Normaldruckhydrozephalus

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K. Jahn, A. Zwergal
Normaldruckhydrozephalus
ISBN 978-3-17-024488-7
Kapitel I4 aus
T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.)
Therapie und Verlauf
neurologischer Erkrankungen
6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012
Kohlhammer
BDG_neu.book Seite 1015 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09
I4
Normaldruckhydrozephalus
von K. Jahn und A. Zwergal*
Der Normaldruckhydrozephalus (NPH) ist gekennzeichnet durch eine Symptomtrias aus Gangstörung,
Demenz und Urininkontinenz, verbunden mit einer
Erweiterung der inneren Ventrikelräume bei normalen mittleren Liquordruckwerten (Hakim und
Adams 1965). Das klinische Bild variiert allerdings
deutlich, und so stellt die Diagnosefindung eine
Herausforderung dar. Die Abgrenzung von anderen
Krankheitsbildern, insbesondere neurodegenerativen oder vaskulären Demenzen, kann im Einzelfall
schwierig sein, ist aber wichtig, da der NPH effektiv
durch Dauerableitung des Liquors behandelt werden kann. Die Wahrscheinlichkeit für ein therapeutisches Ansprechen auf die Dauerableitung (Ventrikulo-peritonealer Shunt) kann durch den Nachweis
einer vorübergehenden Verbesserung der Symptome nach Liquorablass am bestem vorhergesagt
werden. Kontrollierte Studien zur Wirksamkeit der
Therapie fehlen.
I 4.1
Klinik
I 4.1.1
Symptome
Die typische klinische Trias des NPH besteht aus
Gangstörung, Demenz und neurogener Blasenstörung. Das Vorhandensein einer Gangstörung gilt
dabei als nahezu obligat (Hakim et al. 2001, Gallia et
al. 2006), kognitive Defizite sind sehr häufig (70–
100 %), während Blasenstörungen seltener auftreten
(45–90 %). Alle drei Symptome zusammen kommen
nur bei ca. 50 % der Patienten vor (Dauch und Zimmermann 1990).
I 4.1.1.1
Gangstörung
Das Auftreten einer Gangstörung ist häufig das erste
Symptom eines NPH (Gallia et al. 2006). Die Phänomenologie der Gangstörung zeigt eine groβe Varianz und hängt vom Stadium der Erkrankung ab. Anfänglich wird von den Patienten oft eine leichte
Gangunsicherheit mit kleinen Schritten berichtet.
Im Verlauf entwickelt sich im typischen Fall eine
Gangstörung mit einem verlangsamten, breitbasigen, kleinschrittigen Gangbild sowie vermindertem
Abheben und Abrollen der Füβe (magnetisches Gehen, Bügeleisengang) bei gleichzeitig erhaltenen bis
gesteigerten Mitbewegungen der meist leicht abgespreizten Arme (Fisher 1982, Stolze et al. 2000,
2001). Eine Start- und Schreithemmung bis hin zum
»Freezing« wurde bei bis zu 56 % der Patienten mit
fortgeschrittenem NPH beschrieben (Giladi et al.
1997). Die Patienten klagen über eine verstärkte
posturale Instabilität mit einer tendenziellen Fallneigung nach hinten. Im finalen Krankheitsstadium
kann es zu einer vollständigen Immobilität mit Erschwernis selbstständiger Wendebewegungen im
Bett und einer starken Störung der Rumpfkontrolle
mit Falltendenz nach hinten auch im Sitzen kommen. Häufig entwickelt sich dann parallel eine spastische Muskeltonuserhöhung der Beine (Bugalho
und Guimaraes 2007).
I 4.1.1.2
Demenz
Demenzielle Symptome sind bei NPH-Patienten
meist nur mäβig ausgeprägt und variieren im Einzelfall stark. Kognitive Defizite können allerdings testpsychologisch bei fast jedem Patienten mit NPH
nachgewiesen werden (Iddon et al. 1999). Das Defizitprofil entspricht in der Regel einer subkortikalen
Demenz mit Störung der Exekutivfunktionen, Antriebsmangel, psychomotorischer Verlangsamung,
affektiver Indifferenz, Umstellungserschwernis und
fehlender Störungsreflexion (Devito et al. 2005).
