Vorlesung: Funktionentheorie und Vektoranalysis Annette A’Campo–Neuen Universität Basel, Herbstsemester 2017 Inhaltsverzeichnis zur Vorlesung Funktionentheorie und Vektoranalysis 1 Differentialrechnung im Komplexen 4 1.1 Komplexe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.3 Umkehrfunktionen und biholomorphe Abbildungen . . . . . . . . . . 15 2 Wegintegrale im Komplexen 21 2.1 Komplexe Wegintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2 Cauchyscher Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Cauchyformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3 Holomorphe Funktionen 3.1 Exkurs: Konvergenz von Reihen . . . . . . . . 3.2 Potenzreihen und komplexe Taylorentwicklung 3.3 Nullstellen holomorpher Funktionen . . . . . . 3.4 Singularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Riemannsche Zahlenkugel . . . . . . . . . . . . . . . . 35 35 40 50 53 58 4 Residuen 4.1 Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Umlaufzahlversion des Residuensatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Residuenkalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 61 64 66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fouriertheorie 74 5.1 Fourierreihen und Laurententwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.2 Fouriertransformation und Faltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5.3 Diracsche Deltafunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6 Vektoranalysis 6.1 Glatte Kurven und Flächen in R3 . . . . . 6.2 Extremwertaufgaben mit Nebenbedingung 6.3 Integration auf Flächen . . . . . . . . . . . 6.4 Integralsatz für die Ebene: Satz von Green 6.5 Satz von Gauss . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Rotation und der Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 88 94 97 103 107 112 Inhaltsverzeichnis zur Vorlesung Funktionentheorie und Vektoranalysis 3 Die Vorlesung, die an den zweisemestrigen Zyklus Mathematische Methoden I und II anschliesst, besteht im wesentlichen aus zwei Themenblöcken, nämlich Funktionentheorie einerseits und Vektoranalysis andererseits. Beide Themen spielen in der Physik eine zentrale Rolle, die Funktionentheorie u.a. in der Strömungslehre und die Vektoranalysis zum Beispiel in der Elektrodynamik. Mit dem Begriff Funktionentheorie wird im deutschen Sprachraum traditionellerweise die Analysis der Funktionen in einer komplexen Variablen bezeichnet. Die Grundlagen einer Theorie komplex-differenzierbarer, sogenannter holomorpher Funktionen wurden im 19. Jahrhundert vor allem von Cauchy, Riemann und Weierstrass entwickelt. Cauchy untersuchte Integraldarstellungen einer holomorphen Funktion, Riemann betrachtete die geometrischen Eigenschaften der holomorphen Funktionen als Abbildungen zwischen Gebieten in der komplexen Ebene und Weiterstrass schliesslich ging aus von Funktionen, die sich lokal in konvergente Potenzreihen entwickeln lassen. Ihre unterschiedlichen Standpunkte ergänzen sich, und wir werden all diese Zugänge ausführlicher kennenlernen. Der Zielpunkt dieses Themenblocks ist das Residuenkalkül, mit dem sich gewisse uneigentliche reelle Integrale auf dem Umweg übers Komplexe einfach berechnen lassen. Im Themenblock zur reellen Vektoranalysis werden reelle Vektorfelder und die Integralsätze von Gauss und Stokes behandelt, die sowohl in der Elektrodynamik als auch in der Differentialgeometrie grundlegend sind. Kapitel 1 Differentialrechnung im Komplexen 1.1 Komplexe