Der Embryo in uns

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Der Embryo in uns – Eine phänomenologische Suche nach der
Seele und dem Bewusstsein im vorgeburtlichen Körper.
Von Jaap van der Wal
Kurze Zusammenfassung
Während der letzten zwei Jahrzehnte scheint der postkartesianische Dualismus (der durch viele
Wissenschaftler und Philosophen als altmodisch und durch den modernen Monismus des
Materialismus als überholt betrachtet wird) durch eine Art Körper-Gehirndualismus ersetzt worden zu
sein, welcher durch die moderne Neurophysiologie und Neurophilosophie verbreitet wird. Der
menschliche Embryo scheint jedoch diesen falschen Monismus, der behauptet: „Wir sind unser
Gehirn.“ , herauszufordern. Die phänomenologische Sichtweise auf den sich entwickelnden
menschlichen Körper als einen Prozess (‚Bewegung‘) zeigt uns, dass Geist und Bewusstsein keine
durch den Körper und das Gehirn ‚produzierten‘ unermesslichen Dimensionen sind, sondern dass die
Dreieinheit Geist-Bewegung-Materie die wesentliche Erscheinung der untrennbaren Zweifachheit von
Geist und Körper als einheitliches Wesen darstellt. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass der ganze
Körper eine Tat (Leistung) des Geistes und des Bewusstseins ist, und nicht nur das Gehirn. Der
‚Embryo‘ ist anscheinend keine Phase der Vergangenheit in der menschlichen Lebensspanne,
sondern er besteht in unserm sogenannten erwachsenen Organismus auf die primäre Art und Weise,
ein Körper mit Geist zu sein. Körper und Geist sind eine Polarität, die weit über das Konzept von
Dualität und Dualismus hinausreicht. Daher sind wir ein Bewusstsein, das einen Körper hat und nicht
ein Körper, der Bewusstsein produziert. Das Gehirn mag das Organ der Koordination und des
Bewusstseins sein aber nicht das der Seele: unser ganzer Körper ist eine Realität mit
Bewusstseinsebenen.
Schlüsselbegriffe: Embryologie, Phänomenologie, Seele, Bewusstsein, Morphologie
Der Wein wurde durch uns betrunken, nicht andersherum.
Der Körper entwickelte sich durch uns, nicht wir durch ihn.
Wir sind Bienen und unser Körper ist eine Bienenwabe.
Wir schufen den Körper, Zelle für Zelle schufen wir ihn.
Rumi (1207 – 1273)
Der verlorene Körper
Während der letzten zwei Jahrzehnte sind wir in der Biologie, der Psychologie und
der Philosophie durch eine neue Welle materialistischen Denkens überströmt
worden.Man könnte es wirklich einen Tsunami nennen. Die menschliche Seele und
unser Bewusstsein werden aus einer neuen Perspektive betrachtet, die auf
Konzepten über die Funktion unseres Gehirns entsprechend der modernen
Neurophysiologie basiert, und dies wird anscheinend von der breiten Öffentlichkeit
akzeptiert. Zusammengefasst lautet die Enthüllung der modernen Gehirnphilosophen
folgendermaßen: das Gehirn beherrscht unsern Geist. Alles, was wir fühlen, denken
oder tun, beruht kurzum auf dem Gehirn. Jegliche Erfahrung, die wir machen, wird
dem Gehirn zugeschrieben und reduziert auf ‚nichts weiter als‘ die Aktivität von
Hippocampi, zerebralen kortikalen Bereichen und so weiter. Die ‚post-kartesianische‘
Seele, die noch mehr oder weniger zu rechtfertigen war als die nicht nachweisbare
Dimension von res cogitans in unserm Geist, ist abgelegt worden. Neurophilosophen
1
erklären den kartesianischen Dualismus von Körper und Geist durch den Beweis,
dass das Gehirn das maßgebliche körperliche Substrat für unser Bewusstsein,
unsere Sprache und unsern Geist sei, für aufgehoben. So wird dieser jedoch indirekt
ohne Zweifel oder Zögern durch einen falschen neuen Dualismus in der Form einer
Körper-Gehirnspaltung ersetzt. Das Gehirn ist ein ‚besonderes‘ Organ in unserm
Körper, und da ergibt sich unser Bewusstsein und wird durch Neuromaschinerie
zustandegebracht. Der holländische Neurowissenschaftler Swaab erklärt, dass der
Körper nur drei Zwecke erfüllt: das Gehirn zu ernähren, zu bewegen und zu
reproduzieren. Die Botschaft lautet: „Wir sind unser Gehirn.“ Wir verbleiben mit
einem sehr persönlichen, subjektiven Blick auf die Wirklichkeit, weil wir in Betracht
ziehen müssen, dass Alles, was wir als eine ‚nicht-körperliche‘ oder unnachweisbare
Wirklichkeit in unserm Kopf oder in unserm Körper fühlen oder erfahren (wie z.B. den
Schmerz in unserer Zehe), lediglich eine „Einbildung ist, die unser Gehirn produziert
hat“.
