Kognitiv-emotionale Umweltbewältigung beim Hausschwein

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Züchtungskunde, 84, (4) S. 307–319, 2012, ISSN 0044-5401
© Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart
Original Article
Kognitiv-emotionale Umweltbewältigung beim Hausschwein –
Herausforderung für Tierhaltung und Tierschutz
B. Puppe1,2, Manuela Zebunke1, Sandra Düpjan1 und J. Langbein1
Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel gibt eine Übersicht zu aktuellen verhaltensphysiologischen Aspekten von Kognition und Emotion bei Tieren und stellt die Auswirkungen einer kognitiven
Umweltanreicherung beim Hausschwein vor. Kognitives Verhalten und affektiv-emotionales Erleben sind sich wechselseitig beeinflussende Bestandteile evolutionär geformter
Bewältigungsmechanismen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. In der heutigen
Nutztierhaltung spielen sie deshalb eine immer wichtiger werdende Rolle in der wissenschaftlichen und praktischen Beurteilung von Wohlbefinden und Tierschutz sowie für die
Anforderungen an tiergerechte Haltung und Zucht. Es lässt sich ableiten, dass die sinnvolle Integration kognitiver Umweltanreicherungen in die Haltungsumwelt das Potenzial
hat, nachhaltige Verbesserungen im Verhalten und dem Wohlbefinden der Tiere zu erreichen. Eine hiermit vorgeschlagene umfassende Definition beschreibt Wohlbefinden deshalb als den Zustand physischer und psychischer Gesundheit, der sich – vor dem Hintergrund individueller, auch kognitiver Ansprüche und Fähigkeiten – aus dem Prozess der
ethologischen und physiologischen Adaptation bei der Bewältigung von Herausforderungen durch die Umwelt und den dabei gemachten subjektiven Erfahrungen und emotionalen Bewertungen ergibt.
Schlüsselwörter: Bewältigungsverhalten, Wohlbefinden, Kognition, Emotion,
kognitive Umweltanreicherung, Schwein
Summary
Cognitive and emotional coping with the environment in the domestic pig –
a challenge for animal husbandry and welfare
The present paper reviews current behavioural and physiological aspects of cognition
and emotion in animals and presents the effects of a cognitive enrichment on welfare in
domestic pigs. Cognitive behaviour and emotional experiences are interacting constituents of coping mechanisms evolved in interaction with the environment. In modern farm
animal husbandry they play an increasingly important role for the scientific and practical
assessment of animal welfare and animal-friendly housing or breeding. It can be inferred
that a sensible integration of cognitive enrichment into housing environments has the
1
Forschungsbereich Verhaltensphysiologie, Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), WilhelmStahl-Allee 2, 18196 Dummerstorf, E-Mail: [email protected]
2 Professur für Verhaltenskunde, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock,
Justus-von-Liebig-Weg 8, 18059 Rostock
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potential for sustainable improvements of animal behaviour and welfare. Hence, the following comprehensive definition is suggested: Welfare is the state of physical and mental
health resulting from the process of behavioural and physiological adaptation when coping with environmental challenges, and the associated subjective experiences and emotional evaluation, all in the light of individual and/or cognitive needs and abilities.
Keywords: Coping, animal welfare, cognition, emotion, cognitive enrichment, pig
1 Einleitung
Das Verhaltensrepertoire des Hausschweins (Sus scrofa) gleicht in wesentlichen Teilen dem
seiner freilebenden eurasischen Vorfahren (Jensen, 2009). Jüngere Forschungen haben
zudem gezeigt, das Schweine auch über vergleichsweise hochentwickelte Gehirne mit
sehr gut ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten verfügen (Mendl et al., 2010b; Gieling et
al., 2011; Kornum und Knudsen, 2011), die allerdings unter den gegenwärtigen Haltungsbedingungen kaum oder gar nicht gefordert werden. Da mittlerweile bekannt ist,
dass kognitive Prozesse und affektiv-emotionales Erleben auch bei Nutztieren eng miteinander verknüpft sind (Paul et al., 2005; Boissy et al., 2007), ist es verständlich, dass Fragen der kognitiven und emotionalen Umweltbewältigung immer stärker in den Fokus von
Forschung und Praxis der Nutztierwissenschaften rücken. Darüber hinaus fordert die
aktuelle Tierschutzgesetzgebung in Deutschland (TierSchG, 2006; TierSchutzNutztV, 2006)
den generellen Schutz des Wohlbefindens von Tieren sowie eine verhaltensgerechte Haltung mit der Möglichkeit, Beschäftigungs- und Erkundungsverhalten ausüben zu können.
