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Verhaltenstherapie 2016;26:62–66
Bilke-Hentsch, O., Wölfling, K., Batra, A. (eds)
Praxisbuch Verhaltenssucht: Symptomatik, Diagnostik und
Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Stuttgart, Thieme, 2014, 264 Seiten, 59,99 EUR
ISBN 978-3-13-171581-4
Hintergrund
Seit 2006 ist in psychiatrischen, psychotherapeutischen und
suchttherapeutischen Fachgremien wie in öffentlichen Medien ein
hohes Interesse an den «Verhaltenssüchten», insbesondere der
«Spielsucht», zu beobachten. Ausgangspunkt war ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts 2006 im Rahmen eines Verfahrens über
ein staatliches Glücksspielmonopol. Das Gericht stellte fest, dass
«pathologisches Glücksspielen» einen Suchtcharakter erhalten
könne. Dementsprechend wurden für Anbieter Auflagen hinsichtlich der Förderung von Prävention, Diagnostik, Therapie und Forschung gemacht.
Zeitgleich ließ die Vorbereitung von DSM-5 erkennen, dass das
pathologische Glücksspielen (als einziger Verhaltensexzess) nicht
länger als Störung der Impulskontrolle eingestuft, sondern den
stoffgebundenen Süchten an die Seite gestellt werden würde.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gründete deshalb
eine «Taskforce-Verhaltenssüchte», die über einen Zeitraum von
zwei Jahren ihre Stellungnahme zu «Fragen der Grundlagen, Diagnostik, Klassifikation, Therapie und Prävention von Verhaltenssüchten» erarbeitete. Teilergebnisse wurden erstmals in Der Nervenarzt publiziert [zur Übersicht siehe Mann, 2013], die vollständigen Ergebnisse in Verhaltenssüchte – Grundlagen, Diagnostik, Therapie, Prävention. Fast parallel wurde das im Folgenden ebenfalls
besprochene Praxisbuch Verhaltenssucht – Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
veröffentlicht.
Verhaltenstherapie für Verhaltenssucht – geht das?
Können bzw. dürfen Patienten mit Verhaltens-«Süchten» verhaltenstherapeutisch behandelt werden oder müssen (auch) suchttherapeutische Verfahren Anwendung finden? Traditionell wur-
© 2016 S. Karger GmbH, Freiburg
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den in Deutschland Menschen mit einer (stoffgebundenen) Suchterkrankung in Suchteinrichtungen suchttherapeutisch behandelt.
In den letzten Jahren haben etliche Suchtkliniken Verhaltenstherapie als Begleit- oder Hauptmaßnahme eingeführt. Die Indikationsstellung für die eine oder andere Vorgehensweise ist aber noch keineswegs verbindlich geklärt. Was bedeutet «Suchttherapie» heute
inhaltlich?
In der «Psychotherapie-Richtlinie» (Stand: Januar 2016) für die
ambulante Psychotherapie gilt, dass Verhaltenstherapie bei stoff­
gebundenen Süchten nur erstattet wird, wenn innerhalb der ersten
10 Therapiesitzungen Abstinenz erreicht ist. Die neuen «Verhaltenssüchte» kommen nicht vor. Das Abstinenzgebot gilt explizit
nur für die stoffgebundenen Süchte! Das ist gut so – aber warum
das bei der einen Sucht so ist und bei der anderen anders, scheint
klärungsbedürftig.
Bezüglich der beiden Bücher zu Verhaltenssüchten ist also zu
fragen, ob inhaltlich-therapeutische Konsequenzen für Verhaltensund/oder Suchtherapeuten überzeugend abgeleitet werden. Diese
Rezension erfolgt daher nur für diejenigen Buchkapitel, die dafür
direkt relevant sind.
Verhaltenssüchte – Grundlagen, Diagnostik,
Therapie, Prävention
Im Vorwort zu diesem Buch beklagen die Autoren eine fast
schon «suchtartige Ausweitung» des Suchtbegriffs, der mit differenzierter Diskussion entgegengetreten werden soll. Das Pro und Contra der Diagnose «Verhaltenssucht» wird an folgenden Störungen
diskutiert: Glücksspielsucht, Internet- und Computerspielsucht,
pathologisches Kaufen, exzessives Sexualverhalten, Suchtaspekte
bei Adipositas sowie anhand der «Grenzen des Suchtbegriffs».
