkindes
abhängen. Neben den Reaktionen des Rezipienten sollten auch die Reaktionen von Drittpersonen, die
sich in unmittelbarer Nähe des Zielkindes befanden, erfasst werden sowie überprüft werden, ob diese
auf das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen unterschiedlich reagieren.
6. 11. 1. Reaktionen der Rezipienten
Als erstes wurden die prozentualen Anteile der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten der Empfänger
über alle Zeitpunkte hinweg berechnet. Dazu wurden die Reaktionen in fünf Gruppen unterteilt:
Annahme der Aktion mit positiver Verstärkung, Ablehnung der Aktion, Annahme der Aktion,
gemischter Verlauf und eine Restgruppe, die unklare Reaktionen beinhaltete. Diese Kategorie wurde
kodiert, wenn keine abschliessende Entscheidung getroffen werden konnte oder der Empfänger der
Kapitel 6: Ergebnisse
119
Kamera den Rücken zudrehte und somit sein Gesicht nicht sichtbar war. Ein gemischter Verlauf wurde
kodiert, wenn der Empfänger zuerst eine bestimmte Reaktion zeigte, gefolgt von einer anderen, wenn
er also zum Beispiel das Zielkind zuerst ignorierte, dann aber das angebotene Objekt annahm.
Annahme:
positiv
Ablehnung
Annahme
gemischter
Verlauf
unklar
0.9%
41.59%
37.79%
12.3%
Abbildung 16. Prozentualer Anteil der verschiedenen Empfänger-Reaktionen
Wie Abbildung 16 zu entnehmen ist, reagierten die Empfänger meist entweder mit einer Annahme der
Aktion und positiver Verstärkung, nämlich in 42% aller Fälle, oder Annahme (38%) auf das prosoziale
Verhalten der Zielkinder. In 12% der Fälle reagierten die Rezipienten ablehnend, das heisst,
ignorierten das prosoziale Verhalten des Zielkindes, brachen den Kontakt ab, wiesen das prosoziale
Verhalten ab oder zeigten aggressives Verhalten. Ein gemischter Verlauf der Reaktionen war nur
selten zu beobachten. Trotz der gelegentlichen ablehnenden Reaktionen auf das prosoziale Verhalten
der Zielkinder, reagierten die Rezipienten also mehrheitlich mit einer Annahme der Aktion, häufig
kombiniert mit einer positiven Verstärkung wie Dank, Lob, positive Emotionen oder der Aufnahme
einer längeren Interaktion.
In einem nächsten Schritt wurden die Reaktionen von erwachsenen Empfänger und Peers getrennt
berechnet, um herauszufinden, ob diesbezüglich Unterschiede vorhanden sind. Die prozentualen
Anteile der einzelnen Reaktionen, differenziert nach den zwei Empfängergruppen, sind in Tabelle 20
dargestellt.
Die Reaktionen des Empfängers unterscheiden sich in Abhängigkeit der zwei definierten
Empfängergruppen Erwachsene versus Peers erheblich.
Kapitel 6: Ergebnisse
120
Tabelle 20
Reaktionen des Empfängers (in %), differenziert nach der Empfängergruppe
Empfänger
Reaktionen
Peers
Erwachsene
Annahme: positive Verstärkung
12.5
55.5
Annahme der Aktion
58.8
30.1
Ablehnung
20.0
9.1
gemischter Verlauf
1.3
0.8
unklar
7.4
4.5
Total
100.0
100.0
Erwachsene Empfänger reagierten in 55.5% der Fälle mit einer positiven Verstärkung, in 30% mit
einer Annahme der Aktion. Lediglich 9% der Reaktionen von Erwachsenen beinhalteten eine
Ablehnung. Waren die Empfänger des prosozialen Verhaltens dagegen Peers, bestand die häufigste
Reaktion in einer blossen Annahme der Aktion (58.8%), gefolgt von einer Ablehnung oder dem
Ignorieren des Zielkindes, die einen Fünftel der Rückmeldungen ausmachten. Mit einer positiven
Verstärkung reagierten Peers lediglich in 12.5% der Fälle.
Um zu überprüfen, ob diese Unterschiede statistisch bedeutsam sind, wurden die zwei
Empfängergruppen für jede der untersuchten Reaktionsarten – mit Ausnahme der gemischten
Reaktionen – mittels eines T-Tests verglichen. Für die gemischten Reaktionen wurde aufgrund der
ungleichen Gruppengrössen sowie der ungleichen Varianzen ein Mann-Whitney-Test durchgeführt,
der nicht signifikant ausfiel (U = 29628.00, p = .627).
Tabelle 21
Mittelwert, Standardabweichungen und Kennwerte T-Tests für die Reaktionen von
Erwachsenen und Peers
M (SD)
Reaktion
Empfänger
df
T
Annahme
530
6.36**
0.59 (0.49)
0.30 (0.46)
Annahme: positiv
530
-9.85**
0.13 (0.33)
0.56 (0.51)
Ablehnung
530
3.52**
0.41 (0.03)
0.09 (0.29)
Peers
Erwachsene
Anmerkung. N = 28, **p < .01
Die T-Tests für die positive Verstärkung, die Ablehnung sowie die Annahme fielen signifikant aus:
Erwachsene reagierten häufiger mit positiver Verstärkung auf das prosoziale Verhalten des Zielkindes,
Peers dagegen signifikant häufiger mit einer Annahme sowie Ablehnung. Somit unterscheiden sich die
Reaktionen der Rezipienten in Abhängigkeit davon, ob sie Erwachsene oder Peers sind.
Kapitel 6: Ergebnisse
121
Um die Frage zu beantworten, ob auf das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen
unterschiedlich reagiert wird, wurden die Reaktionen der Empfänger für die männlichen und
weiblichen Zielkinder getrennt analysiert. Auf das prosoziale Verhalten von Mädchen wurde in 41%
der Fälle mit einer Annahme der Aktion und einer positiven Verstärkung reagiert. 40% der Reaktionen
beinhalteten eine Annahme der Verhaltensweise, 12% der Reaktionen eine Ablehnung. Die Empfänger
reagierten bei männlichen Zielkinder in 44% der Fälle mit einer Annahme des prosozialen Verhaltens,
kombiniert mit einer positiven Verstärkung, während 33% der Reaktionen eine Annahme der Aktion
zur Folge hatten. Rund 12% der Reaktionen bestanden in einer Ablehnung der Verhaltensweise. Auf
das prosoziale Verhalten von Jungen wurde also leicht häufiger mit einer Annahme mit positiver
Verstärkung reagiert, auf dasjenige von Mädchen leicht häufiger mit einer blossen Annahme. Um zu
überprüfen, ob diese Unterschiede signifikant sind, wurde für die vier möglichen Reaktionen U-Tests
für unabhängige Stichproben über alle Zeitpunkte gerechnet, deren Kennwerte in Tabelle 22
dargestellt sind.
Tabelle 22
Kennwerte der U-Tests für die Empfänger-Reaktionen
Reaktion
Empfänger
MannWhitney-U
Wilcoxon-W
Annahme
51.00*
117.00
-2.01
Annahme: positiv
83.00
149.00
-.50
Ablehnung
81.50
147.50
-.57
gemischt
88.50
241.50
-.39
Z
Anmerkung. N = 17 Mädchen und 11 Jungen, *p < .05 (1-seitig).
Lediglich ein Test fiel signifikant aus: Auf das prosoziale Verhalten von Mädchen wurde häufiger mit
einer Annahme der Aktion reagiert als auf dasjenige von Jungen. Bei den übrigen Reaktionen liessen
sich keine statistisch bedeutsamen Unterschiede nachweisen.
In einem nächsten Schritt sollte die Frage beantwortet werden, ob auf spontanes prosoziales Verhalten
anders reagiert wird als auf verlangtes prosoziales Verhalten. Dazu wurden die Reaktionen der
Empfänger für diese beiden Formen getrennt berechnet.
Kapitel 6: Ergebnisse
122
50
45
40
Anteil in %
35
30
25
spontan
20
verlangt
15
10
5
0
Annahme
Annahme:
positiv
Ablehnung
gemischt
unklar
Reaktion Rezipient
Abbildung 17. Reaktion des Rezipienten auf spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten
Spontanes prosoziales Verhalten hatte in knapp 35% der Fälle eine Annahme der Aktion durch den
Rezipienten zur Folge. Eine Annahme kombiniert mit positiver Verstärkung war etwas häufiger und
nahm einen Anteil 43% ein. In 12% der Fälle reagierte der Empfänger ablehnend auf die spontane
prosoziale Handlung des Zielkindes. Auf verlangtes prosoziales Verhalten dagegen reagierten die
Empfänger in 46% der Fälle mit einer Annahme, während in 39% der Fälle zusätzlich zur Annahme
positiv verstärkt wurde. Ablehnende Reaktionen erfolgten bei 8% der verlangten prosozialen
Verhaltensweisen. Damit wurde auf verlangtes prosoziales Verhalten häufiger mit einer Annahme der
Aktion reagiert als auf spontanes. Dieses hatte jedoch häufiger eine Annahme mit positiver
Verstärkung zur Folge. Auch ablehnende Reaktionen waren beim spontanen prosozialen Verhalten
leicht häufiger als bei verlangtem, wohl weil beim spontanen prosozialen Verhalten die Gefahr eines
Missverständnisses höher ist.
Um zu überprüfen, ob die Unterschiede in den Reaktionen auf spontanes respektive verlangtes
prosoziales Verhalten signifikant sind, wurden für jede Reaktionsart mit Ausnahme der positiven
Verstärkung T-Tests durchgeführt. Für die positiven Reaktionen wurde aufgrund der sowohl
ungleichen Gruppengrösse wie auch ungleichen Varianzen ein Mann-Whitney-Test durchgeführt (U =
16343.00, p = .514), der nicht signifikant ausfiel.
Kapitel 6: Ergebnisse
123
Tabelle 23
Kennwerte der T-Tests für die Reaktionen der Empfänger auf spontanes respektive verlangtes
prosoziales Verhalten
M
SD
Reaktion Empfänger
spontan
Bitte
spontan
Bitte
df
Ablehnung
0.12
0.09
0.33
0.28
499
0.96
Annahme
0.35
0.46
0.48
0.50
499
-1.79
Gemischt
0.01
0.00
0.11
0.00
499
0.99
T
Anmerkung. N = 28
Keiner der T-Tests fiel für die getesteten Reaktionen signifikant aus: Die Empfänger reagierten auf
spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten nicht unterschiedlich.
Als nächstes wurde der Frage nachgegangen, ob die Reaktion des Rezipienten vom persönlichen Stil
des Zielkindes abhängt. Dazu wurden die Zielkinder für die Häufigkeit der Konflikte und der
Interaktionen anhand der Perzentilwerte (33.3% resp. 66.6%) in drei Gruppen eingeteilt. Gruppe 1
bildete Kinder, die selten Konflikte resp. Interaktionen hatten. Gruppe 2 setzte sich aus Kindern
zusammen, die die Verhaltensweise jeweils mit einer mittleren Häufigkeit zeigten. Gruppe 3 enthielt
Kinder, die häufig Konflikte resp. Interaktionen hatten. Anschliessend wurden die Reaktionen der
Rezipienten für die drei Gruppen zuerst für die Interaktionen dann für die Konflikte berechnet.