Tierhaltung, Management und Tierzucht werden sich künftig auch daran messen lassen
müssen, inwieweit sie kognitive Fähigkeiten der Tiere berücksichtigen und damit zur
Minimierung von Stress sowie der Verbesserung von Tierschutz und Wohlbefinden beitragen. Der vorliegende Artikel fasst verhaltensphysiologisch relevante Aspekte der aktuellen Forschung bezüglich Emotion und Kognition zusammen und stellt anhand von
Studien unserer Arbeitsgruppe wichtige positive Auswirkungen einer kognitiven Umweltanreicherung am Beispiel des Hausschweins vor.
2 Coping und Animal Welfare
Zu den zentralen Fragestellungen in der Verhaltensforschung gehören die Bewältigungsstrategien von Tieren in der Interaktion mit ihrer Umwelt, einschließlich der zugrunde
liegenden ethologischen und physiologischen Prozesse (vgl. Abb. 1). Bei diesen auch als
Coping bezeichneten Verhaltensreaktionen geht man davon aus, dass die Wahrnehmung
der Umwelt durch die Evolution geformt ist, in deren Folge sich effektive Verhaltensanpassungen herausgebildet haben, um vor allem mit aversiven, die biologische Fitness gefährdenden Situationen, umgehen zu können (Wechsler, 1995). Dieses funktional ausgerichtete Anpassungsrepertoire (ultimate Faktoren bzw. „Warum“ des Verhaltens) trifft
nun im Falle heutiger Nutztiere auf im Vergleich zu natürlichen Lebensräumen stark eingeschränkte Haltungsumwelten, die vor allem die unmittelbar zur Verfügung stehenden
kausalen Verhaltensmechanismen (proximate Faktoren: „Wie“ des Verhaltens) ansprechen. Wie in Abbildung 1 schematisch postuliert (vgl. auch Fraser et al., 1997), gibt es
einen Bereich weitestgehender Übereinstimmung zwischen Anpassungsrepertoire und
Umweltherausforderungen, bei dem das Coping adäquat funktioniert (+++), d.h. die
Herausforderungen entsprechen weitestgehend den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verhaltensanpassung. Hier sollten kognitiv-emotionale Bewertungen der Tiere in
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Abb. 1. Animal Welfare resultiert aus einem erfolgreichen Bewältigungsverhalten von Tieren basierend auf der Interaktion ihres evolvierten Anpassungsrepertoires mit den aktuellen Herausforderungen durch die Umwelt (adaptiert nach Fraser et al., 1997)
Animal welfare means the successful coping of animals resulting from the interaction of their
adaptive repertoire with current challenges in the environment (adapted from Fraser et al.,
1997).
der Regel positiv ausfallen. Daneben gibt es aber auch Bereiche, in denen diese Übereinstimmung nur teilweise, aber noch hinreichend (+), oder aber nicht mehr oder nur ungenügend gegeben ist (–). Hier können evolvierte Verhaltensanforderungen seitens der Tiere
entweder nicht mehr adäquat umgesetzt werden (z.B. Saugappetenz von Kälbern bei
mutterloser Aufzucht oder Nestbauverhalten von Sauen bei strohloser Haltung) oder die
Tiere haben keine bzw. nur inadäquate Möglichkeiten entwickelt, mit den Bedingungen
der Haltungsumwelt zurechtzukommen (z.B. fehlende Sensorik für Schadgase). Beides
beeinträchtigt das Wohlbefinden und wird immer öfter als tierschutzrelevant angesehen.
Diese unter dem Begriff Animal Welfare subsumierten Probleme im Anpassungs- und
Bewältigungsverhalten beziehen sich nicht nur auf Nutztiere, sondern sind mittlerweile
hochaktuelle und teilweise auch kontrovers diskutierte Fragen in der Biologie generell,
nämlich die nach Gesundheit und Wohlbefinden, Kognition und Emotion sowie Bewusstsein bei Tieren (Dawkins, 2006). Eine der wissenschaftlich gebräuchlichsten Definitionen von Animal Welfare zielt dementsprechend auf den Erfolg (gut) bzw. Misserfolg
(schlecht) eines Individuums in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und wurde
von Broom (1986) eingeführt: „The welfare of an individual is its state as regards its attempts
to cope with its environment“. Gemäß einem prinzipiell ähnlichen Konzept, welches besonders im deutschen Sprachraum verbreitet ist, versuchen Tiere ihr Verhalten im Dienst
ihres Bedarfs an Selbstaufbau, Selbsterhaltung/-entwicklung sowie Reproduktion einzusetzen und Schäden zu vermeiden (Tschanz, 1983). Es ist mittlerweile Konsens, dass sie
dabei in der dazu notwendigen Interaktion mit der Umwelt auch positive (angenehm/sicher)
oder negative (unangenehm/unsicher) emotionale Erfahrungen machen, die wiederum
das Wohlbefinden entsprechend beeinflussen können (Tschanz et al., 1997).