Folgende Begriffe definieren die damit verbundenen Verhaltensweisen als Sucht: Unfreiheit des Willens, Kontrollverlust, unwiderstehliches Verlangen, Entzugssymptome und Toleranzeffekte. Diese «zentralen Merkmale» werden weder psychopathologisch
noch verhaltensanalytisch hinterfragt. Die Autoren betonen aber,
dass «auch heute ... noch immer kein konsistentes Konzept für die
Diagnose und Behandlung exzessiver Verhaltensweisen vorliegt,
die die Belohnungsbefriedigung zum Ziel haben». Sie übersehen
dabei, dass bei den weitaus meisten dieser Patienten nicht positive,
sondern negative Verstärkung (Reduktion negativer Befindlichkeit) die entscheidende Funktion darstellt.
Im Beitrag zur «Glücksspielsucht» wird aus einer Gegenüberstellung der Pro- und Contra-Argumente abgeleitet «dass das pathologische Spielverhalten als eine Form der Suchterkrankung einzustufen
ist». Die Contra-Argumente – leider unvollständig zitiert – enthiel-
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Mann, K. (ed)
Verhaltenssüchte. Grundlagen, Diagnostik, Therapie,
Prävention
Berlin, Springer, 2014, 212 Seiten, 49,99 EUR
ISBN 978-3-642-38363-2
Für die Schriftleitung: Michael Witthöft
Auch die Herausgeber dieses Bandes sehen noch keinen Konsens darüber, wann eskalierte Alltagsverhaltensweisen als «echte
Sucht» einzustufen sind. Es sei nicht intendiert, «neue psychische
Störungen zu generieren», sondern «seltene Formen eines patho­
logischen ... Konsums» präziser darzustellen, um «eine optimale
Behandlung zu ermöglichen».
Das Buch beschreibt ein noch breiteres Spektrum möglicher
Verhaltenssüchte als der im Vorfeld vorgestellte Grundlagenband:
pathologisches Glücksspielen, exzessiver und abhängiger Internet-,
Computer- und Mediengebrauch, suchtartiges Kaufverhalten, exzessives Sexualverhalten, suchtartiges Bewegungs- und Sportverhalten, suchtartiges Arbeitsverhalten sowie Suchtaspekte bei wei­
teren Formen menschlichen Verhaltens.
Im einleitenden Grundlagenkapitel werden – neben familiären
Rahmenbedingungen und erweiterten systemischen Aspekten –
neurobiologische, lernpsychologische, psychodynamische und systemische «Erklärungsmodelle» differenziert dargestellt und diskutiert. Diese gelungene Einführung in die Thematik gibt viele An­
regungen zur eigenständigen Meinungsbildung.
Welche Informationen aber enthält dieser Band zu verfügbaren
bzw. wirksamen Therapieverfahren?
In dem sehr ausführlichen Kapitel über pathologisches Glücksspiel bescheinigen die Autoren auf Grundlage ihrer Literaturauswahl «sowohl medikamentösen Interventionen wie auch psychotherapeutisch orientierten Verfahren ... eine gute Wirksamkeit».
Zur Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen gäbe es keine aussagekräftigen Studien. Spezifische suchttherapeutische Studien werden
nicht angeführt. Die Autoren konzedieren, dass «nach wie vor
noch kein umfassendes Störungsmodell» vorliege und die pathologischen Glücksspieler eine heterogene Gesamtheit darstellten, vermutlich mit unterschiedlichen Response-Raten. Zur Beurteilung
der Versorgungsrealität für diese Klientel wären Hinweise auf die
grundsätzlich sehr geringe Inanspruchnahme vorhandener ambulanter Hilfsangebote sowie die hohe Abbruchquote in den ersten
10 Therapiesitzungen einerseits und die immer noch erheblichen
Konkurrenzen zwischen traditionellen Suchtkliniken und psychotherapeutischen Kliniken (bei ungeklärter Indikationsstellung) andererseits hilfreich gewesen. Was wollen die Autoren mit den referierten Studienergebnissen zum Ausdruck bringen? Für den klinisch unerfahrenen Leser fehlt eine kritische Bewertung der Studienergebnisse vor dem Hintergrund klinischer Erfahrung und der
Versorgungsrealität.