Funktionen Erinnern wir zunächst an die Konstruktion der komplexen Zahlen. Die Menge C := {a + ib | a, b ∈ R} wird zu einem Körper, indem man Addition und Multiplikation folgendermassen erklärt: (a + ib) + (c + id) := (a + c) + i(b + d) und (a + ib)(c + id) := (ac − bd) + i(ad + bc) . Diese Regeln ergeben sich zwangsläufig, wenn man verlangt, dass i2 = −1 sein soll und ausserdem alle üblichen Körperrechenregeln gelten. Wir können die reellen Zahlen als Teilmenge von C auffassen, indem wir a ∈ R als Zahl a + i · 0 auffassen. Das Nullelement in C ist die Zahl 0 + i0, die wir mit 0 ∈ R identifizieren, und das multiplikative Inverse einer Zahl z = a + ib 6= 0 lautet, wie man direkt nachrechnen kann, a b (a + ib)−1 = 2 −i 2 . 2 a +b a + b2 Der Körper C hat einen wichtigen Automorphismus über R, nämlich die komplexe Konjugation z = a + ib 7→ z := a − ib . Damit ist gemeint, dass diese Zuordnung mit Addition und Multiplikation verträglich ist. Gleichzeitig ist dies (ausser der identischen Abbildung) der einzige Körperautomorphismus von C, der alle reellen Zahlen festhält. Wir können die komplexen Zahlen mit den Punkten einer Ebene identifizieren, indem wir Real- bzw. Imaginärteil als kartesische Koordinaten verwenden. Man spricht deshalb auch von der komplexen Zahlenebene. Bei der Beschreibung in Polarkoordinaten wird zur Festlegung eines Punktes z = x + iy 6= 0 in der Ebene R2 sein Abstand r zum Nullpunkt und der Winkel ϕ, den der Ortsvektor mit der positiven x-Achse einschliesst, verwendet. Es gelten die folgenden Beziehungen: x = r cos ϕ und y = r sin ϕ . Auf Euler geht die folgende Schreibweise zurück: z = r(cos ϕ + i sin ϕ) = reiϕ . Diese Schreibweise wird in Analogie zur reellen Exponentialfunktion verwendet, weil auch hier wieder das charakteristische Gesetz der Exponentialfunktion gilt, nämlich: ei(ϕ+ψ) = eiϕ · eiψ . 1.1. Komplexe Funktionen 5 Hinter dieser Kompaktschreibweise verbergen sich die Additionstheoreme von Sinus und Cosinus. Die Addition und Multiplikation von komplexen Zahlen lässt sich mithilfe der Zahlenebene nun folgendermassen geometrisch deuten: die Addition entspricht der Vektoraddition und man multipliziert zwei komplexe Zahlen, indem man die Längen der entsprechenden Ortsvektoren multipliziert und die Winkel, die sie mit der positiven x-Achse einschliessen, addiert. Die komplexe Konjugation entspricht einer Spiegelung an der reellen Achse. Eine der wichtigsten Aussagen über komplexe Zahlen ist der Fundamentalsatz der Algebra: 1.1.1 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + · · · + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es eine komplexe Zahl z0 ∈ C mit p(z0 ) = 0. Man sagt hierzu auch, der Körper C ist algebraisch abgeschlossen. Durch vollständige Induktion kann man hieraus schliessen, dass p sogar (mit Vielfachheit gezählt) genau n komplexe Nullstellen besitzt. Genauer gilt folgendes: 1.1.2 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es komplexe Zahlen z1 , . . . , zn ∈ C mit z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ) . Die Liste der zj besteht aus sämtlichen Nullstellen des Polynoms p, dabei können Nullstellen auch mehrfach aufgelistet sein. Die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Nullstelle in der Liste vorkommt, bezeichnet man als Vielfachheit der Nullstelle. 