306 18 Gangstörungen nen ab. Die Basalganglien beeinflussen die Initiierung des Gehens durch Projektionen zum frontalen Kortex. 쑺 Klassifikation Nutt et al. (1993) haben eine Klassifikation der Gang- und Standstörungen mit Einteilung in solche der unteren, mittleren und höchsten Ebene vorgeschlagen (Tab. 18.1). Störungen der unteren Ebene betreffen periphere sensible oder muskuloskelettale Erkrankungen. Beispiele dafür sind somatosensorisch, vestibulär und visuell bedingte Gangstörungen wie auch periphere neuropathische und myopathische Störungen. Die mittlere Ebene betrifft Erkrankungen, bei denen zwar korrekte posturale und lokomotorische Reaktionen erfolgen, die Ausführung jedoch fehlerhaft ist. Beispiele hierfür sind der spastische, ataktische, dystone und choreatische Gang sowie der Gang bei der ParkinsonKrankheit. Störungen der höchsten Ebene betreffen die Selektion adäquater posturaler und lokomotorischer Antworten. Sie finden sich bei Erkrankungen des Frontallappens und des Marklagers, auch psychogene Störungen werden dazugerechnet. Eine mehr klinisch orientierte und syndromatologische Einteilung differenziert hypokinetische, ataktische und dystone Gangstörungen, solche bei Hemi- und Paraspastik, peripher neuromuskuläre, vestibuläre wie auch psychogene Gangstörungen. Gangstörungen der höchsten Ebene sind nicht leicht zu differenzieren. Diagnostisches Vorgehen In der Anamnese werden Gangstörungen häufig unspezifisch als Schwäche, Gleichgewichtsstörung und Schwindel beschrieben. Die Frage nach Stürzen und ihren Begleitumständen sowie Schmerzen beim Gehen kann wichtige Hinweise auf die Ursachen geben. Bei der Inspektion werden Gehgeschwindigkeit, Schrittlänge und Schrittfrequenz (Kadenz) analysiert, eine standardisierte Auswertung bedient sich der Videoaufzeichnung. Alle Patienten sollten zu sensiblen, vestibulären und visuellen Störungen sowie zu Schmerzen und zu Skeletterkrankungen befragt und untersucht werden. Die Medikamentenanamnese ist wichtig, da viele Substanzen motorische Funktionen beeinträchtigen können. Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder beim Aufstehen aus sitzender Position legen eine proximale Schwäche wie etwa bei der Myopathie nahe. Eine spastische Parese wird häufig als Steifigkeit, Schweregefühl oder Ziehen in den Beinen empfunden. Stürze in frühen Stadien der Parkinson-Krankheit sind ungewöhnlich und lassen eher an eine neurodegenerative Erkrankung denken. Urininkontinenz und kognitive Störungen legen eine Erkrankung des Frontallappens oder des Marklagers nahe, wie den Normaldruckhydrozephalus oder eine subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie. Bei älteren Menschen kann die Angst zu stürzen zu einer vorsichtigen Gangweise führen, die dann das klinische Bild dominiert. Stürze infolge von Synkopen oder Anfällen müs- Diagnostisches Vorgehen. Tab. 18.1 Klassifikation der Gangstörungen (nach Nutt et al. 1993). Bezeichnung der Gangstörung Anatomische Lokalisation Charakteristika der Gangstörung Erkrankung Gangstörung auf der unteren Ebene arthritischer Gang Skelettsystem unsicherer Gang Arthrose, Arthritis myopathischer Gang Muskelsystem unsicherer Gang Myopathie, Dystrophie neuropathischer Gang peripherer Nerv Fußheberschwäche Peronäusparese, Wurzelläsion sensible Ataxie peripherer Nerv, Myelon Gangataxie (in Dunkelheit verstärkt) Polyneuropathie, multiple Sklerose, spinaler Tumor vestibuläre Ataxie vestibuläres System Fallneigung, breitbeiniger Gang Neuritis vestibularis, Hirnstammerkrankung visuelle Ataxie optisches System unsicherer Gang u. a. grauer Star Gangstörung auf der mittleren Ebene paraspastischer Gang Myelon Paraparese multiple Sklerose, zervikale Myelopathie, spinaler Tumor hemispastischer Gang Kortex, Pyramidenbahn Hemiparese Schlaganfall, Hirntumor Parkinson-Gang Basalganglien hypokinetischer Gang, kleinschrittig Parkinson-Syndrom choreatische