Aggression und Sexualität bei Patienten mit Schizophrenie

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Diplomarbeit
Aggression und Sexualität bei Patienten mit
Schizophrenie
eingereicht von
Patricia Kunz
Geb. Dat.: 28.8.1979
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktorin der gesamten Heilkunde
(Dr. med. univ.)
an der
Medizinischen Universität Graz
ausgeführt an der
Universitätsklinik für Psychiatrie
unter der Anleitung von
Univ. Prof. Dr.med.univ. Dr.phil. Kapfhammer
Univ.-Ass. Dr.med.univ. Reisinger
Ort, Datum …………………………..
(Unterschrift)
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den
benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich
gemacht habe.
Graz, am ……
Unterschrift
Anmerkung
Auf eine geschlechtsspezifische Formulierung wurde in dieser Diplomarbeit aufgrund
besserer Lesbarkeit verzichtet. Die bei Personen verwendete maskuline Form ist für beide
Geschlechter zu verstehen.
i
Danksagungen
Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner gesamten Familie und bei meinen Freunden
bedanken, die mich während meines Studiums und bei der Erstellung dieser Diplomarbeit
immer unterstützt haben.
Besonderer Dank gilt:
Univ. Prof. Dr.med.univ. Dr.phil. Hans-Peter Kapfhammer für die Betreuung der
Diplomarbeit.
Univ. Ass. Dr.med.univ. Karin Reisinger, die mich als Zweitbetreuerin unterstützt hat und
an die ich mich jederzeit wenden konnte.
ii
Zusammenfassung
In allen Kulturen war und ist Aggression schon immer ein bedeutendes gesellschaftliches
Problem.
Psychologisch betrachtet finden sich verschiedene Erklärungsmodelle für Aggression
(Instinkt- und Triebtheorie, Frustrations-Aggressions-Theorie und lerntheoretische
Ansätze).
Die Entstehung von Aggressionen kann durch verschiedenste Ursachen und deren
Kombinationen erfolgen, wobei neurobiologische Einflüsse einen Prädiktor darstellen.
Die Sexualität eines Menschen äußert sich in verschiedenen Komponenten, wie dem
sexuellen Handeln und Erleben sowie erotischen Vorstellungen. Sie ist laufend
Veränderungen unterworfen.
Störungen des Sexuallebens sind vielfältig und haben zumeist einen großen Einfluss auf
die Betroffenen. Sexualstörungen kann man in sexuelle Funktionsstörungen (sexuelle
Dysfunktionen) und weitere Störungsbilder, die mit anderen psychischen Erkrankungen
assoziiert oder medikamentös induziert sind, einteilen.
Die Schizophrenie ist ein komplexes psychiatrisches Krankheitsbild, das großen Einfluss
auf das soziale Miteinander und das familiäre Umfeld der Betroffenen hat.
Das Auftreten der Positiv- und Negativsymptomatik wie Wahn, Halluzination, formale
Denkstörungen, Ich-Störungen, Affektstörungen und psychomotorische Störungen prägen
das Krankheitsbild.
In dieser Arbeit wurde anhand aktueller wissenschaftlicher Literatur versucht, relevante
Zusammenhänge zwischen Aggression, Sexualität und Schizophrenie zu finden.
iii
Abstract
In all kinds of cultures aggression is and always has been a major social problem.
Psychologically, there are various explanations for aggression (instinct and drive theory,
frustration-aggression hypothesis and learning theory approaches).
The origin of aggression can have various reasons and combinations of them, whereas
neurobiological influences represent a predictor.
The sexuality of a person expresses itself in different components, such as sexual behavior
and experience as well as erotic ideas. It constantly is in change.
Disorders of the sexual life are varied and usually have a big impact on those concerned.
Sexual disorders can engage in sexual function problems (sexual dysfunction) and other
disorders that occur frequently with other mental illnesses or are drug-induced.
Schizophrenia is a complex psychiatric disease, that has great influence on the social
interaction and the family environment of those who are affected.
The occurrence of positive and negative symptoms such as delusions, hallucinations,
formal thought disorder, I disorders, mood disorders and psychomotor disturbances
dominate the clinical picture.
In this work it was tried to find relevant links between aggression, sexuality and
schizophrenia, based on current scientific literature.
iv
Inhaltsverzeichnis
Danksagungen ....................................................................................................................... ii
Zusammenfassung ................................................................................................................ iii
Abstract ................................................................................................................................. iv
Inhaltsverzeichnis .................................................................................................................. v
Abkürzungen ........................................................................................................................ vi
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ vii
1 Einleitung ........................................................................................................................ 1
2 Aggression ....................................................................................................................... 2
2.1 Definition, Begriffserklärung.................................................................................. 2
2.2 Arten der Aggression .............................................................................................. 4
2.3 Aggressionstheorien ................................................................................................ 5
2.3.1
Triebtheorien ................................................................................................... 6
2.3.2
Frustrations-Aggressions-Theorie ................................................................... 8
2.3.3
Katharsishypothese ........................................................................................ 10
2.3.4
Lernpsychologische Theorien über aggressives Verhalten ........................... 10
2.4 Biologische Einflüsse auf Aggressionen .............................................................. 15
2.5 Abschlussbemerkung ............................................................................................ 17
3 Sexualität ....................................................................................................................... 18
3.1 Definition, Begriffserklärung................................................................................ 18
3.2 Veränderung sexueller Wertvorstellungen ........................................................... 19
3.3 Geschichte der Sexualforschung ........................................................................... 20
3.4 Biologie der Sexualität.......................................................................................... 24
3.4.1
Neurobiologie der Sexualität ......................................................................... 24
3.5 Sexualstörungen und ihre Einteilung .................................................................... 25
3.5.1
Sexuelle Funktionsstörungen ......................................................................... 25
4 Schizophrenie ................................................................................................................ 27
4.1 Epidemiologie ....................................................................................................... 27
4.2 Ätiologie und Pathogenese ................................................................................... 27
4.3 Klinik .................................................................................................................... 28
4.4 Diagnostik und Differentialdiagnose .................................................................... 32
4.5 Therapie ................................................................................................................ 33
4.6 Verlauf .................................................................................................................. 34
5 Aggression und Sexualität bei Patienten mit Schizophrenie ......................................... 37
5.1 Komorbiditäten ..................................................................................................... 37
5.2 Aggression ............................................................................................................ 39
5.2.1
Risikofaktoren für aggressives Verhalten bei schizophrenen Patienten ........ 39
5.2.2
Schizophrenie und Aggression ...................................................................... 41
5.2.3
Schizophrenie, Aggression und Neuropathologie ......................................... 43
5.2.4
Schizophrenie, Aggression und Komorbiditäten ........................................... 44
5.3 Sexualität .............................................................................................................. 48
5.3.1
Sexualität und Schizophrenie ........................................................................ 48
5.3.2
Gender Identity bei schizophrenen Patienten ................................................ 50
5.3.3
Sexualität, Partnerschaft und Familie bei Schizophrenie .............................. 53
5.3.4
Sexuelle Gewalt und Traumen bei schizophrenen Patienten......................... 56
5.3.5
Sexuelle Funktionsstörungen, Medikamente und Schizophrenie .................. 57
5.3.6
Schizophrenie und Sexualdelinquenz ............................................................ 61
6 Resümee ........................................................................................................................ 65
7 Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 67
v
Abkürzungen
Abb.
Abbildung
CBF
Cerebral blood flow
CCT
craniale Computertomographie
DSM-IV
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition
DSM-IV-TR
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition,
Text Revision
EP
evozierte Potentiale
FSH
Follikelstimulierendes Hormon
FSH-RH
Follikelstimulierendes Hormon Releasing Hormon
GID
Gender Identity Disorder
HIV
Humaner Immundefizienz-Virus
IC-SOHO study
Intercontinental Schizophrenia outpatient Health Outcomes study
ICD-10
Internationale Klassifikation der Krankheiten 10
LH
Luteinisierendes Hormon
LH-RH
Luteinisierendes Hormon Releasing Hormon
MAO-A
Monoaminooxidase A
MAO-B
Monoaminooxidase B
MRI
Magnetic Resonance Imaging
MRT
Magnetresonanztomographie
PET
Positronen-Emissions-Tomographie
SPECT
single photon emission computed tomography
u.a.
unter anderem
USA
United States of America
z.B.
zum Beispiel
vi
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Multifaktorielle Ätiopathogenese der Schizophrenie [34].......................................28
Abb. 2 Positive und negative Symptome schizophrener Psychosen [41]............................29
Abb. 3 Klassifikation der Subtypen schizophrener Erkrankungen [34]...............................31
Abb. 4 Schizophrene Erkrankungen nach ICD-10 und DSM-IV [34].................................32
Abb. 5 Die Entwicklungsstadien der Schizophrenie – Die Entwicklung psychotischer
Störungen [34]..........................................................................................................35
Abb. 6 Übersicht über wichtige Prognosemerkmale [34]....................................................35
vii
1 Einleitung
Die Schizophrenie ist ein komplexes psychiatrisches Krankheitsbild, das großen Einfluss
auf das soziale Miteinander und das familiäre Umfeld der Betroffenen hat. Schizophrene
Patienten leiden unter einer Stigmatisierung und werden dadurch oft in eine soziale
Isolation gedrängt, welche nicht selten mit Alkohol- und Drogenabusus einhergeht. [1]
Aggressionen sind und waren schon immer in den verschiedensten Kulturen ein
bedeutsames gesellschaftliches Problem, mit dem jeder Einzelne immer wieder in
Berührung kommt.
Da die sozialen Lebensumstände in verstärktem Maße Veränderungen unterworfen sind,
wie zum Beispiel dem immer enger werdenden Zusammenleben vieler Menschen und dem
Verschwinden
von
Freiräumen
insbesondere
in
Großstädten,
haben
sich
die
Aggressionsbereitschaft der Menschen und auch die Folgen von Aggressionen stark
erhöht. Auch die Anonymität des Einzelnen in diesen Ballungsräumen trägt zu einer
Verminderung der Hemmschwelle bei. [2][3][4]
Neben der Aggression ist die Sexualität ein typisch menschlicher Aspekt, der das Leben
maßgeblich prägt und das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflusst.
Bereits 1948 meint Alfred C. Kinsey zum Thema Sexualität: „Im Sexualverhalten des
Menschen sind biologische, psychologische und soziologische Faktoren beteiligt, aber sie
alle wirken gleichzeitig, und das Endergebnis ist ein einziges zur Einheit verschmolzenes
Phänomen, das seiner Natur nach nicht nur biologisch, psychologisch oder soziologisch
ist.“ (Kockott 1995, 7) [5]
Im Lauf eines Lebens ändern sich nicht nur die sexuellen Anschauungen, sondern auch die
Bedeutsamkeit und der Stellenwert der Sexualität an sich. [6]
In dieser Arbeit wird in den ersten Kapiteln theoretisch auf die Themen Aggression,
Sexualität und Schizophrenie eingegangen. Das letzte Kapitel widmet sich der aktuellen
wissenschaftlichen Literatur bezüglich des Zusammenspiels von Aggression und Sexualität
mit der Schizophrenie und ihren Komorbiditäten.
1
2 Aggression
2.1 Definition, Begriffserklärung
Es haben sich über die Jahre unterschiedlichste Erklärungsversuche und -ideen zu dem
Begriff Aggression gefunden. In diesen Definitionen wird zum Teil von einer genauen
Vorstellung der Aggressionsentstehung, aber andererseits auch von einer Vielfalt von
Erklärungsmodellen ausgegangen.
Im Folgenden werden einige Definitionen von Aggression vorgestellt:
In einer Theorie von Dollard et al. (1970) wird Aggression als „jede Verhaltenssequenz,
deren Zielreaktion die Verletzung der Person ist, auf die sie gerichtet ist“ erklärt. (Dollard
et al. 1970, 17-18) [7]
„Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat
gerichteten Austeilen schädigender Reize.“ (Selg et al. 1997, 4) [8]
Mit Aggression ist „jedes Verhalten gemeint, das im wesentlichen das Gegenteil von
Passivität und Zurückhaltung darstellt." (Bach et al. 1974, 14) [9]
Albert Bandura (1979) beschreibt die Aggression als ein Verhalten, durch das es "zur
persönlichen Schädigung und zur Zerstörung von Eigentum" kommen kann. (Bandura
1979, 18) Diese Schädigung kann psychischer aber auch physischer Natur sein, also verbal
oder durch körperliche Gewaltanwendung geschehen.
Er weist aber auch auf etwas hin, was er "soziale Etikettierung" nennt und was bedeutet,
dass die sozialen Beurteilungen einer Gesellschaft einen wesentlichen Einfluss darauf
haben, welches Verhalten als aggressiv verstanden wird. [2]
Zusammenfassend kann man sagen, dass mit dem Begriff Aggression ein Angriffsimpuls
und Angriffsverhalten gemeint ist, welches sich gegen Personen, Einrichtungen und
2
Objekte wenden kann. Die Intention aggressiven Handelns ist, zum Nachteil von Anderen
Macht zu demonstrieren und die eigene Stellung zu stärken und zu festigen.
Aggression dient aber nicht nur der Äußerung eines Machttriebs. Es ist im Verlauf der
Entwicklung der Persönlichkeit durchaus auch als ein Ausdruck von Lebendigkeit und
eines Erreichen-Wollens von Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstvertrauen zu
verstehen. [10]
Wichtig ist klarzustellen, dass der Begriff Aggression ein Verhalten und keine
Gefühlsregung oder eine innere Anspannung beschreibt. [8]
Ein Mensch, der immer wieder zu aggressivem Verhalten neigt, wird im Allgemeinen als
aggressiv bezeichnet und auf einer sogenannten Aggressivitätsskala weiter oben eingestuft.
Wesentlich ist hervorzuheben, dass jemand mit einer hohen Aggressivität nicht immer
aggressiv handeln muss. [8]
Bestimmte Erlebnisse können die Aggressivität erhöhen, andere sie wiederum vermindern
oder sogar hemmen. Je höher die Aggressivität eines Menschen ist, desto eher finden sich
aggressionsauslösende Situationen, aus denen heraus dieser dann aggressiv handeln wird.
Es ist von einer Vielfalt von Aggressivitäten, die sich höchstwahrscheinlich unabhängig
voneinander entwickeln, und nicht von einer einheitlichen Aggressivität auszugehen.
Jemand der verbal aggressiv ist, muss nicht auch körperlich aggressiv sein und jemand der
sich gegenüber ihm hierarchisch unterstellten Personen aggressiv verhält, muss sich seinen
Vorgesetzten gegenüber nicht auch so verhalten. [8][11]
Jeder Mensch hat, was Aggressionen anbelangt, seine individuelle Lerngeschichte. Das ist
auch der Grund, warum eine bestimmte Situation bei einer Person eine Aggression
auslösen kann, bei einer Anderen aber nicht. [2]
Erwähnenswert ist auch, dass Aggression und Angst in einem sehr engen Zusammenhang
zueinander stehen. Bewusst oder unbewusst kann Aggression bei der Bewältigung von
Angst eine Rolle spielen. Kindern gelingt es zum Beispiel bei aggressiven und
waghalsigen Spielen eine „Angstlust“ (M. Balint 1960) zu erzeugen, die sie dazu
verwenden innere Spannungen abzubauen. [10]
3
Im Zuge von psychischen Erkrankungen können aggressive Handlungen gegen die eigene
Person selbst, aber auch gegen Mitmenschen getätigt werden. [10]
2.2 Arten der Aggression
Es gibt, wie im vorigen Kapitel schon angedeutet, verschiedene Arten von Aggressionen.
Eine mögliche Unterteilung kann nach Selg (1997) in äußerlich-formale und inhaltlichmotivationale Ansätze mit jeweils weiteren Unterteilungen erfolgen.
Äußerlich-formale Ansätze:

Offene (körperliche oder verbale Aggressionen) versus verdeckte Aggressionen
(Phantasie-Aggressionen, die durch ausgesprochene Bedürfnisse und Gedanken
oder gemalte Bilder ans Tageslicht kommen können)

Direkte (sich direkt auf eine anwesende Person beziehende) versus indirekte
Aggressionen (im Sinne von Verleumdung einer oft nicht präsenten Person und
Sachbeschädigung) beziehungsweise verschobene Aggressionen (die Form und
auch das Objekt der Aggression können sich verschieben, zum Beispiel von einer
körperlicher zu einer verbaler Aggression)

Individuelle versus kollektive Aggressionen (bei rivalisierenden Banden oder in
Kriegshandlungen)

Fremdaggressionen versus Selbstaggressionen (zum Beispiel Suizid)
Inhaltlich-motivationale Ansätze:

Positive (von der Gesellschaft geforderte) versus negative (missbilligte)
Aggressionen

Expressive (aus einer Gefühlsregung heraus entstehende) versus feindselige (mit
welchen jemandem geschadet werden soll) versus instrumentelle Aggressionen (vor
allem aus Berechnung eingesetzt)

Spontane versus reaktive (durch Provokation ausgelöste Aggressionen) versus
Aggressionen auf Befehl (zum Beispiel bei Soldaten im Krieg)

Ernste versus spielerische Aggressionen (oft bei Kindern zu beobachten) [8]
4
Zur instrumentellen Aggression ist zu sagen, dass hier in erster Linie ein angestrebter
Nutzen (demonstriertes Durchsetzungsvermögen, Respekt, Gewinn, Schutz...) und nicht
aggressive Stimuli, die durch aggressives Verhalten verarbeitet werden, im Vordergrund
stehen.