1.1.3 Folgerung Ist V ein zweidimensionaler Vektorraum über C, so gibt es keine Multiplikation auf V , die V zu einem Körper macht. Die Körpererweiterung von R zu C lässt sich also nicht iterieren. Beweis. Wählen wir eine Basis 1, v für V über C. Gäbe es eine entsprechende Multiplikation, müsste v 2 sich als Linearkombination der Form v 2 = a0 +a1 v mit a1 , a2 ∈ C schreiben lassen. Aber dann wäre v eine Nullstelle eines quadratischen komplexen Polynoms p. Wäre V ein Körper, hätte p auch über V höchstens zwei Nullstellen. Also müsste v mit einer der komplexen Nullstellen von p übereinstimmen. Dies ist ein Widerspruch. q.e.d. Hat das Polynom p reelle Koeffizienten, so besteht die Nullstellenmenge in C aus reellen Zahlen und Paaren von zueinander konjugierten “echt” komplexen Zahlen. Denn wir können folgendes festhalten: 1.1.4 Bemerkung Sind alle Koeffizienten des Polynoms p reell, und ist w eine Nullstelle, so ist auch w eine Nullstelle und zwar von derselben Vielfachheit. Beweis. Sind alle Koeffizienten ak des Polynoms p reell, so folgt mit den Rechenregeln für die komplexe Konjugation aus p(w) = 0: 0 = p(w) = w n + an−1 w n−1 + . . . + a1 w + a0 = wn +an−1 w n−1 +. . .+a1 w+a0 = p(w) . 6 Kapitel 1. Differentialrechnung im Komplexen Das bedeutet: Ist w eine Nullstelle von p, so auch w. Ist ausserdem w 6= w, so können wir p durch das quadratische Polynom q := (z−w)(z−w) = z 2 −(w+w)z+w·w teilen. Da w + w = 2 Re(w) und w · w = |w|2 reelle Zahlen sind, ist q ein reelles Polynom. Nach Teilung von p durch q bleibt also ein reelles Polynom kleineren Grades übrig. Per Induktion über den Grad kann man nun schliessen, dass die Vielfachheiten der Nullstelle w und der Nullstelle w miteinander übereinstimmen. q.e.d. 1.1.5 Folgerung Hat ein reelles Polynom p eine Nullstelle w ∈ C \ R, so kann man, wie eben gezeigt, über den reellen Zahlen einen quadratischen Faktor von p abspalten, nämlich q := (z − w)(z − w) = z 2 − (w + w)z + w · w. Durch vollständige Induktion folgt hieraus, dass jedes Polynom mit reellen Koeffizienten sich vollständig in ein Produkt aus linearen oder quadratischen Polynomfaktoren zerlegen lässt. 1.1.6 Beispiel Das Polynom f (x) = x4 + 5x2 + 4 lässt sich schreiben als f (x) = (x2 + 1)(x2 + 4) und hat die komplexen Nullstellen ±i und ±2i. Wenden wir uns nun Teilmengen der komplexen Zahlenebene zu. Wir wollen eine Teilmenge U ⊂ C offen nennen, wenn die entsprechende Teilmenge in R2 offen ist. Wir übernehmen also die Topologie von R2 . 1.1.7 Definition Eine Teilmenge G ⊂ C heisst Gebiet, wenn G offen und zusammenhängend ist. Letzteres bedeutet, dass G nicht als disjunkte Vereinigung von zwei in G abgeschlossenen Teilmengen dargestellt werden kann. Hier eine Reihe von häufig vorkommenden Beispielen. 1.1.8 Beispiele • C oder C∗ := C \ {0}; • die obere Halbebene H := {z ∈ C | Im(z) > 0}; • die geschlitzte Ebene {z ∈ C | z ∈ / R<0 }; • die Einheitskreisscheibe E := {z ∈ C | |z| < 1}; • eine Kreisscheibe Kr (z0 ) := {z ∈ C | |z − z0 | < r} von Radius r > 0 um den Punkt z0 ; • ein Kreisring {z ∈ C | r < |z − z0 | < R} (0 < r < R fest gewählt) um den Punkt z0 ; • ein horizontaler Streifen {z ∈ C | y1 < Im(z) < y2 }. Betrachten wir jetzt komplexwertige Funktionen, definiert auf Gebieten der komplexen Ebene. Sei dazu G ⊂ C ein Gebiet und f : G → C eine Zuordnung. Die Funktion f ist stetig im Punkt z0 ∈ G, wenn für jede gegen z0 konvergierende Folge von Punkten zn ∈ G gilt: lim f (zn ) = f (z0 ) . n→∞ 1.1. Komplexe Funktionen 7 Dabei verwenden wir den Konvergenzbegriff von Punktfolgen in R2 . Wie im reellen Fall kann man einsehen, dass zum