Gangstörung Basalganglien hyperkinetische Bewegungen Chorea Huntington, Wilson-Krankheit dystone Gangstörung Basalganglien hyperkinetischer Gang Dystonie unsicherer Gang Gang im Alter Gangstörung auf der höchsten Ebene ängstliche Gangstörung frontale Gangstörung Kortex, Marklager Freezing Normaldruckhydrozephalus subkortikales Dysequilibrium Thalamus, Putamen, Mittelhirn Unsicherheit Schlaganfall bizarr, variabel Somatisierungsstörung psychogene Gangstörung sen ausgeschlossen werden. Ein gestörtes Gleichgewicht mit schwankendem Gang ist typisch für Kleinhirnerkrankungen und Störungen der propriozeptiven Sensibilität bei peripheren Neuropathien oder spinalen Erkrankungen (Abb. 18.1). 307 308 18 Gangstörungen Störung der Tiefensensibilität; Reflexabschwächung; Reflexverlust periphere Störung (untere Ebene) z. B.: Polyneuropathie Guillain-Barré-Syndrom erhöhter Muskeltonus; Reflexsteigerung; evtl. normale Reflexe zentrale Störung (mittlere u. obere Ebene) z. B.: Parkinson-Syndrom Normaldruckhydrozephalus spastische Gangstörung noch nicht differenzierte Gangstörung Abb. 18.1 Differenzierung zwischen peripher und zentral bedingter Gangstörung. Anamnese und inspektorische Ganganalyse können wichtige Hinweise auf die beteiligten Systeme geben. Zunächst sollte das Gleichgewicht im Sitzen untersucht werden, danach die Fähigkeit vom Stuhl aufzustehen. Dann wird der Stand ohne Hilfestellung untersucht. Eine subtile Gleichgewichtsstörung kann durch die Aufforderung, auf einem Bein zu stehen, erkannt werden. Beim Romberg-Stehversuch wird der Patient gebeten, die Augen zu schließen, während er ruhig steht. Bei sensibler Ataxie nimmt das Schwanken bei Augenschluss zu, nicht aber bei den meisten Kleinhirnerkrankungen. Posturale Reflexe werden untersucht, indem der Patient behutsam von vorn und hinten angestoßen wird. Beim Gehen ist auf ein Mitschwingen der Arme zu achten. Eine leichte Gleichgewichtsstörung kann im sog. Seiltänzergang über eine gedachte Linie aufgedeckt werden. Der Gehstart kann bei extrapyramidalen oder frontalen Erkrankungen gestört sein (sog. „Freezing“), man beobachtet ein Treten auf der Stelle oder eine Unfähigkeit, den Fuß vom Boden abzuheben („Magnetic Feet“). Änderungen der Gehgeschwindigkeit und der Schrittlänge sind unspezifische Zeichen. Ein sog. breitbasiger Gang findet sich bei zerebellärer oder sensibler Ataxie sowie beim neurodegenerativ bedingten Parkinson-Syndrom oder bei Erkrankungen des Frontallappens. Dystone und choreatische Syndrome führen zu bizarren, ungewöhnlichen Gangmustern. Die neurologische Untersuchung bei Gangstörungen bezieht auch okulomotorische Störungen, den Reflexstatus und die Frage nach einem Tremor mit ein. Danach folgt die Untersuchung der Wirbelsäule, Gelenke und Extremitäten. Der Blutdruck wird im Liegen und im Stehen gemessen, um eine orthostatische Hypotension festzustellen (Tab. 18.2). Bei jedem Patienten mit Gangstörung muss ein vollständiger neurologischer Untersuchungsbefund erhoben werden. Diagnostisches Vorgehen. Tab. 18.2 Klinische Untersuchung bei Gangstörungen. Untersuchungen Mögliche Befunde Beurteilung der Haltung l l l l l Körperhaltung Beinstellung Romberg-Stehversuch Stellreflexe Einbeinstand aufrecht oder gebeugt geschlossen oder breitbeinig schwankend, unsicher bei Augenschluss Propulsion, Retropulsion unsicher Beurteilung des Gangs l l l l l Initiierung Schrittfolge Gangbild Fersen-, Zehengang Drehbewegungen, rasches Gehen, Laufen haftend, „Start Hesitation“ ungelenk, schlurfend, trippelnd, steif vermindertes Mitschwingen der Arme, breitbasig Paresen Verdeutlichung der Gangstörung Neurologische Untersuchung l l l l l Reflexe, Pyramidenbahnzeichen Kraft, Muskelrelief Tonus Sensibilität, Gelenkposition Koordination Hyperreflexie, Areflexie, Pyramidenbahnzeichen Paresen, Atrophien Rigor, Hypotonie gestörte Propriozeption zerebelläre Ataxie, Bradykinesie Skelettuntersuchung Arthrose, Arthritis, Gelenkfehlstellung Kardiovaskuläre Untersuchung Bluthochdruck, Ödeme, Dyspnoe, orthostatische Hypotonie Altersbedingte Gangstörungen Gangstörungen und nachfolgende Stürze mit Frakturen sind eine der Hauptursachen für Morbidität alter Menschen. Gangstörungen basieren zumeist auf Kombinationen von neuralen, muskulären und skelettalen Beeinträchtigungen, und ältere Menschen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für derartige Einschränkungen. Verminderte visuelle, vestibuläre und somatosensorische Funktionen sowie Störungen posturaler Reflexe finden sich aber schon im Normalfall bei Älteren. Beim Gehen nimmt die Kontaktzeit der Fersen und Zehen zu, die Dauer der Doppelstandphase ist verlängert und Lateralschwankungen von Rumpf und Kopf werden häufiger. Dabei wird der Körperschwerpunkt stabilisiert, indem er mehr und länger auf das jeweils stützende Bein verlagert wird. Häufig lassen sich im Alter ein Verlust oder eine Verminderung der Vibrationsempfindung der Beine nachweisen, deren Bedeutung für eine Zunahme posturalen Schwankens oder für das Auftreten von Stürzen jedoch nicht sicher er- 309 310 18 Gangstörungen wiesen ist. Auch eine eingeschränkte Mobilität und kognitive Defizite sind Risikofaktoren für Stürze alter Menschen. Protektiver Gang Ältere Menschen neigen häufig zu vorsichtigem Gehen, dem häufigsten Typ der Gangstörung im Alter. Als ursächlich werden Störungen der posturalen Kontrolle und der Haltungsregulation angenommen. Zudem findet sich hierbei häufiger eine Leukoaraiose (Veränderung der Dichte der weißen Hirnsubstanz) im frontalen Marklager. Der vorsichtige Gang ist charakterisiert durch langsame, kürzere Schritte und Drehungen „en bloc“. Er ist breitbasig, der Körper ist nach vorn gebeugt und die Arme werden angewinkelt und abduziert gehalten. Dieses Gehverhalten kann kompensatorisch etwa auf unebenem Untergrund, aber auch bei Schmerzen oder sensorischen Störungen eingenommen werden. Andererseits kann der protektive Gang eine unangemessene Kompensation nach vorherigen Stürzen sein (sog. Post-Fall-Syndrom oder Stasobasophobie). Im Alter kommt es zu einer physiologischen Änderung des Gangbildes, jedoch nicht per se zu einer Gangstörung. Pharmakogene Gangstörung Neuroleptika, Antiepileptika, Benzodiazepine und eine vorangegangene Behandlung mit Chemotherapeutika können bei älteren Menschen eine Gangstörung verschlechtern oder auslösen (Tab. 18.3). Häufige unerwünschte Effekte wie Koordinationsstörungen, Benommenheit, Schwindel, Sedierung und psychomotorische Verlangsamung beeinträchtigen die posturale Kontrolle, das Risiko für Stürze ist erhöht. Wenn mehrere Medikamente verwendet werden, kann es zu additiven oder synergistischen zentralen Effekten kommen. Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit, anxiolytische, antidepressive, neuroleptische und antihypertensive Medikamente sind besonders prädisponierend. Gangstörung bei Demenz Zunehmend weisen Studien auf die Interaktion von Higher Level Gait Disorders und kognitiven Funktionen hin, insbesondere Störungen frontaler exekutiver Funktionen gehen mit Gangstörungen einher. Bei Patienten mit Demenz Tab. 18.3 Pharmakogene Gangstörungen. Sedierende Wirkung Neurotoxische Wirkung Hypotensive Wirkung l l l l l Chemotherapeutika l Antihypertonika Neuroleptika Antidepressiva Sedativa Antiepileptika Diagnostisches Vorgehen. sind Gehgeschwindigkeit und Schrittlänge reduziert, was jedoch unspezifische Befunde sind. Von Alzheimer-Patienten ist bekannt, dass sie bei simultaner kognitiver Anforderung eine Abnahme der Gehgeschwindigkeit bis zum Innehalten aufweisen. Demente Patienten haben auch ein höheres Risiko für Stürze, als es der Altersgruppe sonst entspricht. Pharmaka und kognitive Störungen sind als Risikofaktoren für Gangstörungen bedeutsam. Hypokinetische Gangstörungen Hypokinetische Gangstörungen sind charakterisiert durch eine allgemeine Bewegungsverlangsamung und finden sich bei Erkrankungen der Basalganglien, des Frontallappens und des zerebralen Marklagers. Die Parkinson-Krankheit ist die häufigste Erkrankung der Basalganglien mit Bradykinesie, Rigidität und Tremor sowie mit Störungen von Stand und Koordination des Gehens. Es finden sich drei Gruppen von Erkrankungen: die Parkinson-Krankheit, die symptomatische Parkinsonerkrankung und Parkinsonismus als Symptom anderer neurodegenerativer Erkrankungen. Gangstörungen bei der Parkinson-Krankheit können von anderen Formen neurodegenerativer Erkrankungen unterschieden werden. Andererseits weisen frontale Gangstörungen einige Ähnlichkeiten mit dem Gang bei der Parkinson-Krankheit auf (Tab. 18.4). Parkinson-Krankheit Hierbei kommt es zu einem typischen Gangmuster, das jedoch von anderen hypokinetischen Gangstörungen abgegrenzt werden muss. In den frühen Stadien der Erkrankung stehen eine Verlangsamung des Gehens, Kleinschrittigkeit und variable Schrittlänge im Vordergrund, begleitet von einem reduzierten Mitschwingen der Arme (lokomotorische Bradykinesie). Später fallen Vorbeugung des Rumpfes und die im Stoßtest deutlich reduzierte Haltungsstabilität auf. Ein „Freezing“-Phänomen bedeutet, dass kurzfristig, meist nur für einige Sekunden, die Willkürmotorik innehält. Die häufigste Form ist die Starthemmung („Start Hesitation“): Der Patient trippelt dabei auf der Stelle und die Füße „kleben“ förmlich am Boden, eine Drehung der Körperachse oder das Überschreiten einer Türschwelle sind nicht möglich. Im Verlauf kommt es zu sog. On- und Off-Phasen, in denen L-Dopa effektiv ist bzw. nicht wirkt. Streifige Markierungen auf dem Boden oder rhythmische Kommandos können hilfreich sein. Aber auch plötzlich beschleunigte Schrittfolgen kommen vor (Festination), dabei werden die Schritte immer kürzer, Stürze folgen. Stürze treten in späteren Erkrankungsstadien besonders dann auf, wenn die posturalen Reflexe stärker gestört sind. Nur in geringem Maße sind Stürze durch die Bradykinesie bedingt. Die Gangstörung bessert sich mit Beginn der dopaminergen Therapie, doch kann dieser Erfolg im Verlauf nur selten aufrechterhalten werden. Die mangelnde Wirkung von L-Dopa auf die posturale Stabilität steht im Gegensatz zum Effekt auf die anderen Kardinalsymptome der Parkinson-Krankheit. 311 312 18 Gangstörungen Tab. 18.4 Differenzialdiagnose der hypokinetischen Gangstörungen. ParkinsonKrankheit Frontale Gangstörung, subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, Normaldruckhydrozephalus Neurodegeneratives und symptomatisches ParkinsonSyndrom Haltung gebeugt aufrecht gebeugt/aufrecht Beinstellung geschlossen geschlossen oder breitbeinig geschlossen/breitbeinig Stellreflexe in frühen Stadien erhalten können fehlen schon im Frühstadium erloschen Losgehen verzögert verzögert, Magnetgang verzögert, Magnetgang Schritte verkürzt, schlurfend kurz, schlurfend verkürzt, schlurfend Freezing häufig häufig häufig Festination häufig selten selten Armschwingen und -pendeln vermindert, aufgehoben erhalten vermindert Fersen- und Zehengang normal normal unsicher (Ataxie) Stürze spät sehr häufig schon im Frühstadium häufig schwerwiegend, nach rückwärts extrapyramidale Zeichen Rigor, Bradykinesie, Tremor selten Rigor, Bradykinesie, (Tremor) weitere neurologische Symptome Demenz, Apraxie, Dystonie (spät einsetzend) Demenz, Harninkontinenz Pyramidenbahnzeichen, zerebelläre und autonome Zeichen Der Gang bei der Parkinson-Krankheit ist kleinschrittig und vornüber gebeugt, die Haltungsstabilität ist deutlich vermindert, Stürze treten spät auf. Neurodegenerative Erkrankungen Neurodegenerative Erkrankungen wie die progressive supranukleäre Lähmung (PSP) und die Multisystematrophie (MSA) weisen im Verlauf schon früher gestörte posturale Reflexe auf als das Parkinson-Syndrom, deshalb sind auch Stürze früher zu verzeichnen.