Instrumentelle Aggression kann in einer reinen Form, aber auch vermischt mit anderen
Aggressionen vorkommen. [12]
Eine weitere Einteilung von Aggressionen kann auch über die Aggressionsstärke erfolgen,
wobei der Stärkegrad der Aggression nach der Wahrscheinlichkeit einer Verletzung und
deren Schweregrad beurteilt wird. [8]
2.3 Aggressionstheorien
In der Psychologie gibt es verschieden Erklärungsmodelle für Aggressionen. Zum einen
gibt es die Instinkt- und Triebtheorien, bei denen davon ausgegangen wird, dass
Aggressionen nicht ausgeschalten oder vermindert werden können, sondern nur in
halbwegs akzeptable Richtungen geleitet werden oder in Form von kleineren, nicht ins
Gewicht fallenden, aggressiven Taten aufgebraucht werden können. Des Weiteren gibt es
die
Frustrations-Aggressions-Theorie,
deren
Vertreter
der
Meinung
sind,
dass
Frustrationen Aggressionen auslösen und deshalb die Anzahl und die Intensität von
Frustrationen so weit wie möglich reduziert werden sollen. Als drittes Modell gibt es
unterschiedliche lerntheoretische Ansätze, die sich damit beschäftigen, wie es zu schaffen
ist, menschliche Aggressivität von Anfang an nur in einem reduzierten Ausmaß entstehen
zu lassen oder durch Lernprozesse zu minimieren. [8]
Die Konzepte der Triebtheorien und auch der Frustrations-Aggressions-Theorie basieren
auf einem „hydraulischen Energiemodell“, bei dem Aggressionen in einer Form von
aggressivem Verhalten abgebaut werden müssen. [12]
Laut Sigmund Freud finden sich um Aggressionen zu erklären drei theoretische Ansätze:
der ethologische Ansatz, bei dem eine genetischen Vorprogrammierung angenommen
wird, der politologisch-soziologische Ansatz, bei dem alte Anlagen von Interessen und
Prozessen betrachtet werden, und der psychoanalytischen Ansatz, bei welchem die
5
Beobachtungen
von
aggressivem
Handeln
im
persönlich-privaten
und
im
gemeinschaftlichem Raum miteinander verbunden werden. [4]
2.3.1 Triebtheorien
Zu Beginn der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde bei fast allen Verhaltensweisen
von einem Trieb oder einem Instinkt als Ursprung für eben dieses Verhalten ausgegangen.
Psychoanalytische Triebtheorien:
Die Anfänge der Aggressionsforschung um 1900 sind auf Sigmund Freud und Alfred
Adler zurückzuführen. Adler geht erst von einem Aggressionstrieb aus, erklärt aber später
die Aggression als ein reaktives Verhalten, dem ein bedeutsamerer Machttrieb
übergeordnet ist. Freud sieht die Aggressivität lange Zeit nur als einen Teil der Sexualität
(1905) oder der Ich-Triebe (1915) an. Um 1920 veröffentlicht er schließlich die
dualistische Theorie zweier sich gegenüberstehender Haupttriebe, dem Todestrieb
(Thanatos), den Freud unter anderem auch Aggression oder Zerstörungswut nennt, und
dem Lebenstrieb (Eros). Laut dieser Theorie kann der Lebenstrieb dem Todestrieb, dessen
Ziel es ist, alles Lebendige zum Tod zu führen, dadurch gegensteuern, indem der
Todestrieb gegen Gegenstände in der Außenwelt und nicht nach innen gerichtet wird.
[8][11]
Sigmund Freud (1933) meint dazu: „Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes
Leben dadurch, dass es fremdes zerstört.“ (Selg et al. 1997, 19) [8]
Im Optimalfall entsteht nach Freud zwischen den beiden Trieben eine Art
Wechselwirkung, so dass die Energie des Destruktionstriebes für die Ziele des Eros
verwendet werden kann. Freuds Theorien und Spekulationen sind empirisch nicht
überprüfbar und haben heutzutage in erster Linie eine historische Bedeutung. [4][8]
Ein weiterer Psychoanalytiker und Psychiater, der eine Triebtheorie entwickelt hat, ist
Friedrich Hacker (1971). Er vertritt die Meinung, dass Aggressionen psychische Energien
sind, die entweder ungehindert und ungezügelt als Gewalttätigkeiten oder durch das eigene
Bewusstsein oder gesellschaftliche Regeln gebunden durch die Gesellschaft fließen und
dadurch abgeschwächt und „kontrolliert“ auftreten können. [13]
6
Ethologische Triebtheorie:
Konrad Lorenz, ein Biologe, der sich mit dem Verhalten von Tieren beschäftigte,
veröffentlicht 1963 eine von ihm entwickelte Trieblehre, in der er auch beim Menschen
von vier Haupttrieben, dem Nahrungs-, Fortpflanzungs-, Flucht- und Aggressionstrieb,
ausgeht. Seiner Meinung nach ist der Aggressionstrieb wichtig im Sinne der Arterhaltung,
wie zum Beispiel der Selektion durch Konkurrenzkämpfe unter Rivalen, der Verteilung des
Lebensraums und der Nahrung sowie des Beschützens seiner Nachkommen. [3][11]
Nach seiner Theorie erneuert sich die Aggressionsenergie immer wieder und wird nach
einer Stimulierung durch auslösende Reize abgebaut. Laut Lorenz gibt es in der heutigen
Gesellschaft nicht genug Möglichkeiten die Aggressionsenergie sinnvoll abzubauen, und er
vertritt die Meinung, dass es dadurch zu Störungen des körperlichen und geistigen
Wohlbefindens kommen kann. Lorenz rät, die Aggressionsenergie in eine andere Richtung
zu lenken und zum Beispiel auf sportlicher, intellektueller oder künstlerische Ebene
abzuführen. [3][8]
Kritik an den Triebtheorien:
Wenn das Verhalten von Menschen in erster Linie anhand von Trieben und Instinkten
erklärt wird, dann lässt man die kulturelle Prägung einer Gesellschaft und das Gefühl für
Ethik des Einzelnen außer Acht. Albert Schweitzer (1923) sagt dazu: „Ethik besteht darin,
dass das Naturgeschehen in dem Menschen, auf Grund bewusster Überlegungen, mit sich
selbst in Widerspruch tritt. Je mehr dieser Widerspruch in das instinktmäßig Ablaufende
verlegt wird, desto schwächer wird die Ethik.“ (Selg et al. 1997, 21-22) [8]
Ein Grund für die Beliebtheit von Trieb- und Instinkttheorien ist, dass diese schnelle,
vereinfachte und generalisierte Erklärungsmodelle und somit auch Entschuldigungen für
aggressives Verhalten anbieten. Diese simplen Konzepte entstehen unter anderem so, dass
nicht zur Theorie passende Ereignisse einfach ignoriert und nicht mit einbezogen werden.
Empirische Untersuchungen der Aggressionsforschung (Bandura, Berkowitz, Buss)
werden nicht integriert und diese Theorien widerlegende empirische Untersuchungen
werden nicht zur Kenntnis genommen. [8][11]
7
2.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
Diese Aggressionstheorie wird von Dollard et al. (1939) vorgestellt. Sie basiert unter
anderem auf einer früheren Frustrations-Aggressions-Hypothese Freuds und auf dem
"Kommunistischen Manifest" von Karl Marx (1848). [7][8][11]
In dieser Theorie wird ganz klar festgehalten:
„1. Aggression ist immer eine Folge von Frustration
2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression“ (Selg et al. 1997, 23) [8]
Gerade bei so prägnanten Aussagen ist eine genaue Begriffsdefinition notwendig, um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen.
Es gibt Frustrationen im engeren und im weiteren Sinn. Mit Frustration im engeren Sinn ist
eine akute Beeinträchtigung einer auf ein Ziel ausgerichteten Tätigkeit gemeint
(Hindernisfrustration), und unter Frustrationen im weiteren Sinn werden Einschränkungen
bei Bedürfniserfüllungen, aber auch Anfeindungen, Provokationen und andere Stressoren
verstanden. [11][12]
Mit Frustration ist in der Frustrations-Aggressions-Theorie eine Frustration im engeren
Sinn gemeint und nicht das Frustrationserlebnis selbst. Unter Aggression versteht man das
Verhalten, mit dem der Schaden einer Person oder eines Ersatzsurrogats bezweckt wird.
Viele Untersuchungen dieser Theorie zeigen ihren hohen empirischen Stellenwert, aber
für sich alleine genommen hat diese These keinen Bestand. Obwohl erwiesener Maßen auf
Frustrationen oft Aggressionen folgen, ist dem aber nicht immer so. Es ist zum Beispiel
durchaus möglich, Kindern eine konstruktive Reaktion auf Frustrationen zu lernen (Davitz
1952). [2][8][11][12]
Würde die ursprüngliche Frustrations-Aggressions-Theorie zutreffen, dann müsste man,
um Aggressionen zu vermeiden, bereits Kinder vor sämtlichen Frustrationen bewahren,
anstatt ihnen einen konstruktiven Umgang mit diesen zu lernen. Es ist davon auszugehen,
dass eine Erziehung, in der man Kinder vor allen Frustrationen bewahren will, durch
übertriebene Nachgiebigkeit gegenüber kindlichem Verhalten und falsch interpretierter
Nachsicht, was aufkeimende Aggressionen betrifft, ein höheres Maß an Aggressivität zur
Folge hat. [8]
8
Empirisch betrachtet ist eine Frustrations-Erregungs-Hypothese, die Berkowitz (1962) aus
der Frustrations-Aggressions-Theorie entwickelt, am stimmigsten. Laut dieser löst eine
Frustration eine messbare Erregung aus, welche die Heftigkeit der Reaktion auf diese
Frustration bestimmt. Was für eine Art von Erregung ausgelöst wird (Wut, Ärger oder eine
andere Emotion) ist individuell vollkommen unterschiedlich, genauso wie das das Gefühl
begleitende oder darauf folgende Verhalten.
Nach der von Berkowitz (1989) weiterentwickelten Theorie können diese negativen
Erregungen auch durch andere Faktoren als eine Frustration, wie zum Beispiel durch
provokantes Verhalten oder andere äußere Reize (Gerüche, Geräusche, als unangenehm
empfundene Temperaturen) hervorgerufen werden. [2][8][11][14]
Auch Bandura et al. (1973) veröffentlichen basierend auf der Frustrations-AggressionsTheorie
ihren
Ansatz
einer
Frustrations-Antriebs-Hypothese
(„arousal-prepotent-
response“), in der sie davon ausgehen, dass man mit dem Verhalten auf Frustrationen
reagiert, das einem für diese Situationen von klein auf antrainiert worden ist. Kinder lernen
von ihren Eltern und übernehmen deren vorgelebte Verhaltensweisen und auch ihren
Umgang mit Frustrationen. Wenn also Eltern auf bestimmte Situationen mit Wut, Ärger
oder Aggressionen reagieren, lernen sie ihren Kindern in solche Situationen genau so zu
handeln. [8][12]
Die verschiedensten Aspekte haben einen Einfluss auf die Folgen von Frustrationen.
Wie eine Situation wahrgenommen wird, welche Gefühle sie in der betroffenen Person
auslöst und wozu ein Mensch motiviert ist, ist ausschlaggebend dafür, ob es zu einem
aggressiven Verhalten kommt.
Nach Untersuchungen von Buss (1961) und Averill (1982) scheinen ungerechtfertigte oder
wahllos erscheinende Frustrationen, aber auch im speziellen Frustrationen im weiteren
Sinn, wie Beleidigungen oder persönliche Angriffe, wesentlich mehr Ärger auszulösen, als
gerechtfertigt erscheinende Frustrationen oder Frustrationen im engeren Sinn.
Auch der Status der die Frustration auslösenden Person dürfte bei der Bewertung einer
frustrierenden Situation eine Rolle spielen. [2][8][11][12]
9
2.3.3 Katharsishypothese
Unter dem Begriff Katharsis, der auf Aristoteles zurückgeht, versteht man eine Reinigung
oder Erlösung von aggressiven Neigungen. Die Katharsishypothese hat einen wichtigen
Platz im Bereich der Triebtheorien inne. Laut dieser Hypothese wird die durch die
Stimulation des Aggressionstriebs entstehende Aggression nur dann abgebaut, wenn man
eine Form von aggressivem Verhalten ausübt. Es wird von einer Gleichwertigkeit aller
aggressiven Handlungsweisen untereinander und daher auch von einer gegenseitigen
Ersetzbarkeit ausgegangen. [2][8][11][12]
Wenn also jemand zum Beispiel davon abgehalten wird einen Menschen, der ihn
provoziert hat, tätlich anzugreifen, dann kann er laut dieser Hypothese seine Aggressionen
abbauen, indem er Gewalttätigkeiten beobachtet (Fernsehen) oder sich den nicht
stattgefundenen körperlichen Angriff in seiner Phantasie ausmalt. Viele Untersuchungen
haben ergeben, dass die Katharsishypothese nicht haltbar ist und Aggressionen durch
aggressives Verhalten oder das Beobachten davon nicht abgebaut, sondern sehr
wahrscheinlich sogar noch verstärkt werden.
Weiters hat man mittlerweile festgestellt, dass sich neutrale Ablenkungen oft besser, in
jedem Fall nicht schlechter, in einer aggressionsbeladenen Situation auswirken.
[2][8][11][12]
2.3.4 Lernpsychologische Theorien über aggressives Verhalten
Lernpsychologisch werden Aggressionen im Gegensatz zu den Triebtheorien und zur
Frustrations-Aggressions-Theorie
als
ein
erlerntes
Verhalten,
wie
auch
Reden,
Klavierspielen und Autofahren angesehen. Es existiert aus lernpsychologischer Sicht also
gar keine explizite Aggressionstheorie, sondern es gibt nur allgemeine lernpsychologische
Erkenntnisse, die auch die Entstehung von aggressivem Verhalten darlegen. In der
Lernpsychologie wird davon ausgegangen, dass die Aggressionsbereitschaft, das Bedürfnis
nach Aggression und die manchmal vorkommende Lust daran, erlernt sind und
dementsprechend wahrscheinlich wieder verlernt werden können, und dass es keinen
10
Aggressionstrieb oder einen bestimmten Impuls gibt, der ein aggressives Verhalten
zwingend erfordert. [8]
Es gibt drei wesentliche Lerntheorien:
1. Klassisches Konditionieren:
Das bekannteste Beispiel für eine klassische Konditionierung ist mit Sicherheit das
Hundeexperiment von Pawlow (1905), in welchem eine unbedingte Reaktion auf einen
unbedingten Reiz (der Hund reagiert mit Speichelbildung auf das Futter im Maul) mit
einem neutralen Reiz (Glockenton) gekoppelt wird und so einen bedingten Reflex
(Speichelbildung bei Glockenton, auch ohne Futter) entstehen lässt.
Die Voraussetzung für das klassische Konditionieren sind natürliche, bedingungslose
Reizantworten oder reflexartige Handlungen. [8][15]
Dieses Modell bietet Erklärungsansätze bezüglich einiger Ärger/Wut-Reaktionen, zum
Beispiel warum manchmal das Sehen einer Person oder das Reden über einen Menschen,
der einen schon des Öfteren geärgert hat, bereits eine negative Stimmung aufkommen lässt.
Durch klassische Konditionierung lernt man die Übertragung gefühlsmäßiger Reaktionen
auf neutrale Reize. Laut Untersuchungen von Buss (1961) können so auch negative
Betrachtungsweisen gegenüber bestimmten Gegenständen entstehen. Wichtig ist zu
erwähnen, dass durch diese Form der Konditionierung keine neuen Verhaltensweisen in
dem Sinne gelernt werden - dafür werden die beiden folgenden Lernmodelle benötigt.
[8][15]
2. Operantes Konditionieren (Lernen durch Erfolg):
Dieses Lernkonzept, auch "instrumentelle Konditionierung" genannt, beschreibt, wie
aggressives Verhalten durch Erfolgserlebnisse verstärkt und deswegen von der ausübenden
Person immer wieder angewandt und verfeinert wird. [8]
Es gibt drei verschiedene Formen der Verstärkung. Bei der positiven Verstärkung bringt
der handelnden Person das aggressive Verhalten einen Benefit, wie zum Beispiel die
Aufmerksamkeit einer Bezugsperson. Negative Verstärkung bedeutet, dass man durch
aggressives Verhalten einen unangenehmen Reiz entfernt, zum Beispiel einem
11
angstauslösendes Ereignis entkommt, und Selbstverstärkung heißt, dass das aggressive
Verhalten keine Reaktion hervorgerufen hat und deshalb als positiv erlebt und verstärkt
wird. [8]
Als Beispiel für dieses Lernmodell wählt Selg (1997) in seinem Buch „Psychologie der
Aggressivität“ einen hungrigen Buben, der am Markt einen Apfel stiehlt (aggressives
Verhalten), vom Händler nicht bemerkt wird (selbstverstärkend) und mit diesem Apfel
seinen Hunger stillen kann (positive Verstärkung). Das Verhalten des Buben ist ein voller
Erfolg für ihn und die Wahrscheinlichkeit, dass er sich zukünftig in solchen Situationen
ähnlich verhalten wird, ist groß. Wenn er auf diese Art und Weise öfter erfolgreich ist,
dann wird er auch beginnen, in anderen für ihn unangenehmen Situationen so zu handeln.
Das nennt man das Prinzip der „Selbstwirksamkeit“. [8]
Negative Erlebnisse, also zum Beispiel Bestrafungen, führen nur wenn sie fortlaufend
vorkommen oder ein besonders schockierender Misserfolg eintritt zu einem Abebben der
Aggressionsbereitschaft. Wenn sie aber im Wechsel mit positiven Erfolgen auftreten,
führen sie sogar zu einer besonders wirkungsvollen Bestätigung des aggressiven
Verhaltens (intermittierende partielle Verstärkung). [8]
Herrscht zwischen Kindern und ihren Erziehern ein normales Verhältnis, dann wird das
aggressive Verhalten von Kindern häufig positiv verstärkt. Das kann so wie in dem oben
genannten Beispiel des Apfeldiebstahls von statten gehen, oder dadurch, dass Kinder,
wenn sie ein aggressives Verhalten an den Tag legen, von Erwachsenen oft vermehrt
Aufmerksamkeit positiver (noch mehr positiv verstärkend) oder negativer Natur (auch
positiv verstärkend) erhalten. [8]
Anhand einer Untersuchung von Patterson (1982) fällt auf, dass im speziellen Eltern von
sozial auffälligen Kindern große Probleme damit haben, ihre Kinder, wenn nötig,
angemessen zu bestrafen. Des Weiteren
Eltern-Kind-Beziehungen
häufig
zu
kommt es in Familien mit problematischen
einer
Serie
von
positiven
Verstärkungen
unerwünschten kindlichen Verhaltens, zum Beispiel wenn eine Mutter ihre Ruhe (das Kind
quengelt nicht mehr) durch die Gabe der vom Kind geforderten, aber ursprünglich
verweigerten, Süßigkeit bekommt. [8]
12
In der Lernpsychologie geht man von einem Vorkommen angeborener (primärer) und
erlernter (sekundärer) Triebe aus. So kann zum Beispiel aggressives Verhalten zu einem
erlernten Trieb werden, weil jemand gelernt hat, dass er mit Aggressionen mehr erreicht
als
ohne
sie.