Das Kapitel über exzessiven und abhängigen Internet-, Computer- und Mediengebrauch gibt einen umfassenden Überblick über
den aktuellen Diskussionsstand bezüglich Diagnose, Verständnismodellen, Diagnostik und aktueller Therapieüberlegungen. Aus
den wenigen Studien zu Kurzzeiteffekten wird kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen vorerst der Vorzug gegeben.
Das Kapitel zu suchtartigem Kaufverhalten (im vorherigen
Band ohne den Suchtbegriff in der Überschrift!) diskutiert ausführlich die therapeutisch entscheidende Frage, welche Konsequenzen sich aus der häufigen Komorbidität mit psychiatrischen
Grunderkrankungen ergeben und wie weit Kenntnisse über
Zwangsstörungen (insbesondere den Hortzwang) einerseits und
Suchterkrankungen andererseits für das Verständnis dieses Verhaltens erforderlich sind. Die auf Konsum und Wachstum ausgerichtete gesellschaftliche Entwicklung trage ebenfalls zur Entwick-
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Verhaltenstherapie 2016;26:62–66
Praxisbuch Verhaltenssucht – Symptomatik,
Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen
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ten «weniger substanzielle Kritikpunkte». Auch in der Öffentlichkeit
werde ja meist von Spielsucht gesprochen. Ansätze zur Regulation
und Prävention werden zwar gut nachvollziehbar zusammengefasst,
Therapieempfehlungen werden jedoch nicht gegeben.
Im gesonderten Kapitel über «Therapiemöglichkeiten bei pathologischem Glücksspiel, Internet- und Computerspielsucht»
werden vor allem Informationen zu psycho- bzw. verhaltenstherapeutischen Interventionen gegeben. Darstellungen häufiger Themen in psychotherapeutischen Einzel- und Gruppentherapien
geben ein konkretes Bild typischer Interventionen (auch für An­
gehörige). Auf suchtspezifische Hilfsangebote wird ausführlich
hingewiesen.
Im Beitrag zum «exzessiven Sexualverhalten» wird eine «große
Heterogenität von Symptomen, Verhaltensmustern und Persönlichkeitsmerkmalen» beschrieben. Eine eindeutige Entscheidung
für oder gegen die Zuordnung zum Suchtmodell sei bisher nicht
getroffen. «Entsprechend der Komplexität und Heterogenität exzessiven Sexualverhaltens empfehlen die meisten erfahrenen Kli­
niker einen multimodalen Ansatz, der Elemente von kognitiver
Verhaltenstherapie, Rückfall-Vermeidungstherapie, psychodynamisch-orientierten Verfahren sowie pharmakotherapeutischen
Optionen beinhaltet».
Im Beitrag über «Internet- und Computerspielsucht» werden
schwerpunktmäßig die wesentlichen psychometrischen Testinstrumente und Ergebnisse zur Prävalenz und Komorbidität dargestellt.
Therapieempfehlungen werden nicht gegeben.
Im Kapitel über «pathologisches Kaufen» wird die Bedeutung
negativer Verstärkungsprozesse im Krankheitsverlauf betont, etwa
im Sinne einer «Kompensation negativer Befindlichkeiten» oder
«perfektionistischer Persönlichkeitszüge». Angesichts der hohen
Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen könne pathologisches Kaufen auch als Epiphänomen verstanden werden.
Ein weiterer Risikofaktor seien defizitäre Fähigkeiten des Geld­
managements. Eine störungsspezifische, kognitiv-behaviorale
Gruppentherapie habe sich als wirksam erwiesen.
