Multiple Sklerose: Pathogenese und Möglichkeiten einer

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Weber, Frank | Multiple Sklerose: Pathogenese und Möglichkeiten einer individualisierten Therapie
Tätigkeitsbericht 2006
Immun- und Infektionsbiologie/Medizin
Neurobiologie
Multiple Sklerose: Pathogenese und Möglichkeiten einer
individualisierten Therapie
Weber, Frank, E-Mail: [email protected]
Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München
Zusammenfassung
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine heterogene, chronisch entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), deren Ursache trotz vieler Forschungsanstrengungen bislang unbekannt ist. Neue Techniken erlauben heute nahezu die Untersuchung des gesamten Genoms,
Transkriptoms und Proteoms. Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie setzt diese Verfahren ein, um
die Pathogenese der MS aufzuklären und Möglichkeiten einer individualisierten Therapie zu eröffnen.
Abstract
Multiple Sclerosis (MS) is a heterogenous, chronic inflammatory, demyelinating disease of the central nervous system (CNS). Despite of many research efforts the cause of MS is unknown. Today new
techniques allow the investigation of nearly the whole genome, transcriptome and proteome. The MaxPlanck-Institute of Psychiatry uses these techniques to explore the pathogenesis of MS and to open the
possibility for an individualized therapy.
Pathogenese der Multiplen Sklerose
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems,
die zu einer Demyelinisierung führt, das heißt zur Zerstörung der Myelinscheide der Nervenzellen
sowie der Nervenzellen selbst. Sie zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen junger Erwachsener und weist eine große Variabilität hinsichtlich des Krankheitsverlaufs auf. Klinisch lassen
sich schubförmig-remittierende von primär und sekundär progredienten (fortschreitenden) Verläufen
unterscheiden. Die klinische Symptomatik reicht von leichten Beeinträchtigungen der Beweglichkeit
über schwere Behinderungen bis hin zum Tod der Betroffenen. Neben den neurologischen Symptomen
leiden viele Patienten unter kognitiven Defiziten, einer besonderen Form der Erschöpfung („Fatigue“)
und manifesten Depressionen. Pathologisch-anatomisch stellen entzündliche Infiltrate in Gehirn und
Rückenmark das Substrat der Erkrankung dar. Diese „Herde“ lassen sich auch im Kernspintomogramm (MRT) nachweisen, weshalb dieser Untersuchungsmethode ein hoher Stellenwert in der Diagnose und bei der Verlaufsbeobachtung der MS zukommt (Abb. 1). Auffälligkeiten finden sich darüber
hinaus sowohl im Immun- als auch im Hormonsystem. Der Entzündungsprozess führt z.B. zur Bildung
von Immunglobulinen (IgG) im zentralen Nervensystem und zu einer veränderten Zytokinproduktion
bei T-Lymphozyten [1]. Eine erhöhte Hormonproduktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (der sog. „Stressachse“) zeigt bei MS-Patienten einen signifikanten Zusammenhang mit der
Ausprägung der Fatigue [2].
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Der Krankheitsverlauf, die radiologisch und gewebsanalytisch fassbaren Läsionen sowie das Ansprechen auf die vorhandenen Therapien sind jedoch sehr unterschiedlich und lassen auf eine komplexe
Krankheitsentstehung schließen.
Trotz intensiver Forschungsanstrengungen in den letzten Jahrzehnten ist die Ursache der MS unbekannt. Die bisherigen Ergebnisse weisen auf eine genetische Disposition hin, jedoch auch auf einen
erheblichen Einfluss von Umweltfaktoren. Eineiige Zwillinge zeigen eine Konkordanz von nur 30%.
Große genetische Untersuchungen bestätigten eine Assoziation der Erkrankung mit einem immunrelevanten Gen, dem HLA-DR15 (DRB1.1501-DQB1.0602) Haplotyp im Haupthistokompatibilitätskomplex, jedoch konnte bisher kein weiteres Gen identifiziert werden, das sicher mit der MS assoziiert ist.
Genetische Modelle lassen vermuten, dass es nicht das „MS-Gen“ gibt, sondern dass das Zusammenspiel mehrerer Gene für die genetische Prädisposition verantwortlich ist.
Abb. 1: Kernspintomogramm eines MS-Patienten im Schub. T1-Wichtung nach Gabe von Gadolinium als Kontrastmittel. Kontrastmittel anreichernde, aktive Läsionen sind mit Pfeilen markiert.