Die verlorene Seele
Wie können wir uns gegen diesen äußerst reduktionistischen Materialismus
behaupten? Die Lösung ist: Phänomenologe zu werden! Wir brauchen uns nicht
damit abzufinden, die Rolle des wissenschaftlichen Zuschauers einzunehmen,
sondern wir können die Grundhaltung, die das Leben uns allen bietet, annehmen und
selbst Teilnehmer werden. Als Teilnehmer nehmen wir für wahr an, was wir
wahrnehmen, was unsere Sinne uns mitteilen, und was wir erfahren in und durch
unsern Körper. Dies ist die grundsätzliche Wirklichkeit. Die “Welt der Sinne” ist die
Wirklichkeit, die zurückführt zu der Zeit vor der kartesianischen Spaltung von Geist
und Körper. Die phänomenologische Betrachtungsweise nimmt nicht nur als wahr an,
was unsere Erfahrung uns mitteilt, sondern sie zieht auch die virtuelle und sekundäre
Wirklichkeit der „Gehirnfakten“ mit in Betracht. Die gegenwärtigen Neurophilosophen
begehen den philosophischen und methodologischen Fehler, anzunehmen, dass die
Wirklichkeit, die wir durch unsere Instrumente wahrnehmen, die primäre Wirklichkeit
sei. Aber dem ist nicht so. Wirklichkeit ist nicht nur, was wir durch unsere physischen
Zuschauerinstrumente wahrnehmen können, sondern es ist die Wirklichkeit, die wir
erfahren. Sowohl unser Bewusstsein wie auch unsere Seele sind auch
Wirklichkeiten, die wir erfahren. Wenn auch unnachweisbar und daher nicht messbar,
sind sie doch jedem offensichtlich. Die wirkliche Welt, die wir alle erfahren, zu
leugnen, ist eine eigenartige Form moderner Asketik in der Naturwissenschaft!
Tatsächlich beruht die Behauptung „ich bin mein Gehirn“ nicht auf einer Tatsache
sondern einer Wahl. Genau genommen ist es eine paradigmatische Wahl: das heißt,
eine Wahl, die Wissenschaftler und Philosophen treffen, in Bezug auf wie sie die
Welt sehen wollen. Moderne „Gehirndenker“ verwechseln beinahe immer die
Bedingung mit der Sache selbst oder das Mittel mit der Botschaft: weil wir das Mittel
- das heißt, das Instrument zum Denken und Erfahren in der Form des Gehirns –
nötig haben, bedeutet dies für sie, dass wir nur unser Gehirn erfahren!
Aber diese Ansicht verursacht eine Menge Probleme. Wissenschaftler behaupten,
zum Beispiel, dass sie das Substrat für unser Bewusstsein in Form unserer
Gehirnaktivität gefunden haben. Jedoch hat noch nie jemand messen können, was
wir erfahren, während wir Denkexperimente für den zusehenden Wissenschaftler
unter dem Scanner ausführen. Er/sie registriert die Bedingung für ein Phänomen (
2
z.B. Bewusstsein), nicht aber das Phänomen selbst. Er/sie kann das auch gar nicht
registrieren, weil wir die einzigen sind, die wissen, die erkennen (!), was es bedeutet,
diese Gedanken zu denken, diesen bestimmten Körper zu erleben, diesen gewissen
Bewusstseinszustand zu erfahren. Kein Neurophysiologe kann die Kluft zwischen der
primären Wirklichkeit der ‚Lebenswelt‘ oder der ‚Welt der Sinne‘, wie sie bei den
Philosophen heißt, und der sekundären Wirklichkeit des Körpers, die nach der
kartesianischen Spaltung zwischen Geist und Körper in Erscheinung trat,
überbrücken. In der Wirklichkeit des Körpers, den wir bewohnen, den wir leben, sind
Seele und Körper, Geist und Materie nie voneinander getrennt. Diese zwei Bereiche
zum Zweck der Deutlichkeit und des genauen Verstehens zu unterscheiden, war das
große philosophische Verdienst von Descartes. Das ist eine gerechtfertigte
methodologische Reduktion, um die Rolle, die jeder Bereich bei der Wahrnehmung
und dem Denken des Menschen spielt, zu kennzeichnen. Aber, wie A. T. Still darlegt:
“Die menschliche Form (Materie) und die Funktion (Geist) sind untrennbar
miteinander verwoben.“ Und davon auszugehen, der Geist sei eine Illusion, die durch
ein Organ des gleichen Körpers verursacht wird, ist ein nicht akzeptabler und fataler
philosophischer Irrtum und eine Reduktion unserer Wirklichkeit.