Beispiel alle komplexen Polynomfunktionen stetig (wobei p, q komplexe Polynome sind sind. Auch jede Funktion der Form f (z) = p(z) q(z) und z ∈ C, q(z) 6= 0), ist stetig. Um sich eine solche Funktion zu veranschaulichen, gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann die (dreidimensionalen) Graphen des Realteils und des Imaginärteils der Funktion betrachten, oder die Funktion als Transformation eines Teils der Ebene auffassen. Schauen wir uns einige Beispiele genauer an. 1. Sei z0 ∈ C fest gewählt. Die Funktion f : C → C, z 7→ z + z0 , beschreibt eine Parallelverschiebung der Ebene um den Vektor z0 . 2. Die Multiplikation mit der komplexen Zahl i bewirkt eine Drehung der komplexen Ebene um 90◦ . 3. Sei jetzt allgemeiner a > 0, ψ ∈ R fest gewählt und w = aeiψ . Die Multiplikationsabbildung f : C → C, z = reiϕ 7→ w · z = arei(ϕ+ψ) , beschreibt eine Drehung um den Nullpunkt um den Winkel ψ, gefolgt von einer Streckung um den Faktor a. Man spricht hier von einer Drehstreckung. 4. Die komplexe Konjugation C → C, z 7→ z entspricht der Spiegelung an der reellen Achse. Und die Funktion z 7→ i · z beschreibt die Spiegelung an der Winkelhalbierenden. 5. Die Abbildung f : C → C, z 7→ z 2 schreibt sich in Polarkoordinaten so: reiϕ 7→ r 2 ei2ϕ . Auf dem Einheitskreis zum Beispiel bewirkt diese Abbildung also jeweils eine Verdopplung des Winkels. Die rechte Halbebene G = {z ∈ C | Re(z) > 0} wird von f bijektiv auf die geschlitzte Ebene abgebildet. Denn mit Polarkoordinaten können wir die rechte Halbebene so beschreiben: G = {reiϕ | r > 0, − π2 < ϕ < π2 }, also ist f (G) = {reiϕ | r > 0, −π < ϕ < π} . Und dies ist nichts anderes als die oben beschriebene längs der negativen xAchse geschlitzte Ebene. z−i definiert eine Bijektion von der oberen Halbebene z+i H auf die Einheitskreisscheibe E. Denn diejenigen Punkte der komplexen Zahlenebene, die von i und −i gleich weit entfernt sind, bilden gerade die reelle Achse, während sämtliche Punkte oberhalb der reellen Achse näher an i als an −i liegen. Sämtliche Punkte unterhalb der reellen Achse sind von i weiter entfernt also von −i. Das bedeutet für z ∈ C \ {i}: 6. Die Zuordnung f : z 7→ f (z) ∈ E ⇔ |z − i| < |z + i| ⇔ z ∈ H = {z ∈ C | Im(z) > 0} . Ausserdem ist die Zuordnung umkehrbar und daher bijektiv, denn aus f (z) = 1+w w folgt z = i · 1−w . 8 Kapitel 1. Differentialrechnung im Komplexen Die komplexe Exponentialfunktion kann man folgendermassen definieren. Für z = x + iy (x, y ∈ R) setzen wir exp(z) = ez := ex · eiy = ex (cos y + i sin y) . Diese Vorschrift garantiert, dass auch für die komplexe Exponentialfunktion die bekannten Potenzrechenregeln gelten, und sie definiert eine stetige Funktion. Weil die reelle Exponentialfunktion nur positive Werte annimmt, ist das Bild der komplexen Exponentialfunktion die punktierte Ebene C \ {0}. Die Funktion exp ist periodisch in y mit Periode 2π, wenn wir sie aber einschränken, zum Beispiel auf den horizontalen Streifen zwischen −π und π, erhalten wir eine Bijektion mit der geschlitzten Ebene: exp: S = {z ∈ C | −π < Im(z) < π} → G = {z ∈ C | z ∈ / R≤0 } . Dabei werden Parallelen zur x-Achse auf Halbstrahlen in der geschlitzten Ebene abgebildet, und senkrechte Abschnitte der Form {a + iy | y ∈ R, −π < y < π} (a ∈ R fest) gehen über in Kreislinien um den Nullpunkt von Radius ea , denen der Schnittpunkt mit der negativen reellen Achse fehlt. Da die Exponentialfunktion als Abbildung von S nach G bijektiv ist, können