Nehmen psychische Erkrankungen zu? Fakten und offene Fragen aus der Forschung Ü berblick Überblick Was sind psychische Störungen? Zur Häufigkeit psychischer Störungen ¾ ¾ PD Dr. Frank Jacobi Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie AG Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung in Deutschland in der EU Kostenfaktoren ¾ ¾ ¾ Arbeitsunfähigkeit / Krankschreibungen Frühberentungen Burden of Disease Psychische Störungen als „Epidemie des 21. Jahrhunderts“? Kolloquium der Gesundheitswissenschaften und Versorgungsforschung, Universität Leipzig, 1.7.2009 Was sind psychische St örungen? (1) Störungen? ¾ ¾ ¾ Längsschnitt- und Replikationsstudien Kohortenanalysen Öffentliche Wahrnehmung von Stressoren Was sind psychische St örungen? (2) Störungen? ¾ Psychische Störungen umfassen ein breites Spektrum an Leidenszuständen und sind meist extreme Ausprägung an sich normalen Erlebens (z.B. übersteigerte Angst oder Traurigkeit) ¾ Psychische Störungen werden – beschreibend und für verschiedene Fachdisziplinen nachvollziehbar – mit international gebräuchlichen Klassifikationssystemen diagnostiziert (ICD-10, DSM-IV). ¾ Diese sind prinzipiell auch für Nicht-Betroffene nachvollziehbar (d.h. ein Gleichsetzen psychischer Störungen mit ¾ Diagnostisch muss weitgehend auf subjektiv-verbale Indikatoren (z.B. erfasst mit strukturierten klinischen Interviews) sowie Beobachtung des offenen Verhaltens zurückgegriffen werden. „verrückt“ ist in der Regel irreführend) ¾ Der Ausdruck „psychische Störung“ wird dem der „psychischen/seelischen Erkrankung“ vorgezogen ¾ „Die“ Ursache für Auslösung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen gibt es in der Regel nicht (sondern es handelt sich um ein multifaktoriell bedingtes Geschehen, bei dem verschiedene Aspekte von Persönlichkeit und Umwelt miteinander interagieren) Schlüsselbereiche psychischer Störungen Der deskriptive Ansatz Beispiele: 1. Emotion (z.B. ängstlich, bedrückt) 2. Kognition (z.B. „schlechte Stimmung“ Anhedonie Denkfehler aufgrund von kognitiven Verzerrungen) 3. Verhalten (z.B. verlangsamt, vermeidend) 4. biopsychologische Ebene (z.B. Herzrasen, Anhedonie gekoppelt mit Antriebsverlust und einer Reihe weiterer depressionstypischer somatischer und psychischer Symptome mind. 14 Tage, diagnostische Ausschlusskriterien → Major Depression Müdigkeit) Der deskriptive Ansatz ICD im www: siehe link auf Webseite ¾ deskriptive, explizite (d.h. operationalisierte) Kriterien ¾ Spezifikation mit diagnostischen Algorithmen ¾ weitgehender Verzicht auf theoretische Annahmen zu den Ursachen (Ablösung des „Neurosenkonzepts“) ¾ Mehrfachdiagnosen / Komorbidität ¾ längsschnittliche Elemente Substanzst örungen Substanzstörungen ¾ ¾ Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (natürliche, chemische oder synthetisch hergestellte Substanzen mit Effekt auf das zentrale Nervensystem) Unterteilung in Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit Substanzmissbrauch = während eines Zeitraums von 12 Monaten (mindestens) eines von folgenden Symptomen: Substanzabhängigkeit = während eines Zeitraums von 12 Monaten (mindestens) drei der folgenden Symptome: • Toleranzentwicklung • Entzugssymptome • wiederholtes Versagen bei der Erfüllung von üblichen Verpflichtungen • wiederholter Substanzgebrauch in gefährlichen Situationen, • Kontrollverlust • erfolglose Aufhörversuche • hoher Aufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz und um sich von ihren Effekten zu erholen • Probleme mit dem Gesetz, die sich aus dem wiederkehrenden Gebrauch ergeben • Aufgabe oder Einschränkung wichtiger Aktivitäten aufgrund des Substanzkonsums • fortgesetzter Gebrauch trotz bedeutsamer sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die sich daraus ergeben • fortgesetzter Gebrauch trotz negativer körperlicher und psychologischer Probleme Psychotische St örungen Störungen ¾ Zählen zu den schwersten psychischen Störungen ¾ Tiefgreifende Beeinträchtigungen vielfältiger Aspekte des Verhaltens, der Wahrnehmung, des Denkens, der Kommunikation und der Emotionen ¾ Z.B. Schizophrenie ¾ Charakteristische Symptome von Psychosen: Wahnvorstellung und Halluzinationen Wahnvorstellungen = starre falsche Überzeugungen (mit Ausnahme von Überzeugungen, die Teil einer religiösen Bewegung sind) Halluzinationen = sensorische Verzerrungen – wie z.B. das Sehen, Hören, Riechen, Fühlen oder Schmecken von Dingen, die andere nicht wahrnehmen würden und die außerhalb der eigenen Wahrnehmung nicht existieren Somatoforme St örungen Störungen ¾ Gekennzeichnet durch körperliche Symptome (z.B. Schmerzen), für die sich keine ausreichende medizinische Erklärung finden lässt, d.h. Symptome ohne identifizierbare hinreichende somatische Ursache ¾ Beschwerden verursachen bedeutsame Beeinträchtigungen und Leiden bei den betroffenen Personen ¾ Psychische Faktoren spielen für den Beginn, die Schwere und die Aufrechterhaltung der Symptome eine Rolle ¾ Beispiele: • Schmerzstörung: chronische und bleibende Schmerzen • Somatisierungsstörung: multiple medizinisch nicht erklärbare körperliche Symptome über Schmerzen hinaus • Hypochondrie: unrealistische Angst, an einer bestimmten Krankheit zu leiden + Zeitkriterien, Ausschluss- bzw. Differentialdiagnosen Angststörungen Merke: Diagnosen sind Konstrukte! „XY ist geistesgestört“ vs. „XY hat eine psychische Störung“ vs. „XY erfüllt die Kriterien einer psychischen Störung“ CIDI, SKID, SKID-II, DIPS, OPD, AMDP-System, BDI, SCL-90… Literaturempfehlung: „Von Angst bis Zwang“ Außerdem: ICD-10 Kapitel V im www: http://www.dimdi.de/dynamic/de/kla ssi/diagnosen/icd10/htmlgm2006/fricd.htm?navi.htm+f00 Die Größenordnung psychischer Störungen: Verbreitung Kostenfaktoren Die Forschung an unterschiedlichen Stichproben Gesamtbevölkerung Die Epidemiologie kann das Bild zur Verbreitung von Gesundheitsstörungen aus (nicht-repräsentativen) klinischen Studien vervollständigen Betroffene mit einer Lebenszeit-Diagnose/ Lifetime Risk Hoch-Risiko-Gruppe (z.B. derzeit unterschwellig oder in TeilRemission) Bundesgesundheitssurvey 1998/99 (Zusatzsurvey (Zusatzsurvey „Psychische Stö Störungen“ rungen“) • repräsentative Bevölkerungsstichprobe (18-65) • N=4181 (CIDI, DSM-IV) • Koppelung mit gesundheitsrelevanten Variablen des Kernsurveys möglich Betroffene mit einer tatsächlichen aktuellen Diagnose, aber unerkannt bzw. ohne Behandlung Patienten in Behandlungseinrichtungen Klinische (Behandlungsprävalenz) Forschung Jacobi, Wittchen et al. (2002, IJMPR; 2004, Psychol Med; 2004 Bundesgesundheitsblatt) Wittchen et al. (2000) Der Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS): Was bedeutet „Jeder 10. ist depressiv?