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3 Subjektive Befindlichkeit und Emotion
Obgleich schon Charles Darwin (1872) postulierte, dass bestimmte Verhaltensmuster bei
Mensch und Tier mit „inneren Seelenzuständen“ verknüpft sind, tun sich Teile der strengen naturwissenschaftlichen Forschergemeinde bis heute schwer, subjektive Befindlichkeiten bei Tieren zu beurteilen und für diese den Begriff Emotion uneingeschränkt zu
verwenden (vgl. Fraser, 2009). Diese Sicht wird teilweise dadurch verursacht, dass subjektives Empfinden nicht direkt und objektiv messbar ist, sondern allenfalls aus der Interpretation von Verhaltensreaktionen und physiologischen Veränderungen zugänglich
wird. Andererseits ist es mittlerweile weitestgehend akzeptiert, dass Tiere ihre Umwelt
auch emotional erleben und bewerten (Wiepkema und Koolhaas, 1992). Das Verständnis von Emotionen als mentale und körperliche Zustände, die zur Entwicklung eines
wirksamen und geeigneten Verhaltensrepertoires gegenüber Umweltherausforderungen
beitragen, ist dabei eine neue Etappe in der modernen Verhaltensforschung (De Waal,
2011).
Zusammengefasst lassen sich Emotionen als intensive, reflektive Wahrnehmungen
von Bewertungs- und Antriebszuständen mit (überwiegend) kurzfristigen affektiven
Reaktionen definieren, die mit physiologischen und Verhaltensreaktionen sowie subjektiven Erfahrungen gekoppelt sind (Desiré et al., 2002). Unter Affekt wird hier die schnelle
neurophysiologische Reaktion auf ein Ereignis bezeichnet, die den Körper in die Lage
versetzt, angemessen zu reagieren (Posner et al., 2005). Dieser Prozess verläuft zunächst
unbewusst und subkortikal; erst im Verlauf der weiteren Verarbeitung sind neokortikale
Hirnteile involviert, die ein bewusstes Erleben ermöglichen und damit eine Emotion im
eigentlichen Sinne generieren (Russell, 2003). Während Emotion und Affekt in der Regel
eher den kurzfristigen Befindlichkeiten zugeordnet werden, ist eine Stimmung (mood)
durch ein zeitlich längerfristiges Erleben gekennzeichnet.
Die Frage nach tierischer Befindlichkeit entsteht, wenn man einer bestimmten Spezies kognitive Fähigkeiten zuspricht, die es ihr ermöglichen, reflektiv ihren eigenen
Zustand wahrzunehmen und zu bewerten (Manteuffel und Puppe, 1997). Eine plausible Methode, sich den Befindlichkeiten beim Tier zu nähern, ist der Analogieschluss
(Sambraus, 1991), der davon ausgeht, dass es zwischen Mensch und Tier hinreichende
Ähnlichkeiten in Morphologie, Physiologie und Verhalten gibt. Alle höheren Säugetiere und Vögel, zu denen auch unsere Nutztiere zählen, besitzen beispielsweise mit
dem limbischen System eine phylogenetisch sehr alte Hirnstruktur, deren verschiedenen Arealen (z.B. Amygdala, Nucleus accumbens, ventrales tegmentales Areal)
klar befindlichkeitsrelevante Funktionen zugeordnet werden (Eccles, 1989). Die Emergenz mentaler Erlebnisse in der Evolution kann somit als ein Mittel zur Integration der
vielfältigen Impulse, die ins Gehirn gelangen, verstanden werden. Emotionen dienen
hier als natürlicher Verstärker bzw. als internes Feedback von vorrangig solchen Verhaltensweisen, die Überleben und Fitness sichern können (Dawkins, 2000). So lernen
Tiere Situationen oder Stimuli zu vermeiden, die negative Emotionen erzeugen und
solche zu suchen, die positive Emotionen induzieren (Desiré et al., 2002). Die Fähigkeit
von Tieren sich gut oder schlecht zu fühlen, erfordert das Vorhandensein von Bewusstheit bzw. Bewusstsein (Manteuffel und Puppe, 1997), impliziert aber nicht notwendigerweise tatsächliches Selbstbewusstsein (Paul et al., 2005). Während lange Zeit eher
negative emotionale Erfahrungen der Tiere wie Schmerzen oder Leiden im Vordergrund standen, sind in den letzten Jahren auch positive Emotionen und deren Messbarkeit in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt (Boissy et al., 2007). Dies
ist in gewissem Maße ein Paradigmenwechsel, da es in der Konsequenz nicht nur darum gehen kann Leiden zu vermeiden, sondern positives (Wohl)Befinden auch in der
Tierhaltung zu fördern.
