§12 Gewöhnliche Differentialgleichungen 12.1 Der Satz von Picard-Lindelöf 12.1.1 Definition (Explizite Differentialgleichung erster Ordnung) Ω1 ⊂ R, Ω2 ⊂ Rn seien offen und f : Ω1 × Ω2 → Rn , (x, y) 7→ f (x, y) stetig. Eine explizite gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung ist eine Gleichung der Form (12.1.1) y 0 (x) = f (x, y(x)) für eine differenzierbare Abbildung y : Ω1 → Ω2 . In manchen Fällen ist es möglich, die Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen durch Integration zu bestimmen. Z.B. führt die Differentialgleichung y 0 (x) = y(x) durch Multiplikation mit e−x auf beiden Seiten zur Differentialgleichung ỹ 0 (x) = 0 mit ỹ(x) = e−x y(x) . ỹ muss daher konstant sein, d.h. ỹ(x) = e−x y(x) = c mit einer Konstanten c ∈ R. Ferner gilt c = y(0), also y(x) = y(0)ex . In den meisten Fällen ist aber eine explizite Lösung nur sehr schwer oder garnicht zu finden. Allerdings ist dies für viele Zwecke auch nicht nötig, sondern man interessiert sich meist bloß für die Existenz, die Eindeutigkeit und die Eigenschaften einer Lösung. Wir wollen nun untersuchen, ob und wieviele Lösungen es von (12.1.1) gibt. 197 §12 Gewöhnliche Differentialgleichungen 12.1.2 Satz (Picard-Lindelöf) Ω1 ⊂ R, Ω2 ⊂ Rn seien offen und f : Ω1 × Ω2 → Rn stetig. Ferner genüge f im zweiten Argument der folgenden lokalen Lipschitz-Bedingung: Zu jedem (ξ, η) ∈ Ω1 × Ω2 existiere ein r > 0 und ein L > 0, so dass (12.1.2) ||f (x, y1 ) − f (x, y2 )|| ≤ L||y1 − y2 || , ∀ x ∈ Ω1 ∩ U (ξ, r) und ∀ y1 , y2 ∈ Ω2 ∩ U (η, r). Dann existiert zu jedem (ξ, η) ∈ Ω1 × Ω2 ein > 0 mit U (ξ, ) ⊂ Ω1 und eine eindeutige bestimmte differenzierbare Funktion y : U (ξ, ) → Ω2 mit y 0 (x) = f (x, y(x)) , ∀ x ∈ U (ξ, ) und (12.1.3) y(ξ) = η . Gleichung (12.1.3) nennt man auch die Anfangsbedingung. 12.1.3 Bemerkung Wie schon das denkbar einfachste Beispiel y 0 (x) = 0 zeigt, sind die Lösungen erst dann eindeutig, wenn man die Anfangsbedingung angibt. Die Lösungen von y 0 = 0 sind nämlich die konstanten Funktionen und durch die Anfangsbedingung y(ξ) = η wird in diesem Fall die Konstante festgelegt. 12.1.4 Beispiel a) In einigen Fällen ist es möglich, die Lösung von y 0 (x) = f (x, y(x)) durch das im Beweis des Satzes von Picard-Lindelöf benutzte Iterationsverfahren explizit zu bestimmen. Wir betrachten die Gleichung y 0 (x) = kxk−1 y(x) mit einem k ∈ N. Sei η ∈ R beliebig und ξ := 0. Wir suchen also nach der eindeutigen Lösung zur Anfangsbedingung y(0) = η. Es sei y0 := η und iterativ yn+1 durch Zx yn+1 (x) := (T yn )(x) = η + f (t, yn (t))dt ξ Zx = η+ 0 198 kt k−1 yn (t)dt 12.1 Der Satz von Picard-Lindelöf festgelegt. Wir erhalten durch direktes Integrieren Zx y1 (x) = η + x kt k−1 ηdt = η + ηt k = η(1 + xk ) . 