Im abschließenden Kapitel über «Die Grenzen des Suchtbegriffs» werden die bisherigen «Sucht»-Interpretationen von Ergebnissen bildgebender Verfahren kritisiert. Aus klinischer wie anthropologischer Sicht wird empfohlen, den Suchtbegriff «jenseits
stoffgebundener Erkrankungen» vorsichtig und im Bewusstsein
der möglichen Stigmatisierung der Betroffenen einzusetzen.
So bleibt nach sorgfältigem Studium dieses lesenswerten Buchs
die Sorge, dass sein Titel gerade zur «suchtartigen Ausweitung» des
Suchtbegriffes beitragen könnte – wo doch genau das verhindert
werden sollte.
Bezüglich der therapeutischen Konsequenzen steht die Empfehlung verhaltenstherapeutischer und anderer psychotherapeutischer
Interventionen in den meisten Kapiteln weit im Vordergrund.
Die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts für die Glücksspielanbieter haben in wenigen Jahren mehr Gelder in Forschung,
Prävention und Therapie gelenkt als in den vorherigen Jahrzehnten zusammen. Bezüglich der Therapie für pathologische Glücksspieler hat das überzogen angewandte Suchtmodell aber auch zu
Verunsicherung und Enttäuschung geführt [Hand und Kegat,
2013]. Die Herausgeber beider Bücher wollten eine «suchtartige
Ausweitung» des Suchtbegriffs vermeiden und «keine neuen psychischen Störungen kreieren». In den meisten von Klinikern verfassten Beiträgen ist dies auch gelungen, in den theoriebezogenen
eher weniger, in der Titelwahl der beiden Bände überhaupt nicht
(warum nicht: «Verhaltensexzesse»?). Dennoch: Beide Bände sind
für die angesprochenen Zielgruppen sehr informativ und empfehlenswert.
Es bleibt zu hoffen, dass Verhaltenstherapeuten mit Betroffenen
erst die üblichen Eingangsgespräche zur Indikationsklärung führen, ehe sie ihnen möglicherweise eine Suchteinrichtung emp­
fehlen.
Iver Hand, Hamburg
Literatur
Hand I, Kegat S: Geldflüsse und Aktivitäten seit dem ersten Glücksspielstaatsvertrag.
­Wieviel, wohin, wofür und mit welchem Ergebnis? Konturen 2013;5:33–39.
Mann K: Verhaltenssüchte. Der Nervenarzt 2013;5:547.
Esser, G.
Klinische Psychologie und Verhaltenstherapie bei Kindern
und Jugendlichen
Stuttgart, Thieme, ed 5, 2015, 432 Seiten, 69,99 EUR
ISBN 978-3-13-126085-7
Die 5. Auflage des umfassenden und wissenschaftlich fundierten Lehrbuchs wurde vollständig überarbeitet und auf den aktuellen Stand des therapeutischen Geschehens im Bereich der Kinderund Jugendpsychotherapie gebracht. Im Abgleich zu den vorherigen Auflagen fällt dem Leser die erste große Veränderung unmittelbar ins Auge. So wurde der Titel des Buches geändert und der
Begriff «Psychotherapie» durch «Verhaltenstherapie» ersetzt. Wie
Fazit
der Herausgeber Professor Esser im Vorwort beschreibt, geht dies
Beide Bände zur Verhaltenssucht bringen in den jeweiligen Bei- darauf zurück, dass 87% der kontrollierten Therapiestudien im
trägen auf Grundlage umfangreicher Literaturrecherchen viel- Kindes- und Jugendalter in der Verhaltenstherapie durchgeführt
schichtige theoretische Argumente für und gegen die Diagnose werden und diese damit als am besten evaluiertes Therapieverfah«Verhaltenssucht», sparen jedoch leider Erkenntnisse aus über drei ren gilt. Demzufolge wurde die neue Schwerpunktsetzung auch bei
Jahrzehnten beforschter Versorgung (inklusive dreier Langzeit­ der Überarbeitung der bereits bestehenden Kapitel berücksichtigt
katamnesen) mit pathologischen Glücksspielern aus (Volltext-­ sowie der fünfte Abschnitt «Verhaltenstherapie» umfassend neu
Publikationen unter: www.hand.vt-falkenried.de). Alle Autoren konzeptualisiert und erweitert.