Aggressionen
können
in
emotionalen
Situationen
aber
auch
spannungsabbauend erscheinen, und dadurch kann es in zukünftigen angespannten
Begebenheiten zu einem Bedürfnis nach erlösenden aggressiven Handlungen kommen.
Solche Lernprozesse spielen sich im Lauf des gesamten Lebens ab. [8][11][15]
Untermauert wird die Theorie der operanten Konditionierung in Bezug auf die
Aggressionen unter anderem durch Untersuchungen von Geen et al. (1970). Sie stellen
fest, dass eine erhöhte Aggressionsbereitschaft zu physischer Aggression im Vergleich zu
einer Kontrollgruppe besteht, wenn aggressives Verhalten bestätigt wird, und finden bei
der in ihrer physischen Aggression bestärkten Gruppe auch eine erhöhte Neigung zu
verbaler Aggression. [8][11][15]
Abschließend ist zu sagen, dass man durch operante Konditionierung nur sehr schwer neue
Verhaltensweisen erlernen kann, weil man in erster Linie lernt, bei bestimmten
Gelegenheiten ein gewisses Verhalten an den Tag zu legen oder zu vermeiden. Für die
Entwicklung neuer Verhaltensweisen muss man, wie der nächste Ansatz zeigen wird,
andere Menschen beobachten, sie können sich aber auch spontan ausbilden.
[8][11][15][16]
3. Lernen am Modell (Lernen durch Beobachtung):
Dass mit den beiden Konzepten der klassischen und operanten Konditionierung
vielschichtige menschliche Verhaltensweisen nicht ausreichend veranschaulicht werden
können, und der wichtige Aspekt des Beobachtens bisher gänzlich außer Acht gelassen
worden ist, wird von Bandura et al. (1964) aufgezeigt. Das Konzept des Lernens am
Modell beschäftigt sich, wie der Name schon sagt, mit dem Lernen anhand verschiedener
Modelle, mit dem Lernen durch Beobachtung und unmittelbare Erfahrung. [2][8][15]
Einen Versuch mit einer sehr hohen Beweiskraft erbringt Hicks (1965). Er lässt Kindern
im Alter von ungefähr 5 Jahren einen Kurzfilm mit aggressiven Inhalten zeigen, in denen
Schauspieler körperliche und verbale Aggressionen darstellen, die den Kindern mit hoher
13
Wahrscheinlichkeit noch nicht bekannt sind. Die Kinder sind in fünf Gruppen eingeteilt, in
denen jeweils ein anderer Darsteller (ein Mann, eine Frau, ein weibliches Kind, ein
männliches Kind) im Film aggressiv agiert. In der fünften Gruppe, der Kontrollgruppe,
werden gar keine Aggressionen dargestellt. Nach der Vorführung des Filmes erfolgt eine
kleine Frustration der Kinder. Daran wird eine zwanzig minütige Beobachtungszeit
angeschlossen, in welcher den Kinder die Möglichkeit gegeben wird, mit verschiedensten
Gegenständen zu spielen, unter anderem auch mit den Gegenständen, die Teil der
aggressiven Handlungen im Film gewesen sind. Während dieser Beobachtungszeit kommt
es unter den Kindern, denen Aggressionen gezeigt worden sind, zu einer großen Anzahl
nachgeahmter aggressiver Handlungen. Die Kinder der Kontrollgruppe spielen keine
Aggressionen nach.
Ein halbes Jahr später wird der Versuch mit den gleichen Kindern wiederholt, aber ohne
ihnen den Kurzfilm noch einmal zu zeigen. Nach der Frustration zeigt sich in der
Beobachtungszeit, dass die als nachgeahmt zu bewertenden Aggressionen zwar wesentlich
niedriger, aber immer noch vorhanden sind. Des Weiteren zeigt sich, dass vor allem von
Männern ausgeübte aggressive Handlungen imitiert werden. [8][11][15]
Das Phänomen, dass bei gesellschaftlich höher gestellten Vorbildern beziehungsweise bei
aggressiven Personen, die für ihr Verhalten gelobt werden, der Nachahmungseffekt von
aggressiven Handlungen bei Kindern besonders groß ist,
bestätigt sich in mehreren
Studien, unter anderem von Bandura et al. (1963). [2][11][17]
Wenn Menschen mehrere Modelle mit verschiedenen Verhaltensweisen präsentiert
werden, dann zeigt sich beim nachgeahmten Verhalten fast immer eine Mischung von
Aspekten aus allen beobachteten Verhaltensweisen. [2][17]
Generell sollte man immer von einem gemeinsamen Einfluss aller drei Lernkonzepte auf
ein Verhalten ausgehen.
14
2.4 Biologische Einflüsse auf Aggressionen
Die Entstehung von Aggressionen kann, wie schon in den vorhergehenden Kapiteln
dargelegt, durch verschiedenste Ursachen und deren Kombinationen erfolgen, unter
anderem auch durch neurobiologische Einflüsse.
Die seit den 1960er Jahren bestehende Vermutung, dass an der Steuerung von aggressivem
Verhalten im Gehirn verschiedene Hirnareale, wie der Hypothalamus, das limbische
System mit den Amygdalae und dem Hippocampus, das Frontalhirn, hier besonders der
prä- und orbitofrontale Bereich, sowie der temporale Kortex beteiligt sind, hat sich
mittlerweile anhand bildgebender Verfahren bestätigt. [11][18][19]
In einer von Teicher et al. (2002) veröffentlichten Studie wird festgestellt, dass Menschen,
die in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht werden, einen kleineren Hippocampus
und kleinere Amygdalae haben, als Menschen in einer Kontrollgruppe. In dieser
Untersuchung geht man von einer Entwicklungsstörung dieser Hirnareale infolge von
Stress aus, welche unter anderem eine Veränderung des Aufbaus der Rezeptoren für den
Neurotransmitter Gamma-Amino-Buttersäure zur Folge hat. [16][20]
Die Gamma-Amino-Buttersäure ist einer der wichtigsten hemmenden Neurotransmitter im
zentralen Nervensystem. Eine hohe Konzentration in den Synapsen wirkt einerseits
entkrampfend und lösend auf die Skelettmuskulatur und andererseits beruhigend und
dämpfend bei Störungen des Verhaltens und nervöser Überreizbarkeit. [21][22]
Die erwähnten anatomischen Fehlentwicklungen im orbitofrontalen Kortex stehen auch in
engem Zusammenhang mit im Erwachsenenalter gehäuft auftretendem asozialem
Verhalten. [18]
Die
Funktionsweise
vieler
limbischer
Hirnregionen,
der
Amygdalae
und
der
orbitofrontalen Großhirnrinde steht in einem engen Zusammenhang mit der Konzentration
des Neurotransmitters Serotonin im Zentralnervensystem. Eine Dysbalance im
Serotoninhaushalt kann zu einer verminderten Impulskontrolle und einer höheren Neigung
zu aggressivem Verhalten führen. [16][18][19]
Auch chronischer Stress kann zu einer Störung im Serotoninhaushalt führen, in diesem Fall
15
zu
einer
verminderten
Serotoninkonzentration
durch
bei
Stress
ausgeschüttete
Kortikosteroide. [18]
Die Hypothese, genetische Faktoren würden bei der Gewaltentstehung eine Rolle spielen,
besteht bereits länger. Caspi et al. (2002) haben einen Zusammenhang zwischen
genetischen Veränderungen des MAO-A-Gens und dem Ausmaß an aggressivem
Verhalten festgestellt. (Monoaminooxidase A ist ein Enzym, das für den Abbau von
Neurotransmittern wie Serotonin zuständig ist.)
In dieser Studie zeigen männliche Teilnehmer eine erhöhte Neigung zu asozialem und
aggressivem Verhalten, wenn sie als Kinder schlechtere Behandlungen erfahren haben, als
eine männliche Kontrollgruppe. In diesem Zusammenhang untersuchen Capsi et al. die
Ausprägung des MAO-A-Gens der Studienteilnehmer und stellen fest, dass sich eine
weniger aktive Version des MAO-A-Gens auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit
erheblich verstärkend auswirkt.
Jedoch gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Vorliegen der weniger
aktiven Gen-Variante alleine ohne vorangegangene Stressoren (Kindheitstraumata). Im
Laufe des weiteren Lebens wird ein ähnliches Gen, nämlich das MAO-B-Gen aktiv,
wohingegen die Aktivität des MAO-A-Gens vor allem in der Kindheit vorherrscht.
[16][23]
Eine besondere Rolle bezüglich der Aggression spielt das männliche Sexualhormon
Testosteron, welches das Statusbewusstsein des Mannes erhöht. Testosteron allein kann
jedoch nicht für ein aggressives Verhalten verantwortlich gemacht werden, da die meisten
Männer ihr Statusbewusstsein in fairen Verhaltensmustern ausleben. [16]
Besonders die Konzentration bestimmter Hormone, wie zum Beispiel Serotonin, die
Stresshormone Kortisol, Noradrenalin und Adrenalin sowie deren Neurotransmitter dürften
nach neueren Untersuchungen einen wesentlichen Einfluss auf die Aggressivität haben.
[24]
Die genaueren Hintergründe und Zusammenhänge diesbezüglich sind noch nicht
ausreichend erforscht.
Es ist wichtig zu beachten, dass alle Studienergebnisse über biologische Faktoren,
genetische Merkmale und Veranlagungen der Aggressionsgenese immer im sozialen
16
Zusammenhang gesehen werden müssen. Ihre alleinige Bedeutung für die Entstehung und
vor allem für die Aufrechterhaltung von Aggressionen ist eher gering. [16][18][25]
2.5 Abschlussbemerkung
Man kann also sagen, dass für die Aggressivität eines Menschen eine Kombination aus
seiner persönlichen Entwicklung, seinem erlernten Verhalten (Lerngeschichte) und seiner
Bewertung der die aktuelle Frustration auslösenden Situation ausschlaggebend ist. [8][12]
Alkohol, Drogen, sexuelle Reizung, Belastungen körperlicher und seelischer Art können
die Herz- und Atmungstätigkeit beschleunigen, was unter anderem eine physiologische
Vorrausetzung für aggressives Verhalten ist. [8]
Heute hält man sich in der Aggressionsforschung vor allem an multifaktorielle
Erklärungsmodelle, weil mittlerweile klar ist, dass man mit einer Theorie alleine die
Entstehung von Aggressionen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit nicht erfassen kann.
17
3 Sexualität
3.1 Definition, Begriffserklärung
Die Sexualität eines Menschen äußert sich in verschiedenen Komponenten: dem sexuellen
Handeln und Erleben sowie erotischen Vorstellungen. Über diesen drei Komponenten
(Verhalten, Fühlen und Denken) existieren laut Claus Buddeberg (2005) sogenannte
„subjektive
Sexualitätskonzepte“
oder
„sexuelle
Skripte“.
Darunter
sind
Grundeinstellungen gegenüber der Sexualität zu verstehen, die im Lauf eines Lebens (unter
anderem durch Partner) entstehen und sich laufend weiter verändern. Diese individuellen
Sexualitätskonzepte wirken auf sexuelle Vorstellungen und Wünsche sowie das sexuelle
Erleben und Verhalten ein. Sie basieren nicht nur auf der individuellen Biographie jedes
Einzelnen, sondern beruhen auch auf religiös, kulturell und ethisch beeinflussten
Prinzipien sowie der aktuellen gesellschaftlichen Meinung, wobei die Gewichtung dieser
Komponenten individuell unterschiedlich ist. Zum einen gibt es „individuellintrapsychische Skripte“, die einen Einfluss auf die Sexualität eines Individuums haben,
und zum anderen gibt es „interpersonelle Skripte“, die sich auf zwischenmenschliches
sexuelles Handeln und Erleben beziehen. [6]
Wie schon in der Einleitung erwähnt ändern sich im Lauf eines Lebens nicht nur die
sexuellen Anschauungen, sondern auch die Bedeutsamkeit und der Stellenwert der
Sexualität an sich.
Durch sexuelle Handlungen können einerseits Lust und Vergnügen geäußert werden,
andererseits können sie manchmal bei Problemen als Hilfsmittel zu deren Bewältigung
dienen. Sexuelle Aktivitäten können durch die Ausbildung von Symptomen gestört werden
und dadurch selber zu einer Beeinträchtigung werden.
Claus
Buddeberg
(2005)
fragt
Teilnehmer
und
Teilnehmerinnen
seiner
sexualmedizinischen Fortbildungsseminare nach ihren Sexualitätskonzepten und stellt
dabei fest, dass die Antworten abhängig von Geschlecht, Alter und individuellem soziokulturellem Hintergrund unterschiedlich ausfallen. [6]
18
3.2 Veränderung sexueller Wertvorstellungen
Die althergebrachten sexuellen Normen, die vor allem durch äußere Organisationen wie
Kirche und Staat bestimmt wurden, werden immer mehr von einer „Verhandlungs- und
Konsensmoral“ verdrängt. Im Sinne einer Verhandlungs- und Konsensmoral wird die
Sexualität moralisch nicht bewertet, egal auf welche Weise sie gelebt wird. Wichtig ist nur,
dass alle Beteiligten damit einverstanden sind. [6]
Diese Veränderung der sexuellen Wertvorstellungen um 1950 wird von Gunther Schmidt
als „Demokratisierung der sexuellen Moral“ und von Volkmar Sigusch als „sexueller
Liberalisierungsprozess“ bezeichnet. [5][6]
Dadurch ergibt sich für beide Geschlechter die Möglichkeit, aus alten und traditionellen
Rollen auszubrechen und sich neu zu positionieren. Diesen Wandel der sexuellen
Wertvorstellungen nennt Volkmar Sigusch eine „neosexuelle Revolution“, in der die
herkömmliche Sexualität zerfällt und wieder neu zusammengefügt wird. Hierbei können
Aspekte der Sexualität entstehen, die bis zu diesem Zeitpunkt namenlos oder gar nicht da
waren (Neosexualitäten). [6][26]
Die Veränderung der Sexualmoral bewirkt einerseits, dass der Zugang zur Sexualität in der
heutigen Zeit wesentlich entspannter, sexualfreundlicher, freier und gleichberechtigter ist,
als er es noch vor ein paar Jahrzehnten war. Im Zuge dessen gewinnen ethisch geprägte
Grundprinzipien wie „Autonomie“, „Gutes tun und nicht schaden“ sowie „Gerechtigkeit“
auch in sexuellen Beziehungen immer mehr an Bedeutung. Die zunehmende
Verminderung von Schuldgefühlen und Ängsten in Bezug auf Sexualität senkt auch die
Hemmschwelle, sexuelle Probleme als solche bewusst anzuerkennen und sich Hilfe zu
suchen. [5][6]
Andererseits führt diese Befreiung der Sexualität aus herkömmlichen Vorstellungen dazu,
dass den individuellen sexuellen Möglichkeiten nahezu keine Grenzen gesetzt sind und
daher oft alles, was diesbezüglich als alltäglich oder „normal“ empfunden wird, nicht
ausreichend zu sein scheint. Das und die hinzukommende ständige Präsenz und
Vermarktung von Sexualität in den diversen Medien führen zu einem erhöhten sexuellen
Leistungsdruck. [5][6][27]
19
Man kann auch beobachten, dass Sex heutzutage zu einem Teil nur als Mittel zur
Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verwendet wird. Daraus kann eine oberflächliche
Sexualität entstehen, die in ihrer Interaktion nur auf die körperlichen Aspekte reduziert
wird und dadurch wiederum einen großen sexuellen Leistungsdruck erzeugt. [6]
Pessimistisch wird das Prinzip der Verhandlungs- und Konsensmoral in Bezug auf die
Sexualität von Volkmar Sigusch gesehen. Seiner Meinung nach basiert eine so entstehende
Sexualität nur mehr auf Kommunikation und Nüchternheit. Die Spontanität, die
Leidenschaft und die Ungezwungenheit der Sexualität bleiben dabei auf der Strecke. Für
ihn „ist Sexualität heute weithin nur noch eine Installation, Vollzug statt Ekstase, Physik
statt Metaphysik“. (Sigusch et al. 1996, 29) [26]
Auch Gunther Schmidt (2004) ist der Meinung, dass neben den vielen Vorteilen der
Liberalisierung der Sexualität das Überhandnehmen der Kommunikation als Basis für
jegliches sexuelles Handeln ein Nachteil ist. [6]
Bezugnehmend auf den Wandel sexueller Normen haben britische Soziologen wie Ken
Plummer (1997) und Jeffrey Wecks (2003) ein sexualpolitisches Zukunftsbild geschaffen.
Sie nennen dieses Zukunftsbild „Intimate citizenship“, was so viel bedeutet wie
„Bürgerrechte in der Intimsphäre“. [6]
In der heutigen Zeit gibt es also eine ganze Reihe von Möglichkeiten, wie man seine
Beziehungen individuell gestalten kann. Aber gerade diese Vielfältigkeit von Alternativen
führt dazu, dass die einzelnen Personen immer mehr Entscheidungen bezüglich ihrer
privaten Lebensplanung treffen müssen und sich dadurch in ihrer Partnerschaft sexuell oft
überfordert fühlen, und es so zu Konflikten kommen kann. [6]
3.3 Geschichte der Sexualforschung
Bereits um 1900 schrieben Schriftsteller wie Marquis de Sade und der Österreicher SacherMasoch in ihren Werken über sexuelle Verhaltensweisen, die heute noch ihre Namen
tragen.