0 0 Per Induktion beweist man yn (x) = η n X (xk )l l=0 und damit y(x) = lim yn (x) = η n→∞ l! ∞ X (xk )l l=0 l! k = ηex . In der Tat ist k y 0 (x) = ηkxk−1 ex = kxk−1 y(x) , y(0) = η . b) Man kann nicht auf die Lipschitz-Bedingung im zweiten Argument von f verzichten. Wir betrachten hierzu die Funktion p f (x, y) = 2|y| . Die gewöhnliche Differentialgleichung p y 0 (x) = f (x, y(x)) = 2|y(x)| besitzt zur Anfangsbedingung y(0) = 0 die beiden Lösungen y1 (x) = 0 und y2 (x) = sign(x)x2 . 2 Die Funktion f ist an der Stelle y = 0 nicht Lipschitz-stetig, aber 1/2-Hölder-stetig. Daher sind die Vorauusetzungen im Satz von Picard-Lindelöf hier nicht erfüllt. 12.1.5 Korollar (Picard-Lindelöf für Gleichungen k-ter Ordnung) Es sei k ∈ N. Ω1 ⊂ R, Ω2 ⊂ Rkn seien offen und f : Ω1 × Ω2 → Rn stetig. Ferner seien ξ ∈ Ω1 , η0 , . . . , ηk−1 ∈ Rn mit η := (η0 , . . . , ηk−1 ) ∈ Ω2 und f erfülle in (ξ, η) die lokale Lipschitz-Bedingung (12.1.2) mit r, L > 0. Dann existiert ein > 0 und eine eindeutig bestimmte k-mal stetig differenzierbare Funktion y : U (ξ, ) → Rn , die der folgenden gewöhnlichen Differentialgleichung k-ter Ordnung genügt: (12.1.4) (k) 0 (k−1) (x)) y (x) = f (x, y(x), y (x), . . . , y y (j) (ξ) = ηj , ∀ j = 0, . . . , k − 1 . 199 §12 Gewöhnliche Differentialgleichungen Beweis: Wir reduzieren die gewöhnliche Differentialgleichung k-ter Ordnung auf eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung. Sei y ∈ C k (Ω1 , Rn ) und φ := (y, y 0 , . . . , y (k−1) ). Dann ist φ ∈ C 1 (Ω1 , Rkn ). Ferner sei F : Ω : Ω1 × Ω2 → Rkn definiert durch F(x, y0 , . . . , yk−1 ) := (y1 , . . . , yk−1 , f (x, y0 , . . . , yk−1 )) für alle y0 , . . . , yk−1 , für die die rechte Seite erklärt ist. y ∈ C k (Ω1 , Rn ) ist genau dann Lösung von (12.1.4), wenn φ ∈ C 1 (Ω1 , Rkn ) die folgende Gleichung löst: 0 φ (x) = F(x, φ(x)) φ(ξ) = η . Die Behauptung folgt nun aus Satz 12.1.2. 12.1.6 Beispiel Die Gleichung y 00 (x) = x sin y(x) · y 0 (x) ist zweiter Ordnung. Durch φ0 := y, φ1 := y 0 , φ := (φ0 , φ1 ) erhalten wir die Gleichung φ0 = (φ00 , φ10 ) = (y 0 , y 00 ) = (y 0 , x sin y · y 0 ) = (φ1 , x sin φ0 · φ1 ) =: F(x, φ) . 12.2 Lineare Differentialgleichungen In diesem Abschnitt werden wir die Lösungen linearer homogener gewöhnlicher Differentialgleichungen n-ter Ordnung der Form z(n) = −cn−1 z(n−1) − · · · − c1 z0 − c0 z untersuchen, wobei z die unbekannte komplex- oder reellwertige Funktion einer reellen Variablen x ist und c0 , . . . , cn−1 feste komplexe (oder reelle) Zahlen sind. Wir werden zuerst sämliche komplexen Lösungen dieser Gleichung bestimmen. In dem Fall, wo alle Koeffizienten c0 , . . . , cn−1 reell sind, werden wir aus den komplexwertigen Lösungen dieser Gleichung alle reellwertigen bestimmen können. Die wesentliche Idee dabei ist, dass (im Gegensatz zum reellen Fall) es stets möglich ist, ein komplexes Polynom