Die Neuauflage des Lehrbuchs ist in sechs Hauptkapitel mit insweisen aber auch darauf hin, dass aufgrund der Heterogenität der
Störungen eine verbindliche diagnostische Zuordnung bisher fehlt. gesamt 38 Unterkapiteln gegliedert. Der Aufbau und die Struktur
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lung dieses Problemverhaltens bei. Die Zuordnung zu den Süchten
wird einerseits unterstützt, andererseits in der Gesamtdiagnostik
auch in Frage gestellt. Im gut evaluierten, störungsspezifischen
­kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppenprogramm (auch mit
einem Training zu «Geldmanagement») ist eine Suchtspezifität
nicht erkennbar.
Auch für exzessives Sexualverhalten wird die Heterogenität bezüglich des Symptomverhaltens, dessen Funktionen sowie der Art
und Intensität der Komorbidität herausgestellt. Der aktuelle Wissensstand wird sehr differenziert und konkret therapiebezogen
über Fallvignetten abgebildet. Ein Leitfaden für die allgemeine
­Sexualanamnese, die Darstellung spezifischer Fragebögen und eine
detaillierte Beschreibung von drei spezifischen Therapiephasen
machen die Therapieinhalte gut verständlich. «Elemente von kognitiver Verhaltenstherapie, Rückfallvermeidungstherapie, psychodynamisch orientierten Verfahren sowie von pharmakotherapeu­
tischen Optionen» würden von erfahrenen Klinikern bedarfsentsprechend eingesetzt. Die Autoren scheinen einerseits das Suchtmodell zu unterstützen, beschreiben jedoch gleichzeitig auch Alternativen. Der Begriff der Sexualsucht wird im Titel vermieden.
Im Beitrag über «suchtartiges Bewegungs- und Sportverhalten»
wird eine noch laufende Diskussion über die Zuordnung zu
Zwangs- oder Suchtverhalten deutlich, unter Berücksichtigung
­aktueller soziokultureller Rahmenbedingungen. «Therapeutische
Zugänge können (und sollten) sich vorerst an der Behandlung anderer stoffgebundener Süchte und Verhaltenssüchte orientieren» –
wobei aber die Behandlung einer Grunderkrankung und der Komorbidität von vorrangiger Bedeutung sei (also das «suchtartige»
Verhalten doch eher als Epiphänomen?).
Noch schwieriger dürfte die Abgrenzung «suchtartigen Arbeitsverhaltens» von den beruflichen Anforderungsnormen in etlichen
Berufsgruppen sein. Neuere Forschungen legten nahe, «dass diese
Suchtkrankheit selbst eine Komorbidität darstellt ...eine Folgebzw. Begleiterscheinung von anderen psychischen Störungen ist».
Bisher gäbe es weder evidenzbasierte Therapieverfahren noch eine
allgemein anerkannte Diagnostik. Betroffene kämen äußerst selten
in suchttherapeutische Betreuung.
Im abschließenden Kapitel über «Suchtaspekte bei weiteren
Formen menschlichen Verhaltens» werden unter anderem «hautbezogene Suchtstörungen» (z.B. «Bräunungssucht»), «Doping im
Alltag und im Breitensport» sowie «Anorexia nervosa» diskutiert.
gen und Phobien in einem Kapitel zusammengefasst dargestellt.
Hierdurch gewinnt der Leser zwar schnell einen sehr guten Überblick über den Bereich, jedoch ist dieser vermutlich für die praktische Behandlung der jeweils einzelnen Angststörungen etwas
knapp gehalten. Darüber hinaus wird das Thema «Psychotische
Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen» leider nicht abgehandelt, was für eine Neuauflage eine interessante Ergänzung darstellen könnte.
