Schmerztherapie im Alter I Gralow Schmerzambulanz und –Tagesklinik Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Schmerztherapie im Alter 25 bis 50% chronische oder rezidivierende Schmerzen 45 bis 80% unter Pflegeheimbewohnern ! Gibson 2006, IASP 2006 Vorurteile zum chronischen Schmerz alter Menschen ¾ Schmerz gehört zum Alter und ist daher schicksalhaft ¾ Ältere Menschen haben im Vergleich zu jüngeren ein reduziertes Schmerzempfinden ¾ Der Schmerztherapiebedarf sinkt mit zunehmendem Lebensalter Schmerzempfinden im Alter • Schmerzschwelle • Schmerztoleranz • Schmerzdiskrimination Abhängig von: Messmethoden, Lokalisation, Labor vs Praxis Schmerzempfinden kann vermindert oder verstärkt sein Fazit: entscheidend bleibt die individuelle Schmerzempfindung und der Therapiebedarf Beurteilung der Schmerzintensität Visuelle Analogskala (VAS) ¾ strukturiertes Numerische Analogskala (NAS) Schmerzinterview ¾ Fremdanamnese ¾ Beobachtung des Schmerzverhaltens (Schonverhalten, Grimassieren, direkte Schmerzäußerung u. ä.) Verbal Rating Scale (VRS) • • • • • • Kein Schmerz Leichter Schmerz Mäßiger Schmerz Starker Schmerz Sehr starker Schmerz Stärkster vorstellbarer Schmerz ECPA (Echelle comportementale de la douleur pour personnes agees non communicantes) Deutsche Version nach Kunz Items 1-10 nach 0-1-2-3-4 Dimension I Beobachtungen außerhalb der Pflege 1: verbale Äußerungen 2: Gesichtsausdruck 3: Spontane Ruhehaltung Dimension II Beobachtungen während der Pflege 4: ängstliche Abwehr 5: Reaktionen bei der Mobilisation 6: Reaktionen während der Pflege von schmerzhaften Zonen 7: verbale Äußerungen während der Pflege Dimension III Auswirkungen auf Aktivitäten 8: auf den Appetit 9: auf den Schlaf 10: auf Bewegungen 11: auf die Kommunikation/Kontaktfähigkeit 0 = kein Schmerz bis maximaler Schmerz mit 44 Die häufigsten Schmerzsyndrome im Alter • degenerative Gelenkerkrankungen, Osteoporose, rheumatische Erkrankungen • Karzinombedingte Schmerzen • neuropathische Schmerzen (Polyneuropathien, Herpes Zoster) Volkskrankheit Arthrose • Prävalenz der Arthrose: – Häufigste Gelenkerkrankung weltweit – Prävalenz mit dem Alter zunehmend; 80% der über 75-jährigen sind betroffen Klippel et al., Rheumatology 1998; Brandt. Harrison's Principles of Internal Medicine 1998 Hauptsymptome der Arthrose • Schmerz (v. a. Anlaufschmerz) • Entzündung (aktivierte Arthrose) • Schwellung • Muskelverspannung • Bewegungseinschränkung • Gelenkdeformierung Schmerztherapie bei Patienten > 70 Jahre Längsschnittuntersuchung Jan bis Dez 2000 400 Arztpraxen mit insgesamt 43.587 Patienten Opoide III 3% 3-9 % aller Rezepte (90 Mill. Rezepte) 1.2 % der amerik. Bevölkerung nehme NSAIDs täglich ein NSAID+O 13% Opioide II 19% Ges: > 6 Milliarden $ Diclofenac 1 Milliarde $ Naproxen 0.7 Milliarde $ Piroxicam 0.6 Milliarde $ NSAIDs 65% Klinikarzt 2005 Gastrointestinale Nebenwirkungen unter Therapie mit NSAIDs 100 % = alle Patienten mit NSAIDs ~ 70 % Schleimhautschäden ~ 12 - 28 % Magengeschwüre ~ 1 % Magenblutung, Magendurchbruch bis zu 50 % „Magenbeschwerden“ bei etwa 11 Mio. NSAIDs-Behandlungen in Deutschland bedeutet dies jährlich mehr als 1000 Tote nach Bolten 2001 Indikationen zu Gastroprotektiva bei NSAIDs