Annahme:
positive
Verstärkung
Annahme
Ablehnung
Gemischter
Verlauf
Unklar
12
10
Mittelwert
8
6
4
2
0
wenig
mittel
viel
Gruppen Interaktionen
Abbildung 18. Reaktionen der Rezipienten, differenziert nach der Häufigkeit der Interaktionen des Zielkindes
Abbildung 18 zeigt die Reaktionen der Rezipienten, differenziert nach der Häufigkeit der
Interaktionen der Zielkinder. Auf das prosoziale Verhalten der mittleren Gruppe, also der Zielkinder,
Kapitel 6: Ergebnisse
124
die mit einer mittleren Häufigkeit Interaktionen haben, wird sowohl häufiger mit einer Annahme als
auch mit positiver Verstärkung reagiert als auf dasjenige der beiden anderen Gruppen. Kinder mit
häufigen Interaktionen erhalten dagegen am häufigsten negative Reaktionen.
Abbildung 19 zeigt die Häufigkeit der Reaktionen, differenziert nach der Häufigkeit der Konflikte.
Wie der Grafik zu entnehmen ist, reagieren die Empfänger auf das prosoziale Verhalten von
Zielkindern mit häufigen Konflikten sowohl häufiger mit einer Annahme kombiniert mit positiver
Verstärkung, wie auch häufiger mit Ablehnung als auf die prosozialen Aktionen der beiden anderen
Gruppen.
Annahme:
positive
Verstärkung
Annahme
Ablehnung
Gemischter
Verlauf
Unklar
12
10
Mittelwert
8
6
4
2
0
wenig
mittel
viel
Gruppen Konflikte
Abbildung 19. Reaktionen der Rezipienten, differenziert nach der Häufigkeit der Konflikte des Zielkindes
Um zu überprüfen, ob diese Unterschiede statistisch bedeutsam sind, wurde für die Konflikte und die
Interaktionen je ein Kruskal-Wallis-Test mit den drei oben definierten Gruppen als unabhängige
Variable und den Reaktionen der Rezipienten als abhängige Variablen gerechnet.
Tabelle 24
Kennwerte Kruskal-Wallis-Test für die Rezipienten-Reaktionen
Konflikte
Interaktionen
Reaktion Empfänger
df
χ2
df
χ2
Annahme: positiv
2
1.74
2
3.07
Ablehnung
2
1.83
2
.84
Annahme
2
6.38*
2
12.27*
gemischt
2
2.38
2
2.17
Anmerkung. N = 9 Gruppe wenig, 11 Gruppe mittel, 8 Gruppe viel Konflikte. N = 9 Gruppe wenig,
10 Gruppe mittel, 9 Gruppe viel Interaktionen, *p < .05.
Kapitel 6: Ergebnisse
125
Während sowohl bei den Konflikten wie auch bei den Interaktionen die Ablehnung der Aktion, die
Annahme der Aktion kombiniert mit positiver Verstärkung und die gemischten Reaktionen für die drei
Gruppen nicht unterschiedlich ausfielen, so war dies für die Annahme der Aktion sehr wohl der Fall.
Hier stellte sich heraus, dass sich diese nicht gleichmässig auf die drei Gruppen verteilten. Deshalb
wurden in einem nächsten Schritt die drei Gruppen paarweise mittels U-Tests miteinander verglichen.
Tabelle 25
Kennwerte U-Test für die Annahme der Aktion, differenziert nach dem sozialen Stil des Zielkindes
Konflikte
Interaktionen
wenig / mittel
wenig / viel
mittel / viel
MannWhitney-U
21.50*
13.50*
38.50
Wilcoxon-W
66.50
58.50
104.50
Z
-2.14
-2.18
-0.46
wenig / mittel
wenig / viel
mittel / viel
24.50
16.50*
50.50
69.50
61.50
-3.24
-1.43
-2.34
5.50**
Anmerkung. N = 9 Gruppe wenig, 11 Gruppe mittel, 8 Gruppe viel Konflikte. N = 9 Gruppe wenig, 10 Gruppe mittel,
9 Gruppe viel Konflikte, *p < .05, **p < .01 (1-seitig).
Wie die Einzelvergleiche ergaben, reagieren die Empfänger bei Zielkindern der mittleren Gruppe
sowie Zielkindern mit vielen Konflikten signifikant häufiger mit einer Annahme der Aktion als bei
Zielkindern mit wenig Konflikten. Auf das prosoziale Verhalten von Zielkindern der mittleren Gruppe
und mit häufigen Konflikten reagieren die Rezipienten hingegen nicht unterschiedlich. Bei den
Interaktionen ergibt sich ein anderes Bild: Auf das prosoziale Verhalten von Zielkindern der mittleren
Gruppe reagieren die Empfänger signifikant häufiger mit einer Annahme der Aktion als auf dasjenige
von Zielkindern mit wenig oder viel Interaktionen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen mit wenig
und viel Interaktionen sind hingegen nicht signifikant.
Zusammenfassung: Die Rezipienten reagieren auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder meist mit
einer Annahme der Aktion, kombiniert mit einer positiven Verstärkung. Das heisst, es entstand ein
längerer, über die prosoziale Aktion hinausgehender Kontakt, der Empfänger zeigte positive
Emotionen oder bedankte sich. Ein weiteres Drittel der Reaktionen bestanden in einer Annahme der
Verhaltensweise ohne weitere Konsequenzen. Eine Ablehnung des prosozialen Verhaltens war selten
und kam lediglich in 10% der Fälle vor. Somit ernten die Zielkinder für ihr prosoziales Verhalten
meist positive oder zumindest neutrale Reaktionen. Die Empfänger reagierten auf das prosoziale
Verhalten von Jungen und Mädchen nicht unterschiedlich, ebenso wenig auf verlangtes oder spontanes
prosoziales Verhalten. Beim sozialen Stil der Zielkinder zeigten sich sowohl für die Konflikte wie
auch für die Interaktionen lediglich bei der Annahme der Aktion signifikante Unterschiede. Im Falle
der Interaktionen reagierten die Empfänger auf das prosoziale Verhalten von Kindern der mittleren
Gruppe häufiger mit einer Annahme der Reaktion als auf dasjenige von Zielkindern mit wenig und
häufigen Interaktionen. Auf das prosoziale Verhalten von Zielkindern mit häufigen Konflikten und
Kapitel 6: Ergebnisse
126
Kindern der mittleren Gruppe reagierten die Empfänger signifikant häufiger mit einer Annahme als bei
Kindern mit wenig Konflikten. Bei der Annahme mit positiver Verstärkung, der Ablehnung sowie den
gemischten Reaktionen waren dagegen keine Unterschiede feststellbar.
6. 11. 2. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen
Als nächstes wurde der Frage nachgegangen, wie anwesende Drittpersonen auf das prosoziale
Verhalten reagieren. Für die Analysen wurden nur die Erzieherinnen berücksichtigt, da sich teilweise
ganze Kindergruppen in der Nähe befanden und die Auswertung aller Anwesenden sich zu aufwendig
gestaltet hätte. Bei den Erzieherinnen wurde die Reaktion nur dann analysiert, wenn sie sich in
unmittelbarer Nähe des Zielkindes befanden, also die Gelegenheit hatten, das Zielkind und dessen
Handlungen zu beobachten.
neutral
positiv
unklar
negativ
30.8%
60.51%
3.62%
5.07%
Abbildung 20. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder
Wie Abbildung 20 verdeutlicht, war eine positive Verstärkung durch Drittpersonen selten: Lediglich
3.5% aller Reaktionen beinhalteten eine positive Verstärkung. Rund ein Drittel der Reaktionen auf das
prosoziale Verhalten des Zielkindes waren neutral, wie z. B. das Beobachten der Handlung oder
neutrale Kommentare wie „ah, du hast ihm das Spielzeug gegeben“. Am häufigsten (61%) reagierten
die anwesenden Erzieherinnen jedoch mit Tadel oder Nichtbeachtung auf das prosoziale Verhalten des
Zielkindes, wobei das Ignorieren den Hauptteil ausmachte, während Tadeln sehr selten vorkamen. Das
prosoziale Verhalten der Zielkinder wurde also von den anwesenden Erzieherinnen häufig nicht
beachtet, auch wenn sich diese in unmittelbarer Nähe der Zielkinder befanden. Allerdings waren die
Kapitel 6: Ergebnisse
127
Erzieherinnen von uns vorgängig instruiert worden, sich während der Aufnahmen im Hintergrund zu
halten und nur wenn nötig aktiv einzugreifen. Dies führte eventuell dazu, dass sich die Erzieherinnen
bei ihren Reaktionen auf das Verhalten des Zielkindes zurückhielten.
In einem nächsten Schritt sollte die Frage beantwortet werden, ob die anwesenden Erzieherinnen auf
das prosoziale Verhalten von Mädchen und Jungen unterschiedlich reagieren. Dazu wurden die
Reaktionen der Erzieherinnen für die Jungen und Mädchen getrennt berechnet.
70
60
Anteil in %
50
40
30
Jungen
Mädchen
20
10
0
positive
Ignorieren/Tadel
Verstärkung
neutral
unklar
Reaktion ErzieherIn
Abbildung 21. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen
Wie sich herausstellte, unterscheiden sich die Reaktionen der anwesenden Erzieherinnen auf das
prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen nur geringfügig. Die Mädchen erhielten etwas mehr
neutrale Reaktionen von Drittpersonen (31.7%) als die Jungen (28.9%). Auch Ignorieren/Tadel kam
häufiger vor, wenn das prosoziale Verhalten von einem Mädchen ausgeführt wurde, nämlich zu 61.8%
gegenüber 58.8% bei den Jungen. Auf das prosoziale Verhalten von Jungen dagegen reagierten die
anwesenden Drittpersonen häufiger mit positiver Verstärkung, das heisst, in 5.5% aller Fälle,
gegenüber 2.7% auf dasjenige von Mädchen.
Im
Anschluss
wurden
für
die
positive
Verstärkung,
die
neutralen
Reaktionen
sowie
Nichtbeachtung/Tadel mittels U-Test überprüft, ob sich die Reaktionen der anwesenden Erzieherinnen
auf das prosoziale Verhalten der Mädchen und der Jungen statistisch bedeutsam unterscheiden.
Kapitel 6: Ergebnisse
128
Tabelle 26
Kennwerte U-Tests für die Reaktion der anwesenden Erzieherinnen
Reaktion Erzieherin
MannWhitney-U
Wilcoxon-W
Z
Positive Verstärkung
81.50
234.50
-0.711
Neutral
80.00
146.00
-0.64
Ignorieren/Tadel
55.50
121.50
-2.09
Anmerkung. N = 17 Mädchen und 11 Jungen
Für keine der drei Reaktionen der Erzieherinnen gab es signifikante Ergebnisse: Die anwesenden
Drittpersonen reagierten auf das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen nicht unterschiedlich.