zn +cn−1 zn−1 +· · ·+c1 z +c0 vom Grad n in ein Produkt aus n Monomen zu zerlegen, d.h. es existieren n komplexe Zahlen λ1 , . . . , λn (die Nullstellen des Polynoms) mit n Y n n−1 z + cn−1 z + · · · + c1 z + c0 = (z − λk ). k=1 Insbesondere gilt im Fall reellwertiger Koeffizienten c0 , . . . , cn−1 , dass mit λ auch λ̄ eine Nullstelle des Polynoms ist. 200 12.2 Lineare Differentialgleichungen Sei jetzt z : I → C eine komplexwertige Funktion auf einem Intervall I ⊂ R. Natürlich ∂ der lineare Differensind die Spezialfälle zulässig, wo z reellwertig ist. Es sei p = ∂x tialoperator, der jeder differenzierbaren Funktion z : I → C ihre Ableitung zuordnet, d.h. ∂z pz := = z0 . ∂x Wendet man p insgesamt n-mal auf eine n-fach differenzierbare Funktion z an, so erhält man ∂n z pn z = (p ◦ · · · ◦ p)z = . (∂x)n | {z } n−mal Es sei nun L(q) := qn + cn−1 qn−1 + · · · + c1 q + c0 ein komplexes Polynom vom Grad n über C, d.h. c0 , . . . , cn ∈ C mit cn , 0. Der zu L gehörende lineare Differentialoperator ist L(p) = pn + cn−1 pn−1 + · · · + c1 p + c0 . Man nennt L(p) auch das charakteristische Polynom der linearen gewöhnlichen Differentialgleichung (12.2.1) L(p)z = z(n) + cn−1 z(n−1) + · · · + c1 z0 + c0 z = 0. Ist λ ∈ C beliebig, so gilt für die Funktion eλx bekanntlich p(eλx ) = λeλx und dann auch induktiv L(p)(eλx ) = L(λ) · eλx . (12.2.2) 12.2.1 Einfache Wurzeln An Gleichung (12.2.2) erkennen wir sofort, dass die Funktion eλx genau dann eine Lösung von (12.2.1) ist, wenn λ eine Nullstelle des Polynoms L ist, d.h. wenn L(λ) = λn + cn−1 λn−1 + · · · + c1 λ + c0 = 0. In dem Fall, wo alle Nullstellen des Polynoms L verschieden sind, ergibt sich folgender Satz. 12.2.1 Satz Die Nullstellen λ1 , . . . , λn ∈ C des charakteristischen Polynoms L(q) = qn + cn−1 qn−1 + · · · + c1 q + c0 der linearen gewöhnlichen Differentialgleichung z(n) + cn−1 z(n−1) + · · · + c1 z0 + c0 z = 0 201 §12 Gewöhnliche Differentialgleichungen seien paarweise verschieden. Dann lässt sich jede komplexwertige Lösung z dieser gewöhnlichen Differentialgleichung in der Form z = a1 eλ1 x + · · · + an eλn x mit a1 , . . . , an ∈ C darstellen. 12.2.2 Beispiel a) Wir betrachten die Gleichung dritter Ordnung z000 = 2z00 − z0 + 2z. Hier ist L(q) = q3 − 2q2 + q − 2 = (q − i)(q + i)(q − 2). Also sind die Nullstellen λ1 = i, λ2 = −i, λ3 = 2 sämtlich verschieden. Der Lösungsraum der gewöhnlichen Differentialgleichung besteht aus allen Funktionen der Form z(x) = a1 eix + a2 e−ix + a3 e2x mit a1 , a2 , a3 ∈ C. b) Für die Gleichung z00 + 2z0 + 2z = 0 ist L(q) = q2 + 2q + 2 = (q + 1 − i)(q + 1 + i), d.h. λ1 = −1 + i, λ2 = −1 − i. Der komplexe Lösungsraum ist somit z(x) = a1 e(−1+i)x + a2 e(−1−i)x mit komplexen Koeffizienten a1 , a2 . Wir können dies auch noch mit der Eulerschen Formel ein wenig