wir sie dort umkehren und erhalten so den sogenannten Hauptzweig des komplexen Logarithmus, nämlich: ln: G = {reiϕ | −π < ϕ < π} → S, ln(reiϕ ) = ln(r) + iϕ . πi exp Re 0 bc 1 1 e Re ln −πi 1.2 Komplexe Differenzierbarkeit Analog zum reellen Fall definiert man komplexe Differenzierbarkeit folgendermassen: 1.2.1 Definition Sei G ⊂ C ein Gebiet und f : G → C eine komplexwertige Funktion. Die Funktion f ist komplex differenzierbar an der Stelle z0 ∈ G, falls der Grenzwert f (z0 + z) − f (z0 ) = f ′ (z0 ) lim z→0 z existiert. Ist dies der Fall, bezeichnet man f ′ (z0 ) als die komplexe Ableitung von f an der Stelle z0 . 1.2. Komplexe Differenzierbarkeit 9 Äquivalent dazu ist die schon aus der reellen Situation bekannte Dreigliedentwicklung: 1.2.2 Bemerkung Die komplexe Funktion f : G → C ist genau dann an der Stelle z0 ∈ G komplex differenzierbar, wenn es eine Zahl w ∈ C, eine Kreisscheibe Kǫ (z0 ) ⊂ G und eine Funktion r: K := Kǫ (0) → C gibt, so dass für alle z ∈ K gilt: f (z0 + z) = f (z0 ) + w · z + r(z) , wobei limz→0 r(z) = 0. Ist dies der Fall, so ist w = f ′ (z0 ). z 1.2.3 Folgerung Ist eine komplexe Funktion komplex differenzierbar, so ist sie auch stetig. Für die komplexe Ableitung gelten analoge Rechenregeln wie für die reelle Ableitung von reellwertigen Funktionen in einer reellen Variablen, nämlich die Summenregel, die Produktregel, die Quotientenregel und die Kettenregel. Die Beweise lassen sich wörtlich übertragen. Zum Beispiel ist die Ableitung der Funktion f (z) = z n (n ∈ N, z ∈ C) wie erwartet f ′ (z) = nz n−1 für alle z ∈ C. Dies ergibt sich durch vollständige Induktion aus der Produktregel. Mithilfe der Quotientenregel kann man zeigen, dass die Ableitung der Funktion g: C∗ → C, definiert durch g(z) = z1 , lautet: g ′ (z) = − z12 . Ist p eine Polynomfunktion von Grad n der Form p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 , dann gilt wegen der elementaren Rechenregeln für Ableitungen analog zum reellen Fall: p′ (z) = nz n−1 + an−1 (n − 1)z n−2 + . . . + a1 . Die Ableitung p′ ist also eine Polynomfunktion von Grad n − 1. Auch sämtliche rationalen Funktionen in einer komplexen Variablen sind komplex differenzierbar. Die komplexe Ableitung können wir mithilfe der Quotientenregel bestimmen. 1.2.4 Bemerkung Die komplexe Konjugation ist an keiner Stelle komplex differenzierbar. Denn sei z0 ∈ C fest gewählt. Dann ist z0 + ti − z0 z0 + t − z0 = −1 6= 1 = lim . t∈R,t→0 t∈R,t→0 ti t lim Die komplexe Ableitung an der Stelle z0 kann also nicht existieren. Kommen wir nun zu einer weiteren Charakterisierung der komplexen Differenzierbarkeit. Dazu werden wir komplexwertige Funktionen in einer komplexen Variablen als Funktionen in zwei reellen Variablen mit Werten in R2 interpretieren. Ein vorgegebenes Gebiet G ⊂ C können wir natürlich als Teilmenge D des R2 auffassen, indem wir setzen D := {(x, y) ∈ R2 | x + iy ∈ G}. Ist f : G → C nun eine komplexwertige Funktion auf einem Gebiet G, so können wir die Bilder von f jeweils in Real- und Imaginärteil zerlegen, und erhalten so reellwertige Funktionen u, v auf D: f (x + iy) = u(x, y) + iv(x, y). 10 Kapitel 1. Differentialrechnung im Komplexen Der komplexen Funktion f entspricht also die reelle Abbildung u(x, y) 2 F : D → R , (x, y) 7→ . v(x, y) Schauen wir uns zunächst lineare Abbildungen genauer an. Wenn wir C mit R2 identifizieren, können wir jede (über R) lineare Abbildung L: C → C als Multiplikation mit einer festen reellen 2 × 2-Matrix A beschreiben. 