Zeichen einer kortikalen Funktionsstörung, insbesondere ausgeprägte räumliche Orientierungs- oder
Gedächtnisstörungen, liegen in typischen Fällen
nicht vor. Wenn diese vorkommen, muss an eine
Komorbidität mit der Demenz vom Alzheimer-Typ
gedacht werden, die nicht selten ist (Golomb et al.
2000). Schwere demenzielle Syndrome, Bewusstseinsstörungen oder delirante Syndrome sollten an
der Diagnose eines NPH zweifeln lassen.
I 4.1.1.3
4
Blasenstörung
Die Harninkontinenz bei NPH ist Ausdruck einer
neurogenen Blasenentleerungsstörung. Die Patienten berichten über imperativen Harndrang mit erhöhter Miktionsfrequenz. Als urodynamisches
Äquivalent zeigt sich eine Überaktivität des M. detrusor vesicae (Sakakibara et al. 2008). Im Verlauf
der Erkrankung verhindert die Störung der frontalen Impulskontrolle das Bewusstwerden des Harndrangs und es kommt zunehmend zum Einnässen.
Eine Stuhlinkontinenz findet sich nur in schwerwiegenden Fällen. Eine monosymptomatische Stuhlinkontinenz ist nicht mit der Diagnose eines NPH vereinbar (Shprecher et al. 2008).
I 4.1.2
I
Diagnostik
Die diagnostische Sicherung eines NPH und die
Identifikation der Patienten, die von einer ShuntOperation profitieren, kann schwierig sein, insbe-
* Autoren dieses Kapitels in der 5. Auflage: C. Gerloff und M. Strupp.
1015
BDG_neu.book Seite 1016 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09
Bewegungsstörungen
sondere wenn eine unvollständige klinische Symptomatik vorliegt, die kognitive Beeinträchtigung
dominiert und in der Bildgebung neben der Ventrikelerweiterung eine kortikale Atrophie oder
multiple vaskuläre Läsionen bestehen. 2005 wurden Leitlinien für die Diagnose des NPH publiziert, die Anamnese, Bildgebung und Klinik berücksichtigen (Relkin et al. 2005) (Tab. I 4.1). Diese
basieren allerdings auf einer schlechten Evidenz, da
bislang keine hochwertigen diagnostischen Studien
(d. h. Evidenzklasse I/II nach CHS-Kriterien) verfügbar sind. Unverzichtbar für die Diagnose sind
Anamnese, klinischer Befund und eine strukturelle
Hirnbildgebung (CT, MRT). Die Erfolgsaussichten
der Therapie werden am häufigsten vom Ergebnis
Tab. I 4.1:
des Liquorablassversuchs abhängig gemacht. Die
wichtigsten Differentialdiagnosen des NPH sind
die subkortikale vaskuläre Enzephalopathie und
neurodegenerative demenzielle Erkrankungen vom
Alzheimer- oder frontotemporalen-Typ. An einen
dekompensierten kongenitalen Hydrozephalus
muss gedacht werden, wenn der Kopfumfang über
der 98. Perzentile gemessen wird (Krefft et al.
2004). Bei den älteren Patienten tragen sensorische
Defizite, degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen sowie urologische Erkrankungen
zum Gesamtbild bei. Wesentlich ist dann die klinische Analyse der Faktoren, um das Besserungspotenzial durch Shunt-Operation abschätzen zu können.
Diagnostische Kriterien für den idiopathischen NPH (nach Relkin et al. 2005)
NPH
Anamnese
Klinik
Bildgebung/Liquor
wahrscheinlich
•
•
•
•
Gangstörung und mind. 1
der 2 anderen Leitsymptome
(kognitive Störung/Blasenstörung)
CT oder MRT mit:
• Ventrikelvergrößerung,
nicht vollständig auf
Atrophie zurückzuführen
(Evans Index > 0,3)
• Kein Hinweis auf Liquorabflussstörung
Allmählicher Beginn
Alter > 40 Jahre
Symptomdauer > 3 Monate
Kein Hinweis auf sekundären Hydrozephalus
(Trauma, Blutung,
Meningitis etc.)
• Fortschreitender Verlauf
• Keine Komorbidität, die die
Symptome erklärt (neurologisch, psychiatrisch, internistisch)
Gangstörung mit (mind. 2):
• Reduzierte Schritthöhe
• Reduzierte Schrittlänge
• Reduzierte Geschwindigkeit
• Breitbasiges Gehen
• Fußspitzen auswärts
• Retropulsionstendenz
• Umwenden mit > 3 Schritten
• Gestörte Balance (> 1 Ausfallschritt bei 8 Schritten
Tandemgang)
Und (mind. 1):
• Temporalhornerweiterung
(nicht erklärt durch Hippocampus-Atrophie)
• Corpus callosum Winkel
> 40 °
• Periventrikuläre Signalveränderungen (nicht
erklärt durch vaskuläre
oder demyelinisierende
Erkrankung)
Kognitive Defizite mit patholo- • Flow-void im Aquaedukt/
gischem Screening-Test oder
4. Ventrikel im MRT
(mind. 2):
• Psychomotorische
Liquoreröffnungsdruck:
Verlangsamung
5–18 mmHg
• Gestörte Feinmotorik
(70–245 mm H2O)
• Störung (geteilte)
Aufmerksamkeit
• Störung Recall
• Exekutive Störung
• Verhaltens- und
Persönlichkeitsstörung
Blasenstörung mit entweder
Urininkontinenz oder
(mind. 2):
• Urge-Symptomatik
• Pollakisurie (> 6 in 12 h)
• Nykturie (> 2 pro Nacht)
möglich
unwahrscheinlich
1016
• Auch subakuter oder
unklarer Beginn
• Beginn in jedem Alter nach
der Kindheit
• Dauer auch < 3 Monate
• Trauma, Blutung, Meningitis ohne wahrscheinlichen
Zusammenhang erlaubt
• Begleiterkrankungen als
Teilursache erlaubt
• Nicht sicher fortschreitend
• Blasenstörung/ kognitive
• Deutliche zerebrale
Defizite ohne Gangstörung
Atrophie
• Gangstörung oder Demenz • Strukturelle Läsionen, die
allein
die Ventrikelweite erklären
• Begleiterkrankung,
die die Symptome erklärt
• Keines der Leitsymptome
Liquoreröffnungsdruck unbekannt oder außerhalb des
oben genannten Bereichs
• Keine Ventrikelerweiterung
• Klinische Zeichen erhöhten
Liquordrucks (Stauungspapille)
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Normaldruckhydrozephalus
I 4.1.2.1
Klinische Beurteilung
Die wichtigsten anamnestischen und klinischen
Faktoren sind in Tab. I 4.1 zusammengefasst. Die
Gangstörung betrifft fast 100 % der Patienten und
kann klinisch beurteilt werden (Ravdin et al. 2008).
Typisch sind reduzierte Schrittlänge, vermindertes
Abheben der Füβe und ein breitbasiger Gang (Stolze
et al. 2000, 2001). Zur differentialdiagnostischen
Abgrenzung der hypokinetischen Gangstörungen
bei Parkinson-Syndromen sollte auf die Armmitbewegung geachtet werden, die beim NPH typischerweise erhalten ist. Im Zweifelsfall sollte als
weiteres diagnostisches Kriterium die Veränderung
des Gangbildes nach einem Therapieversuch mit
L-Dopa berücksichtigt werden. Die klinische Unterscheidung von einer Gangstörung bei subkortikaler
vaskulärer Enzephalopathie ist besonders schwierig
und gelegentlich nur durch die longitudinale Beobachtung nach Liquorablass möglich. Bei der Ganganalyse sollten zumindest die Geschwindigkeit, die
Schrittzahl über 10 Meter und die Schrittzahl beim
Umwenden registriert werden. Eine standardisierte
Ganganalyse (Videosysteme oder Drucksensorteppiche) erleichtert die Erfassung, vor allem wenn Veränderungen des Gangbildes im Verlauf beurteilt
werden sollen.