Urheber: Für die Überlassung des Bildes danke ich Frau PD Dr. Dorothee Auer, University of Nottingham, UK.
Die experimentelle allergische Encephalomyelitis als Tiermodell der MS
Bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde nachgewiesen, dass im Tier durch
Immunisierung mit Hirngewebe eine der MS ähnliche Erkrankung mit Lähmungen, Blasenstörungen
und entzündlichen ZNS-Infiltraten ausgelöst werden kann, die sog. experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE). Später konnte gezeigt werden, dass diese Erkrankung von T-Zellen, jedoch
nicht von Antikörpern übertragen wird. Neuerdings wurden transgene Tiere generiert, deren T- und
B-Lymphozyten spezifisch ein Protein der Myelinscheide erkennen, welche die Nervenstränge umgibt – das sog. Myelin Oligodendrozyten Protein (MOG). Diese Tiere entwickeln spontan eine EAE.
Anhand dieses Modells werden derzeit in Kooperation mit dem MPI für Neurobiologie in Martinsried
pathogenetisch wichtige Faktoren und somit Ansatzpunkte für neue Therapien untersucht. Hierzu wird
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zusammen mit den Arbeitsgruppen um Jan Deussing und Bertram Müller-Myhsok die MicroarrayTechnologie angewandt, die es erlaubt, nahezu das gesamte Transkriptom der transgenen Tiere in verschiedenen klinisch und histopathologisch definierten Krankheitsstadien zu vergleichen. Unterschiede
in der Proteinexpression und Phosphorylierung werden mithilfe der Proteomics-Technologie analysiert
(Abb. 2).
Abb. 2: Untersuchung von Transkriptom und Proteom bei transgenen Mäusen mit spontan auftretender experimenteller allergener Encephalomyelitis (EAE).
Gehirn und Rückenmark von erkrankten und gesunden transgenen Mäusen wird entnommen und die mRNA (Boten-RNA) extrahiert. Mit Hilfe der Mikroarray-Analyse wird ein Profil der an- oder abgeschalteten Gene erstellt
(Transkriptom-Analyse). Zur Untersuchung des Proteoms werden die Proteine mit Hilfe einer zweidimensionalen
Elektrophorese separiert. Das Proteinmuster von erkrankten und gesunden Tieren wird verglichen und Proteine,
die sich unterscheiden, werden mit Hilfe der Massenspektroskopie identifiziert.
Urheber: Max-Planck-Institut für Psychiatrie/Weber
Die Notwendigkeit einer maßgeschneiderten Therapie
Im letzten Jahrzehnt wurden mehrere Therapien für unterschiedliche Krankheitsverläufe der MS
entwickelt. Als Basistherapie des schubförmig-remittierenden Verlaufs werden Interferon-ß (IFN-ß),
Glatirameracetat, Immunglobuline und Azathioprin eingesetzt. Bei Versagen der Basistherapeutika oder primär hoher Krankheitsaktivität kommen Mitoxantron und seit kurzem Natalizumab zum
Einsatz. Im sekundär chronisch progredientem Stadium besteht die Therapie in der Gabe von hochdosierten IFN-ß-Präparaten oder Mitoxantron. Für die primär chronisch progrediente Form steht derzeit
keine etablierte medikamentöse Behandlung zur Verfügung. Doch auch die vorhandenen Therapieoptionen vermögen lediglich den Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Eine Heilung ist nach wie vor nicht
möglich. Aufgrund des sehr variablen klinischen Verlaufs ist meist eine Beobachtungszeit von ein bis
zwei Jahren notwendig, um im Einzelfall die Wirksamkeit einer Therapie nachzuweisen. Bei der am
häufigsten angewandten Therapie – der Behandlung mit IFN-ß – rechnet man mit ca. 30 % Therapieversagern. Allerdings ist es derzeit nicht möglich, die Wirkung einer der genannten Therapien für
den individuellen Patienten vorherzusagen. Diese Prognose wäre jedoch von großer Bedeutung, unter
anderem da jede Therapie mit Nebenwirkungen verbunden sein kann und durch lange Therapiedauer
erhebliche Behandlungskosten entstehen.