Die Anfänge der wissenschaftlichen Sexualforschung liegen im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts. Zu dieser Zeit erschienen erstmals Abhandlungen von Ärzten über sexuelles
20
Verhalten. Dem Thema Exhibitionismus widmete sich Lasègue, über den Fetischismus
schrieb Binet und über den Transvestitismus Westphal. Im Jahr 1886 wurde das Buch
„Psychopathia Sexualis“ des Gerichtspsychiaters Krafft-Ebing veröffentlicht. Er berichtete
mittels einer Auswahl von Fällen über von der damaligen Norm abweichende sexuelle
Verhaltensweisen. Viele seiner in seinem Buch verwendeten Bezeichnungen werden noch
heute gebraucht, wie die oben erwähnten Begriffe Exhibitionismus, Fetischismus und
Transvestitismus. Sein Werk kann als erste sexualmedizinische Beschreibung in seiner
damaligen Gesamtheit bezeichnet werden.
Bevor diese Abhandlungen publiziert wurden, wurde sexuelles Handeln in der Gesellschaft
generell als Sünde und als triebhaft empfunden und sexuelle Verhaltensweisen, die nicht
der gängigen Norm entsprachen, als moralisch anrüchig und kriminell angesehen. Nach
diesen Veröffentlichungen wurde sexuelle Andersartigkeit immer mehr als eine krankhafte
Störung verstanden, für deren Aufkommen die entsprechende Person nicht verantwortlich
zu machen war. Diese neue Sichtweise half, gegenüber der Sexualität bestehende
Ressentiments zu verringern. [5]
Unter dem Einfluss von Sigmund Freud und seinen psychoanalytische Theorien änderten
sich die Ansichten über Sexualität erneut. Freud war ein österreichischer Neurologe, der
seine Karriere mit der Behandlung von sogenannten hysterischen Patienten begann und als
Begründer der Psychoanalyse gilt. Er schrieb vor allem der kindlichen Sexualität eine
große Bedeutung zu und entdeckte anhand der Behandlung seiner Patienten einen
Zusammenhang ihrer „merkwürdigen Störungen“ mit unbewussten sexuellen Konflikten.
Weiters versuchte er mit seinen Theorien von der damaligen Norm abweichende sexuelle
Handlungen psychologisch nachvollziehbar zu machen. Die Sexualität und die individuelle
psychosexuelle Entwicklung waren für ihn ein wesentliches Kernstück, um die
Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen verstehen zu können. Obwohl viele seiner
Ansichten heute als überholt gelten, hat Sigmund Freud unbestritten wertvolle
Pionierarbeit im Bereich der Sexualforschung geleistet. Zu einer Zeit, in der nur sehr
gehemmt und unaufrichtig über Sexualität gesprochen wurde, gelang es ihm, durch eine
wissenschaftlich-nüchterne Betrachtungsweise eine Basis für eine zukünftige objektive und
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität zu schaffen. [5][28]
Bis in die 1930er hinein wurde im Bereich der Sexualwissenschaft trotzdem über
Abweichungen von üblichen sexuellen Verhaltensnormen geforscht. [5]
21
Nur ein kleiner Teil der Sexualforscher beschäftigte sich mit der Sexualität als Faktor zur
Erhaltung der seelischen Gesundheit. Darunter waren abgesehen von Sigmund Freud zum
Beispiel Iwan Bloch, der zusammen mit Max Marcuse und Helene Stöcker im Jahr 1911
den „Internationalen Bund für Mutterschutz und Sexualreform“ gründete. Ziel dieses
Bundes war, dass nichtehelichen Kindern gegenüber ehelichen Kindern die gleichen
Rechte zugestanden werden, deren Mütter nicht mehr diskriminiert werden und eine
Reformierung der Sexualerziehung an öffentlichen Schulen zu erreichen. Weitere Pioniere
waren Albert Moll, der wesentliche Studien zu den Themen Homosexualität, „Sexualtrieb“
und kindlicher Sexualität veröffentlichte und im Jahr 1913 die „Internationale Gesellschaft
für Sexualforschung“ gründete, und Magnus Hirschfeld, der 1928 mit Havelock Ellis,
Helene Stöcker und anderen Sexualreformern die „Weltliga für Sexualreform“ gründete
und außerdem die erste Organisation für die Rechte von Homosexuellen ins Leben rief.
Die „Weltliga für Sexualreform“ stellt auch gegenwärtig nach wie vor wichtige
sexualpolitische Ansprüche: die politische, wirtschaftliche und sexuelle Gleichstellung
beider Geschlechter, eine Verminderung des kirchlichen Einflusses bezüglich sexueller
Normen, Empfängnisverhütung, planmäßige Sexualerziehung und Aufklärung so wie das
Vermitteln einer gesunden Sexualität ohne Schuldgefühle. [5][27]
Wesentlich radikalere Veränderungen forderte Wilhelm Reich in seinem 1936
erschienenen Buch „Die sexuelle Revolution“. Er vertrat die Auffassung, dass eine
entscheidende Änderung bezüglich der Sichtweise der Sexualität erst durch wesentliche
gesellschaftspolitische Veränderungen möglich wäre. [5]
Durch den nationalsozialistischen Einfluss ab 1933 fanden sexualwissenschaftliche
Betrachtungen in Deutschland ein jähes Ende und auch im Rest von Europa reagierte man
auf sexuelle Reformbewegungen verhalten. [5][27]
Währenddessen dehnten sich in den USA sexualwissenschaftliche Untersuchungen auf den
Bereich des allgemeinen Sexualverhaltens aus. Besonders erwähnenswert in diesem
Zusammenhang sind Alfred C. Kinsey und William H. Masters mit Virginia E. Johnson.
[5]
Kinsey war ursprünglich Zoologe und wurde 1938 von seiner Universität gebeten, im Zuge
einer Vorlesung über die biologische Komponente von Sexualität und Ehe zu referieren.
Während seiner Vorbereitungen stellte er fest, dass sämtliche veröffentlichte Arbeiten dazu
22
relativ spekulativ und statistisch nicht valide waren. Er begann also sexuelle
Lebensgeschichten zu sammeln und auszuwerten. In dem von ihm gegründeten „Institut
für Sexualforschung“ wurden bis 1959 über 18 000 persönlich interviewte sexuelle Fälle
gesammelt.
Diese umfangreichen Untersuchungen „enthielten detaillierte Statistiken über das
Sexualverhalten der durchschnittlichen Nordamerikaner aller Altersklassen, aller
Bildungsgrade und aus allen Teilen des Landes“ und „zeigten eine erstaunliche Vielfalt
von Verhaltensnormen“. Auf diesen Studien basieren auch seine beiden Bücher „Das
sexuelle Verhalten des Mannes“ (1948) und „Das sexuelle Verhalten der Frau“ (1953).
[27]
Anhand dieser Studien stellte Kinsey unter anderem das wahre Ausmaß homosexuellen
Verhaltens in der Bevölkerung und in der Sexualität von Jugendlichen fest, das im völligen
Widerspruch zur bisherigen öffentlichen Meinung stand, nämlich, dass homosexuelle
Handlungen die Ausnahme seien. [27]
Der Gynäkologe William Masters begann im Jahr 1954 die sexuellen Reaktionen von
Männern und Frauen direkt zu beobachten. Freiwillige Versuchspersonen wurden während
verschiedener sexuellen Tätigkeiten in einem Labor beobachtet und mithilfe von speziellen
Messgeräten wurden ihre körperlichen Reaktionen gemessen und dokumentiert. [27][29]
Diese umfassende Studie über die Physiologie der Sexualität des Menschen, die in dem
Buch „Die sexuelle Reaktion “ (1967) veröffentlicht wurde, entkräftete und revolutionierte
herkömmliche Thesen und Anschauungen zu diesem Thema. Unter anderem wurden die
bisherigen
psychoanalytischen
Annahmen
über
die
weibliche
Sexualität
durch
physiologische Tatsachen widerlegt. [5][27][29]
Im Jahr 1959 fing das Ehepaar Masters und Johnson an ein Therapieprogramm zu
entwickeln, um die sexuellen Probleme von Ehepaaren, später auch von nichtverheirateten
Paaren, zu behandeln. Diese Sexualtherapie war sehr erfolgreich. Die daraus gewonnen
Erkenntnisse wurden in dem Buch „Impotenz und Anorgasmie - zur Therapie funktioneller
Sexualstörungen“ (1970) publiziert. [29]
23
3.4 Biologie der Sexualität
3.4.1 Neurobiologie der Sexualität
Im Gehirn haben der Hypothalamus, die Amygdalae, das Septum, das ventrale Striatum
und die kortikalen Komponenten in Hippocampus, Gyrus Cinguli und orbitofrontalem
Kortex großen Einfluss auf die Sexualität. [30]
Das endokrine System spielt in der Sexualität die wichtigste Rolle, allen voran das
Hypothalamus-Hypophysenvorderlappen-Gonaden-System.
Die
Hormone
FSH-RH
(follikelstimulierendes Hormon Releasing-Hormon) und LH-RH (luteinisierendes Hormon
Releasing-Hormon), welche vom Hypothalamus ausgeschüttet werden, bewirken in
weiterer Folge im Hypophysenvorderlappen die Freisetzung von FSH und LH. Je nach
Geschlecht haben FSH und LH spezifische Wirkungen. Das FSH regt beim Mann die
Spermiogenese und bei der Frau das Wachstum und die Reifung der Follikel im Eierstock
an. Das LH ist beim Mann essentiell für die Produktion von Testosteron und bei der Frau
für die Produktion von Progesteron und Östrogen sowie für den Eisprung. Für den
Menstruationszyklus der Frau sind die Hormone FSH und LH ebenfalls maßgebend. [31]
Weiters werden Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Prolaktin und Oxytocin eine
Beteiligung an der Steuerung des Sexualverhaltens zugesprochen. [30]
Die pränatale Geschlechtsdifferenzierung bei Pubertätsbeginn und die spätere Entwicklung
der Sexualität wird durch die Sexualhormone (Östrogen, Progesteron, Testosteron)
gesteuert. [31]
Neurotransmitter im Zentralnervensystem (Serotonin, Noradrenalin und Dopamin) können
durch Psychopharmaka in ihrer Aktivität beeinflusst werden. [32]
Psychopharmaka und deren mögliche Teratogenität implizieren eine exakte Verhütung,
wobei Interaktionen zwischen oralen Verhütungsmitteln und Psychopharmaka bestehen.
[32]
24
3.5 Sexualstörungen und ihre Einteilung
Es gibt eine Vielfalt von Sexualstörungen, die in sexuelle Funktionsstörungen (sexuelle
Dysfunktionen) und weitere Störungsbilder, die mit anderen psychischen Erkrankungen
gehäuft vorkommen oder medikamentös induziert sind, eingeteilt werden. [6]
3.5.1 Sexuelle Funktionsstörungen
Laut Beier et al. (2005) werden sexuelle Funktionsstörungen wie folgt definiert:
„Sexuelle Funktionsstörungen manifestieren sich in Beeinträchtigungen des sexuellen
Erlebens und Verhaltens in Form von ausbleibenden, reduzierten oder unerwünschten
genitalphysiologischen Reaktionen. Zu den sexuellen Funktionsstörungen werden auch
Störungen der sexuellen Appetenz und Befriedigung sowie Schmerzen im Zusammenhang
mit dem Geschlechtsverkehr gezählt.“ (Beier et al. 2005, 162) [33]
Die Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen erfolgt üblicherweise nach dem
„triphasischen“ Konzept der amerikanische Sexualtherapeutin Helen S. Kaplan (1981,
1995). Dieses Dreiphasen-Modell basiert auf den zwei Hauptphasen des nur die
physiologischen Abläufe berücksichtigenden „sexuellen Reaktionszyklus“ von Masters
und Johnson, der Erregungs- und der Orgasmusphase, und ist um eine Lust-AppetenzPhase zu Beginn einer sexuellen Interaktion erweitert, wodurch es auch dem
biopsychosozialen Gedanken gerecht wird. [6][33]
Ist die Lust-Appetenz-Phase (das erotische Verlangen) beeinträchtigt, kann es bei Männern
und Frauen zu Libidomangel oder sexueller Aversion kommen.
Bei einer gehemmten Erregungsphase kann bei Frauen die Lubrikation vermindert sowie
die Schwellreaktion gestört sein und sich bei Männern eine erektile Dysfunktion zeigen.
Diese Störungen können in Folge zu einem Vaginismus der Frau und zu einer Dyspareunie
bei beiden Geschlechtern führen.
Kommt es zu Störungen in der Orgasmusphase, kann es für die Frau schwierig sein, einen
Orgasmus zu erreichen, oder der Orgasmus bleibt überhaupt aus. Beim Mann können sich
25
Störungen in dieser Phase mit einem vorzeitigen, verzögerten oder ausbleibenden
Samenerguss zeigen.
Postkoital kann es nach dem Orgasmus auch zu negativen psychischen Wahrnehmungen,
die sich in unangenehmen Empfindungen in der Genitalregion, Heulkrämpfen und anderen
Phänomenen äußern können, kommen.
Weiters gibt es Phobien, welche die Sexualität betreffen, wie zum Beispiel Ekel vor den
eigenen Körperflüssigkeiten, vor Masturbation oder anderen Praktiken. [6]
Kriterien um sexuelle Funktionsstörungen einzuteilen sind zum Beispiel, ob die Störung
schon früher bestanden hat, erst später aufgetreten ist, alle sexuellen Praktiken umfasst
oder spezifisch ist, und inwieweit andere als psychische Aspekte (zum Beispiel
intrapsychische Konflikte) eine Rolle spielen. [6]
Psychopharmaka können eine sexuelle Funktionsstörung auslösen. Vor allem bei
schizophrenen Störungen stehen die Psychopharmaka in Verdacht Sexualstörungen (zum
Beispiel durch eine Hyperprolaktinämie hervorgerufen) zu verursachen.
Oft ist schwer zu differenzieren, ob eine Sexualstörung durch die medikamentöse Therapie
oder durch Alkohol- oder Drogenabusus, welcher bei schizophrenen Patienten öfter
vorkommt, ausgelöst wird. [6]
26
4 Schizophrenie
Charakterisierend
für
diese
Erkrankung
ist
das
Auftreten
von
Positiv-
und
Negativsymptomatik wie Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen, Ich-Störungen,
Affektstörungen und psychomotorische Störungen, welches über einen gewissen Zeitraum
bestehen muss. Ist dies nicht der Fall, wird die Erkrankung dem schizophreniformen
Krankheitsbild zugeordnet. [34]
4.1 Epidemiologie
Laut Literatur werden die Prävalenz mit 0,4 bis 1,4 % und die Inzidenzrate mit 0,05%
angegeben. [1][34] Bei Männern liegt das höchste Risiko an Schizophrenie zu erkranken
bei ungefähr 21 Jahren, bei Frauen im Schnitt bei 26 Jahren. [34] Des Weiteren zeigt sich
bei Frauen ein zweiter niedrigerer Erkrankungsgipfel um die Menopause. [35] [36]
Schizophrene Patienten leiden häufig unter psychiatrischen Komorbiditäten. Einen
besonderen Stellenwert nimmt der komorbide Substanzmissbrauch (Alkohol, Stimulantien,
illegale Drogen und Nikotin) ein. [34] [35][36][37][38]
Bedeutend ist auch eine hohe Bereitschaft zum Suizid, wobei die Suizidrate etwa 10%
beträgt. [34] [35]
Die Sterblichkeit bei schizophrenen Patienten ist um ungefähr 50% höher als bei der
Normalbevölkerung, was neben der erhöhten Suizidrate auf Lifestyle-Erkrankungen
(Adipositas, Diabetes mellitus, Rauchen), der sich daraus ergebenden kardiovaskulären
Probleme und der mangelnden Bereitschaft, diese behandeln zu lassen, zurückzuführen ist.
[1][39][40]
4.2 Ätiologie und Pathogenese
Bezüglich der Ätiopathogenese werden multifaktorielle Aspekte angenommen, wobei die
genetische Disposition im Vordergrund steht. [34]
27
Abb. 1 Multifaktorielle Ätiopathogenese der Schizophrenie [34]
Das Stress-Vulnerabilitäts-Modell beschreibt unterschiedliche Ebenen der individuellen
Verletzlichkeit und der Reaktionen auf Stress, welche von biopsychosozialen Faktoren
geprägt
sind.
Eine
hohen Vulnerabilität
kann, wenn bestimmte Bedingungen
(Umweltstressoren) erfüllt sind, schon bei einem niedrigen Stresslevel zu spezifischen
Problemen führen. [1] [35]
4.3 Klinik
Die Symptome wurden lange nach Bleuler (1911) in sogenannte Grundsymptome und
akzessorische Symptome eingeteilt. Laut Schneider (1938) gibt es eine Einteilung der
Symptome in Symptome 1. und 2. Ranges, wobei diese Einteilungen mit dem heutigen
28
Wissenstand angezweifelt werden. Die aktuelle Einteilung der Symptome wird mithilfe der
Begriffe Positiv- und Negativsymptomatik vorgenommen. [41]
Abb. 2 Positive und negative Symptome schizophrener Psychosen [41]
Die genaue Einteilung der Symptome variiert je nach Lehrbuch. [34][42]
Symptomgruppen wie Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen, formale Denkstörungen,
affektive Störungen und katatone Symptome sind zwar typisch für die Schizophrenie, aber
sie deuten nicht zwingend auf das Vorliegen einer Schizophrenie hin. [34]
Obwohl eine deutliche Mehrzahl der Patienten mit Schizophrenie mindestens einmal an
einer Wahnsymptomatik leidet, ist der Wahn nicht pathognomisch.