1.2.5 Bemerkung Eine R-lineare Abbildung L: C → C ist genau dann C-linear, wenn zusätzlich L(iz) = iL(z) gilt für alle z ∈ C. Anders gesagt, L ist C-linear, wenn es sich um die Multiplikation mit einer festen komplexen Zahl w = a + ib handelt. Dies dazu, dass die zugehörige reelle 2 × 2-Matrix von der ist äquivalent a −b Form A = ist. Geometrisch bedeutet dies, dass die lineare Abbildung b a eine Drehstreckung der Gaussschen Ebene ist. 1.2.6 Beispiel Die Multiplikation mit i entspricht der Drehung um90◦ , die wie 0 −1 derum durch die Multiplikation mit der Drehmatrix A = beschrieben 1 0 wird. Erinnern wir nun zunächst an die Definition der Differenzierbarkeit einer reellen Transformation F : D ⊂ R2 → R2 . 1.2.7 Definition Die Funktion F heisst reell differenzierbar an der Stelle p ∈ D, wenn es eine R-lineare Abbildung L: R2 → R2 gibt derart, dass |F (p + h) − F (p) − L(h)| = 0. h→0 |h| lim Ist dies der Fall, so ist die lineare Abbildung L eindeutig bestimmt und wird als Differential DFp von F an der Stelle p bezeichnet. Die reelle Differenzierbarkeit bedeutet, dass sich die Transformation F lokal in der Nähe von p gut durch eine konstante plus eine lineare Transformation approximieren lässt. Denn es gilt für alle (betragsmässig genügend kleinen) 0 6= h ∈ R2 : F (p + h) = F (p) + DFp (h) + R(h) , wobei der “Rest” R eine reelle Funktion nach R2 ist mit lim|h|→0 |R(h)| = 0. An jeder |h| Stelle p ist das Differential von F eine lineare Selbstabbildung von R2 , wird also durch eine reelle 2 × 2-Matrix dargestellt, nämlich die Jacobimatrix , bestehend aus allen partiellen Ableitungen an der Stelle p der Komponenten von F . Vergleichen wir jetzt komplexe und reelle Differenzierbarkeit, stellen wir folgendes fest: 1.2. Komplexe Differenzierbarkeit 11 1.2.8 Satz Die Funktion f : G → C ist genau dann im Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ G komplex differenzierbar, wenn die entsprechende Abbildung F : D → R2 im Punkt (x0 , y0 ) reell differenzierbar ist und das Differential DF(x0 ,y0 ) von F an dieser Stelle C-linear ist. Das bedeutet, dass die lineare Abbildung DF(x0 ,y0 ) eine Drehstreckung ist und sich daher als Multiplikation mit einer komplexen Zahl auffassen lässt. Diese komplexe Zahl wiederum ist nichts anderes als die komplexe Ableitung von f bei z0 . 1.2.9 Beispiele • Die Funktion f (z) = z 2 (z ∈ C) hat die komplexe Ableitung f ′ (z) = 2z. Es ist also f ′ (x + iy) = (2x) + i(2y). Zu der Funktion f (z) = z 2 auf G = C gehört die Abbildung 2 x − y2 2 2 . F : R → R , F (x, y) = 2xy Denn hier ist f (x + iy) = (x + iy)2 = (x2 − y 2 ) + i(2xy). Die Jacobimatrix von F an der Stelle (x, y) lautet 2x −2y . 2y 2x Die Einträge in der ersten Spalte der Jacobimatrix stimmen also wie erwartet mit dem Real- bzw. Imaginärteil von f ′ überein. • Die komplexe Konjugation C → C, z 7→ z ist zwar überall reell differenzierbar. Denn die entsprechende reelle Abbildung von R2 nach R2 ist die Spiegelung an der reellen Achse. Da es sich bereits um eine lineare Abbildung handelt, stimmt das Differential anjeder Stelle mit dieser Spiegelung überein. Die ent1 0 sprechende Matrix lautet , es ist also keine Drehstreckung! Deshalb 0 −1 lässt sich das Differential nicht als Multiplikation mit einer komplexen Zahl auffassen. Und, wie oben bereits auf andere Weise gezeigt, ist die komplexe Konjugation ja auch an keiner Stelle komplex differentierbar. Wir können die Drehstreckungen auch