Zur Evaluation kognitiver Defizite werden häufig
Bedside-Tests wie der Mini-Mental-Status eingesetzt (Shprecher et al. 2008). Diese können jedoch
lediglich einen groben klinischen Eindruck vermitteln. Milde kognitive Defizite, die bei leichten NPHFormen häufig sind, werden dabei übersehen. Ein
weiteres Problem bei Bedside-Tests stellt die fehlende Validierung für wiederholte Testung dar. Zur
qualitativen und quantitativen Erfassung des kognitiven Leistungsprofils sollten neuropsychologische
Untersuchungsverfahren unter Einbeziehung von
Tests zu Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache,
Orientierung und Exekutivfunktionen eingesetzt
werden, bei denen für Verlaufstestungen mehrere
validierte Versionen vorliegen (Vermeidung von
Lerneffekten, Hellstrom et al. 2007).
Die Blasenstörung ergibt sich aus den anamnestischen Angaben. Wenn keine Inkontinenz besteht, so
ist besonders nach einer Urge-Symptomatik zu fragen. Die zugrunde liegende Detrusor-Überaktivität
kann urodynamisch erfasst werden und findet sich
dann bei den meisten Patienten mit NPH-Verdacht
(Sakakibara et al. 2008).
I 4.1.2.2
Zerebrale Bildgebung
Eine kranielle Bildgebung (CT, MRT) zeigt typischerweise eine überproportionale Vergröβerung
der Seitenventrikel bei fehlender kortikaler Atrophie. Die Vorderhörner und Temporalhörner der
Seitenventrikel sind balloniert und abgerundet. Als
quantitatives Maβ für den Hydrozephalus wird häufig der sogenannte Evans Index verwendet, der definiert ist als Quotient aus dem Durchmesser beider
Frontalhörner und dem maximalen transversalen
Schädeldurchmesser (suspekt bei Werten > 0.30,
Abb. I 4.1). Mithilfe der Kernspintomographie kann
das Ausmaβ der Liquordiapedese in T2-gewichteten
Bildern abgeschätzt werden (»Polkappen«) und die
Durchgängigkeit des Aquädukts zur Abgrenzung
vom obstruktiven Hydrozephalus dargestellt wer-
den. Das Vorhandensein eines verstärkten Flowvoid im Aquädukt (Artefakte durch die Liquorpulsation) erlaubt es nach der Studienlage nicht, die
Diagnose eines NPH zu stellen oder prognostische
Abschätzungen zum Erfolg einer Shunt-Operation
vorzunehmen (Bateman 2007). Auch die Phasenkontrast-Flussdarstellung der Liquorströmung hat
keinen prognostischen Wert (Dixon et al. 2002).
Durch die Kernspintomographie sollten weiterhin
massive kortikale Atrophien, hippokampale Veränderungen und mikroangiopathische Läsionen als
Ursachen der klinischen Symptome ausgeschlossen
werden. Leichte bis mittelgradige vaskuläre Marklagerveränderungen schlieβen den Erfolg einer ShuntOperation bei gleichzeitig bestehendem NPH nicht
aus (Conner et al. 1984, Bech-Azeddine et al. 2007).
Das Ausmaβ der klinischen Befundverbesserung
korreliert jedoch negativ mit der Ausdehnung der
Marklagerläsionen (Krauss et al. 1996, Bugalho und
Alves 2007). Weitere Charakteristika im MRT von
NPH-Patienten wie ein verminderter Mittelhirndurchmesser (Lee et al. 2005) haben für die Diagnose geringe Bedeutung. Die Wertigkeit weiterer
moderner Bildgebungsverfahren wie Spektroskopie,
Echoplanarbildgebung zur Messung von B-Wellen
und nuklearmedizinischer Verfahren ist umstritten
und für die Routine ohne Bedeutung (Tarnaris et al.
2009).
Abb. I 4 1:
I 4.1.2.3
Flair-gewichtetes axiales MRT bei NPH
(links) mit Erweiterung der inneren Liquorräume bei engen äußeren Liquorräumen
und bei vaskulärer Enzephalopathie
(rechts) mit deutlichen Marklagerläsionen
(nach Jahn et al. 2010).
Liquortests
Für die differentialdiagnostische Einordnung ist insbesondere eine Liquorpunktion mit Liquorablass
(30–50 ml) hilfreich. Obwohl der Test seit der Erstbeschreibung des Krankheitsbildes verwendet wird
(Hakim und Adams 1965), gibt es nur wenige kontrollierte Studien dazu (Gallia et al. 2006). Die Besserung der klinischen Symptomatik nach Liquorpunktion hat einen positiven prädiktiven Wert von
73–100 % (Marmarou et al. 2005). Die Sensitivität
des Liquorablassversuchs ist aber gering (25–60 %),
sodass fehlende Besserung einen NPH nicht
ausschlieβt (Hebb und Cusimano 2001). Es besteht
kein Konsens darüber, wann die gröβten klinischen
Effekte nach Liquorablass zu beobachten sind und
wie diese strukturiert dokumentiert werden sollen.
Weil die maximale Verbesserung in vielen Fällen
erst nach > 24 Stunden auftritt, ist die ambulante
Durchführung des Tests nur selten sinnvoll. Es
scheint eine starke Varianz bezüglich des Zeitraums
1017
I
4
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Bewegungsstörungen
zu geben, innerhalb dessen es zu einer klinischen
Besserung kommt (Stunden bis Tage). Mögliche
Einflussfaktoren könnten die Länge des Krankheitsverlaufs, das Ausmaβ begleitender struktureller zerebraler Veränderungen (z. B. periventrikuläre Mikroangiopathie), Alter und Komorbiditäten sein.
Eine standardisierte Testung der Patienten unter
Einschluss von Ganganalyse und neuropsychologischer Untersuchung am Tag vor und nach dem
Liquorablass ist pragmatisch sinnvoll. Bei unklaren
Effekten sollte der Beobachtungszeitraum ausgedehnt werden.
Eine Alternative zur Lumbalpunktion stellt die Dauerableitung des Liquors über mehrere Tage über eine
Lumbaldrainage dar (Haan und Thomeer 1988), die
eine höhere Sensitivität (50–100 %) sowie Spezifität
(60–100 %) und einen hohen positiven prädiktiven
Wert für die Besserung nach Shunt (80–100 %) hat
(Marmarou et al. 2005, Gallia et al. 2006, Shprecher
et al. 2008). Die Vorteile werden durch die höhere
Invasivität der Methode erkauft, sodass wir das in
Abb. I 4.2 illustrierte stufenweise Vorgehen empfehlen (Jahn et al. 2010). Bei der Liquorpunktion sollte
der Eröffnungsdruck gemessen werden, um pathologische Werte auszuschlieβen (siehe diagnostische
Kriterien in Tab. I 4.1). Die erhöhte Pulsatilität des
Liquors korreliert in retrospektiven Serien zu einem
guten Outcome (Eide und Brean 2010).
Diagnostik NPH
passende klinische Präsentation und Bild
(CT oder MRT) vereinbar mit NPH
Gangprüfung
Neuropsychologie
Gangprüfung
Neuropsychologie
Liquorablass 50 ml
Gangprüfung
Neuropsychologie
Zweifel
3 Tage Liquorablass
(Tuohy-Drainage
3 x 40 ml/d)
Gangprüfung
Neuropsychologie
Besserung
MRT
Ausschluss
symptomatische
Ursache
Flow void
im Aquaeduct
Besserung
keine Besserung
Beurteilung im
Verlauf
Differentialdiagnosen
gegebenenfalls
erneut Liquorablass
im Verlauf
Shunt
Abb. I 4.2:
Diagnostisches Prozedere bei NPH (nach
Jahn et al. 2010)
Die Wertigkeit aufwendiger Maβnahmen, wie der
kontinuierlichen Liquordruckmessung zur Registrierung der B-Wellen oder von Liquorinfusionstests
für die klinische Praxis, muss kritisch gesehen werden und hat sich bislang nicht durchgesetzt. Die Bestimmung von Neurodegenerationsmarkern hat
auch für den NPH ein gering erhöhtes Gesamt-TauProtein erbracht (siehe Pathophysiologie), allerdings deutlich weniger als bei den klassischen Tauopathien (Lins et al. 2004, Kapaki et al. 2007, Tullberg
et al. 2008). Der diagnostische Wert muss eher im
Sinne eines Ausschlusses primärer neurodegenerativer Erkrankungen gesehen werden.