Es gibt unterschiedlichste Wahntypen, wie zum Beispiel den Beeinträchtigungs-, den
Verfolgungs-, Beziehungs- und Größenwahn, die sich später auch zu einem Wahnsystem
entwickeln können. Meist zieht der Wahn Veränderungen von Verhaltensweisen mit sich
und unterscheidet sich in Antrieb und Ausprägung. [41]
Ein Wahn kann sich in Form eines Wahneinfalls, also ohne Sinneseindrücke von Außen,
einer Wahnwahrnehmung, die sich auf die Sinneseindrücke der äußeren Umwelt bezieht,
29
und eines mit Halluzinationen gekoppelten Erklärungswahns, mit dem versucht wird sich
unerklärliche Halluzinationen zu erklären, zeigen. [34]
Charakteristisch für den Wahn schizophrener Genese ist, dass dieser für andere nicht
nachfühlbar ist, da diese Wahnideen meist sehr phantasmagorisch sind. [34]
Das Hören von imperativen, kommentierenden oder dialogisierenden Stimmen ist
kennzeichnend für schizophrene Halluzinationen. Es können aber auch andere
Halluzinationen, wie Geschmacks-, Geruchs- und Körperempfindungshalluzinationen
sowie optische Halluzinationen auftreten. [34]
Zu den Ich-Störungen zählen die Depersonalisation (eigene Emotionen, Gedanken und
Körperempfindungen wirken nicht vertraut) und die Derealisation (die Umwelt erscheint
unwirklich), bei denen die Barriere zwischen dem Ich und dem äußeren Umfeld
verschwimmt. [34]
Die Gedankeneingebung, die Gedankenausbreitung und der Gedankenentzug gehören zu
den Fremdbeeinflussungserlebnissen, bei denen die Betroffenen glauben, dass ihre
Gedanken sich ungewollt ausdehnen und belauscht oder ihnen entzogen werden können.
[41]
Die formalen Denkstörungen beschreiben Beeinträchtigungen in den Denkvorgängen.
Auch diese sind nicht pathognomisch. Bei schizophrenen Patienten ist die Zerfahrenheit
jedoch nicht selten. Die Gedankenvorgänge sind dabei nicht linear und Zusammenhänge
werden unlogisch verarbeitet. Das Vorbeireden sowie die Bildung neuer Wortschöpfungen
können weitere sprachliche Auswirkungen der Schizophrenie sein. Im subjektiven Bereich
des Denkens kommen das Gedankenabreißen und das Gedankendrängen vor. [41]
Oft beschrieben werden Störungen der Affektivität. Diese sind in der Praxis in den nicht
akuten Phasen der Erkrankung von Bedeutung, aber nicht zwingend, da beispielsweise
auch andere Krankheiten diese Symptome zeigen können.
Die Patienten geben im Gespräch meist innere Unruhe, die mit einer starken
Angespanntheit gekoppelt ist, an. Unter anderem wird Ängstlichkeit, Affektarmut,
Ratlosigkeit, Ambivalenz, Störung der Vitalgefühle und Parathymie von den Patienten
empfunden. Eine Besonderheit vor allem bei hebephrenen Syndromen ist der läppische
Affekt, bei dem es hauptsächlich zu infantilen Verhaltensweisen im Affekt kommt. [41]
30
Eine psychomotorische (katatone) Symptomatik kann sich in Stupor, Mutismus und
Katalepsie äußern. All diese Symptome haben ihre Gemeinsamkeit in der unwillkürlichen
Erstarrung der Muskulatur in verschiedenen Ausprägungen. Hingegen kommt es beim
katatonen Raptus zu einer heftigen motorischen Hyperaktivität (zum Beispiel schreien, um
sich schlagen). Ebenfalls zu dieser Gruppe der Symptome gehören Auffälligkeiten im
zwischenmenschlichen Bereich. Diese äußern sich in Negativismus, Befehlsautonomie,
Echolalie, Echopraxie und so weiter. Auch sich immer wiederholende Bewegungs- und
Haltungsstereotypien treten auf. [34]
Störungen des Antriebs zeigen sich in einer Antriebsarmut oder in einer Antriebsteigerung,
wobei ersteres wesentlich häufiger, in circa 50% der Fälle, auftritt. [41]
Anhand der Klinik werden verschiedene Subtypen unterschieden:
Abb. 3 Klassifikation der Subtypen schizophrener Erkrankungen [34]
Der paranoid-halluzinatorische Typ wird charakterisiert durch das Vorherrschen von Wahn
und Halluzinationen, wobei andere Symptome, falls überhaupt bestehend, sich im
Hintergrund halten.
Der katatone Subtyp ist selten und geprägt von einer katatonen Symptomatik, die unter
Umständen auch lebensbedrohend sein kann (vegetative Entgleisungen).
Der hebephrene Subtyp tritt meistens in der Adoleszenz auf und wird hauptsächlich von
affektiven Störungen und läppischem Affekt bestimmt.
Charakteristisch für den Residualtyp ist eine auffällige Veränderung der Persönlichkeit,
begleitet von Antriebsarmut, Affektarmut und Asozialität. Dieser Typ kann sich in Folge
mehrerer schizophrener Psychosen entwickeln.
Die Schizophrenia simplex ist ein Sonderfall, da dieser Typ sehr arm an Symptomen ist.
Vor allem Wahn und Halluzinationen sind häufig nicht vorhanden. Im weiteren Verlauf
31
dieses langsam fortschreitenden Subtyps kann sich eine Negativsymptomatik im Sinne
eines Residualsyndroms ausbilden. [34]
4.4 Diagnostik und Differentialdiagnose
Die Diagnosestellung der Schizophrenie ist äußerst komplex und verlangt nach einer
exakten Anamnese und präzisen Erfragung der Symptome sowie einer genauen
körperlichen, laborchemischen und apparativen (CCT, MRT, CBF, EP) Abklärung.
Die zeitliche Komponente ist für die Diagnosestellung von äußerster Wichtigkeit und wird
in den aktuellen Klassifikationen (ICD-10, DSM-IV) unterschiedlich, aber ähnlich,
berücksichtigt. [34]
Abb. 4 Schizophrene Erkrankungen nach ICD-10 und DSM-IV [34]
32
Als Differentialdiagnosen kommen alle organisch verursachten Psychosen jeglicher
Genese (entzündlich, neoplastisch, toxisch, hirnorganisch) sowie schizoaffektive und
affektive Störungen oder Persönlichkeitsstörungen (schizotypische, schizoide, paranoide
oder Borderline-Typ) in Frage.
Eine schizophreniforme Erkrankung liegt vor, wenn der im ICD-10 oder im DSM-IV für
die Diagnose Schizophrenie verlangte Zeitraum unterschritten wird. [34]
4.5 Therapie
Die Therapie besteht im Wesentlichen aus psychopharmakologischen sowie psycho- und
soziotherapeutischen Lösungsansätzen. Dabei ist meist ein stationärer Aufenthalt in einer
psychiatrischen Klinik notwendig.
In den akuten Phasen der Krankheit hat sich der Einsatz von Psychopharmaka bewährt, da
in dieser Phase die Voraussetzung für die psycho- und soziotherapeutischen Maßnahmen
nicht gegeben ist (fehlende Krankheitseinsicht).
Die Medikation mit Neuroleptika geschieht normalerweise als Monotherapie und wird nur
in speziellen Fällen mit anderen Medikamenten kombiniert. Bei einem akuten Schub der
Erkrankung werden die Neuroleptika hochdosiert gegeben, während sie sonst
einschleichend verabreicht werden.
Eine weitere wichtige Rolle neben den klassischen (typischen) Neuroleptika spielen die
neuen (atypischen) Neuroleptika, welche besser auf die Negativsymptomatik wirken und
kaum
extrapyramidalmotorische
Störungen
(Akathisie, Parkinsonoid,
Dystonie,
Dyskinesie) hervorrufen. [1][34]
Neuroleptika im Allgemeinen können die verschiedensten Nebenwirkungen auslösen, wie
zum
Beispiel
endokrine,
neurologische
und
kardiovaskuläre
Störungen
sowie
Stoffwechselerkrankungen. [1]
Es kann unter Umständen nötig sein, dass Neuroleptikum bei nicht zufriedenstellendem
Therapieerfolg zu wechseln.
Nach Abklingen einer akut-psychotischen Phase werden für mindestens 6 Monate die
Neuroleptika nach Bedarf vermindert um Rückfällen vorzubeugen, wobei spätestens in
dieser Phase auf atypische Neuroleptika umgestellt werden sollte. In der Langzeittherapie
und Prophylaxe eines Rezidivs wird das Augenmerk sehr auf das Auftreten und
Reduzieren von medikamentösen Nebenwirkungen (Vermeidung von Spätdyskinesien)
gelegt. Prinzipiell gilt, soviel wie nötig, so wenig wie möglich.
33
In besonderen Fällen von Compliance-Problemen können Depotneuroleptika verabreicht
werden.
Liegen chronische produktive Psychosen vor, ist eine lebenslange symptomunterdrückende
Therapie indiziert. [34]
Ein wichtiger Teil der Therapie ist der psychotherapeutische Ansatz, bei dem der
Therapeut in unterstützender Form agiert. Dies geschieht durch genaue Aufklärung über
die Erkrankung und gute Zusprache. Diese Psychoedukation soll dem Betroffenen im
Alltag und in Krisensituationen (zum Beispiel durch Verhaltenstherapie) helfen.
Der soziotherapeutische Ansatz hat als Ziel, die soziale Kompetenz der Patienten aufrecht
zu erhalten. Die Arbeits- und Beschäftigungstherapie sowie berufsrehabilitative
Maßnahmen und das Training sozialer Fertigkeiten werden Stück für Stück gefördert und
trainiert. Die Behandlung erfolgt dabei total- und in weiterer Folge teilstationär (Tag- oder
Nachtkliniken, Psychosoziale Zentren), um den Patienten die Gelegenheit für den Weg in
die wiedererlangte Eigenständigkeit zu bieten. [34]
4.6 Verlauf
Die Erkrankung beginnt entweder mit einem akuten Schub oder schleichend. Von einer
Phase spricht man bei völliger Remission, während bei Schüben eine Restsymptomatik
bestehen bleibt.
Bevor die für die Schizophrenie typischen Symptome auftreten, zeigen sich oft im
Prodromalstadium sogenannte Prodromalerscheinungen, welche sich zum Beispiel in
depressivem
Verhalten,
rascher
Ermüdbarkeit
und
Erschöpfung
oder
in
Stimmungsschwankungen äußern.
In vielen Fällen kommt es zur Ausbildung von Residualzuständen, bei denen suizidale
Krisen ein großes Problem darstellen, ebenso wie während dem akuten Stadium der
Erkrankung und in der Remission. Nur in wenigen Fällen kommt es zu chronischen
produktiv-schizophrenen Symptomen, die lebenslang persistieren.
Postpsychotische Depressionen und Erschöpfungszustände (postremissive Zustände)
kommen nach einem akuten Auftreten vor und müssen klar von der Negativsymptomatik
eines Residualzustandes unterschieden werden. [34]
34
Abb. 5 Die Entwicklungsstadien der Schizophrenie – Die Entwicklung psychotischer
Störungen [34]
Des Weiteren können sich die Verläufe sehr unterschiedlich darstellen und können
beispielsweise nach ICD-10 oder der Verlaufstypologie nach Bleuler (1983) eingeteilt
werden. [34]
In Langzeitstudien ist das Outcome bei Schizophrenie im Vergleich mit anderen
psychiatrischen Erkrankungen schlecht. Die Prognose der Schizophrenie ist sehr
individuell und man kann versuchen, sie anhand von Merkmalen zu bestimmen. [34][39]
Abb. 6 Übersicht über wichtige Prognosemerkmale [34]
35
Prinzipiell gilt, die Prognose wird günstiger, je schneller der Ausbruch der Schizophrenie
erkannt und behandelt wird und je konkreter die situationsbezogenen auslösenden Faktoren
sind. [34]
36
5 Aggression und Sexualität bei Patienten mit Schizophrenie
5.1 Komorbiditäten
Eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit Aggressionen und dem sexuellem
Verhalten spielen bei der schizophrenen Erkrankung vor allem zwei komorbide
psychiatrische
Störungen:
der
Substanzmissbrauch
und
die
antisoziale
Persönlichkeitsstörung.
Auf die thematischen Zusammenhänge der Komorbiditäten und der Schizophrenie wird in
den jeweiligen Kapiteln eingegangen.
Substanzmissbrauch:
Substanzabusus stellt ein häufiges Problem unter schizophrenen Patienten dar. [38][43]
Nach einer Arbeit von Wobrock (2005) liegt bei etwa 15–65% aller schizophrenen
Patienten gleichzeitig ein komorbider Substanzmissbrauch bzw. eine Substanzabhängigkeit
vor. [44]
Laut Steinert (1998) neigen schizophrene Patienten vor allem zum episodischen
Substanzabusus. [38]
Unter anderem zählt laut Nedopil et al. (2000) der Alkohol mit Sicherheit zu den
bedeutendsten pharmakogenen Substanzen, die Aggressionen auslösen. [43][45]
Eine Studie von Tiihonen et al. (1997) zeigte, dass mehr als die Hälfte der untersuchten
schizophrenen Straftäter Probleme mit Alkohol hatten. [47]
Laut Walsh et al. (2004) ist der Einfluss von Alkohol auf das Verüben von aggressiven
Handlungen signifikant höher, als der Einfluss von illegalen Drogen. [48]
Auch andere enthemmende und den Antrieb steigernde Substanzen wie zum Beispiel
Kokain und Amphetamine dürften aggressives Verhalten fördern, während dämpfende
Substanzen wie Opiate in diesem Zusammenhang in erster Linie durch kriminelle
Handlungen zur Beschaffung der Drogen und im Rahmen von Entzügen auffallen. [38][45]
37
Unter anderem laut Steinert et al. (1996) findet sich bei schizophrenen Patientinnen
signifikant
weniger
Alkohol-
und
Drogenabusus
als
bei
männlichen
Schizophreniepatienten. (Diese Geschlechterverteilung entspricht dem Substanzabusus der
Normalbevölkerung.)
Bei
gewalttätigen
Patientinnen
zeigt
sich
in
27%
ein
Substanzabusus, während bei nicht aggressiven Schizophreniepatientinnen nur die Hälfte
von ihnen Alkohol oder Drogen missbräuchlich verwenden. [37][38]
Antisoziale Persönlichkeitsstörung:
Mehrere Studien berichten auch von einem möglichen Zusammenhang zwischen
Schizophrenie, Gewalt und komorbider antisozialer Persönlichkeitsstörung. [49][50]
Eine
antisoziale
Persönlichkeitsstörung
zeichnet
sich
durch
das
Ignorieren
gesellschaftlicher Regeln, Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitmenschen, mangelndes
Einfühlungsvermögen, Reizbarkeit und Impulsivität aus. Menschen mit einer antisozialen
Persönlichkeitsstörung tendieren zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten, um sich
abzureagieren oder durchzusetzen. [45]
Moran et al. (2004) vertreten die Hypothese, dass mit der Schizophrenie in Zusammenhang
stehende genetische Faktoren auch das Auftreten von antisozialem Verhalten fördern. [49]
Unter anderem tritt laut Wobrock (2005) Substanzmissbrauch auch bei der antisozialen
Persönlichkeitsstörung als Komorbidität auf. [44][45][49]
38
5.2 Aggression
5.2.1 Risikofaktoren für aggressives Verhalten bei schizophrenen Patienten
Laut Nedopil et al. (2000) kommt Aggression symptomatisch bei diversen psychiatrischen
Erkrankungen vor. Im DSM-IV wird aggressives Verhalten unter anderem bei
Substanzabusus, antisozialen Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie beschrieben.
[45][46]
In der aktuellen Literatur wird von multiplen und komplexen Ursachen für die Entstehung
von gewalttätigem Verhalten bei schizophrenen Patienten ausgegangen. Es finden sich
Komorbiditäten mit Substanzabusus oder antisozialer Persönlichkeitsstörung, Wahn mit
hoher Wahndynamik (zum Beispiel Verfolgungs- oder Beeinträchtigungswahn), IchStörungen mit dem Gefühl der Fremdbeeinflussung, neuropsychologische Defizite,
niedriger sozioökonomischer Status und frühere kriminelle Handlungen als Risikofaktoren
für
Gewaltdelikte
und
aggressive
Handlungen
schizophrener
Patienten.
[38][45][48][51][52][53][54]
Laut Steinert (1998) finden sich Wahnvorstellungen mit einer hohen Wahndynamik vor
allem bei schweren Gewalttätigkeiten schizophrener Patienten. [38]
Nach Fazel et al. (2009) ist eine Erklärung für das Auftreten von Gewalt bei schizophrenen
Patienten, dass das gewalttätige Verhalten das Ergebnis der Positivsymptomatik der
Erkrankung (Wahnideen, Halluzinationen) oder des komorbiden Substanzmissbrauchs ist.
Eine weitere Hypothese für das gemeinsame Vorkommen von Aggressionen und
Schizophrenie geht von ähnlichen genetischen Faktoren oder frühen Umweltfaktoren aus,
die damit in Zusammenhang stehen. [55]
Neben den eingangs erwähnten Risikofaktoren zeigt sich in einer weiteren Studie von
Fazel et al. (2009) auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen elterlichen
Gewalttätigkeiten und späteren Gewaltdelikten schizophrener Patienten beiderlei
Geschlechts. Die Studienautoren stellen fest, dass mütterliches gewalttätiges Verhalten
39
einen
größeren
Einfluss
auf
spätere
Gewalttätigkeiten
bei
männlichen
Schizophreniepatienten hat als väterliches. [56]
Nedopil et al. (2000) sehen die Häufigkeit von Gewaltdelinquenz bei schizophrenen
Patienten nicht nur im Zusammenhang mit der Erkrankung oder zusätzlichen
Komorbiditäten, sondern auch mit der Qualität der Versorgung schizophrener Patienten.