als diejenigen linearen Abbildungen von R2 nach R2 charakterisieren, die winkeltreu und orientierungserhaltend sind (siehe Übungsaufgabe). Daraus ergibt sich folgende Umformulierung des Satzes: 1.2.10 Folgerung Die Funktion f : G → C ist genau dann im Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ G komplex differenzierbar, wenn die entsprechende Abbildung F : D → R2 im Punkt (x0 , y0 ) reell differenzierbar ist und das Differential DF(x0 ,y0 ) von F an der Stelle (x0 , y0 ) winkeltreu und orientierungserhaltend oder die Nullabbildung ist. Ist diese Bedingung erfüllt und f ′ (z0 ) 6= 0, so bedeutet dies genauer folgendes: Sind γ1 und γ2 parametrisierte Kurven im Gebiet G, die sich im Punkt z0 unter dem Winkel α schneiden, so werden sie von f in ein Kurvenpaar überführt, das sich im Punkt f (z0 ) ebenfalls unter dem Winkel α schneidet. Eine komplexe Funktion mit dieser Eigenschaft heisst (bei z0 ) lokal konform. 12 Kapitel 1. Differentialrechnung im Komplexen γ1 z0 b f α f (z0 ) b α f (γ1) f (γ2) γ2 Beweis. Denn ist γj : (−ǫ, ǫ) → G mit γj (0) = z0 , folgt aus der Kettenregel d (F (γj (t)) = DFz0 (γ̇j (0)) . dt t=0 Das Differential DFz0 bildet also den Tangentialvektor der Kurve γj bei z0 auf den Tangentialvektor der Kurve f ◦ γj an der Stelle f (z0 ) ab. Wenn das Differential winkeltreu und orientierungserhaltend ist, müssen also die Winkel zwischen den beiden Tangentialvektoren erhalten bleiben. q.e.d. 1.2.11 Definition Eine komplexe Funktion, die auf einem Gebiet G überall komplex differenzierbar ist, wird als holomorph auf G bezeichnet. Ist ausserdem f ′ (z) 6= 0 für alle z ∈ G, so ist f auf G lokal konform. Bezeichnen wieder u und v den Realteil bzw. den Imaginärteil von f , und ver, uy := ∂u wenden wir für die partiellen Ableitung von u die Schreibweise ux := ∂u ∂x ∂y (und entsprechend für v), so lautet die Jacobimatrix von F an der Stelle (x0 , y0 ): ux (x0 , y0 ) uy (x0 , y0 ) JF (x0 , y0 ) = . vx (x0 , y0 ) vy (x0 , y0 ) Das Differential DFx0 ,y0 ist also genau dann eine Drehstreckung (oder die Nullmatrix), wenn ux (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0 ) und uy (x0 , y0) = −vx (x0 , y0) . Diese Beobachtung liefert folgendes Kriterium: 1.2.12 Satz Eine Funktion f : G → C ist genau dann holomorph auf G, wenn die entsprechende Abbildung F : D → R2 auf ganz D reell differenzierbar ist und die sogenannten Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt sind, nämlich: ux = vy und uy = −vx auf ganz D. Ist dies der Fall, so ist f ′ (x + iy) = ux (x, y) + ivx (x, y) für alle x + iy ∈ G. Wenden wir dies Kriterium nun an, um die Ableitung der komplexen Exponentialfunktion zu bestimmen. 1.2. Komplexe Differenzierbarkeit 13 1.2.13 Beispiel Die komplexe Exponentialfunktion ist gegeben durch ez = ex eiy für z = x + iy. Hier lautet also der Realteil u(x, y) = ex cos(y) und der Imaginärteil v(x, y) = ex sin(y). Die partiellen Ableitungen sind ux (x, y) = ex cos(y) = u(x, y), uy (x, y) = −ex sin(y), vx (x, y) = ex sin(y) = v(x, y), vy (x, y) = ex cos(y). Also sind die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen hier erfüllt, und die komplexe Exponentialfunktion ist holomorph. Ausserdem stimmt die Ableitung der komplexen Exponentialfunktion (wie schon im reellen Fall) mit sich selbst überein. Hier sind noch zwei weitere Beispiele: 1.2.14 Beispiele Die Funktion f : C → C, definiert durch f (x+iy) = (x2 −y 2 +x)+ i(y+2xy) hat den Realteil u(x, y) = x2 −y 2 +x und