Im vierten Hauptkapitel zu «Speziellen Problemen» geht es zunächst um die Behandlung von Suizidalität. Zwar sind darin die
wichtigsten Inhalte zu diesem Thema gut zusammenfasst, an dieser
Stelle wäre jedoch noch eine detaillierte Abgrenzung zu selbstverletzendem Verhalten wünschenswert gewesen. Weiterhin werden
die Themen «Misshandlung, Ablehnung, und Vernachlässigung»,
«Sexueller Missbrauch» sowie «Psychische Probleme chronisch
kranker Kinder und Jugendlicher» in Unterkapiteln umfassend
­behandelt. Ein kleiner Wermutstropfen ist hier das Fehlen eines
­eigenen Kapitels zu den Problemen von Kindern psychisch kranker Eltern. Dieses Thema stellt häufig eine große Herausforderung
im praktischen Alltag von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten dar und beeinflusst die Behandlung maßgeblich.
Das fünfte Hauptkapitel widmet sich in fünf Unterkapiteln der
Vorstellung der verhaltenstherapeutischen Verfahren. Zunächst
werden die klassischen Verfahren der Verhaltenstherapie vorgestellt, die natürlich in keinem Lehrbuch fehlen dürfen. Hier wird
unter anderem noch einmal sehr anschaulich die Anwendung
­lerntheoretischer Grundlagen erklärt. Im nächsten Unterkapitel
werden die kognitiven Verfahren im Kindes- und Jugendalter beleuchtet. Darauf folgt ein Unterkapitel zu Beziehungs- und emotionsorientierten Techniken, wobei hier auch auf neuere Entwicklungen aus der dritten Welle der Verhaltenstherapie wie imaginative Techniken (Imagery Rescripting) sowie achtsamkeitsbasierte
und metakognitive Techniken eingegangen wird. Die letzten beiden Unterkapitel schließen den thematischen Block mit einer sehr
guten Zusammenfassung systemischer Ansätze in der Verhaltenstherapie sowie der Anwendung von Entspannungsverfahren ab.
Im letzten Hauptkapitel wird unter «Sonstiges» auf den aktuellen Stand der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten eingegangen, wobei hier auch im Ausblick des Kapitels auf die derzeit viel diskutierten Reformvorschläge der Psychotherapieausbildung wie beispielsweise die Direktausbildung Bezug
genommen wird.
Ein Blick in das Autorenverzeichnis verrät, dass sowohl hochrenommierte als auch namhafte junge Autoren zu diesem umfangreichen Werk beigetragen haben. An dieser Stelle ist zu betonen,
dass das Lehrbuch aufgrund der sehr übersichtlichen Strukturierung und der einheitlichen Aufbereitung der Kapitel trotz der großen Autorenschaft in sich sehr geschlossen wirkt.
Insgesamt ermöglicht das Lehrbuch einen umfassenden, präzisen und interessanten Überblick zum Bereich der klinischen Psychologie und Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen.
Der Wert des Buches für Studierende oder Ausbildungskandidaten
in der Weiterbildung oder Prüfungsvorbereitung bemisst sich an
der großen Auswahl der Themen und der stringenten, sehr leser-
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Verhaltenstherapie 2016;26:62–66
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der einzelnen Unterkapitel sind insgesamt sehr gelungen. So werden stets die wichtigsten Informationen durch blaue Merkkästchen
sowie hilfreiche Abbildungen oder Tabellen optisch hervorgehoben. Zudem findet sich am Ende jedes Unterkapitels eine konzise
Zusammenfassung der Inhalte sowie eine Auswahl von Prüfungsfragen, anhand derer Studierende oder Ausbildungskandidaten ihr
erworbenes Wissen sehr gut überprüfen können. Ausführliche
Sach- und Literaturverzeichnisse erleichtern dem Leser die Anwendung des Lehrbuchs sehr. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, das Lehrbuch nach dem Kauf auch als E-Book einsehen zu
können, was von großem praktischem Nutzen ist. Eine mögliche
Ergänzung für zukünftige Ausgaben wäre das Einfügen von Literaturhinweisen für die weiterführende Beschäftigung des interessierten Lesers mit den Inhalten am Ende jedes Kapitels. Dies könnte
vor allem für Kandidaten aus der Psychotherapieausbildung von
Interesse sein, wenn sie ihre Kenntnisse über Interventionen für
die praktische Anwendung vertiefen wollen.