Laut den Autoren sinkt die Häufigkeit aggressiver Gewalttaten bei schizophrenen Patienten
mit qualitativ hochwertiger Betreuung. [45]
40
5.2.2 Schizophrenie und Aggression
Das Ziel der psychiatrischen Aggressionsforschung ist in erster Linie, klar identifizierbare
Faktoren und Motive für das aggressive Verhalten in Zusammenhang mit verschiedenen
psychiatrischen Erkrankungen zu finden. [38]
Laut Steinert et al. (2008) sind die psychopathologischen Symptome der Erkrankung
alleine kein ausreichender Grund für die Entstehung von aggressivem Verhalten.
Bei psychiatrischen Patienten stehen ebenso wie in der gesunden Allgemeinbevölkerung
Aggressionen meist im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Ereignissen. Spontane
impulsive Gewalttätigkeiten ereignen sich kaum. [57]
Steinert (1998) untersucht in einer Studie aggressionsauslösende Faktoren bei
schizophrenen Patienten und kommt zu dem Ergebnis, dass die aggressive Motivation von
Schizophreniepatienten mit jener der psychisch gesunden Normalbevölkerung zu
vergleichen ist (56% Frustration, 50% soziales Lernen, 44% instrumentelles Lernen, 31%
Wegfall von Hemmungen, 25% Angst, 19% verschobene Aggression, 19% Aggression als
Kontaktaufnahme, 6% Rivalität). [38]
Laut einer Studie von Krakowski et al. (1999) gibt es zwei unterschiedliche Gruppen
gewalttätiger schizophrener Patienten. Die eine Gruppe sind vorübergehend aggressive
schizophrene Patienten, die im Rahmen einer akuten Exazerbation der Erkrankung
gewalttätiges Verhalten an den Tag legen, aber nach entsprechender Behandlung nicht
mehr aggressiv sind. Die andere Gruppe besteht aus Schizophreniepatienten mit
persistierendem aggressivem Verhalten, die häufiger unter Negativsymptomatik,
Misstrauen und neurologischen Symptomen leiden und trotz Behandlung aggressiv
bleiben. [58]
Unter anderem laut Walsh et al. (2004) sind schizophrene Menschen zwar statistisch
betrachtet gewalttätiger als die gesunde Normalbevölkerung, aber die so signifikant
erhöhte Wahrscheinlichkeit ist nur einer kleinen Gruppe schizophrener Patienten
zuzuschreiben. [48][51]
41
Lindqvist et al. (1990) stellen in einer Studie fest, dass die Kriminalitätsrate schizophrener
männlicher Patienten und der männlichen Normalbevölkerung annähernd gleich ist,
während sie bei den weiblichen schizophrenen Patientinnen im Vergleich mit der
weiblichen Normalbevölkerung um das 2-fache erhöht ist. [59]
Im Gegensatz dazu hat laut einer Studie von Fazel et al. (2009) ein schizophrener
männlicher Patient ein 4- bis 5-fach höheres Risiko eine Gewalttat zu verüben, als ein
Mann aus der gesunden Normalbevölkerung. [60]
Eronen et al. (1996) gehen in einer Studie davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit als
männlicher und weiblicher schizophrener Patient jemanden zu töten 10 mal höher ist als in
der gesunden Normalbevölkerung. [61]
Laut Steinert (1998) kommen aggressive Handlungen ohne Verletzungen bei
schizophrenen Patienten wesentlich öfter vor als Gewalttätigkeiten mit forensischen
Belangen. [52]
Auch Nedopil et al. (2000) sind der Meinung, dass es wahrscheinlicher ist von einem
gesunden Menschen gewalttätig angegriffen zu werden, als von einem Schizophrenen. [45]
Eine Studie von Arango et al. (1999) ergibt, dass die meisten aggressiven Handlungen im
Zuhause schizophrener Patienten passieren (92,5%) und sich entweder gegen deren Eltern
(34,6%), andere Familienmitglieder (17,2%) oder gegen sich selbst (13,7%) richten. [62]
Steinert (1998) stellt fest, dass schizophrene Patienten mit aggressivem Verhalten länger
als friedliche Schizophreniepatienten stationär betreut werden, häufiger rezidivieren und
auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen chronischen Krankheitsverlauf haben. [38]
Es finden sich nur wenige Studien über Schizophrenie und Aggressionen, die auch Frauen
mit einbeziehen. Ein Grund ist, dass in den untersuchten Statistiken mehr Männer als
Frauen vorkommen. [63]
42
5.2.3 Schizophrenie, Aggression und Neuropathologie
Es gibt derzeit keine neurobiologische Theorie, die gewalttätiges und aggressives
Verhalten bei schizophrenen Patienten eindeutig erklären kann.
Bei aggressiven schizophrenen Patienten dürfte laut Studien von Soyka (2011) und
Hoptman et al. (2011) ein Zusammenhang mit Abnormitäten der Frontal- und
Temporallappen des Gehirns bestehen. [64][65] Bei PET- und SPECT- Untersuchungen
finden sich unter neuropsychologischem Stress Ausfälle im orbitofrontalen und temporalen
Kortex. [64]
Eine Studie von Puri et al. (2008), die strukturelle Veränderungen der Gehirne
schizophrener Patienten mit und ohne gewalttätigem Verhalten mittels MRI einander
gegenüberstellt, ergibt bei gewalttätigen schizophrenen Patienten eine Verminderung der
grauen Substanz, besonders im Cerebellum, die neuronale Abläufe und parietotemporale
Verknüpfungen stören kann. [66]
Hoptman et al. (2005) sehen in einer Studie im Gegensatz zu der von Puri et al. (2008)
behaupteten Verminderung von grauer Substanz einen Zusammenhang zwischen einer
Vermehrung von grauer und weißer Substanz im orbitofrontalen Kortex und einem
erhöhten aggressiven Verhalten der Patienten. [66][67]
In einer weiteren Untersuchung stellten Hoptman et al. (2002) Anzeichen einer gestörten
Verbindung zwischen den Amygdalae und dem orbitofrontalen Kortex fest. [68]
In einer Studie von Amoo et al. (2010), für die 305 Patienten rekrutiert werden, fallen 43
Patienten (13,8%) durch aggressives Verhalten auf. 21 (48,8%) von ihnen haben die
Diagnose Schizophrenie. Die Aggression ist hauptsächlich gegen das Klinikpersonal
gerichtet. Die Ursachen sind Halluzinationen, impulsives Verhalten, der Wunsch nach
Entlassung, nicht erfüllte Forderungen der Patienten und Konfrontationen. Der einzige
sozial-demographische Faktor ist Arbeitslosigkeit. [69]
43
5.2.4 Schizophrenie, Aggression und Komorbiditäten
Wie schon im Kapitel Komorbiditäten erwähnt besteht ein enger Zusammenhang zwischen
komorbiden psychiatrischen Erkrankungen und dem aggressivem Verhalten von
schizophrenen Patienten.
Wallace et al. (1998) kommen in einer Studie zu dem Schluss, dass bei Patienten mit
psychotischen
Störungen
Komorbiditäten
wie
Persönlichkeitsstörungen
und
Substanzmissbrauch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Gewalttätigkeiten und
aggressivem Verhalten erhöhen. [50]
In einer Untersuchung stellt Steinert (1998) fest, dass es laut seinen Ergebnissen zwei
verschiedene Arten von schizophrenen Gewaltdelinquenten gibt.
Bei einem kleineren Teil der schizophrenen Patienten, die vorwiegend aus gestörten
familiären Verhältnissen kommen, zeigen sich schon in der Adoleszenz vor dem Ausbruch
der Schizophrenie antisoziale Verhaltensweisen mit aggressiven Handlungen und Alkoholund Drogenabusus.
Im anderen, größeren Teil der Schizophreniepatienten finden sich kaum antisoziale
Verhaltensstörungen. Die Patienten tendieren dazu, sich vor dem Auftreten der
Schizophrenie aus ihrem sozialen Umfeld zurückzuziehen. Diese Tendenz verschlimmert
sich während des Verlaufs der Erkrankung und führt häufig zum sozioökonomischen
Abstieg und komorbidem sekundären Alkoholabusus. Im Zuge des sozioökonomischen
Abstiegs kommt es gehäuft zu Gewalttätigkeiten. Wahnideen, wie zum Beispiel
Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn, scheinen bei dieser Patientengruppe eine
wesentlich größere Bedeutung zu haben als beim ersten, kleineren Teil der
Schizophreniepatienten. [38]
Auch Mueser et al. (1997) kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass schizophrene
Patienten
mit
antisozialer
Persönlichkeitsstörung
anfälliger
für
schweren
Substanzmissbrauch und gewalttätiges Verhalten sind. [70]
Laut Brennan et al. (2000) kann das signifikant erhöhte gewalttätige und aggressive
Verhalten schizophrener Patienten aber nicht alleine durch diese Komorbiditäten erklärt
44
werden, sondern es muss zusätzlich die eigenständige erhöhte Wahrscheinlichkeit, die
schizophrene Patienten für dieses Verhalten haben, beachtet werden. [71]
Substanzmissbrauch:
Es finden sich in einer Studie von Fazel et al. (2009) verschiedene Hypothesen über den
Zusammenhang
zwischen
Schizophrenie,
komorbidem
Substanzmissbrauch
und
Gewalttaten.
Eine Theorie ist, dass die Schizophrenie durch eine vorherrschende genetische
Komponente zu Substanzmissbrauch führt und das wiederum die Wahrscheinlichkeit für
Gewalttaten erhöht.
Eine zweite Hypothese lautet, dass eine genetisch bedingte
Anfälligkeit für Substanzmissbrauch zu Schizophrenie und dadurch zu erhöhter
Gewaltbereitschaft führen kann. Eine dritte Möglichkeit ist eine genetisch bedingte
Empfindlichkeit für Schizophrenie und Substanzmissbrauch und ein daraus resultierender
Zusammenhang mit aggressivem Verhalten. Ein weiterer Denkansatz wäre eine geteilte
genetisch bedingte Disposition für Schizophrenie, Substanzmissbrauch und gewalttätige
kriminelle Handlungen. [55]
Die Studienergebnisse der Studie von Fazel et al. (2009) ergeben auch, dass die
Wahrscheinlichkeit, dass schizophrene Patienten mit komorbidem Substanzmissbrauch
gewalttätige Verbrechen begehen, signifikant höher (27,6%) ist, als bei schizophrenen
Patienten ohne diese Komorbidität (8,5%). [55]
Unter anderem haben auch Grann et al. (2004) in ihrer Studie festgestellt, dass komorbider
Substanzmissbrauch das aggressive Verhalten schizophrener Patienten erhöht. [43][72][73]
Es herrscht Unklarheit darüber, ob zwischen gewalttätigem Verhalten und Schizophrenie
ohne komorbidem Substanzmissbrauch ein Zusammenhang besteht. [55]
Nach
einer
weiteren
Untersuchung
von
Fazel
et
al.
(2009)
entspricht
die
Wahrscheinlichkeit, dass schizophrene Patienten mit komorbidem Substanzmissbrauch
Gewalttaten verüben annähernd der Wahrscheinlichkeit, mit der nur Substanzmissbrauch
betreibende Menschen Gewalttaten verüben. [60]
Cohen (1996) kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung von Alkoholund Drogenabusus bei schizophrenen Patienten, die Straftaten begehen, bisher unterschätzt
wird. [74]
45
Eine Untersuchung von Steinert et al. (1996) an männlichen schizophrenen Patienten mit
aggressivem Verhalten stellt in etwa bei 70% einen komorbiden Alkohol- und
Drogenabusus fest. Bei Patienten ohne bekannte aggressive Handlungen in der
Vergangenheit zeigt sich nur bei 14% ein komorbider Substanzmissbrauch. [38]
Räsänen et al. (1998) stellen in einer Geburtskohortenstudie fest, dass schizophrene
Männer mit komorbidem Alkoholabusus 25,2 mal häufiger kriminelle Gewalttaten
begehen, als eine gesunde männliche Vergleichsgruppe. [75]
Schizophrene männliche Patienten ohne komorbiden Alkoholabusus verüben 3,6 mal
häufiger als die gesunde Vergleichsgruppe gewalttätige Straftaten.
In dieser Studie zeigt sich auch, dass die Wahrscheinlichkeit für das Begehen weiterer
Straftaten (mehr als 2) bei schizophrenen Patienten mit komorbidem Alkoholabusus um
das 9,5-fache erhöht ist. [75]
In einer Studie von Swanson et al. (2006) über gewalttätiges Verhalten bei schizophrenen
Patienten wird zwischen leichten (ohne Verletzungen und ohne Waffe) und schweren
(Verletzungen, Gebrauch tödlicher Waffen, sexuelle Übergriffe) Gewalttätigkeiten
unterschieden.
Es zeigt sich, dass das Auftreten schizophrener Positivsymptomatik, wie zum Beispiel
Verfolgungswahn, die Wahrscheinlichkeit für leichte und schwere Gewalttätigkeiten
erhöht und das Vorkommen von Negativsymptomatik, wie zum Beispiel sozialer Rückzug,
die Wahrscheinlichkeit für schwere Gewalttätigkeiten senkt.
Laut dieser Studie stehen leichte Gewalttätigkeiten eher im Zusammenhang mit
komorbidem Substanzmissbrauch sowie zwischenmenschlichen und sozialen Faktoren,
während schwere Gewalttätigkeiten vor allem mit schizophrener und depressiver
Symptomatik, schon in der Kindheit auffälligem Verhalten und ungerechter Behandlung in
Zusammenhang stehen. [51]
Auch laut einer Studie von Nijman et al. (2003) zeigt sich bei psychotischen Straftätern,
deren
Verbrechen
einen
tödlichen
Ausgang
genommen
haben,
seltener
eine
Substanzabhängigkeit zum Zeitpunkt der Tat, als bei psychotischen Gewalttätern, die im
Verlauf ihrer Tat niemanden getötet haben. [76]
46
Im Gegensatz dazu kommen Eronen et al. (1996) in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die
Wahrscheinlichkeit jemanden zu töten bei männlichen schizophrenen Patienten mit
komorbidem Alkoholabusus um das 17-fache und ohne Alkoholabusus um das 7-fache
sowie bei weiblichen schizophrenen Patientinnen mit komorbidem Alkoholabusus um das
8-fache und ohne begleitenden Alokoholabusus um das 5-fache erhöht ist. [61]
Antisoziale Persönlichkeitsstörung:
Eine Studie von Moran et al. (2004) untersucht anhand von 232 schizophrenen Männern,
von denen 3/4 mindestens eine kriminelle Tat begangen haben, ob ein Zusammenhang
zwischen Schizophrenie und antisozialer Persönlichkeitsstörung besteht. Bei einem
Vergleich der schizophrenen Männer mit und ohne antisoziale Persönlichkeitsstörung
finden sich im Krankheitsverlauf der Schizophrenie keine Unterschiede in der
Symptomatik. [49]
Es
zeigen
sich
aber
Relationen
zwischen
komorbiden
antisozialen
Persönlichkeitsstörungen und Substanzmissbrauch, Problemen mit der Aufmerksamkeit
und Konzentration, mangelnder Affektivität sowie schlechten schulischen Leistungen in
der Kindheit.
Die verminderte Affektfähigkeit scheint die Wahrscheinlichkeit für
aggressive Handlungen gegenüber Anderen zu erhöhen. [49]
In einer weiteren Untersuchung von Moran et al. (2003) an 186 schizophrenen Patienten
mit komorbider antisozialer Persönlichkeitsstörung über einen Zeitraum von 2 Jahren,
stellen die Studienautoren eine signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeit für gewalttätiges
Verhalten fest. [77]
47
5.3 Sexualität
5.3.1 Sexualität und Schizophrenie
Es gibt nur wenige Studien, die sich mit dem sexuellen Verhalten schizophrener Patienten
beschäftigen und über sexuelle Funktionsstörungen hinausgehen. [78]
Laut Scharfetter (1990) entspricht das sexuelle Verhalten schizophrener Patienten dem
durchschnittlichen Sexualverhalten der gesunden Normalbevölkerung.
Es kann jedoch durch eine Beeinträchtigung der Beziehung zu sich selbst und zu den
Mitmenschen auch zu einem gestörten Sexualverhalten kommen. [79]
In einer Studie von Miller et al. (1996) findet sich bei Patientinnen mit Erkrankungen des
schizophrenen Formenkreises ein geringeres sexuelles Verlangen als in der gesunden
weiblichen Kontrollgruppe. Die Patientinnen schätzen auch ihre körperliche und seelische
Zufriedenheit in Bezug auf Sex geringer ein. [80]
Das sexuelle Erleben psychotischer Patienten ist mannigfaltig. Es kann über
Schuldgefühle, Sorge der eigenen Unzulänglichkeit, impulsive sexuelle Aktivitäten und
erotische Wahnvorstellungen alles beinhalten. [81][82]
Während einer akuten psychotischen Episode kann Sexualität als wahnhaft, erzwungen
oder mit Wahnvorstellungen erlebt werden. Unter wahnhafter Sexualität versteht man
erotischen Beziehungswahn, Liebes- und Eifersuchtswahn, Schwangerschaftswahn und
erotische Ideen. Sexualität mit Wahnvorstellungen zeichnet sich durch Wahnvorstellungen
über sich verändernde Genitalien oder überhaupt Veränderungen des Geschlechts sowie
akustische oder körperliche Halluzinationen aus. [81][82]
Cournos et al. (1994) untersuchen 95 schizophrene Patienten bezüglich ihrer sexuellen
Aktivität. 44 % der Befragten geben an, im letzten halben Jahr sexuell aktiv gewesen zu
sein. Häufig wechselnde Partner haben 62% der sexuell aktiven schizophrenen Patienten,
48
was laut dieser Studie mit den Faktoren junges Alter, Wahnvorstellungen und anderer
Positivsymptomatik in Zusammenhang steht. [83]
Von mindestens einem Partner, der entweder HIV-positiv, i.v.-drogenabhängig oder beides
ist, berichten 12% der sexuell aktiven Schizophreniepatienten.
50% der sexuell aktiven schizophrenen Patienten geben an, sexuelle Handlungen gegen
Geldbeträge oder andere Güter eingetauscht zu haben. Weiters ist es unter den Befragten
unüblich Kondome zu verwenden. [83]
Laut einer Studie von Ramrakha et al. (2000) haben schizophrene Patienten im Vergleich
zu einer gesunden Kontrollgruppe eher riskanten Geschlechtsverkehr und auch vermehrt
sexuell übertragene Krankheiten. [84]
Auch in anderen Untersuchungen wird festgestellt, dass schizophrene Patienten durch ihr
sexuelles Verhalten ein höheres Risiko haben, an HIV und anderen sexuell übertragbaren
Erkrankungen zu erkranken. [80][91][92]
Škodlar et al. (2009) stellen fest, dass bei schizophrenen Patienten impulsives sexuelles
Verhalten beziehungsweise mangelnde sexuelle Selbstkontrolle selten vorkommen, aber
von Relevanz sind. Patienten können gegenüber Mitpatienten und Pflegepersonal sexuell
übergriffig werden, ein promiskuitives Sexualverhalten an den Tag legen oder an
öffentlichen Plätzen sexuell aktiv sein. Dieses Verhalten ist ein Zeichen mangelnder
Fähigkeit,
seine
Impulse
kontrollieren
zu
können,
und
eines
gestörten
Beziehungsverhaltens. [82]
Es kann vorkommen, dass schizophrene Patienten im Lauf der Therapie ihre erotischen
Bedürfnisse und Phantasien auf den Therapeuten übertragen. [81]
49
5.3.2 Gender Identity bei schizophrenen Patienten
Gender bezieht sich laut Definition nach den Guidelines der American Psychological
Association „auf die Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen, die eine bestimmte
Kultur mit dem biologischen Geschlecht einer Person assoziiert.“ [87]
Der Ausdruck „Gender Identity“ beschreibt „das Gefühl für sich selbst als männlich,
weiblich oder transgender“. [87]
„Geschlechtsidentität (gender identity) beginnt mit dem Wissen und dem Bewusstsein, ob
bewusst oder unbewusst, dass man einem Geschlecht (sex) angehört und nicht dem
anderen. Geschlechtsrolle (gender role) ist das äußerliche Verhalten, welches man in der
Gesellschaft zeigt, die Rolle, die man spielt, insbesondere mit anderen Menschen.“ (Robert
Stoller, 1968) [88]
Biologische, psychologische, soziale und kulturelle Komponenten haben einen Anteil an
der Entwicklung der Geschlechtsidentität. [89]
Laut La Torre (1976) hängt die Entwicklung der Gender Identität zu einem großen Teil mit
der Entwicklung des eigenen Körperbildes zusammen.
Diese Wahrnehmung des körpereigenen Selbstbildes ist nach seinen Untersuchungen bei
schizophrenen Patienten oft gestört. Auch Schwierigkeiten die eigene Geschlechterrolle
anzunehmen finden sich bei Schizophreniepatienten häufig. [90]
In einer Studie von Planansky et al. (1962) findet sich bei 150 untersuchten schizophrenen
Patienten kein spezifischer Zusammenhang zwischen Homosexualität und dem
Schweregrad der Schizophrenie. [91]
Durch die bei Schizophrenie oft schwach ausgeprägte Geschlechtsidentität kommt es aber
häufig zu Ängsten und Unsicherheiten der Patienten eventuell homosexuell zu sein. [82]
Škodlar et al. (2009) stellen in ihrer Studie fest, dass es Schizophreniepatienten schwer
fällt, ein stabiles Selbstwertgefühl und eine stabile Identität zu entwickeln. [82]
50
Wahnvorstellungen über das äußere Erscheinungsbild und das dringende Bedürfnis dieses
zu verändern, treten bei schizophrenen Patienten öfter auf. Das kann über das erhöhte
Bedürfnis
die
Frisur
zu
verändern
bis
hin
zur
Selbstkastration
führen.
[92][93][94][95][96][97][98]
In einer Untersuchung von Connolly et al. (1971) wird von einem signifikanten
Zusammenhang zwischen Wahnvorstellungen der Geschlechtsänderung und olfaktorischen
sowie gustatorischen Halluzinationen berichtet. [99]
Dass Patienten Schwierigkeiten mit ihrer geschlechtsspezifischen Identität haben, kommt
nicht allein bei schizophrenen Patienten vor, sondern wird auch bei anderen
psychiatrischen Krankheitsbildern beobachtet. [89]
Schizophrenie und Gender Identity Disorder (GID):
Die Bezeichnung Gender Identity Disorder (GID) wird im DSM-IV erklärt als „eine
heterogene Gruppe von Erkrankungen, die durch eine starke und persistente Cross-GenderIdentifikation und anhaltende Beschwerden mit dem aktuellen Geschlecht gekennzeichnet
sind“. [46]
Die Erhebung der Prävalenz von Gender Identity Disorders gestaltet sich als besonders
schwierig. Die Prävalenzraten sind von Land zu Land und von Epoche zu Epoche
unterschiedlich. [100]
Es kommt bei etwa 1/4 aller schizophrenen Patienten vor, dass während des
Krankheitsverlaufs sexuelle Wahnvorstellungen, unter anderem die Wahnvorstellung zum
anderen Geschlecht zu gehören, vorliegen. Die Unterscheidung zwischen einer wirklichen
GID und einer Wahnvorstellung, zum anderen Geschlecht zu gehören, ist schwer zu
treffen. [92][101][102][103]
Es ist wichtig vor hormonellen und chirurgischen Eingriffen zur Behandlung der GID
andere psychiatrische Erkrankungen auszuschließen. [93]
Selten können diese beiden Störungen auch gemeinsam auftreten. [92][93][104][105]
Der Unterschied zwischen GID und Schizophrenie ist, dass bei einer Wahnvorstellung der
Patient glaubt anderen Geschlechts zu sein (manchmal sogar durch eine „spontane“
51
Geschlechtsumkehr [10]), während der Patient, der an einer GID leidet, sich als
Angehöriger des anderen Geschlechts, aber im falschen Körper gefangen, empfindet. [104]
Die Studienlage über Schizophrenie und GID ist dünn. Einen großen Teil machen
Fallberichte aus. [92][106]
In der Literatur wird immer wieder über Fälle berichtet, bei denen eine vermeintliche GID
nach antipsychotischer Therapie nicht mehr vorhanden ist. [107][108]
In dem Fallbericht von Manderson et al. (2001) kommen die Autoren zu dem Schluss, dass
die GID als eine seltene Manifestation von Schizophrenie imponiert. [93]
In einem Fallbericht von Caldwell et al. (1991) tritt bei einem schizophrenen Patienten eine
sekundäre GID auf. [109]
Bhargava et al. (2002) berichten von einem Patienten, bei dem eine GID und eine
Schizophrenie gleichzeitig vorliegen. [105]
Von einem GID-Patienten berichten Campo et al. (2001), der bereits seit Jahren mit
Hormontherapie behandelt worden ist und bei dem spontan eine akute schizophrene
Episode aufgetreten ist. Im Zuge der darauf folgenden antipsychotischen Therapie
verschwinden die psychotischen Merkmale und auch die vermeintliche GID. [103][110]
Laut einer Untersuchung von La Torre (1976) gibt es eine Korrelation zwischen der
Schwere der Schizophrenie und der GID. Bei ambulanten Patienten treten diese Störungen
seltener auf, als bei akuten oder chronischen schizophrenen Patienten. [90]
52
5.3.3 Sexualität, Partnerschaft und Familie bei Schizophrenie
Durch die beginnende Deinstitutionalisierung in den 1970er Jahren sind für schizophrene
Patienten auch außerhalb von psychiatrischen Anstalten Lebensräume geschaffen worden,
was ihnen ein freieres Ausleben ihrer Sexualität ermöglicht hat. [1][86]
Es kommt nicht selten vor, dass schizophrene Patienten sexuelle Beziehungen haben.
Manchmal entwickeln sich sexuelle Partnerschaften zwischen Patienten während
Krankenhausaufenthalten,
häufiger
entstehen
sie
aber
in
ambulanten
Betreuungseinrichtungen. Die in einer Beziehung entstehende Nähe kann, gerade bei
schizophrenen Patienten, zu Exazerbationen der Erkrankung führen. [10]
Unter anderem das Ergebnis einer Untersuchung von Miller et al. (1996), die Patientinnen
mit Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis und Frauen ohne psychiatrische
Erkrankungen einander gegenüberstellt, ist, dass Patientinnen mit schizophrenen Störungen
während ihres Lebens mehr Sexpartner, aber eher keine aktuellen Partner haben.
[80][111][112]
Laut Miller et al. (1996) planen schizophrene Patientinnen im Vergleich zu der
Kontrollgruppe
seltener
Schwangerschaften
und
haben
mehr
unbeabsichtigte
Schwangerschaften, was auch mehr Abtreibungen zur Folge hat. [80]
McNeil et al. (1983) untersuchen 88 Patientinnen mit nicht-organischen psychotischen
Störungen während ihrer Schwangerschaft. Im Verlauf der Schwangerschaft tendieren
schizophrene Patientinnen häufiger zu großen Zweifeln an ihren mütterlichen Fähigkeiten
als eine gesunde Kontrollgruppe und Patientinnen mit anderen psychiatrischen
Erkrankungen. Schizophrene schwangere Patientinnen berichten weiters von mangelnder
Unterstützung ihrer Partner und Familien, Nervosität, Panik- und Angstzuständen vor der
Geburt und Sorgen über ihren eigenen zukünftigen psychischen Zustand. [113]
Bezüglich einer antipsychotischen Behandlung während einer Schwangerschaft herrscht
bei Patientinnen und behandelnden Ärzten Unsicherheit.
Laut Einarson (2009) wird in einem Großteil der Studien zu diesem Thema die Einnahme
von Antipsychotika während der Schwangerschaft als relativ ungefährlich beschrieben.
53
Eine schwangere schizophrene Patientin weiter antipsychotisch zu behandeln, ist laut ihm
eine Entscheidung, die individuell zwischen der betroffenen Patientin und ihrem
betreuenden Arzt getroffen werden sollte. [114]
Frieder et al. (2008) stellen in einer Studie fest, dass schwangere schizophrene Patientinnen
ohne medikamentöse Behandlung ein hohes Risiko haben, während ihrer Schwangerschaft
einen Rückfall zu erleiden und dadurch die Gesundheit des Kindes (unter anderem durch
mangelnde Schwangerenvorsorge) und ihre eigene Gesundheit zu gefährden. [115]
Eine Verleugnung der Schwangerschaft in der Psychose kann dazu führen, dass
Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere nicht wahrgenommen werden und zum Beispiel
die Wehen nicht als solche erkannt werden, wodurch es zu überstürzten Geburten ohne
professionelle Unterstützung kommen kann. Das kann im schlimmsten Fall auch zu einer
Überforderung schizophrener Gebärender und dadurch zu Neonatiziden führen. [115]
[116]
In einer Studie von McNeil (1987) werden in einer Gruppe von 88 schizophrenen Müttern
25 von ihnen innerhalb von 6 Monaten nach der Geburt akut psychotisch. Die
Wahrscheinlichkeit einer postpartalen Verschlimmerung der Schizophrenie steht im
Zusammenhang mit dem ursprünglichen Schweregrad der Erkrankung und somit den
vorangegangen Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen. 44% der schizophrenen
Mütter, die sich über einen Zeitraum von mehr als 3 Monaten in psychiatrischen Kliniken
aufgehalten haben, neigen zu einer Exazerbation der Erkrankung. [117]
Auch laut einer Untersuchung von Miller (1997) sind schizophrene Patientinnen postpartal
besonders anfällig für Exazerbationen der Erkrankung. [86]
Bei schizophrenen Müttern können laut Solari et al. (2009) die schizophrene
Positivsymptomatik (zum Beispiel Halluzinationen und Wahnvorstellungen die Kinder
betreffend) und die Negativsymptomatik (zum Beispiel das nicht erkennen nonverbaler
Bedürfnisäußerungen eines Säuglings) der Erkrankung große Herausforderungen für die
Erfüllung der elterlichen Pflichten darstellen. [116]
54
Schizophrene Mütter verlieren nach einer Studie von Miller et al. (1996) wesentlich
häufiger die Erziehungsberechtigung für ihre Kinder als die Frauen einer gesunden
Kontrollgruppe. Die schizophrenen Patientinnen berichten auch eher das Gefühl zu haben,
die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht erfüllen zu können und beim Aufziehen der Kinder
keine Unterstützung zu haben. [80]
Solari et al. (2009) sind der Meinung, dass durch einen umfassenden Betreuungsplan, der
Familienplanung, Psychoedukation, Psychotherapie und Unterstützung bei der Erziehung
beinhaltet, die Prognose für schizophrene Mütter und ihre Kinder wesentlich verbessert
werden kann. [116]
Schizophrenie, Komorbiditäten und Schwangerschaft:
Miller et al. (1996) stellen fest, dass 78,1% der von ihnen befragten schizophrenen Mütter
während ihrer Schwangerschaft Substanzmissbrauch betreiben. [80]
55
5.3.4 Sexuelle Gewalt und Traumen bei schizophrenen Patienten
Es gibt wenige Studien über schizophrene Patienten als Opfer von Gewalttätigkeiten. [118]
Miller et al. (1996) stellen in einer Studie fest, dass schizophrene Patientinnen häufiger
Opfer von Vergewaltigungen und Prostitution werden als die psychisch gesunden Frauen
einer Kontrollgruppe, und dass sie auch öfter Gewalt während ihrer Schwangerschaft
erfahren als diese. [80]
In einer Studie von Darves-Bornoz et al. (1995) werden unter anderem 64 schizophrene
Patientinnen zum Thema sexuelle Übergriffe und deren Auswirkungen untersucht. 36%
der schizophrenen Frauen berichten, Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein. Diese
sexuellen Übergriffe werden mit Substanzbhängigkeiten, Suizidversuchen und frühem
Kontakt zu psychiatrischen Einrichtungen in Verbindung gebracht. Die lebenslange
Prävalenz vergewaltigt zu werden liegt bei schizophrenen Patientinnen bei 23%. Eine
Vergewaltigung
hat
bei
schizophrenen
Patientinnen
häufig
einen
schwereren
Krankheitsverlauf und Substanzbhängigkeiten zur Folge. [112]
Eine Studie von Elklit et al. (2010) ergiebt, dass sexueller Missbrauch die
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Psychose signifikant erhöht. [119]
Auch in einer Untersuchung von Shevlin et al. (2007) wird festgestellt, dass körperlicher
Missbrauch in der Kindheit zu einer gestörten neurobiologischen Entwicklung und somit
zu einer psychotischen Erkrankung führen kann, wobei bei männlichen Opfern einer
Vergewaltigung eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit an einer Psychose zu
erkranken festgestellt wird. [120]
56
5.3.5 Sexuelle Funktionsstörungen, Medikamente und Schizophrenie
Psychopharmaka sind wesentlich an der Ausprägung sexueller Störungen (vor allem
Libido-
und
Potenzstörungen)
bei
psychiatrischen
Krankheiten
beteiligt.
[5][10][121][122][123]
Die Dosis der Medikamente scheint auf das Auftreten der Sexualstörungen keinen
relevanten Einfluss zu haben. [5][10][127]
Generell ist zu sagen, dass Psychopharmaka eine äußerst komplexe Wirkungsweise haben,
wobei kaum zu unterscheiden ist, ob die sexuelle Störung durch die Krankheit selbst oder
die Therapie bedingt ist. [5][124]
Eine prospektive, internationale 27 Länder und 7 655 schizophrene Patienten umfassende
Studie von Dossenbach et al. (2005) über die Prävalenz sexueller Funktionsstörungen bei
Schizophrenie ergibt, dass laut Patientenberichten 50% von ihnen an sexuellen
Funktionsstörungen leiden. [125]
Sexuelle Störungen bei schizophrenen Patienten entstehen unter anderem laut Cohen et al.
(2010) aufgrund mehrerer Faktoren, häufig einer Mischung aus medikamentöser Therapie
und psychiatrischer Erkrankung. [124][126][127][128]
Laut einer Studie von Kockott et al. (1996) ist von 37% der Sexualstörungen in nur 19%
der Fälle die Schizophrenie allein und in 16% die psychopharmakologische Therapie der
alleinige Auslöser. 52,3% der Patienten in medikamentöser Behandlung leiden unter
sexuellen Funktionsstörungen, aber nur 25% der Patienten ohne Medikation. Es kann in
der prophylaktischen Therapie kein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des
Auftretens sexueller Funktionsstörungen und der Art und Dosierung der Neuroleptika
festgestellt werden. Weiters zeigt sich, dass Psychopharmaka in der akuten und subakuten
Phase der Erkrankung auch einen positiven Effekt auf die durch die Krankheit
hervorgerufene sexuelle Funktionsstörung haben können. [127]
Circa 80% der Patienten, bei denen eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis
diagnostiziert worden ist und die nicht medikamentös behandelt werden, leiden an einer
sexuellen Funktionsstörung. Im Gegensatz zu mit Psychopharmaka behandelten Patienten,
57
die eher an Erregungs- und Orgasmusstörungen leiden, haben die nicht medikamentös
Behandelten meistens Libidostörungen. [127][129][130]
Männliche Patienten leiden häufig unter einem verminderten sexuellen Verlangen, erektiler
Dysfunktion und unter einer geringeren Orgasmusintensität. [131][132]
Weibliche Patientinnen klagen vor allem über eine verminderte Libido, reduzierte
Lubrikation und Orgasmusstörungen. [121][133][134]
Eine Untersuchung von Aizenberg et al. (1995) vergleicht schizophrene männliche
Patienten mit medikamentöser Therapie, ohne medikamentöse Therapie und eine gesunde
männliche Kontrollgruppe miteinander, die sich alle in einer festen heterosexuellen
Beziehung befinden. Bei den schizophrenen Patienten finden sich generell vermehrt
Sexualstörungen und eine Tendenz zu häufigerer Masturbation. Eine Verminderung des
Auftretens sexueller Gedanken zeigt sich nur bei der unbehandelten Gruppe. Des Weiteren
klagen medikamentös behandelte Patienten darüber, mit ihrem Sexualleben unzufrieden zu
sein. [135]
In einer Studie von Kockott et al. (1996) über die sexuelle Vergangenheit von Patienten
zeigt sich in einer Gruppe von 100 schizophrenen Patienten bei 49% eine sexuelle Störung.