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Pharmakogenetik der MS
Im Grenzgebiet von genetischer und pharmazeutischer Forschung entwickelt sich mit der Pharmakogenetik ein neues Fachgebiet, dessen Ziel darin besteht, für jeden einzelnen Patienten maßgeschneiderte Arzneien und Therapien zu entwickeln, die eine bessere Wirkung bei geringeren Nebenwirkungen
entfalten. Bislang beruhen sämtliche Aussagen über die Wirksamkeit eines Medikaments und über
dessen Risiken auf statistischen Mittelwerten, die man in klinischen Prüfungen an einem großen Patientenkollektiv gewinnt. Seit Jahrzehnten ist jedoch bekannt, dass viele der häufig verordneten Medikamente zum Teil erhebliche interindividuelle Unterschiede hinsichtlich ihrer therapeutischen Wirkung
und ihrer Nebenwirkungen aufweisen, die nicht mit bekannten Einflussfaktoren wie Alter, Körpermasse, Nieren- oder Leberfunktion erklärt werden können. Als Ursache einiger dieser Unterschiede
konnten bereits genetische Merkmale identifiziert werden. Pharmakogenetiker suchen deshalb nach
individuellen Erbmerkmalen, welche die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen. Wurden anfangs
hauptsächlich genetische Unterschiede bei Enzymen entdeckt, die Arzneimittel abbauen, so sind heute
auch Polymorphismen und genetische Varianten für andere wirkungsrelevante Prozesse bekannt, wie
für die Absorption und Verteilung sowie für Transportproteine und Rezeptoren der Arzneimittel.
Während früher in einem hypothesengeleiteten Ansatz einzelne Gene oder Proteine analysiert wurden,
die auf Grund bereits vorhandener Kenntnisse über die Erkrankung interessant erschienen, werden
heute zunehmend empirische experimentelle Ansätze verfolgt. Ermöglicht wird dies u.a. durch die Sequenzierung des humanen Genoms und die Entwicklung von Hochdurchsatz-Verfahren, die es erlauben, eine sehr große Anzahl von Genen und Proteinen in vertretbarer Zeit und mit vertretbaren Kosten
zu untersuchen.
Interindividuelle Basen-Unterschiede im Genom – bezeichnet als single nucleotide polymorphisms
(SNPs) – sind mit Hochdurchsatz-Verfahren messbar. Außerdem können so eventuelle Assoziationen
eines Allels mit Erkrankungen erkannt werden.
In Kooperation mit der Neurologischen Abteilung der Universität Würzburg und dem Institut für klinische Neuroimmunologie der LMU München – zusammen mit den Arbeitsgruppen um Manfred Uhr,
Florian Holsboer und Bertram Müller-Myhsok – wurde eine Pilotstudie durchgeführt: 675 SNPs in 93
Genen von 54 MS-Patienten, die auf die Therapie mit IFN-ß ansprachen (Therapie-Responder) wurden
mit 52 Patienten verglichen, die nicht von der Therapie profitierten (Therapie-Non-Responder). In
diesem Kollektiv waren 35 SNPs in fünf benachbarten Genen mit dem Ansprechen auf die IFN-ß-Therapie assoziiert (Abb. 3). Zwei dieser Gene erhöhten auch die Wahrscheinlichkeit, überhaupt an MS zu
erkranken. Diese Ergebnisse bedürfen allerdings noch der Replikation in einem unabhängigen Kontrollkollektiv. Aktuell wird untersucht, ob die identifizierten SNPs einen Einfluss auf die Regulierung
der Gene unter IFN-ß-Therapie besitzen.
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Abb. 3: Karte der logarithmierten p-Werte von 35 single nucleotide polymorphisms (SNPs) in fünf benachbarten
Genen, die mit dem Ansprechen auf eine Therapie mit IFN-ß assoziiert sind. Den besten Vorhersagewert für die
Wirksamkeit einer IFN-ß-Therapie hat der mit einem grünen Kreis markierte SNP in Gen MPIP-401 (relatives
Risiko: 0,106, p = 0,0003).
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Untersuchungen des humanen Proteoms
Um die Pathogenese der MS zu verstehen, genügt es nicht, nur das Genom und das Transkriptom zu
untersuchen, da ein starker Umwelteinfluss anzunehmen ist. Weil die Proteine den Phänotyp eines
Organismus am besten repräsentieren, ist eine zusätzliche Untersuchung des Proteoms, das heißt
der Gesamtheit aller Proteine eines Organismus, sinnvoll. Da pathogene T-Zellen im Tiermodell die
Erkrankung auf syngene Tiere, d.h. Tiere des gleichen Inzuchtstammes übertragen können und die
MS histopathologisch durch entzündliche Infiltrate im ZNS charakterisiert ist, wird aktuell in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe um Christoph Turck das Proteom autoreaktiver humaner T-Zellen
und histopathologisch charakterisierter MS-Läsionen verglichen (Abb. 4). Erste Ergebnisse weisen
auf Unterschiede in T-Zell-Linien verschiedener Antigenspezifität und zwischen ZNS-Läsionen hin,
bei denen eine Regeneration der Markscheiden stattfindet bzw. diese ausbleibt. In Zukunft sollen die
Untersuchungen auf den Liquor („Nervenwasser“) ausgeweitet werden.