Das erste Hauptkapitel ist in zwei Unterkapitel gegliedert, in
denen die entwicklungspsychologischen und entwicklungspsychopathologischen Grundlagen sowie wichtige entwicklungsepidemiologische Ergebnisse präzise zusammengefasst sind. Weiterhin werden im dritten Unterkapitel mögliche Probleme mit der diagnostischen Klassifikation im Kindes- und Jugendalter behandelt. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Vergleich der Störungsgruppen
gemäß der neuen DSM-5-Klassifikation mit den Entwürfen zur
Gestaltung des ICD-11, was die Aktualität des Lehrbuchs zeigt.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich mit fünf Unterkapiteln
der Diagnostik im Kindes- und Jugendalter, wobei der gesamte
­diagnostische Prozess zu Beginn einer Psychotherapie beleuchtet
wird. Zunächst werden die wichtigsten Inhalte zum verhaltenstherapeutischen Erstgespräch sehr praxisnah dargestellt, gefolgt von
einem Überblick über die Leistungsdiagnostik in verschiedenen
Altersstufen. Hier finden alle namhaften Verfahren Erwähnung,
und die Vor- und Nachteile der einzelnen Leistungstests werden
sehr übersichtlich am Ende in einem Kasten farbig hervorgehoben,
sodass ein schneller Überblick über das geeignete Verfahren möglich ist. Hiernach schließen sich die Abhandlung projektiver Verfahren, Interview- und Fragebogenverfahren sowie der Verhaltensdiagnostik an. Bei der Besprechung der Fragebogenverfahren ist
die Behandlung einiger Störungsbereiche auf den ersten Blick
etwas knapp gehalten, und es wird teilweise eine selektive Auswahl
störungsspezifischer Verfahren vorgestellt. Dies stellt jedoch keinen Nachteil des Lehrbuchs dar, da in der Besprechung der einzelnen Störungsbilder in Hauptkapitel 3 die jeweiligen Verfahren in
den meisten Fällen noch einmal ausführlich besprochen werden.
Im dritten und umfangreichsten Hauptkapitel werden wie bereits erwähnt in 20 Unterkapiteln die einzelnen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter behandelt. Sehr ansprechend
für den Leser ist jeweils der praxisnahe Einstieg über eine Fallvignette, die sowohl die klinische Exploration aus auch die Behandlung umfasst. Weiterhin sehr gelungen und übersichtlich strukturiert ist der Vergleich der Klassifikationssysteme ICD-10 und
DSM-5 in Tabellenform in den einzelnen Unterkapiteln. Wie häufig in großen Lehrbüchern werden die verschiedenen Angststörun-
Falkai, P.; Wittchen, H.-U. (eds)
Diagnostische Kriterien DSM-5
Göttingen, Hogrefe, 2015, 467 Seiten, 59,00 EUR
ISBN 978-3-8017-2600-3
Nachdem das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen in der fünften Version (DSM-5) bereits in eng­
lischer Originalfassung [APA, 2013] und in einer umfangreichen
deutschen Fassung [Falkai und Wittchen, 2015] erschienen ist, liegen nun die diagnostischen Kriterien des Diagnostischen und
­Statistischen Manuals Psychischer Störungen gemäß der aktuellen
fünften Fassung im handlichen Taschenbuchformat in deutscher
Sprache vor. Die Kriterien dienen, wie bereits in früheren Versionen, als Leitlinien für die Diagnosestellung und klinische Beurteilung psychischer Störungen.