“ Erfasste Störungsgruppen (ICD-10, DSM-IV) • Substanzstörungen (z.B. Alkohol-, Opiat-, Stimulantienabhängigkeit) • Mögliche Psychotische Störungen (z.B. • Schizophrenie, Wahnstörung) • Essstörungen (z.B. Bulimie, Anorexia nervosa) • Affektive (z.B. Major Depression, Dysthymie, Bipolare) • Angststörungen (z.B. Panik, GAS, Agora-, Spezifische, Soziale Phobie) • Somatoforme: (z.B. Hypochondrie, Schmerzstörung, Dissoziative) Schlafstörungen (z.B. Insomnien, Dys-oder Hypersomnien) Exakte Falldefinition Populationsbezogenheit ¾ dimensional vs. kategorial ¾ Allgemeinbevölkerung vs. Behandelte (Setting) ¾ Syndrom vs. Diagnose (Welche? Wie spezifisch? Umgang mit Komorbidität?) ¾ Wie erhoben? (z.B. screening vs. Interview) • Zwangsstörungen (Zwangsgedanken, -handlungen) Nicht erfasst: • Stress-/Anpassung (z.B. PTSD) • Persönlichkeitsstörungen • Demenzen • Psychosomatische Störungen ¾ Region ¾ Spezielle Gruppen ¾ Alter, Geschlecht Der Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS) 12-Monatsprävalenz psychischer Störungen nach Alter und Geschlecht: ca. jeder Dritte im Alter von 18-65 ist betroffen! Männer % Frauen Gesamt 50 40 30 20 10 0 18-29 30-39 40-49 50+ Total Altersgruppe Jacobi et al., 2004a Review zu psychischen St örungen in der EU: Störungen Zentrale Ergebnisse ¾ Daten aus 57% der Länder (nicht: Baltikum, Griechenland, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Slovakei, Slowenien, Zypern) bzw. 83% der Bevölkerung ¾ Häufigkeit und Verteilung (Alter, Geschlecht) entspricht meist denen der deutschen Daten! ¾ Unterschiede zwischen Studien eher aufgrund methodischer als aufgrund „echter“ Differenzen (aber: große Forschungslücken) ¾ stets große Beeinträchtigung erwähnt, aber kaum echte Kosten-Studien ¾ ebenso Studien zu Inzidenz und Dauer nötig Psychische St örungen in der EU: % (Median) Störungen Psychische Störungen im höheren Lebensalter ¾ Demografische Projektionen (Alter >60: 22% ¨ 30% ¨ 34%) rufen nach mehr Wissen über Gesundheit im höheren Lebensalter! ¾ Wichtigste Diagnosen: Demenzen (exponentieller Anstieg mit Alter) und Depressionen (dimensional: 15%-27%, kategorial: 10%-20%, „schwer“: 1-7%) ¾ Keine klaren Aussagen über Alters-Trends möglich (z.B. Zunahme sowohl von Vulnerabilitäten als auch von Schutzfaktoren; evtl. bimodale Verteilung; wahrscheinlich Angleichung der Geschlechter mit zunehmendem Alter) ¾ Zentrale Schlussfolgerung aus Übersichtsarbeiten: „Numerous questions in the field remain to be unanswered. Concerted action is needed to produce comparable data across Europe.“ (Riedel-Heller et al., 2006) Zusammenfassung (1): Häufigkeit und Spontanverlauf psychischer Störungen ¾ Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen insgesamt: 43% ¾ 12-Monatsprävalenz: 31%; Männer : Frauen = 1 : 1.5 ¾ Ersterkrankungsrisiko: diagnostisch unterschiedlich, z. B. • frühe Störungen (Alter <20): Phobien, Drogen-, Ess- und somatoforme Störungen (Ausnahme Schmerzsyndrome) • spätere Störungen: Panikstörung, Generalisierte Angst, Alkohol, Depression ¾ Verlauf: variabel • eher episodisch: affektive Störungen (Major Depression, Bipolare) • eher persistierend/chronisch: Alkoholabhängigkeit, Angststörungen, somatoforme Störungen, Dysthymie • hohe Spontanremission: frühe Phobien, Drogenmissbrauch Kosten und Kostenfaktoren bei Psychischen St örungen Störungen Kostensch ätzung EU -Review Kostenschätzung EU-Review Chancen durch neue Datenbasis (GMG) ¾ Ergänzung zu epidemiologischen Bevölkerungsstudien (z.B. Gesundheitsreports von BEK, DAK, TK, GEK etc.; Bramesfeld et al., 2007; Lademann et al., 2006) ¾ Auch vertiefende Untersuchung der Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen möglich ¾ Beachte: Interpretationen debattierbar! (vgl. zu GEK-Report: Jacobi & Hoyer, 2008) Wittchen et al., 2005 Daten von Kostenträgern Beispiel DAKGesundheitsreport 2005: AU-Tage: Daten von Kostenträgern AU-Tage/ 100 VJ ¾ stärkste Zunahme unter allen Erkrankungsgruppen (entgegen Anteil am Krankenstand % BKK (2006) 111.0 8.9 Anstieg der Ausfalltage aufgrund psychischer Störungen um 35% in den Jahren 1991 bis 2006 DAK (2007) 109.8 10.2 Anstieg der Ausfalltage aufgrund psychischer Störungen um 69% in den Jahren 1996 bis 2004 GEK (2006) 136.0 10.7 Anstieg der Anträge auf Psychotherapie von 0.55% auf 0.88% (d.h. um 60%) in den Jahren 2000 bis 2006 TK (2006) 129.0 12.3 Anstieg der Ausfalltage aufgrund psychischer Störungen um 13% in den Jahren 2000 bis 2007 Barmer (2007) 197.7 15.9 Anstieg des Anteils an den Gesamtausfalltagen von 11,1% auf 15,9% in den Jahren 2003 bis 2007 IKK (2006) 89.0 6.3 Anstieg der Ausfalltage aufgrund psychischer Störungen um 33% in den Jahren 2000 bis 2006 allgemeinem Trend) ¾ Psychische Störungen vierthäufigste Diagnosegruppe bei Arbeitsunfähigkeitszeiten (insbes. viele Krankheitstage/Fall) Quelle: DAK AU-Daten (Veränderungen 1997-2004 nach Krankheitsgruppen) berichtete Trends ¨ unklar: „echte“ Zunahme oder geändertes Diagnoseverhalten? Ausfalltage im Bundesgesundheitssurvey ¾ Verdoppelung der (selbstberichteten) Ausfalltage bei aktuellen psychischen Störungen (Jacobi, Klose & Wittchen, 2004) Psychische Störungen und Ausfalltage im letzten Jahr Ausfalltage 15 10 5 ¾ Norwegische Längsschnittstudie: Mykletun, Overland, Dahl et al. (2006) ¾ Koppelung eines Gesundheitssurveys (1995-1997; N>45000) mit administrativen Daten zu Rentenanträgen (in den folgenden 6-30 Monaten) ¾ Angststörungen und Depression (insbes. komorbide) stärkste Prädiktoren für spätere Rentenanträge 25 20 (Früh-) Berentungen und psychische Störungen * niemals psychische Störung gehabt remittierte psychische Störung aktuelle psychische Störung (12-Monate) ¾ Sogar bei Nichtberücksichtigung der Rentenanträge aufgrund psychischer Störungen bleibt dieser Einfluss bestehen! ¾ Alter und Anzahl somatische Symptome stärkerer Prädiktor als Anzahl somatischer Diagnosen ¾ Diese Befunde gelten für jüngere (18-44) noch stärker als für ältere (45-66) 0 * : signifikanter Unterschied zu "niemals psychische Störung gehabt"; p<0.01 Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen Weiterer Kosten -Aspekt: Kosten-Aspekt: Komorbidit ät psychischer St örungen Komorbidität Störungen mit k örperlichen Erkrankungen körperlichen ¾ Erhöhung Ausfalltage insbesondere aufgrund der Fälle mit körperlicher Komorbidität ¾ Verminderung der Lebensqualität, häufigere Inanspruchnahme und vermehrte Ausfalltage bei körperlichen Erkrankungen mit komorbider Depression (Baune, Adrian & Jacobi, 2007) ¾ Verminderung der Lebensqualität, häufigere Inanspruchnahme und vermehrte Ausfalltage bei körperlichen Erkrankungen mit komorbider Angststörung (Sareen, Jacobi, Cox et al., 2006) Ursache – Begleiterscheinung – Folge Wechselwirkungen Körper und Psyche ¾ Neurophysiologische Korrelate psychischer Vorgänge ¨ dem psychischen Geschehen liegen dauernd fluktuierende Erregungsmuster des Nervensystems zugrunde ¾ Psychophysiologische Begleitveränderungen emotionaler Zustände ¨ Gefühls- / Affektzustände sind begleitet durch physiologische Veränderungen ¾ Mentale Beeinflussung physiologischer Prozesse ¨ Mittels psychischer Aktivitäten lassen sich physiologische Prozesse gezielt verändern ¾ Psycho-physiologischer Interdependenz ¨ Wechselwirkung zwischen physiologischen Prozessen untereinander und mit psychischen Faktoren ICD-10 Kapitel AU-Tage: Faktor mit vs. ohne psychische Diagnose I. Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten 2.1 II. Neubildungen 2.9 IV. Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten 3.0 VI. Krankheiten des Nervensystems 4.4 VII. Krankheiten des Auges 1.9 VIII. Krankheiten des Ohres 3.3 IX. Krankheiten des Kreislaufsystems 3.0 X. Krankheiten des Atmungssystems 1.9 XI. Krankheiten des Verdauungssystems 2.3 XII. Krankheiten der Haut und der Unterhaut 2.0 XIII. Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes 2.3 XIV. Krankheiten des Urogenitalsystems 2.2 XV. Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett 2.2 XVIII. Symptome u. abnorme klinische und Laborbefunde 3.8 XIX. Verletzungen, Vergiftungen u. best. a. Folgen äußerer Ursachen 1.4 insgesamt 3.0 1. Psychische Störung als Folge einer körperlichen Erkrankung 2. Psychische Störung als Nebenwirkung der Therapie bei körperlicher Erkrankung 3. Psychische Störung als Bestandteil einer körperlichen Erkrankung 4. Körperliche Störungen als Bestandteil einer psychischen Erkrankung 5. Körperliche Erkrankung als Folge einer psychischen Erkrankung 6. Körperliche Erkrankung als Folge einer Therapie der psychischen Erkrankung 7. Gemeinsame Disposition zum Auftreten sowohl der körperlichen als auch der psychischen Störung 8. Zwei voneinander unabhängige Erkrankungen Weitere Aspekte zu „Size and Burden“ ¾ Vermehrte Krankschreibungen und Berentungen in den letzten Jahren: Gibt es eine Zunahme psychischer Störungen? (s.u.) ¾ Weitere Problembereiche hier nicht berücksichtigt (z.B. verminderte Produktivität während der Arbeitszeit, unterbezahlte Arbeit, Behinderungen bei Bildung und Karriere) ¾ Grosse gesellschaftliche Last auch mit anderen burden-Maßen (vgl. WHO: DALYs) [ + großes Potenzial behavioraler Interventionen auch bei anderen Erkrankungen mit hohem burden of disease] Quelle: TK, 2008 „Burden of Disease“ Die ersten 20 (von 110) Hauptursachen fü für DALYs; DALYs; WHO, 2002) * unipolar e De pr e s s ion * * * * Zusammenfassung (2) zur Größenordnung ¾ Size: Etwa jeder 3. bis 4. innerhalb eines Jahres von psychischer Störung betroffen; Lifetime-Risk: um 50% (evtl. noch größer in jüngeren Kohorten); außerdem: Störungen lange „aktiv“ He r z in far k t De m e n z e n Schlaganfall Alk o holm is s br auch /Abhäng igk e it ¾ Burden: Hohe indirekte Kosten im Sinne von Arbeitsausfall und Produktivitätsminderung; insbesondere Angststörungen und Depression relevant Hör ve r lus t chr on. obs tr . pu lm . Er k r . (COPD) Lung e nk r e bs * e ntz ünd l. Ge le nk s e r k r ank u ng V e r k e hr s unfälle ¾ Zusammenspiel psychische Störungen und körperliche Erkrankungen Diabe te s m e llitus * * Dar m k r e bs weltweit Br us tk r e bs E UR-A ¾ Befunde sowohl zur Häufigkeit psychischer Störungen als auch zur Arbeitsunfähigkeit über verschiedene Studien hinweg konsistent (Land, Längs- s e lb s t z ug e fügte V e r le tz ung e n vs. Querschnitt, einbezogene Erhebungsmethoden und Diagnosen) Le b e r z ir r ho s e Dr oge n m is s br auch /Abhäng igk e it * * * M ig r äne ¾ Nicht nur Ausfall-Tage, sondern auch verminderte Produktivität