Allerdings wurde das prosoziale Verhalten von Mädchen tendenziell häufiger ignoriert oder getadelt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass anwesende Erzieherinnen, die das prosoziale Verhalten
der Zielkinder beobachten konnten, dieses meist nicht beachteten. Wenn sie auf das prosoziale
Verhalten reagierten, dann mit neutralen Kommentaren oder dem Beobachten der prosozialen
Handlung. Nur sehr selten reagierten die Erzieherinnen positiv, das heisst, lobten das Zielkind, zeigten
positive Emotionen oder initiierten eine über das prosoziale Verhalten hinausgehende Interaktion. Auf
das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen reagierten die anwesenden Erzieherinnen nicht
unterschiedlich.
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
129
7. Diskussion und Ausblick
Prosoziales Verhalten ist nicht nur ein zentraler Bestandteil der sozialen Kompetenz, es ist auch eine
von Sozialisationsagenten in besonderem Mass erwünschte Verhaltensweise. Sich in andere Menschen
einfühlen zu können, ihnen bei Bedarf zu helfen, andere zu trösten und sich anderen in positiver Weise
annähern zu können, sind für einen kompetenten Umgang mit anderen Menschen unerlässlich.
Wie mehrfach theoretisch (z. B. Hoffman, 1975, 1982) und empirisch (z. B. Zahn-Waxler et al., 1992)
festgestellt wurde, liegen die Wurzeln des prosozialen Verhaltens in der frühen Kindheit. Trotzdem
existieren bis anhin nur wenige Studien, welche die Entwicklung von prosozialem Verhalten von
Kindern im ersten und zweiten Lebensjahr längsschnittlich untersucht haben. Ein Hauptanliegen der
Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ war deshalb die
Untersuchung der Entwicklung des prosozialen Verhaltens in der frühen Kindheit. Insbesondere sollte
geklärt werden, wann sich die verschiedenen prosozialen Verhaltensweisen in der Entwicklung
erstmals beobachten lassen, welchen weiteren Verlauf sie bis zum Ende des zweiten Lebensjahres
aufweisen, mit welcher Häufigkeit sie auftreten und wie sie miteinander zusammenhängen. Ein
weiterer Kernbereich kreiste um die Frage, wie das Geschlecht, der soziale Stil und das Temperament
das prosoziale Verhalten beeinflussen. Weiter interessierte, wie die Ich-Andere-Unterscheidung und
das prosoziale Verhalten zusammenhängen, ob interindividuelle Unterschiede in der Häufigkeit zu
beobachten sind, an wen Zielkinder ihr prosoziales Verhalten richten und wie Empfänger sowie
anwesende Drittpersonen das prosoziale Verhalten durch ihre Reaktionen beeinflussen. Im Folgenden
werden die wichtigsten Befunde zusammengefasst und kurz diskutiert.
7. 1. Entwicklung von prosozialem Verhalten
Der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von prosozialem Verhalten in der Entwicklung unterscheidet
sich je dessen Form beträchtlich: Während das Anbieten von Objekten bei zwei Zielkindern bereits mit
acht Monaten vorhanden ist, konnte Zuneigung zeigen mit 10 Monaten, Assistieren mit 12 Monaten,
Wiedergutmachung mit 14 Monaten sowie Trösten und prosoziales Verhalten gegenüber Objekten mit
16 Monaten erstmals bei einem Teil der Zielkinder beobachtet werden. Bereits mit 16 Monaten sind
alle untersuchten Formen in der Stichprobe nachweisbar. Diese Resultate sind ein deutlicher Hinweis
darauf, dass die Reihenfolge des Auftretens der verschiedenen prosozialen Formen von der
Entwicklung der für die Ausführung des prosozialen Verhaltens benötigten sozio-kognitiven,
emotionalen und motorischen Fähigkeiten abhängt.
Dass das Anbieten von Objekten so früh gezeigt wird, überrascht nicht. Es ist kongruent mit den
sekundären Kreisreaktionen (Piaget, 1981): Kennzeichnend für diese Phase ist, dass das Kind Mittel
und Zweck voneinander unterscheiden kann und bestimmte Handlungen, wie zum Beispiel das
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
130
Anbieten von Objekten, unter anderem als Mittel zur Kontaktaufnahme einsetzen kann. Ähnliches gilt
für das Zuneigung zeigen, für das dieselben kognitiven Voraussetzungen notwendig sind. Dass sich
diese Verhaltensweise zwei Monate später als das Objekte anbieten zeigt, könnte damit
zusammenhängen, dass beim Zeigen von Zuneigung ein aktiveres Vorgehen von Seiten des Akteurs
erforderlich ist.
An mehr sozio-kognitive und motorische Voraussetzungen gebunden ist das Assistieren: Die
Möglichkeit zur Assistenz wird durch Signale der Situation angezeigt. Dies erfordert, dass das Kind
diese Signale richtig deuten kann. Dazu gehört, dass es das intendierte und unerreichte Ziel der
anderen Person erschliessen kann. Voraussetzung hierfür ist nach Karniol (1982), dass das Kind
entsprechende Wissensstrukturen in Form von allgemeinen Schemata und Skripts aufgebaut haben
muss. Verschiedene Autoren (Tomasello & Rakoczy, 2003; Gergely & Csibra, 2003) konnten zeigen,
dass Kinder mit 12 Monaten in der Lage sind, die Absichten und intendierten Ziele anderer Personen
zu erschliessen. Diese Angaben stimmen mit dem in der vorliegenden Studie gefundenen
Erstmanifestationsalter überein. Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt ist die zunehmende
Fähigkeit zur Lokomotion. Da das Assistieren vom Kind meist eine räumliche Annäherung zu der
Person oder der Situation erfordert, ist die Fähigkeit zur Lokomotion eine wichtige Voraussetzung für
die Ausübung dieser Form von prosozialem Verhalten.
Das Trösten und die Wiedergutmachung konnte erstmals mit 16 bzw. 14 Monaten beobachtet werden.
Dieser Befund stimmt mit den Resultaten aus den Längsschnittstudien von Zahn-Waxler et al. (1992)
überein: Die Kinder fingen in ihren Untersuchungen zwischen 13 und 15 Monaten an, erstmals
prosozial auf das Leid anderer zu reagieren. Im Unterschied zum Assistieren wird beim Trösten und
der Wiedergutmachung die Hilfsbedürftigkeit jedoch durch den mimischen Ausdruck der anderen
Person angezeigt. Das Kind muss also in der Lage sein, aufgrund des mimischen Ausdrucks der
anderen Person auf deren innere Zustände zu schliessen. Weiter ist die Situation im Unterschied zum
Assistieren von negativen Emotionen des potentiellen Empfängers geprägt. Nach Eisenberg et al.
(1996) sind in emotional negativ gefärbten Situationen zusätzlich Fähigkeiten zur Selbstregulation
erforderlich: Die eigenen emotionalen Reaktionen, die bei der Beobachtung einer leidenden Person
entstehen, müssen innerhalb eines tolerierbaren Rahmens gehalten werden: Wird die eigene Erregung
zu gross, wird die stellvertretende induzierte Emotion als zu aversiv erlebt und erzeugt personal stress.
Dies führt dazu, dass das Kind auf sich selbst fokussiert bleibt und damit beschäftigt ist, der eigenen
Überregung Herr zu werden (Eisenberg et al., 1996).
Theoretische Anschlüsse sind mehrfach möglich: Hoffman (1975, 1982) und Bischof-Köhler (1989)
gehen davon aus, dass die Empathie, dessen reife Form sich gemäss Hoffman kurz nach dem ersten
Geburtstag entwickelt, Voraussetzung für eine prosoziale Reaktion auf das emotionale Leid anderer
ist. Karniol (1981) dagegen postuliert, dass das prosoziale Eingreifen Resultat einer Gedächtnissuche
nach gespeichertem allgemeinem Wissen über ähnliche Situationen ist. Nach Kochanska (1984)
besteht die Persönlichkeit aus vier Subsystemen, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickeln
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
131
und bei der Auslösung von prosozialem Verhalten in komplexer Weise zusammenspielen. Aus diesen
vier Subsystemen ergeben sich unterschiedliche Formen von prosozialem Verhalten.
Als letzte der untersuchten prosozialen Verhaltensweisen trat prosoziales Verhalten gegenüber
Objekten auf. Offensichtlich sind hier Fähigkeiten involviert, die sich erst zu diesem relativ späten
Zeitpunkt entwickeln. Das etwa zeitgleiche Auftreten von einfachem Symbolspiel in unserer
Stichprobe lässt vermuten, dass es sich beim prosozialen Verhalten gegenüber Objekten um eine Form
des Symbolspiels handelt. Es entspricht Stufe III des Symbolspiels nach der Klassifikation von
McCune-Nicolich und Carroll (1981), bei dem andere Objekte und Personen als Rezipienten oder
Agenten mit in die Handlung einbezogen werden und das sich Mitte des zweiten Lebensjahres
entwickelt (Belsky & Most, 1981).
Die Häufigkeit des prosozialen Verhaltens (Summe aus den einzelnen prosozialen Formen) nimmt bis
16 Monate zu und verbleibt danach auf konstant hohem Niveau. Offenbar sind Mitte des zweiten
Lebensjahres die zur Ausführung des prosozialen Verhaltens benötigten Fähigkeiten bereits
vorhanden. Im weiteren Verlauf bis zwei Jahre zeigen sich Unterschiede zwischen den verschiedenen
Formen von prosozialem Verhalten. Das Anbieten von Objekten konnte bereits beim ersten
Messzeitpunkt beobachtet werden. In der Folge steigt die Häufigkeit bis zum dritten Messzeitpunkt an.
Danach ist jedoch keine Zunahme mehr festzustellen, vielmehr verbleibt das Anbieten von Objekten
auf einem hohen Niveau. Offensichtlich sind die für die Ausführung dieses Verhaltens notwendigen
Voraussetzungen schon früh in der Entwicklung vorhanden. Diese Resultate stimmen mit der
Beobachtung von Stanjek (1978) überein. In seinen Untersuchungen nahm die Häufigkeit des
Anbietens von Objekten bis zum Alter von zwei Jahren zu und sank danach. Bis zum zweiten
Lebensjahr nimmt das Anbieten von Objekten nach Stanjek (1978) die Funktion ein, mit anderen
Personen in Kontakt zu treten. Mit den zunehmenden verbalen Fähigkeiten der Zielkinder und einem
immer breiter werdenden Repertoire an zusätzlichen Möglichkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten
und Interaktionen aufrechtzuerhalten, wird das Anbieten von Objekten nach dem zweiten Lebensjahr
von anderen Strategien abgelöst.
Das Assistieren dagegen nimmt bis zum zweiten Lebensjahr zu. Offenbar erwerben immer mehr
Kinder der Stichprobe die notwendigen Voraussetzungen. Andererseits ist davon auszugehen, dass
sich die anfangs rudimentären Skripts und Schemata zunehmend mit Inhalten füllen. Dies führt dazu,
dass die Kinder immer mehr und subtile Signalen der Hilfsbedürftigkeit erkennen und sich das Wissen
darüber, wie prosozial gehandelt werden kann, ständig erweitert. Beim Trösten konnten ebenfalls
signifikante Alterseffekte festgestellt werden: Die Häufigkeit ist beim fünften und siebten
Messzeitpunkt höher als bei den übrigen. Allerdings kommt das Trösten insgesamt lediglich 12 Mal
vor, weshalb diese Resultate auf zufällige Schwankungen zurückzuführen sein könnten. Bei den
übrigen prosozialen Verhaltensweisen konnte kein eindeutiger Verlauf festgestellt werden. Im Fall der
Wiedergutmachung und dem prosozialen Verhalten gegenüber Objekten könnte dies damit
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
132
zusammenhängen, dass sie selten vorkommen und somit keine zuverlässigen Aussagen über Verläufe
möglich sind. Beim Zeigen von Zuneigung hat das Alter keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf.
Dies deckt sich mit den Aussagen von Eisenberg und Mussen (1989), wonach bei solchen
Verhaltensweisen der Einfluss der Persönlichkeit des Zielkindes stärker ist als derjenige des Alters.
Auch in der vorliegenden Studie hatte der soziale Stil des Zielkindes einen signifikanten Einfluss auf
das Zeigen von Zuneigung, nicht aber das Alter.
Die untersuchten prosozialen Verhaltensweisen weisen je nach Form unterschiedliche Häufigkeiten
auf. Das Anbieten von Objekten kommt sehr häufig vor und wurde von allen Zielkindern mindestens
ein Mal gezeigt. Diese Resultate entsprechen denjenigen von Stanjek (1978), in dessen Studie das
Anbieten von Objekten eine häufige und weit verbreitete Verhaltensweise bei Kleinkindern war. Eine
Verhaltensweise, die wahrscheinlich einem ähnlichen Zweck dient, ist Zuneigung zeigen. Sie kommt
jedoch seltener vor als das Anbieten von Objekten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass
Zuneigung zeigen vom Akteur ein aktiveres Vorgehen erfordert. Deshalb wird dieses Verhalten
wahrscheinlich eher von Kindern mit einem aktiven sozialen Stil ausgeführt.
Die häufigste prosoziale Verhaltensweise nach dem Anbieten von Objekten ist das Assistieren. Dies
deckt sich mit den zitierten Studien (z. B. Rheingold, 1982), bei denen die Kinder bereitwillig bei der
Erledigung von diversen Aufgaben halfen. Auch in der vorliegenden Studie halfen die Kinder zügig
bei der Erledigung von verschiedenen Aufgaben. Aufgrund der Tatsache, dass die Kinder häufig
spontan halfen, kann geschlossen werden, dass sie das intendierte Ziel verstanden (vgl. auch
Warneken & Tomasello, 2007).
Trösten und die Wiedergutmachung sind selten vorkommende Verhaltensweisen. Insgesamt werden
sie über alle Zielkinder und Zeitpunkte nur 12 resp. 10 Mal gezeigt. An Gelegenheiten zur
Wiedergutmachung und Trösten fehlte es allerdings nicht, die Zielkinder waren einerseits häufig in
Konflikte involviert und andererseits weinten häufig andere Kinder in der unmittelbaren Nähe der
Zielkinder. Dass die Zielkinder in solchen Situationen selten prosozial reagierten, deutet darauf hin,
dass hier stark hemmende Faktoren wirksam sein müssen. Zur theoretischen Einordnung bieten sich
hier mehrfache Möglichkeiten: Nach Eisenberg und Fabes (1998) kann das Zielkind in emotionalen
Situationen nur dann prosozial handeln, wenn die Notsituation erkannt wird und die eigene Erregung
in bestimmten Grenzen gehalten werden kann. Wird sie dagegen zu gross, bleibt das Kind auf sich
selbst fokussiert und ist damit beschäftigt, der eigenen Erregung Herr zu werden. Bischof-Köhler
(1989) glaubt, dass die Wahrscheinlichkeit einer prosozialen Intervention sinkt, wenn die Kinder in
eine interessante Tätigkeit wie z. B. ein Spiel vertieft sind. Caplan (1993) vermutet, dass Kinder
häufig keine Gelegenheit bekommen, prosozial zu reagieren, da Erzieherinnen normalerweise sehr
schnell tröstend eingreifen, wenn ein Kind weint. Dadurch vermitteln sie den Kindern, dass es die
Aufgabe von Erwachsenen ist, weinende Kinder zu trösten. Dies wird in aktualgenetischen Modellen
wie z. B. demjenigen von Darley und Latané (1970) beschrieben. Wird die Notlage einer anderen
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
133
Person bemerkt und als Notlage eingestuft, das Zielkind aber die Verantwortung zum Eingreifen den
Erwachsenen zuschreibt, wird es nicht eingreifen.
Ebenfalls selten zu beobachten ist prosoziales Verhalten gegenüber Objekten, zudem entwickelte es
sich von den untersuchten Formen zuletzt. Dass dieses Verhalten selten gezeigt wurde, hängt damit
zusammen, dass die Zielkinder in den letzten Aufnahmezeitpunkten zwar häufig mit Puppen oder
Teddybären spielten, dies jedoch selten alleine taten. Meist bezogen sie dabei die Erzieherinnen oder
andere Kinder mit ein und bauten mit ihnen zusammen ein symbolisches Spiel auf. Dies wurde in der
Grundstudie jedoch nicht als prosoziales Verhalten, sondern als Komplementärspiel kodiert.
7. 2. Interkorrelation
Die Interkorrelation der verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten fällt niedrig aus. Es sind
jeweils nur wenige Korrelationen signifikant und ein sinnvolles Muster ist nicht erkennbar. Dies
könnte an den teilweise niedrigen Auftretenshäufigkeiten von drei prosozialen Verhaltensweisen
liegen, da bei geringen Häufigkeiten vorhandene Effekte schwierig aufzuzeigen sind. Andererseits
involvieren die verschiedenen Formen, wie bereits ausgeführt, unterschiedliche sozio-kognitive
Fähigkeiten. Die in der vorliegenden Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den
ersten zwei Lebensjahren“ gefundenen Resultate stimmen mit den bisher zitierten empirischen
Untersuchungen überein: Zahn-Waxler, Radke-Yarrow und Chapman (1983) fanden niedrige
Zusammenhänge, Underwood und Moore (1982) sowohl niedrige wie keine Korrelationen zwischen
den verschiedenen Formen. Dies unterstützt die Schlussfolgerung von Radke-Yarrow et al. (1983),
nach denen die einzelnen Formen des prosozialen Verhaltens das Kind in unterschiedlicher Weise
involvieren. Sie erfordern unterschiedliche Fähigkeiten, Motive, Sensitivität, die Interaktion
verschiedener persönlicher Attribute und haben unterschiedliche Vorläufer (Radke-Yarrow et al.,
1983).
7. 3. Einfluss von Variablen der Person
7. 3. 1. Geschlecht
Mädchen handeln signifikant häufiger prosozial als die Jungen. Zusätzlich gibt es eine signifikante
Interaktion zwischen Geschlecht und Zeitpunkt. Die zeitlichen Verläufe des prosozialen Verhaltens
von Mädchen und Jungen sind unterschiedlich. In Übereinstimmung mit den Resultaten der
vorliegenden Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“
schliessen
Eisenberg
und
Fabes
(1998)
in
ihrer
Metaanalyse,
dass
wenn
signifikante
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
134
Geschlechtsunterschiede gefunden wurden, diese zugunsten der Mädchen ausfielen. Allerdings fanden
die zitierten Studien (z. B. Rheingold, 1982; Farver & Branstetter, 1994) mit Vorschulkindern in der
Regel
keine
signifikanten
Geschlechtsunterschiede.
Dabei
handelt
es
sich
jedoch
um
Querschnittuntersuchungen, die teilweise unter Laborbedingungen durchgeführt wurden. In der
vorliegenden Studie gab es aber eine signifikante Interaktion zwischen Messzeitpunkt und dem Faktor
Geschlecht. Das heisst, die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen waren nicht zu allen
Messzeitpunkten gleich gross oder signifikant. Vielmehr zeigte das prosoziale Verhalten von Jungen
und Mädchen einen unterschiedlichen Verlauf, wobei sich die Mittelwerte zu einigen Messzeitpunkten
stark unterschieden, bei anderen hingegen sehr nahe beieinander waren. Da Querschnittstudien das
Verhalten
nur
zu
einem
bestimmten
Zeitpunkt
einmalig
erfassen,
könnten
vorhandene
Geschlechtsunterschiede nicht erfasst werden, da zeitliche Schwankungen der prosozialen
Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werden.
Zur theoretischen Verankerung bieten sich mehrere Möglichkeiten an: Nach Eisenberg und Mussen
(1989) werden bei Jungen und Mädchen unterschiedliche Erziehungstechniken angewendet, die dazu
führen, dass das prosoziale Verhalten von Mädchen gefördert, bei Jungen hingegen gehemmt wird.
Des Weiteren werden Mädchen und Jungen unterschiedlich sozialisiert und prosoziales Verhalten wird
bei Mädchen stärker gefördert. Die Mädchen wurden jedoch weder von den Empfängern noch von
Drittpersonen häufiger positiv verstärkt als die Jungen. Allerdings wurden in der vorliegenden Studie
lediglich bestimmte, offen gezeigte Reaktionen auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder erfasst und
andere, subtile Formen der Verstärkung ausgeklammert.
Die Lerntheorie geht davon aus, dass die meisten Verhaltensweisen, auch prosoziales Verhalten, vor
allem durch Lernen am Modell erworben wird (Bandura, 1986). Dabei werden eher Modelle
nachgeahmt, die dem Beobachter ähnlich sind. Da die Betreuungspersonen in den Kindertagesstätten
vor allem weiblich sind, könnte es sein, dass vor allem die weiblichen Zielkinder das prosoziale
Verhalten der Erzieherinnen nachahmen, da sie dasselbe Geschlecht haben und somit als ähnlich
wahrgenommen werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Mädchen häufiger zu
prosozialem Verhalten aufgefordert werden, da es aufgrund geschlechtsstereotyper Vorstellungen von
ihnen mehr erwartet wird. Tatsächlich zeigen Mädchen signifikant häufiger als Jungen verlangtes
prosoziales Verhalten. Beim spontanen prosozialen Verhalten zeigen sich jedoch keine Unterschiede.
Mädchen handeln also nicht häufiger spontan prosozial als Jungen. Damit können die in der
vorliegenden Untersuchung gefundenen Geschlechtsunterschiede darauf zurückzuführen sein, dass
Mädchen einerseits häufiger zu prosozialem Verhalten aufgefordert werden, andererseits angepasster
und folgsamer sind als die Jungen und Aufforderungen zu prosozialem Verhalten eher nachkommen.
Die Mädchen zeigen das Anbieten von Objekten, das Assistieren und Trösten häufiger als Jungen.
Mädchen nutzen das Mittel des Anbietens von Objekten zum Zweck der Kontaktaufnahme häufiger
als die Jungen. Vielleicht nutzen diese andere Strategien zur Kontaktaufnahme als die Mädchen, die in
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
135
der vorliegenden Studie nicht untersucht wurden. Ebenso helfen Mädchen häufiger den Erzieherinnen
oder Peers bei der Erledigung von Aufgaben und trösten häufiger. Eine theoretische Erklärung für
diese Ergebnisse findet sich bei Bischof-Köhler (1989), die davon ausgeht, dass sowohl das Trösten
wie auch das Assistieren die ausdrucks- resp. situationsvermittelte Empathie involvieren. Somit
können die Resultate der vorliegenden Studie darauf zurückzuführen sein, dass die Mädchen
empathischer sind als die Jungen bzw. die Empathie sich bei ihnen früher entwickelt. Für die Formen
Assistieren und Objekte anbieten besteht eine weitere Erklärung wiederum darin, dass die Mädchen
folgsamer sein und Bitten eher nachkommen bzw. häufiger dazu aufgefordert werden.
7. 3. 2. Sozialer Stil
Die Häufigkeit der Konflikte hängt positiv mit dem prosozialen Verhalten zusammen, nicht aber die
Anzahl Interaktionen. Dass Kinder mit häufigen Konflikten häufiger prosoziales Verhalten zeigen,
stimmt mit den Annahmen von Zahn-Waxler et al. (1983) überein. Demnach werden Kinder, die
sozial aktiv sind und viele Konflikte haben, häufiger mit dem Leid einer anderen Person konfrontiert.
Dies ermöglicht die Entwicklung von Schuldgefühlen, welche nach Hoffman (1982) motivationale
Qualitäten für prosoziales Verhalten besitzen. Wenn Aggression selten vorkommt, situationsgebunden
und Ausdruck von Durchsetzungsvermögen ist, hängt sie positiv mit prosozialem Verhalten
zusammen (Kienbaum, 2003). Die Vermutung, dass es sich hierbei um sozial kompetente Kinder
handelt, wird unterstützt durch Studien zum sozialen Status in Gruppen: Kinder etwa, die im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, also ein hohes Ansehen geniessen, zeigen nicht nur häufiger
prosoziale Verhaltensweisen, sondern sind auch aggressiver als der Durchschnitt (Schmidt-Denter,
1994).
Die Befunde von Farver und Branstetter (1994), nach denen gesellige Kinder häufiger prosozial
handeln, wurde in der vorliegenden Studie nicht bestätigt. Die Häufigkeit der Interaktionen wies in der
vorliegenden Studie keinen Zusammenhang mit dem prosozialen Verhalten auf. Ein Grund hierfür
könnte sein, dass alle Kinder der Stichprobe durch den regelmässigen Besuch einer Kinderkrippe
genügend Kontakte mit Peers hatten, um die oben genannten Fähigkeiten entwickeln zu können.
Interessanterweise zeigte sich ein anderes Bild, wenn zwischen spontanem und verlangtem prosozialen
Verhalten unterschieden wird: Gesellige Kinder zeigen häufiger verlangtes prosoziales Verhalten,
Kinder mit vielen Konflikten dagegen häufiger spontanes prosoziales Verhalten. Wahrscheinlich
widersetzen sich assertive Kinder Bitten oder Aufforderungen zu prosozialem Verhalten häufiger und
sind weniger fügsam. Dagegen handeln sie häufiger spontan prosozial, da dieses Verhalten ein aktives
Herangehen an die Situation erfordert (Eisenberg & Mussen, 1989), eine Fähigkeit, die diese Kinder
besitzen. Gesellige Kinder dagegen verweigern sich Bitten oder Aufforderungen offenbar weniger.
Dies einerseits, um einen möglichen interpersonalen Konflikt, der durch die Weigerung entstehen
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
136
könnte, zu vermeiden. Andererseits bekommen sie durch die Aufforderung die Möglichkeit, mit
anderen eine Interaktion zu beginnen oder diese weiterzuführen.
7. 3. 3. Temperament
Es zeigen sich keine Zusammenhänge zwischen einem einfachen Temperament des Zielkindes und dem
prosozialen Verhalten. Dies steht um Widerspruch zu den Befunden von einigen der zitierten Studien
wie z. B. derjenigen von Farver und Branstetter (1994). Die Erklärung hierfür könnte darin liegen,
dass die Konzepte von schwierigem Temperament, die in anderen Studien und von Bates et al. (1979)
verwendet wurden, leicht voneinander abweichen. Gerade dieser Unterschied könnte jedoch in diesem
Zusammenhang relevant sein. Bei der bereits zitierten Studie von Farver und Branstetter (1994)
umfasst das schwierige Temperament unter anderem antisoziale Tendenzen gegenüber Peers, während
das Konzept von Bates et al. (1979) und der Infant Characteristics Questionnaire eher auf die
Pflegeleichtigkeit des Kindes aus Sicht der Erziehungsperson fokussiert sind. Zudem untersuchten
Farver und Branstetter (1994) lediglich eine Form von prosozialem Verhalten, nämlich die Reaktion
des Kindes auf das Weinen eines Peers, weshalb die Studien nur bedingt vergleichbar sind.
Ausserdem ist die empirische Befundlage zum Zusammenhang zwischen dem Temperament und dem
prosozialen Verhalten gemischt: Konsistent mit den Resultaten der Studie "Die Entwicklung des
prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren" fanden Radke-Yarrow et al. (1983) in ihrer
Literaturschau einige Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Persönlichkeits- bzw.
Temperamentsvariablen und prosozialem Verhalten nachweisen konnten.
7. 4. Interindividuelle Unterschiede
Die Zielkinder unterscheiden sich sowohl in der Häufigkeit des prosozialen Verhaltens beträchtlich
voneinander wie auch in den zeitlichen Verläufe der drei am häufigsten vorkommenden prosozialen
Formen Objekt anbieten, Assistieren sowie Zuneigung. Diese Resultate schliessen sich denjenigen von
Zahn-Waxler, Radke-Yarrow et al. (1992) an, die ebenfalls interindividuelle Unterschiede sowohl in
der Häufigkeit wie auch im prosozialen Stil fanden. Eine theoretische Erklärung für diese Resultate
bieten aktualgenetische Modelle wie dasjenige von Eisenberg (1986). Prosoziales Verhalten ist
demgemäss multideterminiert, die zahlreichen beteiligten Faktoren spielen zudem in komplexer Weise
zusammen. Eisenberg identifiziert eine Reihe von Faktoren, die die Performanz von prosozialem
Verhalten beeinflussen und zu interindividuellen Unterschieden führen können: So ist die
Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfsbedürftigkeit der anderen Person erkannt wird, von Faktoren der
Persönlichkeit sowie der momentanen Situation, welche sich wechselseitig beeinflussen, abhängig.
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
137
Diese werden jeweils von weiteren Faktoren wie der Sozialisationsgeschichte beeinflusst und
verändern sich zudem in Abhängigkeit der sozio-kognitiven Entwicklung. Für die weiteren Schritte im
Modell, „Identifikation hilfreicher Aktionen und Einschätzung der eigenen Fähigkeiten“ sowie
„Intention zu Helfen“, sind ebenfalls eine Reihe von Faktoren wirksam, die in komplizierter Weise
miteinander verknüpft sind.
Da drei Formen von prosozialem Verhalten nur selten zu beobachten waren, wurden die Merkmale der
Zielkinder, die diese Verhaltensweisen zeigten, mit der übrigen Stichprobe verglichen. Zielkinder, die
trösten, haben ein grosses Repertoire an prosozialen Verhaltensweisen zur Verfügung. Zielkinder, die
Wiedergutmachung leisten, haben häufiger mindestens ein Geschwister als die restliche Stichprobe.
Ähnlich wie die älteren Kinder in den Kindertagesstätten können ältere Geschwister ein Modell für die
Imitation von prosozialem Verhalten darstellen, andererseits können sie das prosoziale Handlungen
durch ihre Reaktionen verstärken (Zahn-Waxler, Iannotti & Chapman, 1982). Ausserdem können
Geschwister, wie es Zahn-Waxler, Iannotti et al. (1982) für die Peer-Gruppen postulieren, prosoziales
Verhalten fördern, indem sie ein Lernfeld für den Erwerb und Einübung dieser Verhaltensweise
bereitstellen.
Das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten wurde lediglich von vier Zielkindern gezeigt. Aufgrund
der geringen Anzahl konnten keine systematischen Muster hinsichtlich der untersuchten Merkmale
festgestellt werden.
7. 5. Empfängermerkmale
Die Zielkinder handeln gegenüber Erwachsenen häufiger prosozial als gegenüber Kindern. Die
Bevorzugung von erwachsenen Personen als Empfänger ist in den frühen Messzeitpunkten stärker
ausgeprägt. Im Verlauf der Entwicklung nimmt der Prozentsatz der erwachsenen Empfänger von
prosozialem Verhalten ab, derjenige der Kinder jedoch zu. Dies ist auf die prosozialen Formen
Trösten und Wiedergutmachung zurückzuführen, die sich erst mit 14 bzw. 16 Monaten erstmals
zeigen und beinahe ausschliesslich an Kinder gerichtet werden. Gleichzeitig sinkt der Anteil der
prosozialen Form Objekt anbieten, die häufiger an Erwachsene gerichtet ist als an Kinder, gegenüber
den anderen prosozialen Arten ab dem fünften Messzeitpunkt. Unterscheidet man zudem innerhalb des
Anbietens von Objekten nach der Altersgruppe des Empfängers wird sichtbar, dass diese
Verhaltensweise nur dann abnimmt, wenn der Empfänger eine erwachsene Person ist. Ist das Anbieten
von Objekt jedoch an Kinder gerichtet ist, nimmt es im zeitlichen Verlauf zu. Dasselbe Muster lässt
sich beim Zeigen von Zuneigung beobachten: Auch hier nimmt der Prozentzahl der erwachsenen
Empfänger über die Zeit hinweg ab, diejenige der Kinder jedoch zu.
Für diese Befunde bieten sich zwei theoretische Erklärungen an: Zielkinder üben diese
Verhaltensweisen zunächst bei den Erzieherinnen ein, bis sie darin eine gewisse Sicherheit erreicht
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
138
haben und setzen diese zu einem späteren Zeitpunkt bei den Peers ein. Vandell (1980) nimmt an, dass
das Interesse an Peers später als die Erwachsenen-Kind-Beziehung einsetzt. Neuerwerbungen und
Entwicklungsfortschritte auf einer Beziehungsebene, z. B. der Erwachsenen-Kind-Ebene, haben aber
Auswirkungen auf die zweite. Denn obwohl die Interaktionen von Kleinkindern mit Erwachsenen und
Peers unterschiedliche Funktionen erfüllen, sind sie Teil einer grösseren Einheit, der so genannten
sociability (Vandell, 1980). Das heisst, durch die Interaktion mit den Erzieherinnen erworbene
Fähigkeiten bzw. prosoziale Verhaltensweisen könnten die Zielkinder zu einem späteren Zeitpunkt auf
die Peers übertragen haben.
Youniss (1994) geht davon aus, dass sich Kind-Kind-Beziehungen und Erwachsene-KindBeziehungen in mehreren Punkten voneinander unterscheiden: Während Erstere durch symmetrische
Kontakte gekennzeichnet sind, resultieren aus dem Wissens- und Erfahrungsvorsprungs der
Erwachsenen gegenüber von Kindern asymmetrische Interaktionen. Letztere Beziehung ist ungleich,
hierarchisch, verpflichtend, unterstützend und erziehend. In der symmetrischen Beziehung dagegen
begegnen sich die Interaktionspartner auf gleicher Augenhöhe, sie ist partnerschaftlich, wechselseitig,
freiwillig, es wird ausgehandelt und ausprobiert. Erwachsene-Kind-Beziehungen und Kind-KindBeziehungen stellen also unterschiedliche Lernfelder dar. Deshalb stehen bei Kind-Kind-Interaktionen
und Erwachsene-Kind-Interaktionen unterschiedliche Themen im Vordergrund: So werden die beiden
prosozialen Verhaltensweisen Trösten und Wiedergutmachung ausschliesslich an Kinder gerichtet,
nicht aber an Erwachsene, welchen häufiger assistiert wird. Andererseits sind Interaktionen mit Peers
im Vergleich zu solchen mit Erwachsenen für die Kinder anspruchsvoller. In der Interaktion mit Peers,
also in symmetrischen Kontakten, müssen die Kinder sich aktiv bemühen: Sie müssen Interaktionen
initiieren, eine erfreuliche Gesellschaft sein, müssen Konflikte austragen und lösen, einander helfen
und Gefühle in angemessener Weise ausdrücken können (von Salisch, 2007). Dies stellt höhere soziokognitive, emotionale und selbstregulatorische Anforderungen an die Zielkinder, woraus eine
anfängliche Bevorzugung von Erwachsenen resultieren könnte, die mit fortschreitender Entwicklung
der genannten Fähigkeiten schwächer wird.
Die Zielkinder richten ihr prosoziales Verhalten signifikant häufiger an weibliche Personen. Es sind
zwei theoretische Verortungen denkbar: Kinder bevorzugen für ihr prosoziales Verhalten Empfänger,
die ihnen ähnlich sind wie z. B. Personen desselben Geschlechts (z. B. Ulich et al., 2001). Da in der
Stichprobe der Studie „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“
die Mädchen übervertreten waren, könnte die Tatsache, dass unsere Kinder weibliche Kontaktkinder
als Empfänger bevorzugen, auf diese Ungleichverteilung in der Stichprobe zurückzuführen sein. Dies
ist jedoch nicht der Fall, da nicht die weiblichen, sondern die männlichen Zielkinder Mädchen als
Empfänger von prosozialem Verhalten bevorzugen. Eine weitere Erklärung bietet die Norm der
Reziprozität (Ulich et al., 2001), wonach prosoziales Verhalten nur an solche Empfänger vergeben
wird, von denen man auch schon in der Vergangenheit selbst prosoziales Verhalten empfangen hat
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
139
oder in Zukunft erwarten kann. Dies bedeutet, dass Kinder, die häufiger prosoziales Verhalten zeigen,
auch häufiger als Empfänger von prosozialem Verhalten gewählt werden (vgl. Strayer et al., 1979).
Wenn die für die Zielkinder gefundenen Geschlechtsunterschiede auch für die Kontaktkinder gelten
und die weiblichen Kontaktkinder häufiger als männliche Peers prosoziales Verhalten zeigen, werden
sie in der Folge auch häufiger Rezipienten von prosozialem Verhalten.
7. 6. Auslösende Umstände und Reaktionen auf das prosoziale Verhalten
Die Zielkinder handeln überwiegend spontan, gefolgt vom prosozialen Verhalten auf eine Bitte oder
Aufforderung hin. Die übrigen untersuchten Auslöser spielen lediglich eine marginale Rolle.
Allerdings ist zu beachten, dass die zeitverschobene Nachahmung, wie sie Bandura (1986) beschreibt,
die von verschiedenen Autoren (vgl. Staub, 1982) als wichtige Quelle für den Erwerb des prosozialen
Verhaltens angesehen wird, in der vorliegenden Studie nicht untersucht wurde. Dasselbe gilt für die
Reziprozität: Es konnte nur prosoziales Verhalten erfasst werden, das als Reaktion auf unmittelbar
vorher erhaltene Unterstützung gezeigt wurde. Prosoziales Verhalten, das von den Zielkindern
zeitverschoben als Reaktion auf zuvor erhaltene Unterstützung ausgeführt wurde, konnte hingegen
nicht erfasst werden.
Der Anteil des spontanen prosozialen Verhaltens ist über die gesamte Beobachtungszeit hinweg
konstant hoch. Diese Resultate werden durch die Studien von Warneken und Tomasello (2007)
gestützt: Dass das prosoziale Verhalten meist spontan gezeigt wird, weist darauf hin, dass die
Zielkinder in der Lage sind, die Situationen richtig zu deuten, also die entsprechenden
Wissensstrukturen zur Verfügung haben. Die Tatsache, dass spontanes und verlangtes prosoziales
Verhalten in der Entwicklung gleichzeitig auftreten, legt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich bei
letztgenanntem um keinen Vorläufer des spontanen prosozialen Verhaltens handelt.
Die Empfänger ihrerseits reagieren meist entweder mit einer positiven Verstärkung oder Annahme auf
das prosoziale Verhalten der Zielkinder, eine Ablehnung dagegen ist selten. Diese Resultate schliessen
sich den Überlegungen der Lerntheorie an: Häufige positiven Verstärkungen können dazu beitragen,
dass prosoziales Verhalten in das Verhaltensrepertoire aufgenommen und aufrechterhalten wird.
Werden erwachsene Rezipienten von Peers unterschieden, zeigen sich signifikante Unterschiede in
den Reaktionen: Erwachsene reagieren häufiger mit positiver Verstärkung auf das prosoziale
Verhalten der Zielkinder, während Peers häufiger mit einer Annahme und mit Ablehnung reagieren.
Weiter wurden die Reaktionen auf spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten untersucht. Die von
Eisenberg et al. (1981) gefundenen Unterschiede zeigen sich jedoch nicht: Auf spontanes und
verlangtes prosoziales Verhalten wird nicht unterschiedlich reagiert. Allerdings unterschied sich die
genannte Studie hinsichtlich des Alters der Stichprobe und der Untersuchungsanlage von der
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
140
vorliegenden Untersuchung „Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei
Lebensjahren“. Zudem korrelieren in unserer Stichprobe spontanes und verlangtes prosoziales
Verhalten im Gegensatz zu Eisenberg et al. (1981) signifikant. Nur wenige Unterschiede wurden bei
den Reaktionen der Empfänger in Abhängigkeit des sozialen Stils des Zielkindes gefunden. Offenbar
wird auf das prosoziale Verhalten von Kleinkindern generell positiv reagiert – unabhängig vom
sozialen Stil des Kindes.
Anwesende Drittpersonen reagieren selten mit positiver Verstärkung auf das prosoziale Verhalten, in
den meisten Fällen ignorieren sie das prosoziale Verhalten des Zielkindes. Wenn eine Reaktion der
Drittpersonen erfolgt, ist sie grösstenteils neutral, das heisst, sie beobachten das prosoziale Verhalten
des Zielkindes, gehen aber nicht weiter darauf ein oder sie kommentieren das prosoziale Verhalten,
jedoch ohne zu loben. Diese Resultate stimmen mit denjenigen von Eisenberg et al. (1981) überein,
die ebenfalls von wenig positiven Reaktionen und häufigem Nicht-Beachten berichten. Allerdings war
der häufigste Grund der Nicht-Beachtung bei der zitierten Studie die räumliche Abwesenheit der
Erzieherinnen, so dass die genauen Anteile, wenn die Erzieherinnen anwesend waren, nicht bekannt
sind.
7. 7. Quintessenz und Ausblick
7. 7. 1. Schlussfolgerungen für die Praxis
Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, ihnen zu helfen oder sie zu trösten, also die Fähigkeit,
prosozial zu handeln, ist ein zentraler Bestandteil eines kompetenten Umgangs mit anderen. Die
Wurzeln des prosozialen Verhaltens liegen in der frühen Kindheit (z. B. Zahn-Waxler et al., 1992),
weshalb an dieser Stelle Überlegungen dargelegt werden, wie prosoziales Verhalten in den
Kindertagesstätten gefördert werden könnte:
Wie Staub (1982) anmerkt, ist bei der Entwicklung von prosozialem Verhalten ein zentraler Punkt,
dass die Kinder ausreichend Gelegenheit bekommen, prosoziales Verhalten selbst auszuführen und
einzuüben. Er glaubt, dass häufige Gelegenheiten, prosoziales Verhalten selbst auszuführen förderlich
für dessen Entwicklung sind. Durch die prosoziale Aktivität wird nicht nur das entsprechende
Verhalten eingeübt, durch die Interaktion mit der anderen Person bekommt das Kind auch die
Gelegenheit, sich in diese einzufühlen. Für die Förderung von prosozialem Verhalten bedeutet dies,
dass die Erzieherinnen in den Kindertagesstätten einerseits genügend Gelegenheiten zur Verfügung
stellen müssen, bei denen die Kinder prosoziales Verhalten selbst einüben können. Andererseits
sollten die Erziehrinnen die Kinder aktiv auffordern, prosozial zu handeln, da es wichtig ist, ihnen
Verantwortung zu übertragen. Damit ist gemeint, dass die Kinder für spontanes prosoziales Verhalten
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
141
belohnt und ihnen Regeln vermittelt werden, dass unter bestimmten Bedingungen eine prosoziale
Handlung von ihnen erwartet wird. Bei kleinen Kindern muss zusätzlich kontrolliert werden, dass sie
das gewünschte Verhalten tatsächlich ausführen (Staub, 1982). Wie die Beobachtungen in den
Kindertagesstätten gezeigt haben, baten die Erzieherinnen die Kinder in der Tat häufig, ihnen zu
helfen oder Spielzeug aufzuräumen. Somit erhalten die Kinder Gelegenheit, das Assistieren einzuüben
und in der Interaktion etwas über die andere Person zu erfahren. Ebenfalls forderten die Erzieherinnen
die Zielkinder auf, ihr Spielzeug zu teilen oder ein Spielzeug wieder zurückzugehen, das diese einem
anderen Kind entrissen hatten. Wenn ein Kind weinte, griffen die Erzieherinnen allerdings
normalerweise sehr schnell ein und forderten das Zielkind in solchen Fällen weder auf, prosozial zu
handeln noch gaben sie ihnen die Gelegenheit, spontan prosozial einzugreifen. Dies könnte einer der
Gründe sein, weshalb Trösten in der vorliegenden Untersuchung selten vorkam.
Wie die Resultate der vorliegenden Studie zeigen, handelten die untersuchten Zielkinder meist spontan
prosozial. Um prosoziales Verhalten im Verhaltensrepertoire zu erhalten, ist es wichtig, das Kind für
sein prosoziales Verhalten zu verstärken. Besonders die Erzieherinnen reagierten sehr häufig mit einer
positiven Verstärkung, wenn sie Rezipienten des prosozialen Verhaltens waren. Allerdings reagierten
sie selten mit positiver Verstärkung, wenn sie das Verhalten lediglich beobachteten. In solchen
Situationen ignorierten sie das Zielkind meist. Die Erzieherinnen können das prosoziale Verhalten
zusätzlich fördern, indem sie die Kinder ebenfalls positiv verstärken, wenn sie solche Szenen
beobachten. Allerdings ist zu beachten, dass Kinder für ihr prosoziales Verhalten zwar positiv
verstärkt, jedoch nicht materiell belohnt werden sollten, da dies die intrinsische Motivation unterlaufen
kann. Dies gilt offenbar schon für sehr kleine Kinder: Warneken und Tomasello (2008) wiesen nach,
dass 19 - 21 Monate alte Kinder weniger helfen, nachdem sie für ihr prosoziales Verhalten eine
materielle Belohnung erhalten hatten.
Eine weitere Möglichkeit, prosoziales Verhalten zu erwerben, besteht im stellvertretenden Lernen.
Kinder beobachten Modelle und ahmen ihr Verhalten nach. Dies bedeutet, dass Sozialisationsagenten
das prosoziale Verhalten der Kinder nicht nur verstärken können, sondern selbst prosozial agieren und
den Kindern somit als Modell dienen können. Wie Staub (1982) anmerkt, ist das Lernen am Modell
besonders effektiv, da das prosoziale Verhalten unauffällig gesteuert wird und die Gefahr der Renitenz
kleiner ist als bei einem direkten Befehl. Ebenso kann in den Kindertagesstätten darauf geachtet
werden, dass die Kinder sich gegenseitig helfen und unterstützen und die älteren Kinder in der Gruppe
als prosoziale Modelle wirken. Vor allem in altersgemischten Gruppen, wie sie ein Grossteil unserer
untersuchten Krippen aufweist, bietet sich für die jüngeren Kinder die Möglichkeit, von den älteren
Kindern zu lernen, wie prosoziales Verhalten ausgeführt wird. Dies spielt vor allem beim Erlernen und
Aufbau des prosozialen Verhaltens eine grosse Rolle. Zudem herrscht in altergemischten Gruppen ein
weniger kompetitives Umfeld als in altershomogenen Gruppen, was die Etablierung einer prosozialen
Gruppennorm unterstützt (Zahn-Waxler et al., 1982). Eine prosoziale Gruppennorm kann durch die
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
142
Erzieherinnen gefördert werden, indem für die Gruppe prosoziale Regeln definiert werden und auf die
Einhaltung dieser geachtet wird.
Allerdings muss beachtet werden, dass Kinder nicht immer und gegenüber jedem prosozial handeln
müssen und bei Konflikten nicht vorschnell eingegriffen werden sollte. Wie Caplan (1993) bemerkt,
ist es nicht adaptiv und wünschenswert, dass Kinder immer prosozial sind. Sie sollen ihr prosoziales
Verhalten selektiv vergeben und sollten sich Bitten oder Aufforderungen gelegentlich verweigern
dürfen. Denn auch Erwachsene vergeben Mitgefühl nach bestimmten Kriterien, zu denen z. B. die
Frage gehört, ob jemand sein Unglück selbst verschuldet hat oder nicht. Kinder, die sehr häufig
prosozial handeln und sich Bitten selten widersetzen, werden von den Peers als "leichtes Ziel"
angesehen und als unterwürfig und abhängig erlebt (Eisenberg et al., 1991). Sozial kompetent zu
handeln bedeutet einerseits, sich in andere einfühlen zu können, sie zu unterstützen und positiven
Kontakt mit anderen herstellen zu können, andererseits aber auch, sich wenn nötig durchsetzen zu
können und Konflikten nicht auszuweichen. Denn Konflikte bergen für die Kinder wichtige
Lernmöglichkeiten: Das Kind lernt, welche Konsequenzen seine Handlungen für andere Menschen
haben und wie Konflikte so gelöst werden können, dass eigene Ziele erreicht werden, jedoch ohne
dem
anderen
Schaden
zuzufügen.
Nach
Asendorpf
sind
die
beiden
Verhaltensweisen
Kooperationsbereitschaft sowie Konfliktfähigkeit wesentliche Bestandteile der sozialen Kompetenz.
Diese gilt es situativ so einzusetzen, dass es möglich ist, eigene Ziele innerhalb von sozialen
Beziehungen zu erreichen, ohne die Beziehung zu gefährden (Asendorpf, 2007).
7. 7. 2. Diskussion der verwendeten Methoden und Implikationen für die weitere
Forschung
Die Auswertung der Beobachtungsdaten durch die Autorin erwies sich durch den Vergleich mit einer
unabhängigen Raterin als reliabel, was die hohe Beobachterübereinstimmung belegt. Über die
Validität lässt sich insofern eine Aussage machen, als dass die ökologische Validität durch
Beobachtungen im Feld gegeben ist. Zudem wurde in der vorliegenden Arbeit die Auswahl wie auch
die Operationalisierung unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur vorgenommen und beruhte
auf Verhaltensindikatoren. Weiter konnten die aufgestellten Hypothesen im Wesentlichen bestätigt
werden und die Resultate stehen zumeist im Einklang mit theoretischen Überlegungen und anderen
Studien, die das prosoziale Verhalten von Kleinkindern untersucht haben. Trotzdem wurden in der
Arbeit auch methodische Defizite der Studie aufgedeckt. Im Folgenden werden deshalb die in der
vorliegenden Untersuchung verwendeten Methoden kritisch diskutiert und Schlussfolgerungen für
weitere Studien in diesem Bereich dargelegt.
Die Resultate weisen auf die Notwendigkeit eines Längsschnittdesign zur Dokumentation der
Entwicklung von prosozialem Verhalten hin. Nur so können wichtige Entwicklungsschritte
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
143
zuverlässig erfasst werden, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Entwicklung des prosozialen
Verhaltens nicht linear verläuft, sondern Schwankungen aufweist. Diese können durch ein
Querschnittdesign nur ungenügend berücksichtigt werden. Zudem treten die verschiedenen Formen in
der Entwicklung nicht gleichzeitig, sondern in einer bestimmten Reihenfolge auf, dessen Muster nur
durch ein Längsschnittdesign aufgedeckt werden kann. Die Studie „Die Entwicklung des prosozialen
Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ hat weiter gezeigt, dass ein möglichst früher Beginn der
Messungen nötig ist, da die ersten prosozialen Handlungen bereits beim ersten Messzeitpunkt, also mit
8 Monaten, vorhanden waren. Dies bedeutet, dass für zukünftige Studien der erste Messzeitpunkt
früher gelegt müsste. Ein Abstand von 2 Monaten zwischen den einzelnen Messungen erwies sich im
vorliegenden Fall als optimal, da er einerseits gross genug war, um unnötige Leerläufe zu vermeiden,
andererseits klein genug war, um die wichtigen Entwicklungsschritte zu erfassen.
Aufgrund der Tatsache, dass die Zielkinder schon sehr früh deutliche Präferenzen für bestimmte
Empfänger zeigen, ist ein natürliches Setting, in dem sich die Kinder die Empfänger selbst aussuchen
können, zu wählen. Die Beobachtungsmethode mittels Video erwies sich bei kleinen Kindern als
optimal, da auf diese Weise nicht nur die prosoziale Handlung an sich durch mehrmaliges Durchgehen
der Filme zuverlässig identifiziert werden konnte, sondern auch Merkmale der dem eigentlichen
prosozialen Verhalten vorausgehenden Situation sowie die Konsequenzen der prosozialen Handlung.
Um weitere Aufschlüsse über den genauen Zusammenhang von Faktoren wie z. B. die Ich-AndereUnterscheidung und dem prosozialen Verhalten zu erhalten, ist eine Ergänzung der Beobachtungen
durch Experimente notwendig. In der Grundlagenstudie wurden zwei die Videoaufnahmen ergänzende
Experimente durchgeführt. Mit den Zielkindern wurde im Alter von 20 Monaten der Empathie-Test
nach Bischof-Köhler (1994) durchgeführt, mit der eine prosoziale Reaktion des Zielkindes provoziert
werden soll. Im Gegensatz zu der genannten Autorin führten wir den Test jedoch nicht im Labor,
sondern in den Kindertagesstätten in Anwesenheit einer Erzieherin durch. Zudem waren insgesamt
vier verschiedene wissenschaftliche Mitarbeiterinnen Testleiterinnen. Wie sich herausstellte, waren
einerseits die Störfaktoren in den Kindertagesstätten wie Lärm, der zu hören war oder Kontaktkinder,
die durch die Türe zu sehen waren, zu gross. Andererseits konnte die Durchführung des Tests nicht
genügend standardisiert werden und zwischen den einzelnen Mitarbeiterinnen zeigten sich
Unterschiede im Verhalten während des Tests. Aus diesem Grund konnten die Daten aus dem
Empathie-Test für die vorliegende Untersuchung nicht verwendet werden.
Dieselben Probleme stellten sich uns bei der Erfassung der Ich-Andere-Unterscheidung: Die Messung
der Ich-Andere-Unterscheidung führten wir im Gegensatz zu Bischof-Köhler (1989, 1994) nicht im
Labor durch, sondern in den Kindertagesstätten. Obwohl wir den Ablauf standardisierten, waren in
den Krippen die möglichen Störeinflüsse grösser als unter Laborbedingungen. So waren etwa noch die
anderen Kinder der Gruppe in den anderen Zimmern anwesend, was teilweise deutlich hörbar war.
Somit war bei uns nicht derselbe Grad an Standardisierung gegeben wie bei einer Durchführung im
Labor, weshalb eine gewisse Verzerrung der Ergebnisse bei unseren Messungen nicht auszuschliessen
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
144
ist. Wie auch beim Empathie-Test wäre zudem eine längsschnittliche Erhebung nötig gewesen, um
Entwicklungsschritte in der Ich-Andere-Unterscheidung mit der Entwicklung des prosozialen
Verhaltens in Zusammenhang bringen zu können. So könnten noch genauere Rückschlüsse auf dem
prosozialen Verhalten zugrunde liegende Mechanismen getroffen werden.
Aus diesen Erfahrungen folgt, dass ergänzende Experimente sorgfältig geplant und standardisiert
werden müssen, da eine Reihe von Faktoren wie die Umgebung, die momentane Stimmung des
Zielkindes oder die Beziehung zum potentiellen Empfänger die Auftretenswahrscheinlichkeit des
prosozialen Verhaltens entscheidend beeinflussen. Um Störeinflüsse besser kontrollieren zu können,
ist für die Experimente ein Laborsetting der natürlichen Umgebung vorzuziehen.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass unsere Stichprobe sehr heterogen
zusammengesetzt war: So hatten einige Zielkinder ältere Geschwister, andere hingegen nicht. Einige
Familien waren vollständig, bei anderen war die Mutter allein erziehend. Ebenfalls nicht ganz erreicht
werden konnte eine Gleichverteilung des Geschlechts der Zielkinder. Weiter unterschieden sich die
Kindertagesstätten
hinsichtlich
verschiedener
Merkmale
wie
Gruppengrösse,
Gruppenzusammensetzung und Betreuungsverhältnis erheblich voneinander. Die genannten Faktoren
könnten jedoch einen Einfluss auf das prosoziale Verhalten haben, der in der Studie „Die Entwicklung
des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren“ nicht untersucht werden sollte. Dieses
Problem konnte mit der Wahl von gemischten Modellen für die Datenanalyse teilweise gelöst werden.
Die gemischten Modelle erlauben es, diese Faktoren mit einzubeziehen und deren Einfluss zu
kontrollieren. Somit war es möglich, die Ausbildung von Vater und Mutter, das Vorhandensein von
Geschwistern, den allgemeinen Entwicklungsstand des Zielkindes sowie ein allfälliger Krippen- oder
Gruppenwechsel, die einen Einfluss auf das prosoziale Verhalten ausüben könnten, zu kontrollieren.
Schliesslich haben die Resultate gezeigt, dass bereits im Kleinkindalter erhebliche interindividuelle
Unterschiede im prosozialen Verhalten vorhanden sind: Während einige Kinder jeweils affektiv
involviert schienen, schienen andere wiederum emotional wenig betroffen und gingen die Situation
wie ein kognitives Problem, das es zu lösen gilt, an. Die Unterschiede zeigen sich jedoch nicht nur im
„prosozialen Stil“, sondern auch in der Häufigkeit und den verschiedenen Formen. Solche
Beobachtungen legen nahe, interindividuelle Unterschiede und Verläufe mittels Einzelfallstudien
näher zu beleuchten.
Abschliessend soll angemerkt werden, dass die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen aus
folgenden Gründen beschränkt generalisierbar sind:
-
Die vorliegende Untersuchung ist nicht repräsentativ: Sie ist auf städtische Einrichtungen im
Raum Zürich beschränkt und dabei auf die Freiwilligkeit der beteiligten Kindertagesstätten
und der Familien angewiesen.
Kapitel 7: Diskussion und Ausblick
-
145
Die Zielkinder und die Kindertagesstätten unterschieden sich hinsichtlich relevanter Merkmale
wie Geschlecht, Gruppengrösse, etc. erheblich voneinander. Diese Faktoren konnten in
unserer Studie nicht ausbalanciert werden.
-
Die Beobachtungen waren auf Freispielsituationen beschränkt, das heisst, auf Situationen, in
denen die Kinder ihre Aktivitäten selbst bestimmen konnten.
7. 7. 3. Quintessenz
Die Arbeit konnte einen Beitrag zur Schliessung der vorhandenen Forschungslücke leisten und die
Entwicklung des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren längsschnittlich
dokumentieren sowie die Rolle von verschiedenen Einflussfaktoren klären. Es konnte aufgezeigt
werden, dass schon sehr kleine Kinder zu prosozialem Verhalten fähig sind und bis zum Alter von
zwei Jahren ein breites Repertoire an unterschiedlichen Formen aufgebaut haben. Damit sind Theorien
widerlegt, die Kindern bis zu zwei Jahren die Fähigkeit zu spontanem prosozialem Verhalten
absprechen. Zwischen den verschiedenen Formen zeigen sich Unterschiede in Erstmanifestationsalter,
Häufigkeit und Verlauf. Dies deutet darauf hin, dass es sich hierbei um Verhaltensweisen mit
unterschiedlichen sozio-kognitiven, emotionalen sowie selbstregulatorischen Anforderungen und
wahrscheinlich auch unterschiedlichen zugrunde liegenden Motiven handelt. Weiter sind bereits in der
frühen Kindheit individuelle und Gruppenunterschiede beobachtbar: Das prosoziale Verhalten ist
erwartungsgemäss vom persönlichen Stil des Zielkindes abhängig, ausserdem zeigen sich in der
vorliegenden Studie deutliche Geschlechtsunterschiede. Ob dies angeborene Unterschiede sind oder
früh durch unterschiedliche Sozialisation erworbene, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.
Allerdings reagieren weder die Empfänger von prosozialem Verhalten, noch die anwesenden
Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten von Jungen und Mädchen unterschiedlich. Die Mädchen
zeigen aber häufiger verlangtes prosoziales Verhalten, sei es, weil sie häufiger dazu aufgefordert
werden oder Bitten eher entsprechen. Die Tatsache, dass Kinder mit häufigen Konflikten häufiger
prosozial handeln, zeigt, dass Aggressivität zumindest im Vorschulalter eher im Sinn von
Durchsetzungsvermögen und einer generell aktiven Persönlichkeit verstanden werden kann und nicht
als Ausdruck einer beginnenden Verhaltensauffälligkeit. Neben diesen Gruppenunterschieden lassen
sich erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Häufigkeit sowie dem zeitlichen Verlauf
feststellen. Während einige Zielkinder häufig prosoziales Verhalten ausführen und ein breites
Repertoire an verschiedenen Formen zur Verfügung haben, handeln andere nur selten prosozial.
Um die in der vorliegenden Untersuchung gefundenen Resultate zu bestätigen und zu generalisieren
sowie den genauen Zusammenhang zwischen dem prosozialen Verhalten und Entwicklungsschritten in
sozio-kognitiven, emotionalen und selbstregulatorischen Bereichen näher zu beleuchten, bedarf es
weiterer Studien mit repräsentativen Stichproben und ergänzenden Experimenten.
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Anhangverzeichnis
Anhangverzeichnis
Anhang A: Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
-
Abbildungsverzeichnis
-
Tabellenverzeichnis
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
-
ICQ 1
-
ICQ 2
Anhang A: Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
ANHANG A: ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1. Anzahl der Zielkinder, die mindestens 1 Mal prosozialen Verhalten zeigen, differenziert
nach dem Messzeitpunkt
Abbildung 2. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Formen T1- T9
Abbildung 3. Verlauf des prosozialen Verhaltens von 8 bis 24 Monate
Abbildung 4. Verlauf der verschiedenen Formen, differenziert nach dem Messzeitpunkt
Abbildung 5. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Verhaltensweisen
Abbildung 6. Prozentuale Anteile der verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten
Abbildung 7. Häufigkeiten der verschiedenen prosozialen Formen pro Zielkind
Abbildung 8. Zeitlicher Verlauf der geschätzten Randmittel, differenziert nach dem Geschlecht
Abbildung 9. Anzahl Erkenner und Nicht-Erkenner, die empathisches Verhalten zeigen
Abbildung 10. Zeitlicher Verlauf der drei häufigsten Formen pro Zielkind
Abbildung 11. Anteile der verschiedenen auslösenden Umstände in Prozent über alle Zeitpunkte
Abbildung 12. Zeitlicher Verlauf der Auslöser von prosozialem Verhalten in Prozent
Abbildung 13. Geschlecht Empfänger in Prozent ohne Erwachsene über alle Zeitpunkte
Abbildung 14. Prozentualer Anteil der verschiedenen Altersgruppen über alle Zeitpunkte
Abbildung 15. Prozentualer Anteil der verschiedenen Altersgruppen pro Zeitpunkt
Abbildung 16. Prozentualer Anteil der verschiedenen Empfänger-Reaktionen
Abbildung 17. Reaktion des Rezipienten auf spontanes und verlangtes prosoziales Verhalten
Abbildung 18. Reaktionen der Rezipienten, differenziert nach der Häufigkeit der Interaktionen des
Zielkindes
Abbildung 19: Reaktionen der Rezipienten, differenziert nach der Häufigkeit der Konflikte des
Zielkindes
Abbildung 20. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten der Zielkinder
Abbildung 21. Reaktionen von anwesenden Drittpersonen auf das prosoziale Verhalten von Jungen
und Mädchen
Anhang A: Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Tabellenverzeichnis:
Tabelle 1: Untersuchungsplan
Tabelle 2: Interkorrelationen der prosozialen Verhaltensweisen
Tabelle 3: Bivariate Korrelationen zwischen spontanen und verlangten prosozialen Formen
Tabelle 4: Tests auf feste Effekte bei spontanem und verlangtem prosozialem Verhalten
Tabelle 5: Geschätzte Randmittel des prosozialen Verhaltens pro Messzeitpunkt
Tabelle 6: Haupteffekt Zeitpunkt, differenziert nach der prosozialen Form
Tabelle 7: Geschätzte Randmittel T1 – T9, differenziert nach dem Geschlecht des Zielkindes
Tabelle 8: Haupteffekt des Geschlechts pro prosoziale Form
Tabelle 9: Tests auf feste Effekte für jede prosoziale Form
Tabelle 10: Chi-Quadrat-Test, differenziert nach Messzeitpunkt
Tabelle 11: Chi-Quadrat-Test, differenziert nach Messzeitpunkt und prosozialer Form
Tabelle 12: Merkmale der Zielkinder, die Trösten
Tabelle 13: Kennwerte Mann-Whitney-Tests
Tabelle 14: Merkmale der Zielkinder, die Wiedergutmachung leisten
Tabelle 15: Kennwerte Mann-Whitney-Tests
Tabelle 16: Merkmale der Zielkinder, die prosoziales Verhalten gegenüber Objekten zeigen
Tabelle 17: Anteile der Auslöser des prosozialen Verhaltens in Prozent im zeitlichen Verlauf
Tabelle 18: Kennwerte Chi-Quadrat-Test pro Messzeitpunkt
Tabelle 19: Statistik für den Chi-Quadrat-Test, differenziert nach dem Messzeitpunkt
Tabelle 20: Reaktionen des Empfängers (in %), differenziert nach der Empfängergruppe
Tabelle 21: Mittelwert, Standardabweichungen und Kennwerte T-Tests für die Reaktionen von
Erwachsenen und Peers
Tabelle 22: Kennwerte der U-Tests für die Empfänger-Reaktionen
Tabelle 23: Kennwerte der T-Tests für die Reaktionen der Empfänger auf spontanes respektive
verlangtes prosoziales Verhalten
Tabelle 24: Kennwerte Kruskal-Wallis-Test für die Rezipienten-Reaktionen
Tabelle 25: Kennwerte U-Test für die Annahme der Aktion, differenziert nach dem sozialen Stil des
Zielkindes
Tabelle 26: Kennwerte U-Tests für die Reaktion der anwesenden Erzieherinnen
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
ANHANG B: INFANT CHARACTERSISTICS QUESTIONNAIRE
ICQ 1:
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
ICQ 2:
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
Anhang B: Infant Characteristics Questionnaire
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