Das DSM-5-Kriterienbuch gliedert sich grundlegend in zwei
Hauptteile. Vorangestellt wird ihnen eine Übersicht der psychischen Diagnosen gemäß DSM-5 mit entsprechenden Seitenverweisen auf eine ausführlichere Darstellung der Kriterien im zweiten
Buchteil. Anschließend werden im ersten Teil auf 20 Seiten grundlegende Informationen zum DSM-5 gegeben wie z.B. die Definition der Diagnose einer psychischen Störung, Elemente einer Diagnose und ein kurzer Ausblick auf Erhebungs- und Kontrollinstrumente. Darüber hinaus wird ein Warnhinweis für den forensischen
Gebrauch des DSM-5 angegeben. So wird in diesem Zusammenhang z.B. darauf hingewiesen, dass das Vorliegen einer klinischen
Diagnose einer psychischen Störung gemäß DSM-5 nicht notwendigerweise bedeutet, dass auch rechtliche Kriterien für eine psychische Beeinträchtigung oder für eine Einschränkung im juristischen
Sinne erfüllt sind (z.B. Schuldunfähigkeit).
Der zweite Teil umfasst den 410-seitigen Kernteil des Taschenbuches, in dem die diagnostischen Kriterien und Kodierungen für
die einzelnen Störungsbilder gemäß DSM-5 ausführlich aufgeführt
werden. In diesem Teil wie im vollständigen DSM-5-Manual lassen
sich inhaltliche Veränderungen und Neuerungen gegenüber dem
DSM-IV finden. Diese betreffen beispielsweise die Kriterien für
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Verhaltenstherapie 2016;26:62–66
die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sowie die
Ein­führung der Binge-Eating-Störung als eigenständige Diagnose.
Als eine weitere Neuerung der fünften Version wird nun eine Einstufung vieler Diagnosen in «mild», «mittel» oder «schwer» eingeführt. Im Kriterienbuch werden zusätzlich korrespondierende Diagnoseschlüssel nach ICD-10 sowie Subtypen und mögliche Zusatzcodierungen aufgeführt, die eine spezifischere Diagnosestellung
erlauben sollen. Darüber hinaus werden in einem Abschnitt alternative ICD-10-Codierungen für bestimmte Störungsbilder in tabellarischer Form aufgeführt, die nach Ansicht der Herausgeber
den deutschen Codierungsinterventionen entsprechen. Am Ende
des Buches findet sich ein in Störungsbilder eingeteiltes Verzeichnis der Autoren, die an der deutschen Ausgabe mitgewirkt haben,
sowie ein praktisches Sachregister mit entsprechenden Seitenverweisen.
Auf den im vollständigen DSM-5-Manual vorhandenen Teil zu
Instrumenten und Modellen wurde in der Taschenbuch-Ausgabe
verzichtet. Darüber hinaus lassen sich keine ausführlichen Beschreibungen zu den einzelnen Störungsbildern finden, was mög­
licherweise dem Format geschuldet ist.
Das DSM-5-Kriterienbuch ist insgesamt ein gut strukturiertes
und übersichtlich aufgebautes Werk. Insbesondere im Vergleich
zur «großen» DSM-5-Ausgabe ist es ein handliches Buch, das Personen in der klinischen Wissenschaft und alltäglichen Praxis eine
Diagnosefindung durch schnelles Nachschlagen vorhandener und
fehlender störungsspezifischer Symptome leicht ermöglicht. Das
Kriterienbuch ist relevant für Ärzte, Psychologen und andere Fachpersonen in der Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen.
Wie von den Herausgebern im Vorwort angemerkt, kann das
Kriterienbuch das umfangreiche DSM-5-Manual nicht ersetzen,
allerdings durchaus als eine sehr praktische Hilfe im klinischen
Alltag fungieren. Es ist daher zu empfehlen, es in Verbindung mit
dem DSM-5-Manual zu verwenden, da eine sachgemäße Anwendung eine ausführlichere Kenntnis der Störungsbilder bedarf.
Yvonne Marie Kaufmann, Mainz
Literatur
American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition. Washington, DC, APA, 2013.
Falkai P, Wittchen H-U: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen
DSM-5®. Göttingen, Hogrefe, 2015.
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freundlichen Struktur. Erfahrenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder auch anderen interessierten Berufsgruppen
dient das Buch als wertvolles Nachschlagewerk und sollte in keiner
Bibliothek fehlen.
Dr. Franziska Schreiber, Frankfurt/M.
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