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4 Kognition und Emotion
Unter Kognition lassen sich ganz allgemein alle leistungsfähigen mentalen Prozesse des
Gehirns subsumieren, die auf Wahrnehmung und Erkenntnis sowie Lernen, Gedächtnis
und Entscheidungsfindung bezogen sind, d.h. alle Prozesse der Informationsaufnahme,
-verarbeitung und -speicherung, die künftige Entscheidungen und Verhaltensreaktionen
beeinflussen (Shettleworth, 2001). Kognition beinhaltet die abstrakte Repräsentation
eines Objektes, Ereignisses oder Prozesses im Gehirn in Relation zu anderen Objekten,
Ereignissen oder Prozessen (Broom, 2010).
Unter unseren Nutztieren ist besonders das Schwein aufgrund seiner Komplexität im Verhalten, seiner Hirnstruktur und seiner physiologischen Ähnlichkeit zum Menschen prädestiniert für Studien zu Lernverhalten und Kognition in Bezug zum Wohlbefinden (Mendl et al.,
2010b; Kornum und Knudsen, 2011; Gieling et al., 2011). Darüber hinaus wurde kürzlich nachgewiesen, dass Schweine Informationen nutzen, die ihnen über einen Spiegel
angeboten werden (Spiegeltest), so dass man davon ausgehen muss, dass sie einen gewissen
Grad an Ich-Identität und Bewusstheit (assessment awareness) haben (Broom et al., 2009).
Forschungen in der Humanpsychologie haben gezeigt, dass Emotionen neben den drei
Komponenten Verhalten, Physiologie und subjektives Empfinden noch über eine vierte kognitive Komponente verfügen, und dass die Beziehungen zwischen Kognition und Emotion
durchaus wechselseitig sind (Mendl und Paul, 2004; Paul et al., 2005; Broom, 2010). So
spielen kognitive Prozesse einerseits eine Rolle bei der emotionalen Bewertung von Umweltsituationen, andererseits können subjektive Empfindungen kognitive Bewertungsprozesse
beeinflussen. Über beide Richtungen lassen sich Ansätze entwickeln, um Emotionen indirekt
einzuschätzen. So konnten wir beispielsweise mittels eines klassischen Konditionierungsparadigmas zeigen, dass Schweine in ihrer Vokalisationsantwort zwischen emotional relevanten, unterschiedlichen Stressoren differenzierten (Düpjan et al., 2008) – die akustische Reaktion auf einen physischen Stimulus (leichter Schmerz) war signifikant verschieden im Vergleich zu einem psychischen Stimulus (Angst, hier Antizipation eines aversiven Stimulus).
Basierend auf Bewertungstheorien der kognitiven Psychologie (vgl. Scherer, 2001)
postulieren Desiré et al. (2002), dass Emotionen bei Nutztieren auch aus deren kognitiv
geprägter Situationsbewertung (appraisal) entstehen, z.B. anhand von Kriterien wie Plötzlichkeit (suddenness), Neuheit (novelty), Annehmlichkeit (pleasantness) oder individuellen Erwartungen (expectations), aber auch nach ihrem Potenzial mit der jeweiligen Situation zurechtzukommen (coping). Es entspricht des Weiteren unserer Alltagserfahrung,
dass unser kognitiv-geprägtes Verhalten abhängig von der momentanen emotionalen
Befindlichkeit ist (Paul et al. 2005). Ob ein Glas als halb voll oder halb leer beurteilt wird,
hängt davon ab, ob wir eher optimistisch oder pessimistisch gestimmt sind. Dieses als
kognitive Voreingenommenheit (cognitive bias) gegenüber ambivalenten Reizen bezeichnete Phänomen konnte kürzlich auch bei Ratten nachgewiesen werden, je nachdem ob
die Tiere zuvor gut (optimistic bias) oder schlecht (pessimistic bias) gehalten wurden
(Harding et al., 2004). Erste Studien haben gezeigt, dass Analysen zum cognitive bias
auch prinzipiell beim Schwein durchgeführt werden können und somit als ein weiterer
Ansatz zur Beurteilung von Animal Welfare bei Nutztieren dienen können (Düpjan et al.,
2011). Sie bedürfen allerdings einer weiteren Validierung hinsichtlich eingesetzter Methodik und Aussagekraft.