Risikofaktoren: • Alter > 65 Jahre • GI-Blutung/Ulkus-Anamnese (2,5-4fach) Komedikation: • + Steroide (2fach) • + ASS (2-4fach) • + Marcumar (3fach) Begleiterkrankungen: Kardiovaskulär, Diabetes, Niereninsuffizienz Wirkung von NSAIDs auf Prostaglandine Arachidonsäure COX-1 Leukotriene COX-2 NSAIDs Prostaglandine Prostaglandine Beeinträchtigung von • Thrombozytenaggregation • Magenschleimhaut • Nierendurchblutung Verminderung von • Schmerz • • • Entzündung Fieber Nierendurchblutung Coxibe NW CLASS- und VIGOR-Studie • Im Vergleich zu unselektiven COX-1/2 Hemmern – Risiko für Magenulkus um 80% gesenkt – Ulkuskomplikationen um 50% gesenkt • Aber: – keine Verminderung von Ulkuskomplikationen (Blutung, Perforation) bei der Kombination von Celecoxib (2x400 mg/d) + ASS (<325 mg/d) im Vergleich zu Ibuprofen (3x800 mg/d) oder Diclofenac (2x75 mg/d) – Hemmung der Heilung bestehender Ulzera – Vergleichbare Rate an renalen NW: Hypertonie, Ödeme, Coxibe Kardiovaskuläre NW • COX-1 produziert Thromboxan A2 - ein potenter Plättchenaktivator = prothrombotisch • COX-2 erzeugt Prostazykline (PGI2) - Vasodilatator und Hemmer Kardiovaskuläre Nebenwirkungen von Plättchenagglutination = antithrombotisch sind ein Klasseneffekt der Coxibe !!! • COX-2 spielt eine mögliche kardioprotektive Rolle FDA + Arzneimittelkommission • Bei kardialen Vorerkrankungen sofortige der2004 COX-2-H der deutschenRisiken Ärzteschaft cave: Valdecoxib + Parecoxib in der postoperativen Phase COX-2 einstweiliges Fazit • Kontraindikationen für alle Cox-2 Hemmer bei ischämischen Herzerkrankungen oder Schlaganfall • Kontraindikationen für Etoricoxib (ARCOXIA) auch bei Patienten mit schwer einstellbarer arterieller Hypertonie • Vorsicht bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren: Hypertonie, Hyperlipidämie, Diabetes ect. Für die Praxis: Niedrigste effektive Dosis für den kürzesten möglichen Zeitraum < 6 Monate Coxibe vs NSAIDs Do selective cyclo-oxygenase-2 inhibitors and traditional non-steroidal antiinflammatory drugs increase the risk of atherothrombosis? Meta-analysis of randomised trial Kearney et al. BMJ 6/2006 Cardiovascular outcomes with etoricoxib and diclofenac in patients with osteoarthritis and rheumatoid arthritis in the Multinational Etoricoxib and Diclofenac Arthritis Long-term (MEDAL) programme: a randomised comparison. Cannon et al. Lancet Nov 2006 Fazit Höhere Dosen von Ibuprofen (3x800 mg) und Diclofenac (2x75 mg) haben den Coxiben vergleichbare Risiken Naproxen hat scheinbar ein geringeres Risiko? Nichtopioid-Analgetika Wirkstoff Handelsname Paracetamol Ben-u-ron Metamizol Novalgin Dosis Hinweise 4-6 x 5001000mg 4-6 x 5001000mg Ind: Kopfschmerz, Knochenschmerz, Wundschmerz NW: Hepatotoxizität Ind: viszeralem, kolikartigem Schmerz, Karzinomschmerz, Wundschmerz NW: vermehrtes Schwitzen, Hypotonie bei rascher i.v-Gabe, Agranulozytose (extrem selten), allergische Reaktion Altersspezifische Besonderheiten gut verträglich auch bei alten Menschen nur selten Nebenwirkungen die Blutdruck senkende Wirkung des Metamizol muss auch bei oraler Gabe beachtet werden Therapie neuropathischer Schmerzen • Antidepressiva (TCA > SNRI > > SSRI) Amitriptylin, Duloxetin, Fluoxetin • Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Natriumkanäle Carbamazepin, Oxcabazepin • Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle Gabapentin, Pregabalin • Opioide • Topische Therapien Nicht wirksam: NSAIDs, Paracetamol, Metamizol AWMF Leitlinien 2006 Antikonvulsiva und Antidepressiva Altersspezifische Besonderheiten • initial anhaltende Müdigkeit • Gangunsicherheit • Beeinträchtigung der allgemeinen Leistungsfähigkeit • Sturzgefahr • kardiale Kontraindikationen Opioide Agonisten • • • • • • • Fentanyl Morphin Hydromorphon Oxycodon (+ Naloxon) Levomethadon Tilidin (+ Naloxon) Tramadol Agonisten / Antagonisten • Buprenorphin Opioide in der Schmerztherapie älterer Menschen Start low individuelle Dosistitration Go slow Cave bei gleichzeitiger Gabe von Sedativa, Antidepressiva und Neuroleptika regelmäßige Kontrolle von Nieren- und Leberfunktion Prophylaxe von Nebenwirkungen durch Begleitmedikation Abhängigkeit der Organfunktion vom Lebensalter % 100 maximal 80 Neurogene Atrophie 60 Myozytenzahl ↓ Herzmuskelmasse ↑ 40 20 basal 0 Alter GFR ↓ 6-8% /10 J. PaO2 ↓ Leberzellmasse ↓ 20% Portaler Blutfluss ↓ Albuminsynthese ↓ Verteilungsvolumen bei alten Patienten Abnahme des Verteilungsvolumens für Medikamente, die sich vorwiegend im Körperwasser verteilen Zunahme für Medikamente, die sich im Fettgewebe verteilen Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter Veränderungen Pharmakokinetik Beispiele für die Praxis Gesamtkörperwasser Rasches Anfluten hydrophiler Substanzen Morphium, Lorazepam, Amitriptylin Gesamtkörperfett Erhöhte Konzentration lipophiler Substanzen Buprenorphin, Oxazepam GFR 30- 50% Nephronenanzahl Renaler Blutfluss Akkumulation Gabapentin, Pregabalin Leberdurchblutung Akkumulation Amitriptylin, Imipramin, Benzodiazepine,Fentanyl, Paracetamol Transportproteine Erhöhung der freien Wirkspiegel Fentanyl, Buprenorphin, TA NSAIDs + Marcumar + Glibenclamid (intrazelluär) Cave aktive Metabolite Morphin-3- und -6-glucuronid Komorbidität, Multimedikation und Befinden bei älteren Menschen mit chronischen Schmerzen Basler et al. Schmerz 2003 n = 263 Patienten aus Schmerzzentren, Praxen, geriatrischen Einrichtungen Multimorbidität • > 75jährige: Diagnosen in 5 weiteren Organsystemen Multimedikation • • • > 7 Medikamente Jeder 10. Patient > 10 Medikamente (max 19) Im Mittel 2 Schmerzmedikamente Interaktionen nicht mehr überschaubar und vorhersehbar 5% der KH-Aufnahmen wegen UAW !!! Häufigster Grund für KH-Aufenthalte beim geriatrischen Patienten Pharmakologische Schmerztherapie ± nozizeptiv 1. Stufe: Nichtopioid NSAID (z.B. Ibuprofen 3×600 ret.) (Coxibe) + PPI (Omeprazol, Misoprolol) Oder Metamizol 4× 500 mg (6×1g) Oder neuropathisch kontinuierlich brennend Amitriptylin abends 25-75 mg (Anfangsdosis 12,5-25 mg) o.ä. TCA alternativ Paracetamol 4×500 mg (1g) ± lanzinierend Gabapentin bis 3×600 (900) mg oder Pregabalin bis 2×150 (300) mg SSRI z. B. Cipramil 2. Stufe: Nichtopioid + leichtes Opioid Retard + Tr b. B. • Tramadol bis 2x200 mg oder • Tilidin + Naloxon bis 2x200 mg 3. Stufe: Nichtopioid + starkes Opioid Retard + kurzwirkende Form b. B. • Oxycodon (2x10-?mg) oder Palladon 2x4-?mg) alle 12 h • Fentanyl- oder Buprenorphin TTS (+ sl) Adjuvant: Laxans, Antiemetikum