während der Arbeitszeit entscheidend (z.B. Wang et al., 2004) Links: As thm a *: Bereich psychischer Störungen i.e.S. e r n ähr ung s be d ./e ndo k r in e Er k r . *: bedeutsame klinisch-psychologische Interventionsmöglichkeiten bipolar e Stör ung e n * 0 1 2 3 4 5 6 7 % aller 8 D ALYs Sind die Pr ävalenzschätzungen ffür ür psychische Prävalenzschätzungen St örungen zu hoch angesetzt? (1) Störungen Sind die Pr ävalenzschätzungen ffür ür psychische Prävalenzschätzungen St örungen zu hoch angesetzt? (2) Störungen Pro: • Frühere Studien kamen zu deutlich niedrigeren Prävalenzen • Diagnose nicht immer gleichzusetzen mit Behandlungsbedarf (keine Pro: “Es kann doch nicht angehen, dass jeder Zweite im Laufe seines Lebens unter einer psychischen Störung leidet!” Schweregradkriterien über reine Diagnose hinaus; eine solche Variation des Schweregrades ist aber üblicherweise auch bei körperlichen Erkrankungen zu finden) Contra: Contra: • Frühere Studien andere Methodik und andere diagnostische Breite (z.B. “Warum sollten Gehirn und Nervensystem seltener betroffen sein als andere – weniger komplexe – Organbereiche?” kleinere Zeitfenster, viel weniger Störungen einbezogen) • operationalisierte psychische Diagnosen sind eindeutig mit negativem Outcome assoziiert (d.h. Validität gegeben durch negative Folgen als Außenkriterium) und evtl. immer noch unterschätzt Gestiegene Awareness ¾ Größenordnung psychischer Störungen im Vergleich zu körperlichen Erkrankungen bislang unterschätzt! ¾ Nicht zuletzt aufgrund von Studien wie den hier vorgelegten wird die Bedeutung psychischer Störungen zunehmend gewürdigt (z.B. EU ministerial conference on mental health, Green Paper by the European Commission, 2005): There is no health without mental health! Nehmen psychische St örungen zu? Störungen ¾ Herausforderung, angesichts der hohen Relevanz psychischer Störungen die Versorgungslage zu analysieren und machbare, kosten-effektive Versorgungsstrukturen zu etablieren Zunahme psychosozialer Belastungen moderner Gesellschaften? (modifiziert nach Weber, 2007) Gesellschaft Arbeitswelt • Individualisierung/ • Globalisierung/Wettbewerb Singualisierung, Anonymität • Dienstleistungs-/Informationszeitalter • Mehrfachbelastungen/ „Diktatur der Ökonomie“ • Werte-/Autoritätskrise erhöhte Anforderungen an Instabilität Mobilität Keine/zu viel Arbeit ¾ allerdings: hoher Lebensstandard (in letzten 20-30 Jahren nicht nur in Ostdeutschland gestiegen) Erreichbarkeit Familienstruktur) • Zunehmende Kluft zwischen diskontinuierliche Erwerbskarrieren • Flexibilität/Präsentismus, permanente Unterstützungssysteme (z.B. ¾ Wegfall von Ressourcen (z.B. soziale Unterstützung, Belohnung) • „Freiheit und Leistungsdruck“ • Erosion der Normalarbeit/ Kommunikation, neue Medien • Schwinden traditioneller Servicequalität • Arbeitsverdichtung • Migration • Entpersönlichte ¾ „Neue Stressfaktoren“: z.B. wachsende Arbeitslosigkeit, Arbeitsunsicherheit und Instabilität in nahezu allen Lebensbereichen, diskontinuierliche Erwerbskarrieren, Ökonomisierung („gesamte Gesellschaft als Unternehmen“) personenbezogenen Dienstleistungen, Zeitmangel • Bildungsexpansion • Vermehrte „Emotionsarbeit“ bei Tatsächliche Zunahme? Demografie • Arbeitsplatzunsicherheit („hire and biologischer und sozialer fire“), Zeit-/Leiharbeit Reifung • „Gratifikationskrisen“ ¾ evtl. in jüngeren Kohorten vgl. DAK-Gesundheitsreport (2005), Weber et