umschreiben. Weil eix = cos x + i sin x, folgt e(−1+i)x = e−x (cos x + i sin x), e(−1−i)x = e−x (cos(−x) + i sin(−x)) = e−x (cos x − i sin x). Setzt man dies wieder oben in die allgemeine Lösungsformel ein, ergibt sich z(x) = e−x (a1 + a2 ) cos x + i(a1 − a2 ) sin x . Dies ist genau dann eine reelle Funktion, wenn die Koeffizienten die Gleichungen 1 a1 = (a − ib), 2 1 a2 = (a + ib) 2 mit zwei reellen Zahlen a, b erfüllen. In diesem Fall wird z(x) = e−x (a cos x + b sin x). 202 12.2 Lineare Differentialgleichungen Besitzt das charakteristische Polynom nur reelle Koeffizienten, so sind wir insbesondere an den reellen Lösungen der linearen gewöhnlichen Differentialgleichung interessiert. Dafür ist zunächst folgende Tatsache wichtig. Ist λ eine Nullstelle von L so folgt aus 0 = L(λ) = L(λ̄), dass auch die zu λ komplex konjuguerte Zahl λ̄ eine Nullstelle ist. Nicht reellwertige Nullstellen eines reellen Polynoms treten somit immer in Paaren λ, λ̄ auf. Betrachten wir z.B. das reelle Polynom L(q) = q3 − 7q2 + 19q − 13 = (q2 − 6q + 13)(q − 1) = (q − 3 − 2i)(q − 3 + 2i)(q − 1), so sind die Nullstellen durch λ1 = 3 + 2i, λ2 = λ̄1 = 3 − 2i, λ3 = 1 gegeben. Für reelle Polynome mit verschiedenen Nullstellen ergibt sich dann der nächste Satz. 12.2.3 Satz L(q) = qn + cn−1 qn−1 + · · · + c1 q + c0 sei ein reelles Polynom. Die n komplexen Nullstellen λ1 , . . . , λn seien sämtlich verschieden und seien von der Form λ1 = µ1 + iω1 , .. . λ2k−1 = µk + iωk , λ2 = µ1 − iω1 .. . λ2k = µk − iωk λ2k+1 , . . . , λn ∈ R. Dann kann jede reelle Lösung y der linearen gewöhnlichenDifferentialgleichung y (n) + cn−1 y (n−1) + · · · + c1 y 0 + c0 = 0 in der Form y(x) = k X j=1 e µj x n X aj cos(ωj x) + bj sin(ωj x) + dj eλj x j=2k+1 mit reellen Koeffizienten a1 , . . . , ak , b1 , . . . , bk , d2k+1 , . . . , dn geschrieben werden. 203 §12 Gewöhnliche Differentialgleichungen 12.2.4 Beispiel Wir betrachten die Gleichung y 00 − 7y 00 + 19y 0 − 13y = 0. Weil L(q) = q3 − 7q2 + 19q − 13 = (q − 3 − 2i)(q − 3 + 2i)(q − 1), gilt λ1 = 3 + 2i, λ2 = 3 − 2i, λ3 = 1, also µ1 = 3, ω1 = 2 und die allgemeine Lösung ist y(x) = e3x (a cos(2x) + b sin(2x)) + dex . 12.2.5 Korollar Mit denselben Voraussetzungen wie in Satz 12.2.3, lässt sich jede reelle Lösung von y (n) + cn−1 y (n−1) + · · · + c1 y 0 + c0 = 0 in der Form y= k X rj e µj x cos(ωj x + αj ) + j=1 n X dj eλj x j=2k+1 mit reellen Koeffizienten r1 , . . . , rk , α1 , . . . , αk , d2k+1 , . . . , dn schreiben. 12.2.2 Wurzeln mit Vielfachheiten Ist L(p) ein Polynom n-ten Grades, dann ist die Vielfachheit einer Nullstelle λ die maximale Zahl k mit 1 ≤ k ≤ n für die L(p) in ein Produkt L(p) = M(p)(p − λ)k zerlegt werden kann, wobei M(p) ein Polynom (n − k)-ten Grades ist, für welches λ keine Nullstelle mehr ist. Jede Nullstelle von L(p) mit k > 1 wird eine Nullstelle mit Vielfachheit oder auch eine multiple Nullstelle genannt. Hat das charakteristische Polynom einer gewöhnlichen Differentialgleichung Nullstellen mit Vielfachheit, so kann man eine Basis des Lösungsraums nicht mehr durch die Funktionen eλj x erzeugen. Hierfür kann man folgendes heuristisches Argument heranziehen. Sind λ1 , λ2 zwei verschiedene Nullstellen von L(p), so ist die Funktion eλ1 x − eλ2 x λ1 − λ2 204 12.2 Lineare Differentialgleichungen eine Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung. Nimmt man nun an, dass durch eine Änderung der Koeffizienten von L(p) die Nullstelle λ2 sich immer mehr der Nullstelle λ1 annähert, so wird im Grenzübergang zu erwarten sein, dass die Grenzfunktion e λ1 x − e λ2 x xeλ1 x = lim λ2 →λ1 λ1 − λ2 eine Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung mit doppelter Nullstelle bei λ1 ist und dies ist tatsächlich der Fall. Analog kann man schließen, dass die Funktionen eλx , xeλx , . . . , xk−1 eλx Lösungen einer linearen gewöhnlichen Differentialgleichung L(p)z = 0 sind, wenn λ eine Nullstelle von L(p) der Vielfachheit k ist. Es gilt dann der folgende Satz. 12.2.6 Satz Es sei L(p) das charakteristische Polynom einer linearen homogenen Differentialgleichung n-ter Ordnung (mit konstanten Koeffizienten). λ1 , . . . , λk seien paarweise verschiedene Nullstellen von L(p) mit Vielfachheiten m1 , . . . , mk so dass n = m1 + · · · + mk . Dann kann jede Lösung z von L(p)z = 0 geschrieben werden in der Form z(x) = k X lj (x)eλj x , j=1 wobei jedes lj (x) ein beliebiges Polynom in x vom Grad kleiner oder gleich mj − 1 ist. 12.2.7 Beispiel a) Wir betrachten die Gleichung z0000 + 2z00 + z = 0. Das charakteristische Polynom L(p) = p4 + 2p2 + 1 = (p − i)2 (p + i)2 hat zwei Nullstellen λ1 = i, λ2 = −i, beide mit Vielfachheit m1 = m2 = 2. Nach Satz 12.2.6 hat die allgemeine Lösung die Form z(x) = (a + bx)eix + (c + dx)e−ix mit komplexen Zahlen a, b, c, d. b) Das charakteristische Polynom L(p) = pn hat nur eine Nullstelle bei λ = 0 und diese hat die Vielfachheit n. Die allgemeine Lösung ist somit z(x) = (a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an−1 xn−1 )e0·x = a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an−1 xn−1 mit komplexen Zahlen a0 , . . . , an−1 . 205 §12 Gewöhnliche Differentialgleichungen Aus den komplexen Lösungen lassen sich auch wieder alle reellen Lösungen gewinnen, wenn die Koeffizienten des charakteristischen Polynoms L(p) reell sind. 12.2.8 Satz Wir betrachten das charakteristische Polynom L(p) der homogenen linearen gewöhnlichen Differentialgleichung y (n) + cn−1 y (n−1) + · · · + c1 y 0 + c0 y = 0 mit reellen Koeffizienten c0 , . . . , cn−1 . Es sei {λ1 , . . . , λk } die Menge aller paarweise verschiedenen Nullstellen von L(p) mit Im(λj ) > 0, j = 1, . . . , k und {λk+1 , . . . , λk+l } sei die Menge aller paarweise verschiedenen reellen Nullstellen von L(p). Ferner sei die Vielfachheit von λj gleich mj für j = 1, . . . , k + l. Dann kann jede reelle Lösung y der Differentialgleichung in der Form y(x) = k X e µj x k+l X aj (x) cos(ωj x) + bj (x) sin(ωj x) + dj (x)eλj x j=1 j=k+1 mit reellen Polynomen aj (x), bj (x), dj (x) vom Grad kleiner oder gleich mj −1 für j = 1, . . . , k+ l geschrieben werden. Hierbei haben wir λj = µj + iωj für j = 1, . . . , k gesetzt. 12.2.9 Beispiel Wir betrachten die Differentialgleichung y (7) + 3y (6) + 5y (5) + 7y (4) + 7y (3) + 5y (2) + 3y 0 + y = 0. Das charakteristische Polynom ist L(p) = (p + 1)3 (p − i)2 (p + i)2 . Es existiert also eine komplexe Wurzel λ1 mit positivem Imaginärteil, nämlich λ1 = i. Dies hat Vielfachheit zwei. Die einzige reelle Nullstelle ist λ2 = −1 mit Vielfachheit drei. Die reellen Ls̈oungen sind also der Form y(x) = (a0 + a1 x) cos x + (b0 + b1 x) sin x + (c0 + c1 x + c2 x2 )e−x mit reellen Konstanten a0 , a1 , b0 , b1 , c0 , c1 , c2 . Diese sind dann durch die sieben Anfangsbedingungen eindeutig festgelegt. 12.2.3 Einfache inhomogene lineare Differentialgleichungen Ist L(p)z = 0 eine homogene lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung und ist f (x) eine Funktion, so heißt die Gleichung (12.2.3) 206 L(p)z = f 12.2 Lineare Differentialgleichungen eine inhomogene lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung. Um die Lösungen von (12.2.3) zu erhalten, überlegen wir zuächst, dass für je zwei Lösungen z1 , z2 von (12.2.3) wegen der Linearität die Differenz z1 − z2 die homogene lineare Differentialgleichung L(p)(z1 − z2 ) = 0 löst. Wir erhalten deshalb alle Lösungen von (12.2.3), wenn wir eine spezielle Lösung zs von (12.2.3) kennen und hierzu alle Lösungen z der zugehörigen homogenen Gleichung L(p)z = 0 addieren, denn dann ist auch L(p)(zs + z) = L(p)zs + L(p)z = f + 0 = f . In manchen Fällen ist es besonders einfach, eine spezielle Lösung zs zu erhalten. Wir betrachten den Fall, wo f = c eine Konstante ist. Es sei hierzu L(p) = cn pn + cn−1 pn−1 + · · · + c1 z + c0 mit cn , 0. Wir wählen das kleinste k ∈ {0, . . . , n} mit ck , 0. Für zs = ak xk ist dann L(p)zs = (cn pn + · · · + ck pk )(ak zk ) = k!ck ak . Weil ck , 0, erhält man für ak := c k!ck eine spezielle Lösung zs von L(p)zs = c. 12.2.10 Beispiel Wir betrachten die inhomogene Differentialgleichung z000 + 4z0 = c. Hier ist n = 3, k = 1, ck = 4 und zs = 4c x. Da die zugehörige homogene Differentialgleichung z000 + 4z0 = 0 die allgemeine Lösung z(x) = a0 e0·x + a1 e2ix + a2 e−2ix = a0 + a1 e2ix + a2 e−2ix besitzt, sind alle Lösungen der inhomogenen Gleichung durch c z(x) = x + a0 + a1 e2ix + a2 e−2ix 4 mit a0 , a1 , a2 ∈ C gegeben. 207