1018
I 4.2
Epidemiologie und Verlauf
Es gibt nur wenige epidemiologische Studien zum
NPH. Die berichteten Inzidenzraten liegen zwischen 5,5/100 000 Einwohnern in einer norwegischen Population und 2,2/1 000 000 Individuen in
einer niederländischen Region (Vanneste et al. 1993,
Brean und Eide 2008). In Norwegen wurde die Prävalenz auf 22/100 000 der Bevölkerung geschätzt,
mit einer altersabhängigen Zunahme von 3,3/
100 000 für 50–59-Jährige auf 181,7/100 000 für 70–
79-Jährige (Brean und Eide 2008). Eine noch höhere
Prävalenz bei älteren Personen (0,4 %) war bei einer
Bevölkerungsbefragung > 65-jähriger Einwohner in
der oberbayerischen Kleinstadt Starnberg geschätzt
worden (Trenkwalder et al. 1995). Obwohl der NPH
auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten kann,
ist er eine typische Alterserkrankung (Vanneste
2000). Bei zwischen 1 % und 5 % der Demenzpatienten ergibt sich der Verdacht auf einen NPH als Ursache (Freter et al. 1998, Knopman et al. 2006). Der
NPH tritt etwas häufiger bei Männern als bei Frauen
auf (2 : 1) (Dauch und Zimmermann 1990). Es handelt sich um eine langsam fortschreitende Erkrankung. Anamnestisch bestehen bei mehr als 50 % der
Patienten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits seit > 1 Jahr Symptome. Die kürzesten Anamnesen werden mit einem Monat, die längsten mit
zehn Jahren bis zur Diagnosestellung berichtet.
Ohne Therapie kann die Erkrankung bis zum akinetischen Mutismus fortschreiten (Gerloff und Strupp
2007). In konservativen Schätzungen wird der Anteil der Besserungen bei Patienten nach Shunt-Operation zwischen 30 und 60 % für idiopathische und
50–70 % für sekundäre Formen bei einer Rate relevanter Komplikationen von ca. 20 % angegeben
(Vanneste 1994, 2000, Hebb und Cusimano 2001).
I 4.3
Therapeutische Prinzipien
Seit der Erstbeschreibung 1965 ist es gängige Praxis,
den NPH durch eine Dauerableitung des Liquors
(Shunt-Operation) zu behandeln. Aus dem Verständnis der Pathophysiologie ist es plausibel, dass
diese Therapie effektiv ist. Insbesondere vor Eintreten strukturell fixierter Veränderungen sollte eine
Symptombesserung möglich sein, die in zahlreichen
retrospektiven Serien beschrieben worden ist (). In
einer aktuellen Cochrane-Analyse konnte allerdings
gegenwärtig keine einzige randomisierte, kontrollierte Studie (d. h. Evidenzklasse I oder II) zu dieser
Therapie identifiziert werden (Esmonde und Cooke
2002). Die Ergebnisse von 44 Therapiestudien bis
zum Jahr 2000 sind im Review von Hebb und Cusimano (2001) zusammengefasst. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte durch die Shunt-Operation bei ca.
60 % der Patienten eine Besserung erreicht werden,
die bei ca. 30 % anhaltend war. Bei einer Komplikationsrate von 40 %, die bei 20 % der Patienten eine
erneute Operation erforderte, war bei 6 % mit bleibenden neurologischen Defiziten durch die Therapie zu rechnen (Hebb und Cusimano 2001). Zu den
häufigsten Komplikationen nach Shuntanlage zählten subdurale Hygrome und Hämatome, Stichkanalblutungen, Shuntinfektionen und Ventildysfunktionen (Tab. I 4.2). Neuere Studien berichten höhere
Erfolgsraten in Bezug auf die symptomatische Bes-
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