Nervenwachstumsfaktoren
Bisher wurde in vielen Untersuchungen die entzündliche Komponente der MS in den Vordergrund
gestellt. Auch zielen alle zur Verfügung stehenden Therapien auf eine Suppression der Entzündungsreaktion ab. Allerdings findet man bei chronisch progredientem Verlauf eine klinische Verschlechterung,
ohne dass sich eine entsprechende Entzündungsaktivität nachweisen lässt. Außerdem kann eine Besserung der neurologischen Ausfälle nur durch eine Regeneration von geschädigten Neuronen erreicht
werden. Nervenwachstumsfaktoren können die Regeneration geschädigter Neurone fördern, jedoch
auch – wie neuere Untersuchungen zeigen – die Aktivität von Immunzellen modulieren. Hier scheinen
insbesondere die „glial-derived-neurothrophic-factor (GDNF) family ligands (GFLs)“ interessant.
Neurturin – ein Mitglied dieser Familie – moduliert die Tumor-Nekrose-Faktor-alpha-Produktion in
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Blutzellen. Möglicherweise hängt bei MS-Patienten die Neurturin-Produktion von den Stadien des
Schubs und der Remission ab. Weitere Untersuchungen zum Nachweis anderer GFLs und deren Rezeptoren auf eingewanderten Entzündungszellen im Gehirn von MS-Patienten sind geplant.
Ausblick
Die am Max-Planck-Institut für Psychiatrie zur Verfügung stehenden Hochdurchsatz-Verfahren zur
Erforschung des Genoms, Transkriptoms und Proteoms bieten erstmalig die Möglichkeit, die Pathogenese und Pharmakogenetik der MS empirisch, das heißt ohne hypothesengeleitete Annahmen über die
pathophysiologische Relevanz einzelner Gene zu erforschen. Die Ergebnisse der pharmakogenetischen
Pilotstudie zeigen die Durchführbarkeit dieses experimentellen Ansatzes, sodass im nächsten Schritt
ein „whole genome“-Ansatz geplant ist. Weiterhin wird die Microarray-Technik auf humane Proben,
in unserem Fall periphere Blutzellen, ausgedehnt, da sie vergleichsweise einfach verfügbar sind und in
früheren Untersuchungen nachgewiesen wurde, dass sie den Krankheitsprozess der MS in gewissem
Ausmaß reflektieren. Dieser empirische Ansatz ermöglicht überraschende und relevante Befunde für
die Pathogenese und Therapie der MS.
Abb. 4: Untersuchung des Proteoms in antigenspezifischen T-Zell-Linien und Gehirnläsionen von MS-Patienten.
Hierzu werden möglichst alle Proteine aus T-Zell-Linien verschiedener Aktivierungszustände und Antigenspezifität sowie aus Gehirnläsionen von MS-Patienten, die sich hinsichtlich der Regeneration der Myelinscheide
unterscheiden, extrahiert und mittels einer zweidimensionalen Elektrophorese aufgetrennt. Das Proteinprofil
wird verglichen und Proteine, die sich zwischen verschiedenen T-Zell-Linien oder Hirnläsionen unterscheiden,
mithilfe der Massenspektroskopie identifiziert.
Urheber: Max-Planck-Institut für Psychiatrie/Weber
Literaturhinweise
[1] Dressel, A., Vogelgesang, A., Brinkmeier, H., Mäder, M., Weber, F.:
Glatiramer acetate-specific human CD8+ T cells: Increased IL-4 production in Multiple Sclerosis
is reduced by glatiramer acetate treatment.
Journal of Neuroimmunology 181, 133-140 (2006).
[2] Gottschalk, M., Kümpfel, T., Flachenecker, P., Uhr, M., Trenkwalder, C., Holsboer, F., Weber, F.:
Fatigue and regulation of the hypothalamo-pituitary-adrenal axis in multiple sclerosis.
Archives of Neurology 62(2), 277-80 (2005).
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