Wir haben keine Seele, sondern wir sind Seele.
Neurophysiologen befassen sich mit dem Substrat für unsere Seele und unser
Bewusstsein. Aber ein anatomisches, physiologisches oder genetisches Phänomen
(‚Körper‘) zu finden, das anscheinend mit einer bestimmten Denkaktivität (‚Seele‘) in
Verbindung steht, kann nicht heißen, dass man das Phänomen selbst gefunden hat.
Anscheinend ist Gehirnaktivität eine notwendige aber an und für sich nicht
ausreichende Voraussetzung für Bewusstsein. Jedoch besteht hier das Risiko, die
Bedingung für eine bestimmte Sache (Körper, Gehirn, Gen) mit der Sache selbst
(Seele, Geist, Merkmal) zu verwechseln. Ein solcher Reduktionismus herrscht
heutzutage auch in der Genetik. Als Biologe habe ich noch nie wahrgenommen, dass
Gene (ich spreche hier über das allgemeine moderne Konzept vom ‚Gen‘ als
formulierte DNA-Struktur) das aktive und kausative Prinzip innerhalb des lebendigen
Organismus sind. Damit will ich nicht bestreiten, dass Gene für die phänotypische
Erscheinung von Organismen eine wichtige Rolle spielen. Natürlich haben
Organismen Merkmale und Eigenschaften. Manchmal werden sie krank. Aber ich
habe noch nie ein ‚krankes Gen‘ gesehen oder eines mit einer gewissen spezifischen
Eigenschaft wie der Fähigkeit sich zu bewegen oder etwas zu verdauen. Jedoch,
scheinbar ohne jegliches Zögern oder Argument, scheinen Leute zu glauben, dass
Gene aktive Prinzipien sind, welche das Entstehen von Organismen verursachen. Als
phänomenologischer Embryologe muss ich diese Ansicht vollkommen abweisen. Nur
in pathologisch abnormalen oder experimentell manipulierten Verhältnissen (und
natürlich im evolutionären Prozess mutierender Veränderungen im Genom) scheint
es die Abweichung vom normalen Muster zu sein, welche den damit in Beziehung
stehenden ‚neuen‘ Phänotypen verursacht. In der wesentichen und integrierten
Situation funktionierender Organismen jedoch, sind es nicht die Gene, welche die
Phänomene verursachen. Es ist der Organismus selbst, welcher die biologischen
Handlungen und Funktionen, die ihn kennzeichnen, ausführt.
Die moderne Genetik und die Neuropsychologie versuchen uns davon zu
überzeugen, dass unser Denken synonym ist mit Gehirnaktivität, Vererbung synonym
3
ist mit den Genen, und dass das Gedächtnis nichts mehr und nichts weniger vorstellt
als einen Prozess des Hippocampus. Prozess und Struktur, Phänomen und
Bedingung werden so in ein verwirrendes Durcheinander geworfen. Wir werden zu
herumlaufenden Gehirnen, wetteifernden Genen erklärt. Nach vier Jahrhunderten
des kartesianischen Reduktionismus ist das das Einzige, was von unserer Seele
übriggeblieben ist. Die sekundäre Wirklichkeit will für uns bestimmen, was wir
erleben und erfahren, und das Leben und das Bewusstsein, welches wir wirklich
sind. Alles, was uns geblieben ist, ist eine beobachtete und analisierte Anatomie
unseres Gehirns und unseres Körpers. Und so bezeichnen die modernen
Psychologen, vollkommen überzeugt, unsere Erfahrung, die Wirklichkeit unseres
Fühlens und Bewusstseins als Illusion. Schmerz ist eine Illusion; wir fühlen keinen
Schmerz in unserer Zehe; das ist nur eine illusorische Projektion unseres Gehirns.
Und wie steht es mit unserm freien Willen? Davon kann keine Sprache sein! Unser
Gehirn weis es besser, und Millisekunden bevor wir eine Wahl treffen, haben
kortikale Reflexe bereits ‚durchschaut‘, was wir tun wollen.
Ein Embryo mit Geist?