5 Kognitive Umweltanreicherung und Animal Welfare
Gezielte Anreicherungen der Umwelt von Tieren, die unter limitierten Bedingungen gehalten werden, haben das Ziel, die biologische Relevanz dieser Umwelt zu erhöhen und die
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Motivation der Tiere artspezifisches Verhalten auszuführen, zu verbessern (Newberry,
1995). Bei der Haltung unserer Nutztiere sind in der Vergangenheit insbesondere ihre
evolvierten kognitiven Fähigkeiten zur Lösung verschiedenster Probleme vernachlässigt
worden, was zu negativen Konsequenzen wie Unterforderung und Langeweile geführt
hat (Meehan und Mench, 2007). Jüngere Studien unserer Arbeitsgruppe haben gezeigt,
dass sich durch die sinnvolle Integration kognitiver Herausforderungen (cognitive enrichment) in die normale Haltungsumwelt von Nutztieren nachhaltige Verbesserungen in
Verhalten, Wohlbefinden und Tiergerechtheit der Haltung erzielen lassen (vgl. Übersicht
in Meyer et al., 2010). Die Verknüpfung von explorativem und appetitivem Verhalten der
Tiere mit erfolgreichem, belohntem Lernen verbessert ihre Kontrolle und Vorhersagbarkeit der Umwelt, aktiviert belohnungsrelevante Verarbeitungsprozesse im Gehirn und
kann somit direkt und/oder indirekt emotionale Bewertungsprozesse positiv beeinflussen (Manteuffel et al., 2009a,b). Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass Nutztiere (in
diesem Fall Zwergziegen) es teilweise sogar bevorzugen, ihre Belohnung (in diesem Fall
Wasser) über Lernaufgaben zu erlangen, selbst wenn diese gleichzeitig auch frei zur Verfügung stand (Langbein et al., 2009) – ein Verhaltensphänomen das als contrafreeloading bezeichnet wird (Osborne, 1977).
Entscheidende Grundlage bei der Anwendung kognitiver Umweltherausforderungen ist,
dass diese für die jeweilige Spezies geeignet (appropriate challenge) und die Lernprobleme
potenziell lösbar bzw. den kognitiven Fähigkeiten angemessen sind (Meehan und Mench,
2007, Wechsler und Lea, 2007; Meyer et al., 2010). So ist seit langem bekannt, dass
zwischen der physiologischen oder emotionalen Aktivierung eines Individuums und seiner
kognitiven Leistungsfähigkeit ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang besteht (YerkesDodson-Law, Yerkes und Dodson, 1908), d.h. bei einer mittleren Aktivierung ist die Leistungsfähigkeit optimal, bei Hypo- oder Hyperstimulation verschlechtert sich diese zusehends (Abb. 2A). Mit anderen Worten, einem Vorschlag von Špinka und Wemelsfelder
Abb. 2. Kognition von Individuen und Stimulation durch die Umwelt. A. Beziehung zwischen kognitiver Leistungsfähigkeit und physiologisch-emotionaler Aktivierung (adaptiert nach Yerkes
und Dodson, 1908). B. Beziehung zwischen kognitiven Fähigkeiten und Herausforderungen
durch die Umwelt (adaptiert nach Špinka und Wemelsfelder, 2011).
Individual cognition and environmental stimulation. A. Relationship between cognitive performance and physiological or affective activation (adapted from Yerkes und Dodson, 1908).
B. Relationship between cognitive abilities and environmental challenges (adapted from Špinka
und Wemelsfelder, 2011).
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(2011) folgend, müssen die kognitiven Fähigkeiten den Herausforderungen der Umwelt
dergestalt entsprechen, dass Tiere über ihre proaktive Fertigkeiten und Verhaltensweisen
wie Exploration und Spielverhalten, individuell-reaktive Kompetenz und damit gutes
Wohlbefinden erlangen können (Abb. 2B). Dagegen können bei hohen Umweltherausforderungen und eher gering entwickelten kognitiven Fähigkeiten negative Befindlichkeiten
(z.B. Furcht) entstehen, aber eben auch bei gut entwickelten kognitiven Fähigkeiten und
gleichzeitig geringer Umweltherausforderung (z.B. Langeweile). Letzteres ist der in der
Nutztierhaltung häufigere Fall (Meyer et al., 2010). Der prinzipielle Zusammenhang zwischen Herausforderung und Wohlbefinden wird physiologisch begründet durch das Konzept der Allostase, das postuliert, dass sich im mittleren Bereich der Herausforderungen
durch die Umwelt die physiologischen Systeme eines Organismus optimal auf Wechsel in
den Anforderungen einstellen können (Stabilität durch Veränderungen) und somit die
Basis für Homöostase und gutes Wohlbefinden gewährleisten (Korte et al., 2007).
6 Kognitive Umweltanreicherung und Tierhaltung
Unter praktischen Gesichtspunkten scheint es am ehesten möglich, den individuellen
Zugang zu Futter, Wasser oder anderen potenziell belohnungsrelevanten Haltungs- bzw.
Managementroutinen mit zuvor konditionierten Reizen zu verbinden, z.B. über sensorische Lernaufgaben (Meyer et al., 2010). Aus wissenschaftlicher Sicht ist es besonders
reizvoll, die komplexen physiologischen Veränderungen und Verhaltensreaktionen der
Tiere in dieser kognitiv herausfordernden Umwelt zu analysieren, um „harte“ Daten
bezüglich Emotion und Wohlbefinden bei Tieren zu erlangen. Konsequent diesem Ansatz
folgend, haben wir ein experimentelles Fütterungssystem für Schweine in einer kognitiv
angereicherten Gruppenhaltung entwickelt (Ernst et al., 2005). Die Tiere mussten zunächst die Assoziation zwischen einem individuellen akustischen Signal und der Futterabgabe erlernen (klassische Konditionierung). Dann sollten sie dieses Signal sensorisch
erkennen und erfolgreich diskriminieren, da jedes Individuum durch sein spezifisches
Signal zur Futterstation gerufen wurde (1. Aufruf), um dort nach Betätigen eines Schalters (operante Konditionierung) eine Futterbelohnung zu erhalten (2. Futteraufnahme).
Anschließend wurde in der sogenannten Arbeitsphase – je nach Lernerfolg – die nötige
Anzahl der Schalterbetätigungen je Futterbelohnung erhöht (fixed ratio), um die tierindividuelle Motivation auf einem möglichst optimalen Level zu halten. Die bisherigen
Ergebnisse bezüglich der physiologischen und ethologischen Reaktionen der Versuchstiere im Vergleich zu konventionell gehaltenen und gefütterten Kontrolltieren sind in
Tabelle 1 zusammengefasst. So reagierten die Tiere mit psychophysiologischen Veränderungen, die als deutliche Verbesserungen in Verhaltens- und Immunreaktivität, Wundheilungsfähigkeit und Fleischqualität interpretierbar sind (vgl. Tab. 1). Darüber hinaus
konnten wir erstmalig durch entsprechende Reaktionen des Belohnungs- und autonomen Systems zeigen, dass die Tiere die Situation tatsächlich emotional positiv bewerteten. Hier sind besonders das Ansprechen der belohnungssensitiven Opioidrezeptoren in
der Amygdala der Tiere zu nennen (Kalbe und Puppe, 2010) sowie die gemessenen Veränderungen in der Herzfrequenz bzw. deren Variabilität (Zebunke et al., 2011). Während das endogene Opioidsystem als Teil des limbischen Systems direkt an der Perzeption
und Regulation von biologisch relevanten Stimuli und deren emotionaler Bewertung
beteiligt ist, gibt die Herzfrequenzvariabilität Auskunft über die Balance zwischen der
sympathischen und parasympathischen (vagalen) Aktivität des autonomen Nervensystems
und damit indirekt über den affektiven Tonus.
Bisher wurde überwiegend versucht spezifische, d.h. diskrete Emotionen wie z.B.
Angst oder Furcht zu testen – mit teilweise kontrovers diskutierten Resultaten, insbeson-
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Tab. 1. Verhaltensphysiologische Veränderungen bei Schweinen in kognitiv angereicherter Haltung
(vgl. Ernst et al., 2005) im Vergleich zu konventionell gehaltenen Kontrolltieren.
Behavioural and physiological changes of pigs in cognitive enriched housing (see Ernst et al.,
2005) compared to conventionally housed controls.
Bereich
relevante Ergebnisse zum Wohlbefinden
Autoren
Leistungs-/
Muskelphysiologie
gleiches Lebendendgewicht, geringerer
Dripverlust und erhöhter Proteingehalt im
M. longissimus, erhöhter Anteil oxidativer
Muskelfasern
Fiedler et al. (2005)
Stress-/
Immunsystem
kein erhöhtes Speichelkortisol, verbesserte
Ernst et al. (2006)
Wundheilung, erhöhtes IgG-Level, vermehrte
in vitro T-Zellenproliferation
Verhalten
erhöhte Bewegungsaktivität, verringertes
belly-nosing, verringerte Angst- und
Furchtreaktionen
Puppe et al. (2007)
Belohnungssystem
Downregulation der Genexpression von
kappa- und delta-Opioidrezeptoren in der
Amygdala sowie des Neuropeptid-Y5Rezeptors im Hypothalamus
Kalbe und Puppe (2010)
Autonomes System
keine Reaktion bei Aufruf anderer Tiere
in der Gruppe, veränderte autonome
Balance (Herzfrequenz/-variabilität)
indiziert erhöhtes Arousal und positive
Valenz (vgl. Abb. 3), parasympathisch
vermittelte Entspannung bei Fütterung
Zebunke et al. (2011)
dere die eingesetzten Testmethoden betreffend (vgl. Forkman et al., 2007). In jüngerer
Zeit gibt es dagegen Ansätze, Emotionen besser in verschiedenen Dimensionen einzuordnen, core affect genannt (Russell, 2003; Posner et al., 2005; Mendl et al., 2010a). Wie
Abbildung 3 zeigt, lassen sich unsere Ergebnisse (vgl. Tab. 1) sehr gut mit einem von
Mendl et al. (2010a) vorgeschlagenen Modell interpretieren, das die affektiv-emotionalen Zustände von Tieren in ein XY-Koordinatensystem mittels zwei Dimensionen
(XY-Achsen) bzw. in die dadurch entstehenden vier Quadranten (Q1–Q4) einordnet.
Emotional relevante Dimensionen sind beispielsweise Valenz (positiv/negativ) und
Arousal (hoch/niedrig), die die situative Bedeutungszuweisung und den individuellen
Aktivierungs- bzw. Aufmerksamkeitszustand abbilden (Abb. 3). Diesen liegen putative
„Verhaltenssysteme“ zugrunde, die entweder mit Belohnungserwerb oder Bestrafung/
Vermeidung assoziiert sind, und die ihre neurobiologische Basis in der Aktivität unterschiedlicher Strukturen des limbischen Systems haben (vgl. LeDoux, 1995; Spruijt et
al., 2001; Burgdorf und Panksepp, 2006). Bezüglich der dimensionalen Einordnung der
affektiv-emotionalen Zustände der Schweine in unseren Versuchen gehen wir davon aus
(vgl. Abb. 3), dass die Tiere den Aufruf zunächst mit erhöhtem Arousal, aber positiver
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Abb. 3. Affektiv-emotionale Zustände in zweidimensionaler Raumdarstellung (Valenz vs. Arousal). Diskrete Emotionen liegen auf putativen Verhaltensystemen, die entweder mit
Belohnungserwerb (Pfeil Q3–Q1) oder Bestrafung/Vermeidung (Pfeil Q2–Q4) assoziiert
sind (adaptiert nach Mendl et al., 2010a). Schweine in kognitiv angereicherter Haltung entwickeln affektiv positive Bewertungstendenzen (akustischer Aufruf = Q1, Futteraufnahme
= Q2), (vgl. Tab. 1)
Affective states in a two-dimensional space (valence vs. arousal). Arrows indicate putative
biobehavioural systems associated with reward acquisition (Q3–Q1) and punishment avoidance
(Q2–Q4) (adapted from Mendl et al., 2010a). Pigs in cognitive enriched housing develop positive
affective states (acoustic signal = Q1, food intake = Q2), (see Tab. 1).
Valenz bewerten (Q1) und bei der anschließenden Futteraufnahme sich in einem eher
moderaten Arousal-Zustand bei gleichfalls positiver Valenz (Q2) befinden (Zebunke et
al., 2011).
Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass eine kognitive Umweltanreicherung in
Form einer Aufruffütterung beispielsweise bei der Gruppenhaltung trächtiger Sauen
sowohl unter experimentellen (Manteuffel et al., 2010) als auch praxisnahen Bedingungen (Manteuffel et al., 2011) anwendbar ist. Hierbei wird das Modul, das den individuellen akustischen Aufruf der Tiere steuert (es wurden dreisilbrige Namen verwendet), in eine konventionelle, elektronisch gesteuerte Abruffutterstation implementiert.
Die Aufruffütterung berücksichtigt die kognitiven Fähigkeiten der Tiere und ihre soziale
Rangordnung, gewährleistet eine sichere, individuelle Fütterung und kann dazu beitragen, Wohlbefinden und Verhaltensmanagement in praxisüblicher Großgruppenhaltung
zu verbessern.
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7 Schlussfolgerungen
Gesundheit beim Menschen ist nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen. In ähnlicher Weise erklärt sich das Wohlbefinden von Tieren (Animal Welfare) nicht nur über die Abwesenheit von Schmerzen oder Leiden. Im Gegenteil – nach heutigem wissenschaftlichem Verständnis – gehören dazu auch das Erleben positiver subjektiver Befindlichkeiten auf der Basis kognitiver und emotionaler Erfahrungen und Bewertungen in der
Auseinandersetzung mit der Umwelt. Diese Verhaltenskomponenten sind Teil evolutionär geformter, deklarativer Verhaltensmechanismen, die es den hochentwickelten
Gehirnen von Vertebraten („The Emotional Brain“, Wiepkema und Koolhaas, 1992)
ermöglichen, flexible Entscheidungen und Bewertungen vorzunehmen und sich damit
einen Evolutionsvorteil zu verschaffen. Die naturwissenschaftliche Untersuchung des
Begriffskomplexes ’Animal Welfare’ ist eine große Herausforderung für die angewandte
Ethologie im Kontext von Tierschutz und Tierethik (Würbel, 2009). Aus der engen
Beziehung zwischen Kognition und Emotion ergeben sich neue wissenschaftliche
Zugänge zu subjektiven Bewertungsmechanismen der Tiere. Um aber dem Begriff
Wohlbefinden umfassend gerecht zu werden, ist es schlüssig nicht nur die biologische Funktion eines Individuums zu betrachten (und damit die Fitnessrelevanz), sondern auch die dabei entstehenden Befindlichkeiten einzuschließen (Puppe, 1996).
Zusammenfassend schlagen wir deshalb vor, Wohlbefinden als den Zustand physischer
und psychischer Gesundheit zu definieren, der sich – vor dem Hintergrund individueller, auch kognitiver Ansprüche und Fähigkeiten – aus dem Prozess der ethologischen
und physiologischen Adaptation bei der Bewältigung von Herausforderungen durch
die Umwelt und den dabei gemachten subjektiven Erfahrungen und emotionalen Bewertungen ergibt.
Ebenso wie das Hausschwein sind all unsere Nutztiere zu komplexen kognitiven Leistungen fähig, die eine entscheidende Rolle in der emotional geprägten Bewertung ihrer
Haltungsumwelt spielen. Die sinnvolle Integration von artspezifisch-adäquaten, kognitiven Umweltanreicherungen in die Haltungsumwelt hat daher das Potenzial, nachhaltige
Verbesserungen im Verhalten und dem Wohlbefinden der Tiere zu erreichen.
Eine Reihe von Autoren fordert zu Recht, nicht nur die Tierhaltung, sondern vor allem
auch die Ziele in der Tierzucht über die bisher vergleichsweise einseitige Leistungsorientierung hinaus, unter dem Aspekt des positiven Verhaltens und des psychischen und physischen Wohlbefindens der Tiere zu stellen (Rauw et al., 1998; Flint und Wooliams,
2008; Nielsen et al., 2011; Turner, 2011). Dazu gehören auch kognitiv und/oder emotional geprägte Eigenschaften und Verhaltensweisen, die aus dem Umgang mit der Haltungsumwelt resultieren. Diese phänotypisch zu erfassen und wissenschaftliche Grundlagen in diesem Bereich weiterzuentwickeln, mit interdisziplinären Ansätzen aus Verhaltens-, Haltungs- und Züchtungsforschung bis hin zu molekularbiologischen Korrelaten,
kann dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit der Nutztiere und die Akzeptanz der Nutztierhaltung in der Gesellschaft zu verbessern.
Danksagung
Die Autoren dieses Übersichtsartikels und ihre diesbezüglichen Forschungsarbeiten wurden unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Schaumann
Stiftung und FAZIT Stiftung sowie durch das vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung geförderte Kompetenznetz der Agrar- und Ernährungsforschung PHÄNOMICS.
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