(In der gesunden Bevölkerung leiden 10 -15% daran.) Bei Patienten, die mit Neuroleptika
therapiert werden, treten sexuelle Störungen wesentlich häufiger auf als bei schizophrenen
Patienten ohne Medikation. [127]
Eine Untersuchung von Uçok et al. (2007), in der die Prävalenz sexueller
Funktionsstörungen anhand von 827 stabilen schizophrenen Patienten, die antipsychotisch
therapiert worden sind, erforscht wird, findet bei 52,6% von ihnen sexuelle
Funktionsstörungen, bei 54,2% eine verminderte Libido und 41,7% der Patienten klagen
über Orgasmusprobleme. [136]
Eine Untersuchung von Macdonald et al. (2003) ergibt jedoch keinen Hinweis auf den
Zusammenhang zwischen sexuellen Funktionsstörungen und den eingenommenen
Psychopharmaka. [131]
Neben der multifaktoriellen Genese der Sexualstörungen wirken Neuroleptika, indem sie
die Dopamin-2-Rezeptoren blockieren. Da Dopamin eine sexuell anregende Wirkung hat,
kommt es zu einer Verminderung der Libido. [121][126][137][138]
58
Für eine Studie von Zhang et al. (2011) werden 100 männliche schizophrene Patienten, die
in einer sexuellen Beziehung leben und über mindestens 6 Monate mit einem
Neuroleptikum behandelt worden sind, rekrutiert. In dieser Untersuchung findet sich ein
Zusammenhang von Sequenzvariationen des D2-Dopaminrezeptor-Gens mit sexuellen
Funktionsstörungen. Der Prolaktinspiegel zeigt sich zwar bei Patienten mit erektiler
Dysfunktion bedeutend erhöht, ist aber bei Patienten mit anderen sexuellen
Funktionsstörungen unauffällig. Bei Patienten, denen typische Neuroleptika verschrieben
worden sind, finden sich häufiger schwerwiegende Sexualstörungen als bei Patienten, die
atypische Neuroleptika erhalten haben. [139]
Einen bedeutenden Einfluss auf sexuelle Funktionsstörungen durch eine medikamentöse
Therapie mit Neuroleptika hat eine daraus folgende Erhöhung des Prolaktins. [1][121]
[130] [132] [140]
Ein Zuviel an Prolaktin kann in allen Bereichen des sexuellen Reaktionszyklus störend
wirken und kann im weiteren Verlauf zu einer Reduzierung von Gonadotropinen, Östrogen
und Testosteron führen. [130]
In weiterer Folge können sich daraus Menstruationsstörungen und eine Verminderung der
Knochendichte entwickeln. [133][141][142]
Sexuelle Funktionsstörungen kommen laut einer Studie von Dossenbach et al. (2005) bei
schizophrenen
Patienten
mit
einer
prolaktinerhöhenden
Psychopharmakatherapie
wesentlich öfter vor als bei Schizophreniepatienten, die mit Neuroleptika therapiert
werden, die den Prolaktinspiegel nicht beeinflussen. [125]
Laut einer Studie von Hummer et al. (2004) können die typischen Neuroleptika einen
Prolaktinanstieg nach sich ziehen, wobei dieser nicht zwangsläufig mit klinischen
Symptomen korreliert. Sollte sich aber eine Gynäkomastie, Galaktorrhoe oder Störungen
der Sexualität entwickeln, wird empfohlen, die medikamentöse Therapie zu wechseln.
[143][144]
Es wird versucht mit neueren Neuroleptika (zum Beispiel Quetiapin, Aripripazol), die eine
prolaktinsparende
Wirkung
haben,
dem
Problem
der
Hyperprolaktinämie
entgegenzuwirken. [145]
59
Es ist von großer Bedeutung, dass der betreuende Arzt das Thema sexueller
Funktionsstörungen bewusst anspricht, weil Patienten selten von sich aus über Probleme in
diesem intimen Bereich berichten. Des Weiteren leiden ambulant betreute Patienten
wesentlich häufiger unter Sexualstörungen als stationär aufgenommene. [130]
Aus einem gestörten Sexualleben können eine subjektive Reduzierung der Lebensqualität
und des Selbstwertgefühls sowie Probleme in der partnerschaftlichen Beziehung erfolgen.
[121][124][125][140][146][147]
Oft resultiert daraus eine mangelnde Compliance der Patienten bezüglich der
Medikamenteneinnahme. [124][125][128][147][148]
Das Vorkommen von Sexualstörungen bei Schizophreniepatienten wird häufig
unterbewertet. [130][140]
Bei etwas weniger als der Hälfte der Patienten (40%) wird laut der IC-SOHO study
(Intercontinental Schizophrenia outpatient Health Outcomes study) erst nach intensiverer
Anamnese eine sexuelle Dysfunktion durch die Medikation festgestellt. [130][140]
Sexuelle Funktionsstörungen, Medikamente, Schizophrenie und Komorbiditäten:
Da Alkohol- und Drogenabusus bei psychotischen Patienten nicht selten vorkommt, ist
unklar, ob Sexualstörungen nicht eher dadurch bestehen und nicht medikamentös induziert
sind. [6]
60
5.3.6 Schizophrenie und Sexualdelinquenz
Laut einer Untersuchung von Pitum et al. (2008) zeigt sich, dass schizophrene Patienten
häufig Probleme damit haben, ihr Begehren auf passende Weise zu formulieren. Dies kann
zu einer Diskrepanz zwischen erhoffter und erreichter intimer Nähe führen und dadurch ein
aggressives Sexualverhalten unterstützen. [149]
Auch Škodlar et al. (2009) stellen bezüglich des Sexualverhaltens schizophrener Patienten
fest, dass diese Probleme damit haben, Nähe und Distanz zu ihren Mitmenschen zu
regulieren. [82]
Phillips et al. (1999) berichten, dass schizophrene Sexualstraftäter Schwierigkeiten haben,
engere persönliche Beziehungen einzugehen. [150]
Unter anderem nach einer Studie von Alden et al. (2007) besteht bei schizophrenen
Patienten ohne psychiatrische Komorbiditäten keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für
Sexualstraftaten mit oder ohne aggressive Handlungen. [76][79][151]
Auch in einer Studie, die sich über einen Zeitraum von 5 Jahren erstreckt hat, kommen
Yaakov et al. (2007) zu dem Schluss, dass die Zahl von durch schizophrenen Menschen
ausgeübten Sexualstraftaten im Vergleich zur Normalbevölkerung relativ gering ist. [152]
Im Gegensatz dazu besteht unter anderem den Ergebnissen einer Studie von Drake et al.
(2004) zufolge möglicherweise ein relevanter Zusammenhang zwischen Schizophrenie und
Sexualdelinquenz. [149][150][153][154]
In einer von Fazel et al. (2007) untersuchten Gruppe von Sexualstraftätern (8 495) finden
sich bei 4,8% (413) psychiatrische Erkrankungen (Schizophrenie, bipolare Störung, andere
Psychosen, organische Störungen) während sich in der Vergleichsgruppe (19 935), die aus
der Normalbevölkerung zusammengestellt wird, 1,3% (252) Personen mit psychiatrischen
Erkrankungen finden.
Von den 4,8% der Sexualstraftäter mit psychiatrischer Diagnose haben 1,5% (130)
Schizophrenie, während in der Vergleichsgruppe nur 0,3% (51) Männer an Schizophrenie
leiden. [153]
Craissati et al. (1992) stellen in ihrer Untersuchung von 11 psychiatrisch kranken
Sexualstraftätern einen multidimensionalen Zusammenhang zwischen der Krankheit
61
Schizophrenie und Sexualstraftaten fest. Sie beschreiben, dass die meisten dieser
Sexualverbrechen aus einem Impuls heraus erfolgen und mit Gefühlen sexueller
Enthemmung verbunden sind. [155]
Auch in einer Studie von Pitum et al. (2008) in der von 32 untersuchten schizophrenen
Sexualverbrechern 11 von ihnen zum Tatzeitpunkt akut psychotisch sind und sich 13 der
Sexualstraftäter in der Prodromalphase der Erkrankung befinden, zeigen sich
unterschiedliche Variablen für sexuell übergriffiges Verhalten. Es kann also nicht von
einer homogenen Gruppe schizophrener Sexualverbrecher ausgegangen werden. [149]
Die Studienautoren gehen ursprünglich davon aus, dass das hohe Maß an sozialer
Vereinsamung bei schizophrenen Sexualstraftätern auf die Negativsymptomatik der
Erkrankung zurückzuführen ist. Für diese Annahme finden sich in der Studie aber keine
signifikanten Daten. [149]
Es zeigen sich bei schizophrenen und nicht schizophrenen Sexualstraftätern gleichermaßen
Faktoren wie negative Erlebnisse in der Kindheit, soziale Vereinsamung sowie
psychosexuelle Aspekte. [149]
Diese Studie ergiebt auch, dass die Positivsymptomatik der Schizophrenie nicht mit dem
aggressiven Verhalten, sondern in erster Linie mit absonderlichem Verhalten in
Verbindung stehen dürfte. Die Autoren berichten von signifikant öfter auftretendem
absonderlichen Verhalten schizophrener Sexualstraftäter im Vergleich zur Kontrollgruppe,
wie auch von einem wesentlich häufiger vorkommenden Anwenden unmäßiger Gewalt.
[148]
Es finden sich in der Untersuchung von Pitum et al. (2008) bei schizophrenen
Sexualverbrechern weiters neurokognitive Defizite, die zu einem Verlust der
Impulskontrolle und Enthemmung sowie zu einer verminderten Aufmerksamkeit und
Antriebsverlust führen können. Diese Faktoren können unter Umständen zu einer falschen
Auslegung des Verhaltens von Mitmenschen und so zu sexuell übergriffigen
Verhaltensweisen führen. [149]
Auch in einer Studie von Phillips et al. (1999) findet sich eine neuropsychologische
Verschlechterung bei Schizophreniepatienten. Signifikanten Unterschiede zwischen
62
Patienten mit sexuell aggressivem beziehungsweise sexuell unsozialem Verhalten und
schizophrenen Patienten, die zu reinen Gewalttätigkeiten neigen, zeigen sich nicht. [150]
In einer Studie von Yaakov et al. (2007) werden schizophrene Sexualstraftäter,
schizophrene Patienten, die für andere kriminelle Handlungen verhaftet worden sind, und
nicht
schizophrene
Sexualstraftäter
miteinander
verglichen.
Schizophrene
Sexualverbrecher sind im Vergleich zur anderen schizophrenen Studiengruppe häufiger
verheiratet, haben eher homosexuelle und bisexuelle Neigungen, stehen öfter in einem
Arbeitsverhältnis,
sind
seltener
in
psychiatrischen
Einrichtungen,
zeigen
mehr
Negativsymptomatik und überhaupt einen schwereren Krankheitsverlauf. [152]
Weiters zeigen schizophrene Sexualstraftäter in ihrem Verhalten größere Ähnlichkeit mit
der Persönlichkeit von Sexualstraftätern als der von schizophrenen Patienten. Von den 36
Sexualstraftaten steht eine in Zusammenhang mit den Symptomen einer akuten
psychotischen Episode. In den anderen Fällen wird kein direkter Zusammenhang gefunden.
[152]
Im Gegensatz zu den schizophrenen Sexualstraftätern, die eher an weiblichen Opfern
interessiert sind (83,3%), wählen laut Pitum et al. (2008) die nicht schizophrenen
Sexualstraftäter häufiger Männer als Opfer aus (57,9%). Bei nicht schizophrenen
Sexualstraftätern findet sich eine größere sexuelle Neigung zu Kindern und Jugendlichen
als bei schizophrenen Sexualstraftäter. Bei beiden Sexualstraftätergruppen zeigt sich ein
ähnlich hohes Auftreten von Paraphilien. [152]
In einer Studie von Smith (2000) über 80 schizophrene Sexualverbrecher, die die Straftaten
in psychotischem Zustand begangen haben, wird festgestellt, dass in 49 (61%) der
sexuellen Übergriffe die Opfer den Tätern nicht bekannt sind und davor auch kein sozialer
Kontakt zwischen ihnen stattgefunden hat. [156]
Laut Pitum et al. (2008) sind mit den sexuellen Straftaten in Zusammenhang stehende
Wahnvorstellungen und Halluzinationen selten. [149]
Im Gegensatz dazu stellen Smith et al. (1999) in einer Studie über 80 schizophrene
Sexualstraftäter fest, dass die Hälfte von ihnen Wahnvorstellungen oder Halluzinationen
im Zusammenhang mit den Übergriffen haben. [157]
63
In einer Studie von Jones et al. (1992) werden 4 junge männliche schizophrene Patienten
untersucht, die versucht haben, Frauen sexuell anzugreifen. Die Studienautoren
beschreiben, dass diese Angriffe in einem direkten Zusammenhang mit befehlenden oder
auffordernden akustischen Halluzinationen gestanden haben. [158]
Schizophrenie, Sexualdelinquenz und Komorbiditäten:
Alden et al. (2007) stellen fest, dass bei Patienten mit psychotischen Erkrankungen und
komorbiden
psychiatrischen
Erkrankungen
wie
Persönlichkeitsstörungen
oder
Substanzmissbrauch eine 6-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie körperlich
gewalttätige Sexualverbrechen begehen und ein 3- bis 5-fach großes Risiko, dass sie ohne
aggressive Handlungen Sexualstraftaten begehen. [151]
In einer Studie von Pitum et al. (2008) imponieren schizophrene Patienten mit
komorbidem Substanzmissbrauch bei ihren Straftaten durch Gewaltlosigkeit und impulsive
sowie ungeplante Handlungen. Bei schizophrenen Sexualverbrechern mit einer
komorbiden antisozialen Persönlichkeitsstörung finden sich signifikant mehr unmäßige
Gewaltanwendungen während der Taten. Sie sind weniger empathisch und vor den
Übergriffen weniger sexuell gehemmt. [149]
Laut einer Studie von Yaakov et al. (2007) zeigen sich bei untersuchten schizophrenen
Sexualstraftätern um die Hälfte weniger antisoziale Persönlichkeitsstörungen als bei den
schizophrenen Nicht-Sexualverbrechern. [152]
64
6 Resümee
Psychiatrische Komorbiditäten wie der Substanzmissbrauch (vor allem Alkohol) und die
antisoziale Persönlichkeitsstörung haben einen großen Einfluss auf das aggressive und
sexuelle Verhalten schizophrener Patienten.
Aggressionen dürften bei schizophrenen Patienten, wie auch in der Normalbevölkerung,
durch multifaktorielle Ursachen und komplexe Zusammenhänge entstehen.
Es gibt keine neurobiologischen Erkenntnisse, die aggressives Verhalten bei schizophrenen
Patienten eindeutig erklären können.
Schizophrene Menschen haben häufig Probleme, ein passendes Maß von Nähe und Distanz
zu ihren Mitmenschen zu finden. Das kann zu Zurückweisungen und aggressivem
Verhalten führen.
Ein wesentlicher Grund für die Aggressionen bei schizophrenen Patienten ist, dass diese,
weil sie sich durch ihre eigenen Halluzinationen, Psychosen und das Klinikpersonal
bedroht fühlen, teilweise aus Panik übertrieben aggressiv handeln um sich selbst zu
schützen.
Generell dürfte die Qualität der Betreuung schizophrener Patienten bei der Entstehung von
Aggressionen eine Rolle spielen.
Das Sexualverhalten schizophrener Patienten ist mit dem durchschnittlichen sexuellen
Verhalten der gesunden Allgemeinbevölkerung zu vergleichen.
Bei der schizophrenen Erkrankung kann es zu einer mangelhaften Ausbildung von
Körperbild und Geschlechtsidentität kommen, was bei den Betroffenen zu Unsicherheiten
führen kann.
Auffallend oft kommt es bei schizophrenen Patienten zu häufigem Partnerwechsel und
riskantem
Geschlechtsverkehr
im
Sinne
sexuell
übertragbarer
Erkrankungen.
65
Schizophreniepatientinnen schützen sich kaum vor Schwangerschaften und werden häufig
Opfer sexueller Nötigungen, Vergewaltigungen und Prostitution.
Die Sexualität psychisch Kranker wird von Ärzten und Patienten noch immer häufig
tabuisiert und ist schwer zu erforschen, weil zuerst die Patienten zum Untersucher
Vertrauen aufbauen müssen, was einerseits zeitlich sehr aufwendig ist und andererseits
sehr von den klinischen Phasen, in denen sich die Patienten gerade befinden, abhängig ist.
Schizophrene Patienten leiden häufig unter sexuellen Funktionsstörungen, die zu einem
Teil Folgen der Erkrankung sind und zum anderen Teil durch antipsychotische
Medikamente induziert werden.
Sexuelle Funktionsstörungen sowie ein gestörtes sexuelles Erleben oder Verhalten
während einer akuten psychotischen Episode können auch in Partnerschaften zu einem
Problem werden.
Es muss bei der Behandlung schizophrener Patienten darauf geachtet werden, eher
Medikamente mit geringeren sexuellen Nebenwirkungen (zum Beispiel prolaktinsparende
Neuroleptika) zu verschreiben, um die Lebensqualität der Patienten sowie deren
Compliance zu erhalten. Es ist, wie es in der Psychiatrie häufig vorkommt, ein schmaler
Grat zwischen dem Finden der richtigen Dauermedikation und dem Vermeiden von
Nebenwirkungen, da jeder Patient unterschiedlich auf die Medikamente reagiert.
66
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