den Imaginärteil v(x, y) = y+2xy. Berechnet man die partiellen Ableitungen von u und v erhält man ux (x, y) = 2x + 1 = vy (x, y) und uy (x, y) = −2y = −vx (x, y) . Die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen sind also erfüllt und das heisst, f ist holomorph. Ausserdem ist f ′ (x + iy) = ux (x, y) + ivx (x, y) = 1 + 2x + i2y. Man hätte dies auch direkt sehen können, denn tatsächlich ist f (z) = z + z 2 , also holomorph mit f ′ (z) = 1 + 2z. Die Funktion g: C → C mit Realteil u(x, y) = x2 − y 2 + x und Imaginärteil v(x, y) = 2xy − y ist dagegen nicht holomorph, denn hier gilt ux (x, y) = 2x + 1 6= vy (x, y) = 2x − 1. Die Cauchy-Riemann-Bedingung ist also sogar an keiner einzigen Stelle des Definitionsbereiches erfüllt. Wir können ausserdem festhalten, dass eine holomorphe Funktion durch ihren Realteil bereits bis auf Konstante eindeutig festgelegt ist. Denn der dazu passende Imaginärteil muss ja dann die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllen. 1.2.15 Beispiel Nehmen wir an, der Realteil u(x, y) = xy + 2x für (x, y) ∈ R2 sei vorgegeben und v bezeichne einen dazu passenden Imaginärteil, so dass u + iv = f holomorph ist. Versuchen wir v aus u zu rekonstruieren. Es muss gelten ux (x, y) = y + 2 = vy (x, y) . Daraus ergibt sich durch Integration über y: Z Z y2 v(x, y) = vy (x, y)dy + C(x) = (y + 2)dy + C(x) = + 2y + C(x) , 2 wobei C: R → R eine Funktion ist, die nur von x abhängt. Setzt man nun in die zweite Cauchy-Riemann-Gleichung ein, erhält man die Bedingung: −uy (x, y) = −x = vx (x, y) = C ′ (x) . R 2 Also ist C(x) = − x dx + c = − x2 + c für eine geeignete Konstante c ∈ R. Das bedeutet: x2 y2 + 2y − + c. v(x, y) = 2 2 14 Kapitel 1. Differentialrechnung im Komplexen Die sich daraus ergebende Funktion y 2 − x2 f (x + iy) = xy + 2x + i( + 2y + c) (c ∈ R konstant) 2 ist nach Konstruktion tatsächlich holomorph. Es ist nichts anderes als die Funktion f (z) = 2z − 12 iz 2 + ic. Wie wir gesehen haben, lässt sich die Exponentialfunktion vom Reellen ins Komplexe fortsetzen. Auch die trigonometrischen Funktionen haben komplexe Entsprechungen, die man mithilfe der Exponentialfunktion definieren kann, indem man festsetzt: 1 cos(z) := (eiz + e−iz ) und 2 sin(z) := 1 iz (e − e−iz ) für z ∈ C. 2i Real- und Imaginärteil der komplexen Cosinusfunktion lauten Re cos(x + iy) = cos(x) cosh(y) und Im cos(x + iy) = − sin(x) sinh(y). Die so definierten komplexen Funktionen sind holomorph und es gilt: d sin(z) = cos(z), dz d cos(z) = − sin(z) für z ∈ C. dz Ausserdem bleiben die bekannten Identitäten auch im Komplexen gültig. Zum Beispiel kann man durch Nachrechnen überprüfen, dass sin2 (z) + cos2 (z) = 1 für alle z ∈ C. Fassen wir noch einmal zusammen. Wir haben nun folgende Charakterisierungen holomorpher Funktionen kennengelernt: 1.2.16 Satz Eine Funktion f : G → C auf einem Gebiet G ⊂ C ist genau dann holomorph, wenn eine der folgenden äquivalenten Bedingungen erfüllt ist: • An jeder Stelle z0 ∈ G existiert die komplexe Ableitung f ′ (z0 ) = limz→z0 f (z)−f (z0 ) . z−z0 • f ist reell differenzierbar und das Differential Dfz0 ist C-linear für alle z0 ∈ G. • f ist reell differenzierbar und lokal konform überall dort, wo das Differential nicht verschwindet. Ausserdem gilt: • Seien u, v: G → R stetig partiell differenzierbar. Eine komplexe Funktion mit Realteil u und Imaginärteil v ist holomorph auf G genau dann, wenn u und v die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllen.