1999-17 Frühzeitige Diagnose einer familiären adenomatösen

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Schweiz Med Wochenschr 1999;129:665–9
Peer reviewed article
K. Heinimanna, Ch. Kunzb, E. Farine c,
J.-P. Rey d, Hj. Müller a,e, Z. Dobbiea
a
b
c
d
e
FG Humangenetik, Departement Forschung,
Kantonsspital Basel
Klinik für Wiederherstellende Chirurgie,
Kantonsspital Basel
Médecine générale FMH, Vicques
Médecine interne – maladies digestives FMH,
Courroux
Abteilung Medizinische Genetik,
Universitäts-Kinderklinik beider Basel
Kasuistik
Frühzeitige Diagnose einer
familiären adenomatösen Polypose
wegen multipler Osteome
des Gesichtsschädels1
Summary
Early diagnosis of familial adenomatous
polyposis based on multiple osteomas
of the skull
We describe a 21-year-old patient hospitalised
because of a dislocated mandibular fracture
and accidentally found to have multiple osteomas of the skull. A subsequent gastroenterological examination revealed the presence of
multiple polyps in the large intestine, typical
of familial adenomatous polyposis. A disease
causing germline mutation in the adenomatous
polyposis coli gene was identified by molecular genetic analysis. Although extracolonic
features such as multiple osteomas, multiple
epidermal cysts and desmoids are frequently
found, most cases without a family history of
familial adenomatous polyposis or colorectal
cancer are only diagnosed because of colonic
disease manifestations with colorectal cancer
already present. This case report strikingly illustrates that in the absence of a family history
the presence of extracolonic features allows
presymptomatic diagnosis in familial adenomatous polyposis patients before colorectal
cancer has developed.
Keywords: familial adenomatous polyposis;
osteoma; APC gene; mutation
Zusammenfassung
Bei einem 21jährigen Patienten, der wegen
einer dislozierten Unterkiefer-Fraktur hospitalisiert wurde, fanden sich als radiologischer
Zufallsbefund multiple Osteome des Gesichtsschädels. Bei einer anschliessend veranlassten
gastroenterologischen Untersuchung wurden
multiple Polypen im Kolorektum gefunden,
wie sie für die familiäre adenomatöse Polypose
(FAP) typisch sind. Die verantwortliche Mutation im sogenannten Adenomatous-polyposisColi-Gen konnte molekulargenetisch nachgewiesen werden. Obwohl sich bei FAP-Patienten häufig extrakolonische Krankheitsmerkmale (z.B. multiple Osteome, Epidermoid-
1 Diese Arbeit wurde vom Schweizerischen Nationalfonds
Nr. 3200-049310.96 und der Krebsliga beider Basel
unterstützt.
zysten, Desmoide) finden, werden die meisten
Fälle ohne typische Familienanamnese nur
aufgrund ihrer kolonischen Manifestationen
und erst nach Auftreten eines kolorektalen
Karzinoms (KRK) diagnostiziert. Dieses Fallbeispiel illustriert eindrücklich, dass bei negativer Familienanamnese das Vorhandensein
von extrakolonischen Krankheitsmerkmalen
eine frühzeitige Diagnose von familiärer
adenomatöser Polypose erlaubt, noch bevor
sich ein KRK entwickelt hat.
Keywords: familiäre adenomatöse Polypose;
Osteom; APC-Gen; Mutation
Korrespondenz:
Dr. phil. Z. Dobbie,
FG Humangenetik,
Departement Forschung,
Kantonsspital,
Hebelstrasse 20,
CH-4031 Basel
665
Kasuistik
Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 17
Fallvorstellung
Der 21jährige Patient S. M. wurde zur operativen Versorgung einer
dislozierten Mandibula-Fraktur links hospitalisiert, die er sich bei
der Arbeit durch den Schlag eines reissenden Seils ins Gesicht zugezogen hatte. Im präoperativen Orthopantomogramm wurden als
Zufallsbefund mehrere Osteome im Bereich von Mandibula und
Maxilla entdeckt (Abb. 1). Individual- und Familienanamnese ergaben keinerlei Hinweise auf das Vorliegen einer hereditären
Prädisposition für Tumorkrankheiten. Da jedoch das Vorkommen
von multiplen Osteomen ein typisches extrakolonisches Merkmal
der familiären adenomatösen Polypose (FAP) darstellt und 30–50%
dieser Patienten wegen einer Neumutation im «Adenomatous Polyposis Coli» (APC)-Gen erkranken, wurde trotz negativer Familienanamnese eine gastroenterologische Abklärung durchgeführt.
Bei der Kolonoskopie fanden sich 70–90 adenomatöse, leichtgradig
dysplastische Polypen (davon etwa 20 im Rektum, 15–20 im Sigmoid, 10–15 im Colon descendens, 15–20 im Colon transversum
und ein Dutzend im Bereich des Zäkums), deren Durchmesser zwischen 3 und 8 mm variierte, sowie ein etwa 3–4 cm grosser, sessiler
Abbildung 1
Orthopantomogramm
des 21jährigen Patienten mit
multiplen Osteomen (Pfeile)
und Zementom-ähnlichen
Läsionen (*) im Kieferbereich.
Abbildung 2
Mutationsanalyse des
APC-Gens mittels ProteinTruncation-Test.
WT = Wildtyp-Protein;
VP = verkürztes Protein.
VP
666
Polyp vom villösen Typ im splenischen Winkel. Die Ileozäkalklappe sowie das terminale Ileum (auf einer Länge von 20 cm einsehbar) waren unauffällig. Bei der Ösophago-Gastro-Duodenoskopie wurden im Bereich des Magenfundus (etwa 50–60) und der
Pars D4 des Duodenum multiple 1–2 mm grosse Polypen gefunden,
die histologisch als glandulo-zystische Polypen bzw. Mikroadenome
mit leichtgradiger Epitheldysplasie interpretiert wurden. Bei einer
Dünndarm-Doppelkontrastuntersuchung liessen sich keine weiteren Polypen nachweisen. Ein CT des Abdomens sowie eine Schilddrüsen-Szintigraphie zum Ausschluss eines Nebennierenrindenbzw. Schilddrüsen-Karzinoms im Rahmen der familiären adenomatösen Polypose waren unauffällig.
Um die für die Polypose verantwortliche Mutation im APC-Gen zu
ermitteln, wurden aus Lymphozyten des Patienten genomische DNA
und RNA isoliert. Mittels des sogenannten Protein-TruncationTests wurde das durch radioaktives Methionin markierte APC-Protein in vitro hergestellt und elektrophoretisch aufgetrennt. Dabei
fand sich beim Patienten neben dem normalen APC-Protein (etwa
80 kDa) auch ein verkürztes, mutiertes Protein (etwa 40 kDa)
(Abb. 2). In der anschliessenden direkten Sequenzierung des APCGens wurde eine Deletion von 4 Basenpaaren (Nukleotide 4394–
4397) festgestellt, die zu einer Verschiebung des Leserasters im genetischen Kode führt. Somit verursacht diese Mutation einen frühzeitigen Stop in der Synthese des APC-Proteins beim Nukleotid
4420. Die Charakterisierung der für familiäre adenomatöse Polypose verantwortlichen APC-Mutation erlaubt es, allfällige Nachkommen des Patienten bereits präsymptomatisch zuverlässig abzuklären.
Nach Identifizierung der pathogenen Mutation ist beim Patienten
eine Proktokolektomie mit ileo-analer Anastomose und J-Pouch zur
rektalen Rekonstruktion geplant. Aufgrund der Histologie der Magenfundus-Polypen wird auf eine Gastrektomie verzichtet und jährlich eine obere Endoskopie durchgeführt werden. Als Chemoprophylaxe, zur Reduktion der Anzahl und Grösse der Kolonpolypen,
erhielt der Patient den Prostaglandinsynthese-Inhibitor Sulindac
(Clinoril®), 2 200 mg/d per os.
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Kasuistik
Diskussion und kurze Literaturübersicht
Definition und Klinik
der familiären adenomatösen Polypose
Die familiäre adenomatöse Polypose (FAP) ist
eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die durch eine bereits in der Pubertät beginnende, progressive Polypose (mit z.T. über
1000 Polypen) des gesamten Kolorektums charakterisiert ist. Unbehandelt führt die maligne
Entartung einzelner Polypen in der Regel schon
vor dem 40. Lebensjahr zu einem KolorektalKarzinom [1]. Es lassen sich schätzungsweise
gegen 1% aller Kolorektal-Karzinome auf eine
FAP-Veranlagung zurückführen. Aufgrund der
umfassenden Daten des dänischen FAP-Registers ist die Inzidenz für FAP in der Normalbevölkerung mit etwa 1:7000 zu veranschlagen,
wobei beide Geschlechter gleichermassen betroffen sind. Die Penetranz ist sehr hoch, so
dass nahezu alle Mutationsträger spätestens in
der 4. Dekade eine kolonische Polypose entwickeln [2].
Neben den kolonischen Symptomen treten
häufig auch extrakolonische Krankheitsmerkmale auf (auch als Gardner-Syndrom bekannt)
(Tab. 1). Die kongenitale Hypertrophie des Pigmentepithels der Retina (CHRPE) diente vor
der Entdeckung des APC-Gens als präsymptomatischer Marker in CHRPE-positiven FAPFamilien; angesichts der verfügbaren molekulargenetischen Diagnostik kommt ihr heutzutage jedoch nur ergänzender Charakter zu.
Wie auch in unserem Fallbericht beschrieben,
treten Osteome bevorzugt am Gesichtsschädel
auf, speziell an der Mandibula (Abb. 1) und
können zu Zahnbildungs- und Durchbruchsstörungen (überzählige Zähne, Nichtanlagen,
impaktierte Zähne, Wurzelverschmelzungen)
führen [1]. Desmoide treten vor allem nach
Laparotomien auf und können aufgrund ihres
lokal invasiven Wachstums und der hohen
Tabelle 1
Extrakolonische Krankheitsmerkmale bei der familiären
adenomatösen Polypose.
GIT = Gastro-IntestinalTrakt.
Rezidivrate erhebliche therapeutische Probleme bereiten. Zudem können FAP-Patienten
in seltenen Fällen auch Tumoren der Schilddrüse (etwa 0,6%), Nebennierenrinde, Gallengänge, des Pankreas oder ZNS entwickeln [1,
3–5].
Literaturangaben zufolge finden sich bei über
90% der FAP-Patienten auch duodenale Polypen, die jedoch nur in etwa 5% der Fälle maligne entarten [6]. Da FAP lange Zeit als «rein
kolonische» Erkrankung angesehen wurde,
sind bislang nur wenige zuverlässige Daten
über das Vorkommen von Polypen im oberen
Gastrointestinaltrakt erhoben worden.
Genetik und molekulare Diagnostik
der familiären adenomatösen Polypose
1991 wurde das für FAP verantwortliche
«Adenomatous Polyposis Coli» (APC)-Gen
auf dem kurzen Arm des Chromosom 5
(5q21–22) lokalisiert und kloniert, was eine
präsymptomatische Diagnostik in FAP-Familien erlaubt [7, 8]. Die Mutationssuche gestaltet sich jedoch relativ aufwendig, da die kodierende Sequenz des Gens sehr lang ist (>8000
Basenpaare) und sich die Mutationen über das
ganze APC-Gen verteilen. Die Tatsache, dass
über 97% der Mutationen zu einem verkürzten APC-Protein führen, vereinfacht die molekulargenetische Abklärung allerdings beträchtlich, indem in einem ersten Schritt das
Protein (aufgeteilt in 6 Segmente) anstelle des
Gens analysiert werden kann [9]. Bei Vorliegen
eines verkürzten Proteins (Abb. 2) wird dann
in einem zweiten Schritt der entsprechende
Genabschnitt direkt sequenziert. Die Identifizierung der Mutation beim Index-Patienten erlaubt es, sämtliche Familienmitglieder auf ihr
Risiko, an familiärer adenomatöser Polypose
Krankheitsmerkmal
ausserhalb des GIT
Auftreten
Prädilektionsstellen
Häufigkeit
kongenitale Hypertrophie des
retinalen Pigmentepithels (CHRPE)
multipel, bilateral
Augenfundus
etwa 66–89%
Osteome (enossär/extraossär)
multipel
Gesichtsschädel, v.a. Mandibula
etwa 23–80%
Epidermoidzysten
multipel
Extremitäten, Kopf
etwa 65%
Desmoide
Abdominalwand nach Laparotomie,
intra-/retroperitoneal
etwa 5–26%
Neoplasien
Schilddrüse, Nebennierenrinde,
Gallengänge, Pankreas, ZNS
<1%
innerhalb des GIT
Duodenal-Polypen
multipel
periampullär
etwa 90%
Fundusdrüsen-Polypen
multipel
Magenfundus
etwa 35–50%
Jejunum-/Ileum-Polypen
multipel
terminales Ileum
etwa 20–40%
667
Kasuistik
zu erkranken, zu überprüfen und die Mutationsträger einer gezielten Prävention zuzuführen. Anderseits kann bei denjenigen, welche
die Mutation nicht geerbt haben und somit
kein erhöhtes Kolorektal-Karzinom-Risiko
tragen, auf eine intensive medizinische Überwachung verzichtet werden.
Genotyp/Phänotyp-Korrelation
bei der familiären adenomatösen Polypose
Genetische Studien haben gezeigt, dass eine
Korrelation zwischen dem Ort der Mutation
innerhalb des APC-Gens und dem Schweregrad der Krankheit besteht [10–12]. Bei Patienten mit Mutationen am 5’-Ende (Anfang) des
Gens findet sich in der Regel eine mildere Variante der familiären adenomatösen Polypose
(weniger Polypen, spätere Erstmanifestation
der Krankheit und seltenes Auftreten von
extrakolonischen Symptomen). Liegt, wie im
vorliegenden Fallbericht, die Mutation hinter
Kodon 1400, so führt dies im allgemeinen zu
einem schweren Krankheitsverlauf mit ausgeprägten extrakolonischen Manifestationen.
Die Genotyp/Phänotyp-Korrelation ist jedoch
nicht vollständig geklärt, da der Schweregrad
der Krankheit sogar zwischen Patienten mit der
gleichen Mutation erheblich variieren kann.
Die Suche nach genetischen Faktoren, die das
Krankheitsbild bei familiärer adenomatöser
Polypose modifizieren können, bildet deshalb
einen Schwerpunkt der aktuellen Forschung.
Prävention und Therapie
der familiären adenomatösen Polypose
Gemäss internationalen Richtlinien sollten
Risikopersonen bereits ab dem 12. Lebensjahr
alle 1–2 Jahre endoskopisch überwacht und
frühzeitig eine genetische Abklärung durchgeführt werden. Wird eine pathogene Mutation
im APC-Gen nachgewiesen, so sollte je nach
Ausprägung der Polypose die rechtzeitige, prophylaktische Entfernung des Dickdarms in Betracht gezogen werden [13].
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Das optimale Vorgehen bei Polypen des oberen
Gastrointestinaltrakts wird in der Literatur
kontrovers diskutiert; allgemein lässt sich jedoch sagen, dass die therapeutischen Massnahmen (engmaschige endoskopische Nachkontrollen, chirurgische Entfernung und Chemoprävention) in Abhängigkeit des Alters des
Patienten, des Schweregrads der Polypose und
des histologischen Befunds stehen [6].
Der Prostaglandin-Synthese-Hemmer Sulindac
(Clinoril®), in Dosen zwischen 300 und 450
mg/d, führte in einigen prospektiven klinischen
Studien an FAP-Patienten zu einer Reduktion
von Anzahl und Grösse der Kolonpolypen [14,
15]. Der positive Effekt war jedoch nur bei
steter Einnahme nachweisbar und klang nach
Absetzen des Medikaments wieder ab [16]. Inwiefern auch die Krebsentstehung durch Sulindac beeinflusst wird, ist unklar. Somit kommt
dem Medikament beim aktuellen Wissensstand
eher eine ergänzende, postoperative Bedeutung
zu, vor allem bei Patienten mit verbleibendem
Rektumstumpf.
Aufgrund der heute verfügbaren, etablierten
molekulargenetischen Diagnostik sowie der
erweiterten prophylaktischen und therapeutischen Möglichkeiten spielt die frühzeitige
Erkennung bei familiärer adenomatöser Polypose eine erstrangige Rolle. Während dies bei
50–70% der FAP-Patienten anhand der typischen Familienanamnese (bekannte Polypose
oder gehäuftes Vorkommen von KolorektalKarzinomen in der Familie) ohne weiteres
möglich ist, stellen die übrigen FAP-Fälle mit
Neumutation und somit negativer Familienanamnese ein erhebliches diagnostisches Problem dar. Wie der geschilderte Fallbericht eindrücklich zeigt, kann das Erkennen FAP-spezifischer extrakolonischer Manifestationen auch
in diesen Fällen zu einer frühzeitigen Diagnose
führen, noch bevor sich ein Karzinom entwickelt hat.
Danksagung: Die Autoren danken der beteiligten
Ärzteschaft und den Instituten (Pathologie, CHUV
Lausanne; Radiologie, Regionalspital Delémont und
Kantonsspital Basel), Michèle Attenhofer für die
technische Assistenz und Dr. Michael Stumm für die
kritische Durchsicht des Manuskripts.
Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 17
Kasuistik
Literatur
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