Wie steht es nun mit dem Embryo? Der Ansicht der modernen Neuropsychologie
zufolge hat der Embryo kaum eine Hoffnung als ein Wesen mit Geist und Seele
anerkannt zu werden. Im Embryo fehlt selbst die geringste Manifestation eines
funktionellen Gehirns. Nachdem das erste Anzeichen einer Gehirnorganisation im
Embryo erkennbar geworden ist, müssen wir erst noch die fötale Phase abwarten,
bevor wir so etwas wie ein Substrat für Gehirnphysiologie, wie etwa Bewegungen
oder eindeutige EEG-Aktivität, entdecken können. Genau wie der menschliche
Körper in der modernen somatischen Philosophie – ,du bist nicht anwesend in
diesem Körper‘, ‚es wohnt kein Selbst oder keine Seele in diesem Körper,‘ – so ist
der Körper des Embryos in der Abwesenheit eines Gehirns seines Selbst oder seiner
Seele entleert worden und folglich jeglichen Bewusstseins oder Gewahrwerdens
unfähig erklärt worden.
Ich wurde in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zum
Embryologen. Während jener Zeit war die Debatte über die Seele und den Geist
noch offen und noch nicht von farbenblinden einäugigen Neurophysiologen
terrorisiert und zu Tode geschlagen worden. Damals konnte man noch einen
anerkannten Psychiater Fragen wie „Wäre es möglich, dass die Zellen, bevor und
nachdem besonderes Nervengewebe entstanden ist, während späteren Phasen des
Lebenszyklus Umwandlungen und Veränderungen unserer frühesten Erfahrungen
reproduzieren?“ (Laing, 1984) zur Sprache bringen hören. Manche Psychologen
sprachen sogar von der Möglichkeit pränataler unterbewusster Erfahrung
traumatischer Ereignisse.
In diesem Zusammenhang stieß ich auf das Werk des deutschen Embryologen Erich
Blechschmidt (1904 – 1992). Viele Osteopathen und Kraniosakraltherapeuten halten
das biokenetische Modell der embryonalen Entwicklung, das Blechschmidt
entwickelte, für eine gute Darstellung der Prozesse, die die Gestaltung unseres
Körpers und unserer Organe beherrschen (Blechschmidt & Glasser, 1978/2012;
Blechschmidt, 2004). Als Phänomenologe bin ich nicht so sehr an Ursachen und
Erklärungen sondern an Verstehen und Schlussfolgerung interessiert. Ich bin ein
4
Embryologe auf der Suche nach dem Geist, d.h. einem aktiven Prinzip ‚hinter‘ den
geformten Organen und dem Körper. Ich suche nach dem ‚en-act‘ Prinzip, welches
versucht, sich durch die und anhand der verwirklichten ‚ex-act‘ 1Dimension seines
Körpers zu verwirklichen. Der Körper als eine Schöpfung und das psychosomatische
Wesen, welches wir sind, als der ‚Schöpfer‘. Der Verwirklicher (‚Hersteller‘) und die
Verwirklichung. Ich betrachte den Körper als das manifeste Ergebnis einer
prägenden Tat, einer schöpferischen Tat.
Ein Embryo mit einer Seele
Ich begann über wichtige Fragen in Bezug auf den Embryo nachzudenken, wie z.B.:
wer oder was verwirklicht sich da? Was tun wir eigentlich, während wir ein Embryo
sind? Wie existieren wir dort und dann? Natürlich als ein Seelen- und Körperwesen,
denn so erlebe ich mich selbst während jeder Sekunde meines Lebens. Es sind nicht
meine Muskeln, die mich bewegen, sondern ich bewege meinen Arm. Anscheinend
tue ich das mit meinem Körper (ein Lokomotorapparat, der notwendige aber nicht
ausreichende Bedingung ist), aber nicht „mein Körper bewegt mich“. Wir können auf
die Konzepte E. Blechschmidts näher eingehen und feststellen, dass ein Embryo
Verhalten ausdrückt. Er formt (noch) seinen Körper, er bewegt sich, er handelt
(wörtlich genommen). Die erste Manifestation von Verhalten, die wir als das KörperGeistwesen, welches wir sind, ausdrücken, ist unser morphologisches Verhalten –
das will heißen, unser Körper. Die Gebärden, die wir auf der physiologischen Ebene
ausführen, sind auch eine Handlung, die en-act Dimension in uns. Die aufrechte
Haltung zu erreichen,
unser Gleichgewicht zu
finden, zu zentrieren:
dies sind Handlungen
der Seele, des
menschlichen Selbst
oder Geistes. Bevor wir
diese psychologisch
ausführen können,
wenn wir ungefähr 12
Monate alt sind, üben
wir sie physiologisch
aus, indem wir
versuchen uns im
Laufstall hochzuziehen.