al. (2005) Proportion • früher: unterschätzt • „angebotsinduzierte Nachfrage“: hier wahrscheinlich geringer Einfluss • immer noch eher Unterschätzung (HauptdiagnosenProblem) 20 30 40 50 60 65 Age 1974-1981 1955-1964 1935-1944 Quelle: DAK Experten-Befragung 2005 Cumulative lifetime incidence of Major Depression 20 Proportion Zeitnähe (Median): kürzliche Inzidenzen über Kohorten sehr ähnlich 30 40 50 Age 1974-1981 1955-1964 1935-1944 60 65 0.00 0.05 0.10 0.15 0.20 0.25 0.30 Proportion 0.00 0.05 0.10 0.15 0.20 0.25 0.30 Cumulative lifetime incidence of Major Depression 10 • Frühberentung = Nische (da >50 wenig Chancen am Arbeitsmarkt)? 10 0.00 0.05 0.10 0.15 0.20 0.25 0.30 Änderung des Diagnoseverhaltens? 1965-1974 1945-1954 Cumulative lifetime incidence of Major Depression Zeitnähe (Median): länger zurückliegende Inzidenzen über Kohorten sehr unähnlich 10 20 30 40 50 Age 1965-1974 1945-1954 1974-1981 1955-1964 1935-1944 1965-1974 1945-1954 60 65 Test der Zunahme-Hypothese anhand von wiederholten Surveys in derselben Population ¾ USA: NCS (Kessler et al., 1994) vs. NCS-R (Kessler et al., 2005) Rates of mental disorders in two US-american surveys 30 25 20 % ¾ UK: repeated British household survey (1993 vs. 2000; Singleton et al., 2001) NCS (1992) 15 NCS-R (2002) 10 ¾ Canada: “Stirling County” study (1979-1992; Murphy et al., 2000) ¾ Meta-Analyse zu Depression (KiJU): Costello et al. (2006) „„Noch Noch nie war die Welt so stressig wie heute …“ heute…“ 5 0 any mental disorder any mood disorder any anxiety disorder ¾ Meta-Analyse zu Wiederholungsstudien: Richter et al. (2008) ¨Keine Hinweise auf (dramatische) Zunahme! Psychische Störungen haben an Bedeutung gewonnen, ohne dass dies notwendigerweise einer realen Zunahme entspricht (1) ¾ Keine Zunahme in wiederholten Bevölkerungsstudien! (Richter et al., 2008) ¾ Manche anderen Indikatoren psychischer Gesundheit (jenseits psychischer Störungen im engeren Sinne) zeigen in den letzten Jahrzehnten insgesamt günstige oder neutrale Verläufe (z.B. Suizidraten, Alkoholkonsum) ¾ Jede Zeit hat ihre vulnerablen Individuen, die auf Stressoren mit psychischen Störungen (erkannt oder unerkannt) reagieren! ¾ Möglicherweise hat eine Verlagerung in Richtung psychischer Diagnosen stattgefunden – dies kann aber eher als Anpassung und nicht als „Kostenexplosion“ durch psychische Störungen gewertet werden Psychische Störungen haben an Bedeutung gewonnen, ohne dass dies notwendigerweise einer realen Zunahme entspricht (2) ¾ „Behandlungsbedarf“ – ein noch immer unscharfer Begriff – ist angewachsen, weil subjektive Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsoptionen gewachsen sind ¾ Dennoch ist nach wie vor im Bereich psychischer Störungen von einer Unterversorgung auszugehen ¾ Trotz noch vorhandener Wissenslücken macht es keinen Sinn, bei psychischen und Verhaltensstörungen von einer „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ (Weber et al., 2006) zu sprechen (vgl. Jacobi, 2009) ¾ Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit (European Commission, 2005) ist gerade im derzeitigen “Jahrzehnt des Verhaltens” eine zentrale Botschaft, die nicht durch drastische Überzeichnungen aufgrund einer „gefühlten Zunahme“ psychischer Störungen gestärkt werden braucht. Ausblick: Aktueller Bundesgesundheitssurvey ¾ 10 Jahre nach erstem gesamtdeutschen Gesundheitssurvey mit „Mental Health“-Modul ¾ Incl. 65+ ¾ Aufbau Kohorte/Monitoring