FIGURE 1
Und selbst das ist nicht
Umdrehung der Daseinsorientierungen beim Erwachsenen (a) und dem
Embryo (b).
das erstemal. Das
Aus: Dynamische Morphologie, O.J. Hartmann, Frankfurt/M., 1959.
erstemal fanden wir
unser Gleichgewicht,
während wir als Embryo unsere Körperorganisation formten und organisierten. Der
menschliche Körper ist der einzige Körper eines Primaten und eines Säugetiers, der
1
‘En-act’ wie auch ‘ex-act’ sind vom lateinische Wort act oder actum abgeleitet, was ‚Tat‘ oder
‚gemacht‘ bedeutet. ‚Ex-act‘: was gemacht oder realisiert worden ist, ‚en-act‘: dasjenige, was sich
macht 0der realisiert.
5
seinen Schwerpunkt innerhalb seines Körpers organisiert hat. Um als Mensch zu
sich selbst kommen zu können, haben wir die Organisation dafür nötig, d.h. einen
Körper (nicht nur ein Gehirn), der dazu fähig ist. Das ist genau dasjenige, was wir
tun, indem wir als Embryo wachsen und dabei unserm Körper Form geben: wir
führen ier die Handlung des Sich-Aufrichtens und des Gleichgewicht-Suchens auf
morphologische Art und Weise aus.
„Die Seele übt sich im Körper voraus“ , ist meine Formulierung der Konzepte
Blechschmidts. Unser Körper representiert Verhalten, um genau zu sein,
menschliches Verhalten. Der Körper ist kein Gegenstand, kein anatomisches
Substrat; er ist Leistung, Funktion, Verhalten. Unsere Seele hat keinen Körper, sie ist
Körper; unser Körper hat keine Seele, er ist Seele. Nehmen wir von den Worten
Rumis am Anfang dieses Artikels Notiz. Selbst unser Skelett und unser Gehirn
(Organe, welche z.B. beinahe zu Tode und zu physischer Substanz strukturiert
worden sind), sind ‚in Bewegung‘, sind Prozesse. Die Embryologie hat mich gelehrt:
Bewegung ist primär, Form ist sekundär! Form entsteht aus der Bewegung, die zum
Stillstand gekommen ist (und nicht andersherum, wie die reduktionistischen Denker
uns weis machen wollen). In Bewegung äußert sich Verhalten. Die Transparenz
unserer Linse z.B. ist keine
Materialeigenschaft wie bei einem
Stück Glass sondern eine
lebenslange Tätigkeit, welche von
den Zellen der Linse in der
Transparenz der Kristallinen,
welche diese produzieren,
ausgeübt wird. Unser Körper ist
eine Leistung, eine Tat, und
während der Embryonalphase
bewegen wir unsern Körper als
Vorübung für unsere späteren
physiologischen und
psychologischen Fähigkeiten.
Zentripetale Existenz
ABBILDUNG 2. Embryonalphasen des Menschen
Im Alter von jeweils: 26 Tagen (g), ungefähr 4 Wochen (h),
ungefähr 5 Wochen (i), ungefähr 6 Wochen (k), ungefähr 7
Wochen (l) und 3 Monaten (m). Aus: The human embryo, E.
Blechschmidt, Stuttgart 1963.
6
Innerhalb des Embryos haben
Form und Funktion noch einen
Zusammenhang und sind fest
miteinander verwoben. Die
Tatsache, dass z.B. die Form und
die Funktion eines Armes so
perfekt und harmonisch
aufeinander abgestimmt sind, ist
schon während der embryonalen
Phase deutlich zu sehen, wenn
der Arm während seines
Herauswachsens als ein
Instrument zum Greifen
vorausgeübt wird. Im
erwachsenen Organismus wird
diese Funktion auf einer höheren Ebene ‚frei‘: die physiologische Funktion kann als
freigewordene Wachstumsgebärde gesehen werden. Erich Blechschmidt geht
diesbezüglich noch einen Schritt weiter und wendet dieses Prinzip des Freiwerdens
der Funktion von der Wachstumsstruktur bis zur Ebene der psychologischen Gesten
und Funktionen an. Körperliche und physiologische Funktionen werden vom Embryo
als Wachstumsgebärden und –bewegungen vorausgeübt. Diesbezüglich hat der
Mensch schon lange vor seinem ersten Atemzug nach der Geburt, geatmet. Die
Dynamik der Lunge, des Brustkorbes und des Zwerchfells kann während deren
Entwicklung und Entfaltung als eine Art von Atmung betrachtet werden, denn diese
Dynamik äußert sich in der Form von Atmungsbewegungen. Auf diese Art und Weise
betrachtet, blickt, greift und läuft ein Embryo. Wir können dies als morphologisches
Verhalten bezeichnen.
Derartige Betrachtungen geben uns eine neue Perspektive bezüglich der Richtung
und Orientierung des embryonalen Daseins. Gewöhnlich wird das embryonale
Dasein als ein lediglich biologischer Prozess angesehen, der menschliches Verhalten
produziert oder zur Folge hat. Wir denken von innen nach außen, vom Zentrum zur
Peripherie, mit andern Worten: zentrifugal. Von diesem Gesichtspunkt her gibt es
anfangs eine befruchtete Eizelle2, welche dann zu einem individuellen menschlichen
Körper und folglich zu einem psychologischen Individuum heranwächst; der Mensch
einschließlich seines Geistes und seiner Seele wird als Produkt dieses Prozesses
betrachtet. Unser Geist wird als Ergebnis unseres Körpers und unserer
Körpergestaltung angesehen. In diesem Rahmen wird dem Embryo so etwas wie
eine allgemeine nicht individuelle Stellung gewährt, aber während der
Embryonalphase kann von Individualität oder persönlicher Existenz noch keine
Sprache sein.
Die embryonale Existenz kann jedoch als Orientierung von außen nach innen
gesehen werden, d.h. zentripetal (siehe ABBILDUNG 1). Als Erwachsener drücken
wir uns mittels unseres Körpers aus: Die Welt ist unser Ziel und der Körper ist unser
Instrument zu diesem Zweck dazu. Im Gegensatz dazu ‚drückt‘ oder ‚druckt‘ der
Embryo sich in die körperliche Organisation ‚ein‘. Unser Embryonaldasein ist eine Art
stilles, introvertiertes Dasein. Die Idee, dass der Embryo nichts tut oder leistet, ist ein
gewaltiger Missverstand und eine Herabsetzung und Abwertung. Sein Handeln,
seine Leistung ist auf sich selbst gerichtet, nach innen. Von diesem Gesichtspunkt
her stellt das Handeln, das Verhalten des Embryos eher den primären Ausdruck des
Menschen und seiner Seele dar. Der Mensch manifestiert sich in erster Linie mittels
seiner Wachstumsgebärden und seiner Bewegungen in Formen, danach mittels
seiner (freigewordenen) physiologischen Prozesse (Verhalten) und letztendlich
mittels seines psychologischen Verhaltens und Gebärdens.
‘Der Embryo bleibt in uns aktiv’
In ABBILDUNG 2 ist der sogenannte kraniokaudale Gradient während unserer
embryonalen Entwicklung dargestellt. Dieser Ausdruck deutet an, dass die
2
Was Unsinn ist, wir beginnen nicht ‘als Zelle’. Wir sind nicht aus oder von Zellen aufgebaut. Die
Einheit des Lebens ist nicht die Zelle, das Teilchen, sondern die Einheit des Lebens ist der
Organismus als Ganzes. Der Embryo organisiert sich in Zellen und weiterhin in Organe und Gewebe,
nichts andersherum. Unsere erste Erscheinung ist als Zygote, ein einzelliger Körper.
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Entwicklung im kranialen Pol oder Bereich unseres Körpers der Entwicklung im
kaudalen Pol oder Bereich immer vorausläuft. Das weist auch darauf hin, dass die
Entwicklung unserer Organe im kranialen Pol mehr oder weniger dazu neigt, ihr
‚endgültiges, erwachsenes‘ Stadium/die Organisation früher als diejenige im
kaudalen Bereich unseres Körpers zu erreichen. Unser Kopf wird sozusagen ‚alt‘
oder ‚erwachsen‘; unsere Viszera bleiben ‚jung‘ oder ‚embryonal‘. In ABBILDUNG 2
z.B. können wir beobachten, wie die Entwicklung unseres Armes und unserer Hand
der Entwicklung unseres Fußes und unseres Beines immer voraus ist. Dieses
Phänomen manifestiert und ‚wiederholt sich‘ dann auch im physiologischen und
psychologischen Reifen unserer Gliedmaßen und unserer Lokomotion. Eine weitere
Körperachse, wo wir solch einen Gradient beobachten können, ist der distoproximale
Gradient unserer Gliedmaßen: unsere Hände und Füße sind ‚älter‘ als unsere
Schultern und der Bereich unseres Beckens, der letztere ist z.B. der Bereich unserer
Gliedmaßen, wo wir eigentlich weit über unsere Kinderjahre hinaus am Wachsen und
Form-Gestalten bleiben.
Wir könnten den kraniokaudalen Gradient als die Polarität zwischen Bewegung und
Form, zwischen Embryo und Erwachsenem, zwischen Prozess und Struktur
bezeichnen. Im kaudalen Pol des Körpers neigen die Prozesse eigentlich dazu, sich
auf embryonale Weise fortzusetzen, wie zuvor beschrieben, d.h. sie äußern
morphologisches Verhalten mittels des physischen Körpers, der sich noch im
Prozess, in der Metamorphose befindet. Am andern Ende können wir die Neigung
der Organe, allmählich sozusagen ihre Endstruktur und ‚Anatomie‘ zu erreichen,
beobachten. Dort wird die Funktion (unseres Gehirns und Nervensystems z.B.) mehr
und mehr von der morphologischen (Wachsen und Metamorphosieren) Aktivität
‚befreit‘. Die Leber (kaudal) mit einem typischen ‚kranialen Organ‘ wie dem Gehirn zu
vergleichen, ist eine sehr geeignete Art und Weise, diesen Gradient und diese
Polarität zu erkennen. In der Leber befinden sich Funktion und Form noch im
Progress, während Anatomie und Struktur für das physiologische Funktionieren des
Gehirns notwendig werden. In der Leber bleibt die embryonale Gebärde, die en-act
Dimension, noch in einem morphologischen Prozess aktiv, tief mit der Substanz
verwickelt und verwoben. Im kranialen Bereich muss das En-acte zur Form werden
und von dem materiellen und körperlichen Prozess befreit werden und auf eine mehr
körperfreie und unbestimmbare Art und Weise funktionieren, um die Möglichkeit für
den Geist zu schaffen. Man denke an die ‚undefinierbare‘ Beweglichkeit unseres
Geistes. Dies führt uns vor Augen, dass die embryonale Phase nicht in der
Vergangenheit liegt, dass sie keine Phase ist, die wir hinter uns lassen. Sie ist aktiv
und bleibt bestehen – in einem großen Bereich unseres Körpers ist die Interaktion
zwischen Körper und Geist ‚noch‘ in zentripetaler Richtung aktiv.
Die Wiederkehr der Seele
Könnte dies der Ausdruck einer Polarität in unserm Organismus bezüglich der
‚Interaktion‘ zwischen den en-act- und ex-act-Dimensionen unseres
psychosomatischen Wesens sein? In der ‚kaudalen‘ (viszeralen‘) Dimension unseres
Körpers scheint unser Geist mit dem Körper (Materie) verbunden und verwoben zu
bleiben, wie sich das in der allgemeinen Gebärde während der embryonalen Phase
äußert. Am entgegengesetzten Pol neigt der Körper dazu, strukturierter, sozusagen
mehr zur ‚Anatomie‘ zu werden. Sind dort Geist und Körper mehr voneinander
getrennt und trennender, um es so dem Geist zu ermöglichen, ‚körperfreier‘ auf rein
8
‚bewusster‘ Ebene zu funktionieren? Wäre es möglich, dass das embryonale Dasein
darstellt, wie ein schlafendes Bewusstsein das Leben im Körper bestimmt? Und wo
dieser Prozess dazu neigt, zu einer völlig ausgestalteten und erhärteten
anatomischen Struktur zu werden, die embryonale Vitalität und Erneuerungskraft
abnimmt und manchmal vollkommen verschwindet (‚Tod‘)? Und ist es nicht dieser
‚Tod‘, welcher das erwachende Bewusstsein möglich macht? Welch eine fantastische
Idee: Vitalität und Bewusstsein als Gegensätze, je mehr Vitalität, desto mehr
schlafen wir, je mehr Tod und Struktur, desto mehr erwachen wir! Von diesem
Gesichtspunkt her ist der Geist überall innerhalb unseres Körpers als wirkendes
Prinzip zugegen, aber abhängig von dem Grad, in dem die embryonalen Prozesse
von der Tendenz zur Struktur beeinflusst werden, ergeben sich verschiedene
Bewusstseinsebenen.
So gesehen, ist der ganze Körper eine psychosomatische Manifestation mit einer
weitreichenden Palette verschiedener Bewusstseinsebenen. Der Wille schläft im
kaudalen Pol, in unsern Gliedmaßen und Muskeln – die kognitive Seele erwacht in
unserm Kopf und unsern Sinnen!
Dies mag sich nach einem nicht zu rechtfertigenden globalen Konzept und einer
unverantwortlichen Vereinfachung anhören. Dennoch kann der Gradient, den wir
beschrieben haben, sowohl in der kraniokaudalen ‚Richtung‘ wie auch noch in mehr
als acht andern körperlichen Dimensionen beobachtet werden, und zwar: dorsalventral, parietal-visceral, distal-proximal in den Gliedmaßen, zentripetal und
zentrifugal. Dieser Gradient ist eigentlich überall. Und eigentlich ’nirgendwo‘; er ist ein
grundsätzliches Prinzip der Polarität, welche die psychosomatische Organisation in
allen Richtungen, Ebenen und Dimensionen beherrscht. Für mich herrscht der
Magnet oder das holografische Prinzip des kraniokaudalen Gradienten vor, über den
kartesianischen Irrtum, unsere Seele, unsere Psyche, unser Bewusstsein auf ein
bestimmtes Organ oder einen bestimmten Bereich zu begrenzen. Nicht nur unser
Gehirn ist der Bereich unserer Seele, unseres Geistes und unserer Psyche. Unsere
verschiedenen ‚Kopforgane‘, wie die Leber, das Herz und die Nieren, lassen bis zu
einem gewissen Grad eine ähnliche Funktion sehen. Aber unser Gehirn steht wohl
für die funktionelle Möglichkeit eines hohen Grades des Wachwerdens, d.h.
Selbstbewusstsein.
Die phänomenologische Sichtweise kann tiefe Einsicht und eine Erneuerung und
Erweiterung unserer Blickfeldes bei unserm Studium der menschlichen Gestalt und
des menschlichen Körpers erzielen. Denn sie kann enthüllen, dass unser Körper,
vom ersten Tage unseres Lebens an, nicht ein bloßes Anhängsel unseres Gehirns
sondern ein Instrument unserer Seele ist. Bewusstsein ist nicht synonym oder
übereinstimmend mit ‚Seele; es ist eine Funktion, eine Aktivität unseres Geistes. Die
ganze Bewusstseinspalette zeigt uns, dass unsere Seele kein nebulöses Konzept
oder illusorisches ‚Etwas‘ ist, sondern ein ‚Seelenkörper‘, der ebenso kompliziert ist
wie unser physischer Körper. Es gibt nicht ein bestimmtes Organ für unsere Psyche,
sondern vielleicht mehrere – wie z.B. unser Gehirn, unsere Sinne, usw. – die
ebenfalls funktionieren. Aber unser Geist ist überall. Unser Körper ist nicht eine
Maschine, die funktioniert; er ist Funktion, eine Funktion unseres Geistes. Eine
‚Anatomie‘ wie diese, gäbe uns unsern Körper, der wir sind, den wir bewohnen, den
wir leben, zurück, wo wir überhaupt keine Hippocampi in unsern Köpfen haben,
sondern wo wir innerhalb unseres Kopfes denken, auch mit unsern Herzen fühlen
9
und unter Schmerz in unsern Zehen leiden. Wir sind unser Bewusstsein, und wir
haben einen Körper.
Jaap van der Wal, PhD, ist Mediziner und ist jetzt von der Abteilung Anatomie und Embryologie der
Universität Maastricht in den Niederlanden in den Ruhestand getreten. Er arbeitete als
außerordentlicher Professor und später als Dozent in höherer Position an verschiedenen Universitäten
und Hochschulen in Holland. Er doziert auch in medizinischer Anthropologie. In seiner
wissenschaftlichen Forschung spezialisierte er sich auf die funktionelle Anatomie der Lokomotion und
veröffentlichte Arbeiten über die funktionelle Architektur des Bindegewebes und der Fasciae wie auch
über deren Rolle bei der Propriozeption. „Aber meine Hauptleidenschaft“, behauptet er, „ist noch
immer die Embryologie. Die zwei Gebiete der Kinesiologie und der Embryologie begegnen sich auf
der Ebene von Bewegung und Form und vereinen sich in der phänomenologischen Embryologie und
der dynamischen Morphologie. Dank dieser Methode konnte ich auch eine Brücke zwischen
Wissenschaft und Spiritualität schlagen“. Jetzt reist er mit seinem Projekt ,Embryo in Bewegung‘ durch
die ganze Welt und hält Seminare über das letztereThema. Er doziert an Lehranstalten für
Anthroposophie, Kraniosakraltherapie, Osteopathie, Polarity Therapy aber auch für Traumatherapie
und pränatale Psychologie und andere in der ganzen Welt sowohl für Fachleute wie auch für Laien.
Reaktionen zu diesem Artikel bitte an [email protected] senden.
Jaap van der Wal MD PhD
Dynamension – Uns selbst als Embryo verstehen
PO box 1157, 6201BD Maastricht, Niederlande
Web: www.embryo.nl
E-mail: [email protected]
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